Roy Glashan's Library
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Richard ist bis zum zwölften Jahre ein kräftiger, lebensfroher Knabe gewesen, als er durch ein Unglück gelähmt wird.
Am Abend seines vierzehnten Geburtstages sitzt der sieche Knabe allein in der Stube, traurig und freudlos, kein Ziel mehr im Leben kennend. Da erscheint ihm eine Fee. Sie nennt sich die Phantasie, will ihm ihr Geburtstagsgeschenk bringen und sagt ungefähr Folgendes:
In Richards Schlafzimmer befindet sich eine Kammerthür. Jede Nacht wird er erwachen (das heißt nur scheinbar), er soll aufstehen, jene Thür öffnen, und er wird sich stets dort befinden, wohin versetzt zu sein er sich gewünscht hat. Er kann sich also wünschen, was er will, er kann allein sein oder mit Freunden, er kann auch den Gang seiner Abenteuer ungefähr im voraus bestimmen; hat er aber einmal die Schwelle der Thür überschritten, dann ist an dem Laufe der Erlebnisse nichts mehr zu ändern. Alles soll folgerichtig geschehen, der Traum nichts an Wirklichkeit einbüßen. —
Die Erscheinung verschwindet, Richard erwacht aus dem Halbschlummer. Aber die gütige Fee hält Wort, und so findet der arme Knabe im Traume einen Ersatz für sein unglückliches Leben.
Jede Erzählung schildert nun eins seiner wunderbaren Erlebnisse, wie sie ihm die Phantasie eingiebt.
»Die Wunder der Meerestiefe möchte ich einmal schauen,« sagte Richard vor dem Schlafengehen. »Der Wunsch steht mir zwar frei, mich im Wasser, in jeder Tiefe wie an der Erdoberfläche bewegen zu können und meine Lungen in Kiemen zu verwandeln, aber das will ich nicht. Das ist unnatürlich. Solche Sachen begreift man oft sogar im Traume nicht und wundert sich dann darüber, wie ich schon in früheren Träumen manchmal bemerkt habe. Ich will mich daher nur an Möglichkeiten halten, wenn die Phantasie sonst auch noch so kühn arbeitet. So wünsche ich mir also ein Taucherkostüm, von dem ich annehme, daß ich es selbst erfunden und hergestellt habe, und das allen Anforderungen der Situation entspricht, in die mich die Phantasie versetzen wird.«
Nachdem er eingeschlafen war, erwachte er scheinbar, verließ im Nachtgewande das Bett, öffnete die geheimnisvolle Kammerthür, und — vor ihm lag der blaue Spiegel des Meeres, erstreckte sich zu seinen Füßen, von der Kammerthürschwelle ausgehend, eine kurze Plattform aus Holz oder vielleicht auch ein schwimmendes Floß, das ihn zum Betreten einlud. Gleich darauf, und zwar gerade in dem Augenblicke, als er die Schwelle überschritt, ging die Verwandlung mit ihm selbst vor sich und umgab ihn statt des Nachthemdes ein Taucherkostüm, dessen einzelne Vorrichtungen ihm sofort bekannt schienen, ebenso wie er auch sofort eine Idee von ihrer Leistungsfähigkeit hatte und sehr wohl imstande zu sein glaubte, die Instrumente zu beobachten und die Sicherungen zu handhaben. Kurz und gut, nichts dünkte ihm an seinem Taucherkostüme fremd.
Dabei war Richard sich nicht im geringsten bewußt, nur zu träumen. Von jetzt an war für ihn alles reelle Wirklichkeit.
Das Gewand, in dem er steckte, war also ein Taucherkostüm, bestehend aus einem wasserdichten Anzuge, einem großen Helme mit Augenfenstern; die Füße aber waren mit dicken Bleisohlen beschwert.
Luft brauchte ihm von oben durch eine Pumpe nicht zugeführt zu werden, wie es bei alten Taucherapparaten der Fall ist, die vermutlich schon in einigen Jahren in die Rumpelkammer kommen werden. Sein Kostüm war ein derartiges, daß der Taucher den für viele Stunden reichenden Luftvorrat komprimiert in einer Art von Tornister auf dem Rücken mit sich in die Tiefe nahm, von dem zwei Schläuche ausgingen, die ihn mit dem Glockenhelme verbanden, während ein Mechanismus die Zuführung regulierte, die bei zunehmender Tiefe immer geändert werden mußte, und für die Ausstoßung der ausgeatmeten Luft durch ein Ventil sorgte. Derartige Apparate werden immer vollkommener konstruiert, und auch Richard besaß einen solchen von höchster Vollkommenheit.
An seinem Gürtel hing eine Lampe, die durch Elektricität gespeist wurde, ein Kompaß, ein Tiefenmesser und andere Instrumente, die den heutigen Tauchern ganz unbekannt sind und die er erst probieren wollte, wie denn auch sein Helm mit einer ganz besonderen Art von Telephon ausgestattet war.
Ein Telephon besitzen heutzutage allerdings auch alle anderen modernen Taucheranzüge, zum Beispiel die der Marine, und zwar befindet sich die Vibrane, mit der man hört, seitwärts am Ohre, und man braucht den Kopf nur ein wenig dorthin zu wenden, so erreicht der Mund das Sprechstück. Da nun isolierte Kupferdrähte, wie bei jedem anderen Telephon, die Verbindung vermitteln, so kann der Taucher sich immer mit den oben Befindlichen unterhalten, Anweisungen empfangen und Mitteilungen machen.
Sonst war er noch mit einem Messer, einem Axthammer und einer elektrische Glaskugeln schießenden Pistole mit sehr langem Laufe bewaffnet, deren Wirksamkeit unter Wasser er gleichfalls zu probieren gedachte.
Doch bevor wir in unserer Schilderung fortfahren, wollen wir zunächst eine Frage an unsere lieben Leser richten. Wie tief kann ein Taucher eigentlich dringen? Die Antwort darauf ist, nicht tiefer als 40 Meter, und dabei setzt er sich schon einem kolossalen Drucke und sein Leben also einer großen Gefahr aus. Allerdings sind auch Fälle vorgekommen, daß Taucher in Tiefen von 50 und noch etwas mehr Metern stiegen und lebendig wieder heraufkamen, aber das waren leichtsinnige Wagehälse, die mehr auf ihre robusten Naturen, als auf die Berechnungen der Physiker bauten und ihr Wagnis daher fast immer mit lebenslangem Siechtum büßten, wenn sie nicht schon, gleich nachdem sie, ganz schwarz im Gesicht, wieder an der Oberfläche des Wassers angelangt waren, von einem Schlaganfalle getroffen wurden.
Dem Hinabsteigen ins Wasser sind eben Grenzen gesetzt, aber, wie wir vorsichtig hinzusetzen wollen, nur vorläufig, denn diese Grenzen werden sich, je mehr sich die Taucherapparate vervollkommnen, doch immer mehr nach unten zu erweitern. Heutzutage scheitern die Versuche, persönlich in große Tiefen zu dringen, noch an einem geeigneten Bekleidungsmateriale. Der Druck nach unten nimmt nämlich konstant zu, und es ist bisher noch keine Bekleidung erfunden worden, die den Körper vor diesem schützte.
Es sind Meerestiefen von über 6000 Metern gemessen worden, und im Gegensatze dazu haben vierzig Meter also nicht viel zu sagen. Dennoch sind auch sie schon eine ganz respektable Tiefe. Ein fünfstöckiges Haus ist ungefähr 20 Meter hoch. Man denke sich zwei solche, doch bereits sehr hohe Häuser übereinander, und man kann sich ungefähr ein Bild machen, in welcher Tiefe unter dem Meeresspiegel sich der Taucher befindet und arbeitet.
Richard aber hatte das Problem des widerstandsfähigen Taucheranzuges gelöst, obgleich dieser auch bei ihm nur aus einem ganz geschmeidigen Stoffe bestand. Je tiefer er stieg, desto mehr nahm, konstant mit dem größeren Drucke, die Widerstandsfähigkeit zu. Dasselbe galt von dem Glockenhelme. Und da auch seine Hände mit Handschuhen aus diesem Stoffe bedeckt waren, gab es für ihn überhaupt keine unerreichbare Tiefe. Wir würden gern noch mehr von seiner wunderbaren Erfindung erzählen, aber Richard hielt dieselbe so geheim, daß er sie nicht einmal als Patent angemeldet hatte. Daher dürfen wir sein Geheimnis auch nicht verraten.
Schwerfällig, die mit Blei belasteten Füße nach sich schleifend, schleppte sich Richard über die Plattform bis an den Rand und ließ sich dort, von der Vollkommenheit seines Kostümes überzeugt, ins Wasser plumpsen.
Jetzt war er in seinem Element, und so, wie augenblicklich ihm, mochte einem Vogel zu Mute sein, dem die Schwungfedern verschnitten sind und dem sie nun durch ein Zauberwort plötzlich wieder nachwachsen, daß er sich in die Lüfte schwingen kann. Jedes Gefühl von Schwere war verschwunden, mit Leichtigkeit konnte Richard, während er immer tiefer sank, seine Füße heben. Der Luftapparat funktionierte tadellos. Richard fühlte nichts von einem zunehmenden Drucke, spürte kein Sausen in den Ohren. Plötzlich bremste er seinen Fall, indem er sein Kostüm, das ihm zugleich gewissermaßen als Schwimmblase diente, mit Luft füllte, dann ließ er sich wieder nach oben steigen und abermals sinken, beobachtete, wie das blaue Licht immer mehr abnahm, und las die Tiefen auf seinem Instrumente.
20 Meter — 21 — 22 — 25 Meter — — — Da glaubte Richard, etwas unter sich auftauchen zu sehen. — Nun sank er noch 4 Meter tiefer, und — fühlte Boden unter den Füßen! Doch nein, er stand nur auf einem riesigen, ungefähr 3 Meter hohen Pilze, von dem er erst herabspringen, das heißt, langsam herabschweben mußte, um nun, umgeben von der unterseeischen Flora und Fauna, in einer Tiefe von 32 Metern auf dem wirklichen, mit Muschelkalk bedeckten Meeresboden zu stehen!
Das Wasser war äußerst klar, die Sonne stand gerade im Zenith, und so konnte er seine Umgebung auf einen Umkreis von etwa 10 Metern in einem bläulichen Lichte überschauen! Wäre es aber auch ganz dunkel gewesen, er besaß ein Mittel, um, ohne seine Lampe zu Hilfe zu nehmen, immer einen hellen Lichtschein rund um sich zu verbreiten.
Hier war das Reich der Koralle, und überall hatte sie seltsame Gebilde, Häuser, Grotten und Bäume mit den feinsten Aestchen geschaffen; wundersame Seegewächse aber wucherten überall üppig in Knollen, Blumen, breiten Blättern und langen Halmen, die kerzengerade in die Höhe standen und eine bunte Farbenpracht oder ein eintöniges Dunkelgrün zeigten, dazwischen spielten Fische und krochen Schnecken, während festgewachsene Muscheln auf- und zuklappten und kleine Polypen von glühenden Farben, mit ihren vielen Armen nach Beute greifend, spielten.
Auch hier in der ewigen Stille, die kein Sturm aufrühren konnte, herrschte der Kampf ums Dasein, fraß eins das andere auf.
Der riesige Pilz war ebenfalls eine Korallenformation, eines jener Gebilde, welche die Schiffer in der Nähe der Küste so fürchten. Kommt nämlich ein Anker unter solch einen Pilz, daß er sich oben am Dache verfängt, so vermag ihn keine Dampfkraft wieder heraufzuwinden, denn der Stengel bricht, obgleich er nur so stark wie ein Männerschenkel ist, nicht ab; viel eher reißt die Eisenkette oder könnte der Dampfer sich selbst hinabziehen. Ist der Korallenpilz aber für den Taucher zu tief, so ist der Anker verloren.
Richard that wirklich ein gutes Werk, indem er einmal die Explosion einer Dynamitpatrone hier unten an einem dieser Pilze probieren wollte und zu diesem Zwecke eine solche in eine kleine Höhlung des Stammes schob, den Leitungsdraht daranlegte und einen elektrischen Funken in die Patrone springen ließ. Er blieb übrigens ruhig dicht daneben stehen, denn daß für ihn bei dieser Sprengung keine Gefahr vorhanden war, wußte er schon als erfahrener Ingenieur, der sich mit Experimenten unter Wasser vielfach beschäftigt hatte.
Kaum war die Explosion erfolgt, so brach der Stamm ab, der Pilz fiel langsam um, ein paar große Gasblasen stiegen in die Höhe, das war aber auch alles. Keine Detonation, keine Wassererschütterung, nichts von alledem erfolgt. Und doch war die Explosion hier unten ganz die gleiche wie oben, nur daß die Begleiterscheinungen derselben fehlten.
Da tauchte in der Dämmerung außerhalb des helleren Sehkreises plötzlich etwas Großes auf und zunächst wurden zwei unheimlich starre Augen, dann ein fürchterliches Gebiß sichtbar. Ah, da näherte sich also schon das erste Abenteuer in Gestalt eines riesigen Haifisches!
Richards Nerven begannen zu zittern, als die Hyäne des Meeres direkt auf ihn zuschwamm. Furcht aber war es nicht, die ihn erfüllte, sondern nur Spannung, und ruhig löste er die lange Pistole vom Gürtel, die ja eine weit furchtbarere Waffe war, als dieser von spitzen Zähnen starrende Rachen des Haifisches der jetzt langsam ohne Flossenbewegung herantrieb und direkt vor Richard stehen blieb, um mit den phosphorescierenden Augen durch das Fenster dem Knaben ins Gesicht zu starren. Kein erfahrener Taucher fürchtet überhaupt die Begegnung mit einem Haifische; höchstens gebraucht er die Vorsicht, die unbedeckten Hände hinter dem Rücken verborgen zu halten, um die Fleischgelüste des Raubtieres nicht zu erregen. Alle haarsträubenden Geschichten von Kämpfen zwischen Tauchern und Haifischen sind reine Fabeln, wie die Gefährlichkeit der Tiere überhaupt sehr übertrieben wird. Etwas anderes freilich ist es, wenn ein Mensch über Bord zwischen die Haifische fällt.
Richard hob also die Pistole; allein schon bei dem ersten Ansatze zu dieser Bewegung schoß das Tier erschrocken davon. Doch da kam es bereits wieder zurück. Aber nein, das mußte wohl ein anderer Haifisch sein, der den Gegenstand seiner Neugierde näher betrachten wollte.
Jetzt lag die Pistole bereits im Anschlage, und plötzlich drückte Richard, der das Tier auf fünf Meter herankommen ließ, ab. Sofort entstand im Wasser ein Weg von Luftbläschen, dann traf die Glaskugel den Leib — der Haifisch war verschwunden und in Stücke und Fetzen zerrissen, die langsam, daß Wasser rötend, nach oben trieben!
Der Boden, auf welchem Richard stand, schien sehr eng begrenzt, er hörte noch vor dem Kreise auf, welcher zu überblicken war, dann verlor er sich, und Richard nahm an, daß er sich auf der Spitze eines Hügels oder gar eines Berges befände. Er entzündete jetzt seine elektrische Lampe, die durch eine Blendvorrichtung einen intensiven Lichtstrahl warf, in dem man bis auf dreißig Meter alles deutlich sehen konnte, leuchtete herum und erkannte, daß seine Annahme richtig war. Er stand auf einem Gipfel, dessen Seiten jäh abfielen und der oben von dem Korallenpilze gekrönt wurde.
Bei dem ersten Schritte, den er machen wollte, schwebte er wie eine Feder viele Meter hoch und dann ganz langsam wieder herab. So war ein Gehen ganz und gar unmöglich, und erst als er seine Schwere vermehrte, indem er die Luft, die sich zwischen Körper und Taucheranzug befand, ausströmen ließ, vermochte er vorwärtszuschreiten, und zwar mit der Sprungelasticität eines Balletttänzers.
Es war wirklich eine Lust, so im Wasser spazieren zu gehen. Bei den Proben in Flüssen und Teichen hatte Richard das nicht so gut beurteilen können, da dort vor allen Dingen diese sich hier in der Tiefe geltend machenden Hindernisse gefehlt hatten.
Er kam sich — es ist dies wirklich noch der beste Vergleich — wie ein Floh vor. Denn wenn ein Floh auch vom Tische fällt, der tausendmal höher ist als er, so bricht er sich bekanntlich doch kein Bein. Richard sprang gleich einen Abhang von fünfzig Metern hinab, und wenn diese Bewegung allerdings auch kein langsames Schweben mehr war, so bedeutete sie doch nichts anderes, als wenn ein Mensch an der Erdoberfläche eine Treppenstufe hinabsteigt. Andererseits konnte er ebenso leicht über viele Meter hohe Hindernisse hinwegspringen, ohne sich dabei erst leichter machen zu müssen. War der Boden aber einmal eben, so mußte er sich horizontal bewegen und kam dann ebenso schnell vorwärts. Jeder abstoßende Tritt beförderte ihn gleich vier Meter weit.
Plötzlich befand er sich in einer wilden Gebirgslandschaft, in der er sich trotz seiner Elasticität, die keine Hindernisse kannte, einen Weg suchen mußte, denn oft geriet er in ein Thal, aus dem es keinen Ausweg gab, und mußte dann wieder hinauf und auf der anderen Seite hinab; häufig stürzte er auch in eine verborgene Schlucht. Das war aber sehr ungefährlich. Im Wasser ist es mit dem Falle nämlich gerade umgekehrt als in der Luft; im Wasser vermindert sich die Schnelligkeit des Falles konstant und hört bald ganz auf; aber auch schon vorher brauchte Richard nur hervorspringende Felszacken zu fassen, so war der Sturz bereits gebremst, und er konnte sich an den Vorsprüngen wieder hinaufschnellen, oder aber er füllte den Taucheranzug einfach mit Luft und trieb dann von ganz allein, so lange und so schnell, als es ihm beliebte, hinauf.
Mit der zunehmenden Tiefe verminderte sich auch die Helligkeit, bis bei einhundertundfünfzig Metern das Tageslicht gar keine Wirkung mehr ausübte. Richard drückte nun an einen Knopf seines Gürtels und dieser Gürtel selbst, der mit lauter kleinen Bogenlämpchen besetzt war, strahlte ein intensiv weißes Licht aus, welches einen hellen Kreis von circa zwanzig Metern Durchmesser bildete, sodaß nun, da am Taucherhelme gleichfalls eine elektrische Lichtquelle angebracht war, auch die Gegend nach oben hin erleuchtet wurde. Wollte sich Richard aber weitere Fernsichten verschaffen, so ließ er die Blendlaterne wirken.
In einer Tiefe von etwa zweihundert Metern erreichte er eine Ebene. Sehr hoch war das Gebirge, auf dem er sich befand, also nicht, wenngleich es in seiner wilden Zerklüftung auch nicht einem Hügellande glich und so eher zu vermuten war, daß diese Ebene nur ein Hochplateau bildete.
Unterdessen hatte sich die Tier- und Pflanzenwelt immer mehr verändert. Jede Region von nur wenigen Metern hatte immer ihre bestimmte Vegetation. Bei den Tieren waren die Grenzen natürlich nicht so genau geregelt. An der Erdatmosphäre wurden diese Veränderungen durch die auf der verschiedenen Höhe und Tiefe beruhenden Temperaturunterschiede bedingt. Hier war es der Wasserdruck, der die Grenzen vorschrieb, und dieser änderte sich schon bei einigen Metern gewaltig. Endlich hörte die Korallenformation auf. Der platte, auch durch Risse unterbrochene Boden war mit zahllosen Muschelschalen bedeckt, und Muscheln lebten auf ihm, während die Pflanzenwelt nur noch aus einem moosähnlichen Gewächs und an manchen Stellen aus Gras bestand, das ganze Wiesen bildete. Dazwischen sah Richard auch Blumen, doch ohne alle Farbe. Hier gab es kleine Fische, die sämtlich keine Augen besaßen, also nie in die vom Tageslichte durchdrungenen Schichten hinaufkamen. Nur der Schellfisch, der überhaupt von allen Fischen am tiefsten taucht, verirrte sich manchmal hierher. Außerdem fiel auch die große Zahl von Polypen auf, die sich durch ihre Größe auszeichneten. Ihr Durchmesser betrug manchmal einen Meter, daher konnten sie also sehr wohl schon einem Menschen gefährlich werden. Sie schleppten sich hin und her, indem sie sich mit den Fangarmen, deren größter so dick wie ein Handgelenk war, am Boden festsaugten und so fortzogen, um auf Fische Jagd zu machen.
Richard war nicht auf Abenteuer ausgegangen, sondern auf eine Forschungsexpedition. So studierte er die Pflanzen und Tiere, fing Fische und untersuchte sie und stellte auch Experimente zur Erkenntnis der hier unten herrschenden physikalischen Gesetze an, indem er den Wasserdruck maß, die Schallwellen prüfte und so weiter.
Den großen Polypen schenkte er keine Beachtung, denn es waren ganz genau dieselben, wie sie sich in den höchsten Schichten des Meeres aufhalten, nur daß sie hier unter dem starken Drucke entsprechend größere Dimensionen angenommen hatten, wenn auch noch lange nicht jene ungeheuren, wie sie nicht nur in den Köpfen von Seeleuten und Fischern spuken, sondern auch in Wirklichkeit vorhanden sind, wie zum Beispiel einst an der norwegischen Küste solch ein riesiges Ungestüm strandete, das wohl fähig war, mit seinen Fangarmen selbst einem großen Schiffe verderblich zu werden.
Allein Richard hatte die Gefährlichkeit dieser Polypen unterschätzt, denn plötzlich fühlte er sich von hinten erfaßt und mit starker Gewalt nach rückwärts gezogen, und wie er sich umwandte, war er schon von Fangarmen umschlungen. Allerdings genügten einige Schnitte mit seinem Messer, um sich wieder von dem Polypen zu befreien, der sich an ihn festgesaugt hatte, aber der Schreck war doch ein ungeheurer gewesen und die Muskelkraft dieser Weichtiere eine gar nicht zu unterschätzende. Dann machte Richard auch noch eine andere unangenehme Entdeckung. Als er nämlich zur Bestrafung des frechen Räubers diesem eine elektrische Sprengkugel in den Leib sandte, blieb diese Manipulation ganz ohne Erfolg. Die Glaskugel fand an der weichen Masse zu wenig Reibung und drang, ohne sich zu entladen, durch sie hindurch.
Seitdem ging Richard den schlangenarmigen Geschöpfen sorgsam aus dem Wege. Zu fürchten hatte er sie ja sonst nicht, sie krochen viel zu langsam, und der Lichtkreis, den er um sich verbreitete, zeigte ihm stets ihre Annäherung. Nur schaute er sich jetzt beständig um.
Wie Richard einmal so ganz vertieft in der Betrachtung einer Muschel dastand und trotzdem gewohnheitsmäßig scheue Blicke um sich warf, gewahrte er auf einmal in der dunklen Ferne einen leuchtenden Punkt, der schnell näher kam.
Zuerst glaubte Richard, der die Entfernung ja gar nicht taxieren konnte, es sei ein phosphorescierendes Tierchen, oder vielleicht auch eine Qualle, wie er sie bis jetzt hier unten noch nicht gesehen hatte; aber das Ding wurde immer größer und größer, und jetzt war es schon so groß wie ein Suppenteller und rollte mit bedeutender Geschwindigkeit heran. Richard wurde von Furcht befallen, denn nun erkannte er in ihm eine feurige Kugel von einem Meter Durchmesser, die noch immer wuchs und bald eine Höhe von drei Metern erreicht hatte. So raste die Kugel mit der Schnelligkeit eines Eilzuges an Richard vorüber, passierte noch den von seinem Gürtel ausstrahlenden Lichtkreis und verlor sich dann schnell wieder als leuchtender Punkt in der Finsternis.
Fassungslos stand Richard da. Was war das für ein Phänomen gewesen, das sich auf dem Meeresboden mit solcher Geschwindigkeit fortgewälzt hatte? Ein unbekanntes Tier? Eine elektrische Erscheinung, die vielleicht hier die Stelle des Blitzes vertrat?
Nein, er hätte schwören mögen, daß diese Kugel von drei Metern Durchmesser aus irgend einem Material wie von Menschenhand hergestellt war und elektrisches Licht ausstrahlte! Wo sie rollte, hatte sich ein großer Polyp befunden, der jetzt verschwunden war. Richard wollte sich, als er seine erste Bestürzung überwunden hatte, dorthin begeben. Da stieß sein Fuß an einen dunklen Streifen, der sich, parallel mit einem anderen laufend, quer über seinen Weg zog. Er hatte die beiden Streifen schon vorhin bemerkt, sie aber für Bodenrisse gehalten. Jetzt bückte er sich, tastete mit der Hand nach ihnen und war außer sich vor Staunen — das waren ja Eisenbahnschienen! Die beiden bildeten zusammen ein Eisenbahngleis, und auf diesem hatte sich die feurige Kugel bewegt!
»Eine Eisenbahn auf dem Meeresgrunde, ein Wagen in Gestalt einer Kugel und getrieben durch Elektricität!«
So blitzte es durch seinen Kopf. Doch schnell verwarf er diesen Gedanken wieder als lächerlich. Wer sollte denn der Erbauer dieser Bahn sein; was für Wesen sollten sie denn benutzen? — Und doch, welch eine andere Möglichkeit konnte es geben?
Die Thatsache blieb bestehen, daß hier zwei Schienenstränge lagen, die allerdings etwas anders geformt waren, als gewöhnliche Eisenbahnschienen, und nach oben mehr spitz und keilförmig zuliefen. Nicht war es wegzuleugnen, daß zwischen diesen Schienen die elektrische Kugel gelaufen war, die den großen Polypen zu einer breiigen Masse zerquetscht hatte!
Richard leuchtete mit seiner Blendlaterne — das Ende der Schienenstränge war nicht abzusehen!
Wie er noch staunend über dieses Rätsel grübelte und zwischen den Schienen stand, war es ihm, als ob ihn von hinten ein Wellenschlag träfe. Gleichzeitig wurde es sehr hell. Jäh blickte er sich um — und sprang tödlich erschrocken zur Seite, oder wurde vielmehr von einer Kraft zur Seite geschleudert!
Vier solcher feurigen, riesigen Kugeln, dicht zusammenhängend, rasten, diesmal von der anderen Seite kommend, an ihm vorüber und verloren sich dann als glühende Punkte in der Finsternis.
Jetzt war jeder Zweifel bei Richard beseitigt. Wenn das Geheimnis auch noch so wunderbar war: er hatte es hier mit einer Eisenbahn auf dem Meeresgrunde zu thun, denn ganz dicht waren ja die Kugeln an ihm vorüber gejagt, sodaß er sie mit der ausgestreckten Hand, freilich wohl zu seinem Schaden, hätte berühren können. Nur den deutlichen Eindruck hatte er dabei bekommen, daß die Kugeln selbst nicht feurig waren, sondern daß sie das elektrische Licht durch Oeffnungen, vielleicht durch Fenster, ausstrahlten und durch ihre ungeheuer schnelle Rotation einen weiten Lichtkranz rund um sich herum verbreiteten.
Zur Lösung dieses Rätsels gab es nur ein einziges, und zwar ein sehr einfaches Mittel: Richard brauchte nur den Schienensträngen nachzugehen, dann mußte er an einen Bahnhof oder an irgend einen anderen Punkt kommen, von dem die Züge ausgingen. Zitternd vor fieberhafter Spannung machte sich Richard daher auf den Weg.
Was für ein Geheimnis würde sich ihm hier unten auf dem Meeresboden, in einer Tiefe, die für jeden anderen Taucher unzugänglich war, noch offenbaren? —
Schon eine Stunde war Richard marschiert und durch eine außerordentliche Springkraft sehr schnell vorwärts gekommen, ohne daß ihm wieder ein Kugelwagen entgegengeeilt wäre oder ihn überholt hätte. Auch sonst stieß er auf nichts Auffälliges. Nur die Schienen blieben. Sie liefen am Boden hin, überbrückten Spalten und Schluchten, waren, wenn diese zu breit wurden, durch Streber abgestützt worden und kletterten Hügel hinauf und hinab. Schließlich fand Richard auch Weichen; jedoch war er nicht imstande, zu erkennen, wie diese gestellt wurden.
Als er sich wieder einem Hügel näherte, sah er vor sich einen größeren Lichtschein auftauchen. Es machte ungefähr den Eindruck, wie wenn man sich in der Nacht noch weit ab von einer belebten Stadt befindet. Der Horizont war gerötet oder hier vielmehr weißgelb, und als Richard den Hügel erstiegen hatte, sank er vor Staunen in die Kniee. Er vermochte seinen Augen nicht zu trauen.
Vor ihm breitete sich nämlich eine ganze Stadt aus, die von elektrischem Lichte erhellt wurde.
Er war noch zu weit davon entfernt, um etwas deutlich unterscheiden zu können, aber die Häuser erkannte er schon, kleine und große Paläste — selbst Kirchtürme — ja, es war eine Stadt, eine wirkliche Stadt auf dem Meeresgrunde!
Endlich raffte Richard sich auf. Er mußte hin, die Stadt besichtigen und deren Bewohner kennen lernen!
Nur eine Frage warf er auf, weil sie mit seiner Sicherheit zu thun hatte.
Was für Meeresgeschöpfe mochten es sein, die hier eine Stadt errichtet und eine Eisenbahn angelegt hatten? Menschen? Auf keinen Fall. Er mußte allerdings gefaßt sein, auf intelligente Wesen zu stoßen, die durch ihren Körperbau zum Bewohnen einer solchen Meerestiefe befähigt waren. Diese Geschöpfe einer unterseeischen Region waren sicherlich ganz und gar anders gebaut, als die an der Oberfläche der Erde wohnenden, höchstentwickelten Wesen, die man Menschen nennt, und deren Kenntnis sie sich bisher entzogen hatten. Sie wußten vielleicht auch nichts von den Menschen, obschon dies immerhin möglich sein konnte, denn sie mußten doch manchmal untergegangene Schiffe mit Leichen finden. Aber einem lebenden Menschen waren diese unterseeischen Geschöpfe sicher noch nicht begegnet, und es war die Frage, welche Aufnahme ein solcher bei ihnen finden würde!
Was aber auch geschehen mochte, Richard wollte sich jeder Gefahr aussetzen, um dieses Geheimnis zu ergründen!
Wenn er nach den an der Erdoberfläche herrschenden Verhältnissen rechnete, hätte er wohl noch drei bis vier Meilen von der Stadt entfernt sein müssen. So sah es von hier oben nämlich aus. Das war aber nur eine Täuschung, die durch das Meerwasser verursacht wurde. Im Wasser reicht der Blick ja nicht so weit. Die Entfernung war eine viel kleinere, mit jedem Schritte wuchsen die Häuser höher und höher, und Richard war erst eine Viertelstunde marschiert, als er sich schon zwischen den ersten Häusern befand.
Nach der flachen Bauart derselben, die meist aus Sandstein bestanden, war er in einer orientalischen Stadt! Ja, hier waren auch keine Kirchtürme, sondern Minarets Türme von Moscheeen!
Und eine solche Stadt auf dem Meeresgrunde!—
Richard wurde immer mehr irre in seinen Ansichten, sie wechselten fortwährend. Wohl waren diese Gebäude hier Häuser, aber die Wasserpflanzen wucherten zu den offenen Fenstern heraus und alles war mit Vegetation und Muscheln bedeckt, und alles ausgestorben! Wozu in aller Welt waren denn hier unter dem Wasser großartige Springbrunnen und Fontänen angelegt? —
Kein Zweifel mehr, es war eine im Meere versunkene Stadt, die er vor sich hatte. Sind ja oft genug schon ganze Inseln mit Städten unter dem Wasser verschwunden! Das Land, auf dessen Boden er stand, hatte sich wahrscheinlich nicht durch eine plötzliche Katastrophe, sondern nach und nach gesenkt, sodaß die Bauten ziemlich gut erhalten geblieben waren.
Aber wie kam da die in Betrieb befindliche Eisenbahn hierher? Das Rätsel war also noch nicht gelöst, und ein solches war auch das helle, elektrische Licht, das die Stadt erleuchtete, ohne daß Richard seine Quelle entdecken konnte.
Da — narrte ihn denn ein Gaukelspiel der Hölle? — Sah Richard sein vollkommenes Spiegelbild? Doch das war er nicht selbst, das war ein anderer Taucher, der auf ihn zukam; derselbe war nur ganz genau so ausgerüstet wie er. Auch er trug um die Hüften den lichtstrahlenden Gürtel, darin die eigenartige Axt und die langläufige Pistole und alle die anderen Instrumente, vor allen das Luftreservoir auf dem Rücken; auch hatte er den Schalltrichter ebenso wie Richard an einem Schlauche am Glockenhelme hängen.
Der fremde Taucher ging direkt auf Richard zu, brachte seinen Helm dicht an das Augenfenster desselben — und Richard sah in ein menschliches Gesicht, aber in ein solches mit so kreideweißen, starren Zügen, daß er sich davor entsetzte.
Jetzt nahm derselbe seinen Schalltrichter und setzte ihn an Richards Telephonvibrane.
»Wir müssen uns beeilen, um acht Uhr geht unser Zug nach Hause,« erklang es mit Grabesstimme an Richards Ohr.
Die Gestalt wandte sich darauf und ging oder schwebte vielmehr davon. Richard stand vor Schreck an allen Gliedern zitternd da. Wäre ihm der allerungeheuerlichste Polyp oder sonst ein Ungetüm begegnet, er wäre nicht so maßlos bestürzt gewesen, als durch den Anblick dieses Menschen mit den Zügen einer Leiche, der ganz genau so ausgerüstet war wie er.
Oder war er es gar selbst? War der unheimliche Taucher etwa sein Doppelgänger, sein zweites Ich, das ihm der Himmel, ihn als Leiche zeigend, zur Warnung schickte?
Und dann diese Worte! Jetzt war es eine halbe Stunde vor acht Uhr. Um acht ging er nach Hause — in den Tod!
Nein, der Mann hatte ja von einem Zuge gesprochen, und hier gab es ja auch wirklich Eisenbahnzüge!
Richard überwand daher jedes Grausen und eilte dem noch sichtbaren Manne nach. Mochte er ihn führen, wohin er wollte!
Doch wieder blieb er starr vor Staunen stehen, obgleich das, was er jetzt sah, zu seiner Beruhigung dienen konnte.
Wie er um eine Ecke bog, befand er sich nämlich auf einem Bauplatze, auf dem gearbeitet wurde. Viele Taucher, und zwar alle in ganz demselben Kostüm, wie es Richard trug, rissen ein Haus ab und waren mit Spaten, Hacken und Brechstangen eifrig thätig, um die frei bekommenen Sand- und Marmorsteine, mächtige Quaderblöcke, mit leichter Mühe vor sich her zu wälzen und in einem Gebäude unterzubringen, das von der übrigen Umgebung seltsam abstach.
Es war ein langgestrecktes niedriges Haus im Gegensatze zu den anderen aus Eisen oder Stahl bestehend, aus dicken Platten zusammengenietet und nur mit einer Thür versehen, in welche auch die Schienenstränge hineinliefen. Drinnen sah Richard einige der großen Kugeln stehen, die jetzt allerdings kein Licht verbreiteten, sowie mehrere, ihm ganz fremdartig erscheinende Maschinen.
Jetzt war ihm alles klar, wenn es auch noch merkwürdig genug war. Es existierten Menschen, die, in Taucheranzügen lebend, anscheinend ähnliche oder vielleicht fast ganz genau dieselben Erfindungen gemacht hatten wie er. Und welch ein seltsamer Zufall! Auch sie hatten ihre Erfindungen ebenso geheim gehalten wie Richard! Aber sie waren doch schon viel weiter fortgeschritten als er; sie arbeiteten bereits auf dem Meeresboden und hatten, nachdem sie die versunkene Stadt entdeckt, eine Eisenbahn konstruiert und, den Verhältnissen unter dem Meere angepaßt, erbaut und schafften nun mittelst dieser die Steinquadern fort.
Und doch war das Rätsel noch nicht ganz gelöst. Gewiß, solche große Quadersteine sind als Baumaterial sehr geschätzt, und man scheut auch auf der Erdoberfläche keinen weiten Weg, um sie herbeizuschaffen — aber sind sie denn wirklich von solchem Werte, um deshalb Taucher auf den Meeresgrund zu schicken und Eisenbahnen zu ihrem Transporte zu konstruieren? Konnte man sie denn nicht mit Schiffen, welche man sich über diese Stelle legen ließ, an das Tageslicht befördern? Auf dem Meeresboden gab es doch auch noch ganz andere Sachen zu finden und zu heben, als Sandsteine von alten Häusern!
Oder — — nein, den Gedanken, der Richard jetzt durch den Kopf gezuckt war, ließ er schnell wieder fahren! Derselbe war so kühn gewesen, daß er darüber förmlich erschrak.
In diesem Momente näherte sich ihm ein Taucher, ein sehr großer Mann. Wieder sah dieser erst durch das Fenster des Glockenhelmes in Richards Gesicht, wieder meinte Richard die starren, farblosen Züge eines Toten zu erblicken, dann setzte auch dieser Taucher seinen Schallbecher an Richards Helm.
»Mach' zu, Sechsundzwanzig,« erklang es drohend, »wir müssen die Steine noch hereinbekommen und verladen, um acht Uhr sollen wir abfahren, der Meister hat eine Depesche geschickt; heute abend soll über den Verräter zu Gericht gesessen werden.«
Diese Leichenzüge, diese starren Augen, diese Worte, mit furchtbar drohender Stimme gesprochen — sie ließen Richard wieder vor Furcht erschauern; zugleich aber wußte er auch, was er zu thun habe, um seinem Verhängnis zu entgehen.
Man hielt ihn für einen der Meeresbewohner, man nannte ihn Nummer Sechsundzwanzig, so mußte Richard also jetzt diese Rolle spielen und alles Weitere Gott überlassen! Nur jetzt durfte er sich nicht verraten, er mußte sich erst sammeln, vielleicht fiel ihm noch ein Ausweg ein.
So eilte er auf den Bauplatz, ergriff eine daliegende Hacke, hieb wie die anderen auf den Boden ein, untergrub den Untergrund, um ganze Mauern zum Sturze zu bringen, zog mit an den Drahtseilen, wenn die anderen daran zogen, und wälzte die abgebrochenen Steine in den Eisenschuppen.
Niemand von den Tauchern merkte, daß sich ein Fremder unter ihnen befand, und dennoch lag die Gefahr, als solcher erkannt zu werden, für diesen sehr nahe. Denn Richard beobachtete, wie sich die Taucher manchmal durch eine Fingersprache unterhielten, und wenn er jetzt mit diesen Zeichen etwas gefragt wurde und er vermochte nicht zu antworten, so war er verraten; ebenso freilich auch, wenn sich die richtige Nummer Sechsundzwanzig einstellte, der er ähnlich sehen mochte, wenn er als Ueberzähliger erkannt wurde!
Während der Arbeit hatte Richard einen festen Entschluß gefaßt: er wollte an keine Flucht denken, sondern, wenn möglich, die ihm aufgedrängte Rolle weiterspielen und sich sonst den Tauchern auf eine andere Weise anzuschließen versuchen. Seine Wißbegierde ging über die Vorsicht, denn dessen war er sich bewußt, daß er unter Menschen gekommen war, die ein Geheimnis wahrten; wollte man doch heute abend über einen Verräter zu Gericht sitzen.
Als er wieder einen Stein nach dem Stahlhause, dem Bahnhofe, gewälzt hatte, wo die Quadern in den hohlen Kugeln verladen wurden, trat ihm ein Taucher entgegen, scheinbar ein Vorarbeiter, und machte vor ihm Fingerbewegungen, indem er immer ungeduldiger wurde, je länger er keine Antwort erhielt.
O weh, da kam schon die Entdeckung! Was würde nun aus Richard werden? Doch da stand schon ein anderer Taucher neben ihm, machte ein Fingerzeichen, und der Vorarbeiter nickte befriedigt im Glockenhelme mit dem Kopfe. Die Gefahr schien vorüber zu sein, wenngleich auch noch die Erklärung, weshalb dieses der Fall wurde, fehlte.
Jetzt setzte der zweite Taucher, der Richard diese Gefälligkeit erwiesen hatte, sein Sprachrohr an dessen Helm.
»Er hatte Dich nicht erkannt und wußte daher nicht, daß Du noch nicht ganz die Fingersprache beherrschst,« erscholl es hohl. »Du sollst aufhören zu arbeiten und hineingehen, Du fährst mit dem ersten Wagen ab.«
Wie? Er sollte noch nicht ganz die Fingersprache beherrschen? Ah, so hielt man ihn anscheinend für einen Neuling! Das kam ihm sehr zu nutze, das konnte ihn retten.
Richard trat in das Innere des Hauses. Man gab ihm hier Winke, und er mußte sich durch eine Thür in den Hohlraum einer Kugel begeben und auf einem der sechs Sitze Platz nehmen, die nach Art der russischen Schaukeln angebracht waren, also im Kreise auf Flügeln lagerten.
Auch die anderen Plätze wurden besetzt, dann die Thür geschlossen, nun schaukelten die Balancierstühle etwas auf und ab, jedoch nur dadurch, daß an den kleinen Fensterchen Gegendstände vorbeihuschten, und Richard gewahrte, daß sich die Kugel bewegte. Die in Achsen gelagerten Flügel mit den Sitzen machten die Rotation nicht mit.
Still und stumm saßen die sechs anderen Taucher in dem hell erleuchteten Coupé, an sich schon ein sehr merkwürdiger Anblick, und Richard wollte es kaum glauben, daß man sich in einer mit Wasser gefüllten Kugel befand.
Einer der Taucher griff zum Sprachrohr.
»Hast Du nun gesehen, Nummer Sechsundzwanzig, wie wir den Meeresboden beim Arbeiten beleuchten?« fragte er.
Richard setzte seinen Schalltrichter an des anderen Helm und schrie ein »Nein« hinein. Der Taucher lächelte darauf; aber es war ein gräßliches Lächeln in den totenähnlichen Zügen, die sich wie im Krampfe verzerrten.
»Wir elektrisieren das Wasser auf eine vom Meister erfundene Methode, sodaß es selbst leuchtend wird.«
Diese Erklärung war gewiß freundlich, doch Richard wurde trotz alledem die unheimliche Empfindung nicht los, daß er sich zwischen auferstandenen Toten befände, denen er nun mit Leib und Seele verfallen sei.
Was es mit dem Meister für eine Bewandtnis habe, das zu fragen, durfte er auch als vermeintlicher Neuling nicht wagen; überhaupt jede Frage war für ihn mit einem Risiko verbunden, oder er mußte sie recht geschickt stellen.
»Heute abend wird ein Verräter verurteilt,« begann er wieder durchs Telephon.
Der andere Taucher zuckte bedauernd die Achseln.
»Nummer Neun wird schwerlich der lebenslänglichen Gefängnisstrafe entgehen,« erwiderte er, »er hat es auch gewußt, als er seine Flucht antrat; er ist einer der Aeltesten, hat die Kolonie sogar mit begründen helfen. Alter schützt eben vor Thorheit nicht. Auf Flucht, die wir Verrat nennen, steht unerbittlich lebenslänglicher Arrest unter Aufsicht. Denn wir zwingen ja niemand zum Beitritt, freiwillig muß jeder sein Ehrenwort abgeben, bei uns für immer zu bleiben, nichts ist bei uns auf dem Meeresgrunde so heilig als der freie Wille. Hat er aber einmal diesem freien Willen entsagt, so gehört er uns mit Leib und Seele. Ueberdies ist die lebenslängliche Gefängnisstrafe nicht so schlimm, wie es wohl klingen mag, der Verurteilte wird nur in der Seeburg beschäftigt, darf sie nur in Begleitung verlassen und steht außerhalb derselben immer unter Aufsicht. Sonst bekommt er seine Strafe gar nicht zu fühlen. Doch aussteigen, wir sind da! Halt, erst wird die Kugel entleert.«
Richard hatte doch schon sehr viel erfahren. Die Freiheit des Willens wurde also heilig gehalten. Das war sehr wichtig. Jetzt dachte er gar nicht mehr an eine Flucht, wenn sie überhaupt noch möglich gewesen wäre.
Das Wasser floß aus der Kugel, einer nach dem anderen kroch durch das Thürchen, und Richard sah sich in einer großen, wasserfreien Halle stehen, die wahrscheinlich den Hauptbahnhof bildete.
Die Taucher schraubten jetzt die Helme los und entledigten sich ihrer Kostüme — und wieder war Richard starr vor Staunen, das aber gerade von der entgegengesetzten Empfindung als der früheren herrührte.
Als nämlich die Glockenhelme fielen, zeigten sich zwar sehr bleiche und auch ernste, dennoch aber milde, freundliche Gesichter von meist älteren Männern, die gar keine Aehnlichkeit mehr mit den früher gesehenen hatten, die so starr und verzerrt gewesen waren.
An letzterem war einfach das Helmfenster schuld gewesen. Von innen heraus sah man nämlich alles, wie es in Wirklichkeit war. Dahinter aber nahm das Gesicht den seltsamen, leichenhaften Ausdruck an, was Richard zufällig noch nicht gewußt hatte. Ebenso machte auch das Telephon unter Wasser die Stimme rauh und drohend.
Wahrhaftig, wenn Auge und Gesicht der Spiegel der Seele sind, so hatte er von diesen Männern nichts zu fürchten!
»Nun, willst Du Dich nicht ausziehen, Nummer Sechsundzwanzig?« lachte ihm sein gefälliger Lehrer ins Telephon. »Du bist nicht mehr im Wasser, das mußt Du doch schon an der Schwere Deiner Beine merken.«
Der freundliche Mann war ihm auch noch behilflich, den Helm abzuschrauben. Jetzt nahte die Entdeckung, und sie kam noch eher, als man sein Gesicht richtig gesehen hatte.
»Wer ruft Nummer Sechsundzwanzig? Hier bin ich.«
Mit diesen Worten sprang nämlich ein mit Richard gleichaltriger Knabe herbei.
»Nummer Sechsundzwanzig! Der Schiffsjunge!« erklang es da in grenzenlosem Staunen. »Ja, wer ist denn aber das?!«
Der Helm war abgenommen, Richards gebräuntes Antlitz zeigte sich.
Eine Bewegung der Bestürzung ging durch die Reihen der Umstehenden.
»Ein Fremder! In unserem Taucheranzug! Unsere Geheimnisse sind verraten worden!«
»Nein, sie sind nicht verraten worden,« entgegnete Richard mit fester Stimme, »alle diese Erfindungen entspringen meinem eigenen Kopfe; hier waltet nur ein höchst sonderbarer Zufall ob.«
Die Männer beruhigten sich schnell, wenn ihr Staunen auch blieb; ebensowenig veränderte sich ihr milder Gesichtsausdruck.
»Wer Du auch seiest,« nahm der Aelteste das Wort, »zu fürchten hast Du von uns nichts. Auch wir sind Menschen wie Du, und zwar gute Menschen. Entledige Dich vollends Deines Taucheranzuges, dann folge mir. Ich werde dem Meister Meldung machen, er wird entscheiden.«
Richard zog jetzt das Kostüm aus, unter dem er noch einen bequemen Anzug trug, und folgte dem Führer.
Sie schritten durch mehrere Gänge, deren Wände aus glatten, ungefügten Steinen bestanden, und traten in ein Kämmerchen. Da kam es Richard plötzlich vor, als verlöre er den Boden unter den Füßen — als befände er sich in einem Fahrstuhle, und es ginge in die Tiefe; dann kam noch ein Gang, diesmal aber ein luxuriös ausgestatteter Korridor, in dem die elektrischen Lampen von kostbaren Statuen gehalten wurden, und nach einer abermaligen Fahrt in die Tiefe sah Richard sich in einem freundlichen Wohnzimmer und wurde bedeutet, daß er hier warten solle, bis er vor den Meister geführt werden würde.
»Hast Du vielleicht Appetit?« fragte der alte Mann.
»Größer als mein Appetit ist mein Wissenshunger.«
»Du wirst vom Meister alles erfahren. Doch mit leerem Magen ist man nur ein halber Mensch.«
Das war sehr freundlich und vernünftig gesprochen.
»Ja denn, ein Abendbrot wäre mir recht lieb,« lachte Richard.
»In fünf Minuten wird es auf dem Tische stehen.«
Der Mann trat nun auf eine gekennzeichnete Platte in der Ecke und verschwand in einer Versenkung, die sich augenblicklich wieder über seinem Kopfe schloß.
Richard sah sich um. Es war ein in deutschem Geschmack gut möbliertes Wohnzimmer, etwa eine sogenannte gute Stube, in der er sich befand, nur daß der Ofen und auch Thüren und Fenster darin fehlten. Für Licht sorgte eine Ampel an der Decke, für Luftzufuhr einige Vergitterungen.
Noch suchte Richard nach einem Knopfe oder Hebel, der den Mechanismus des Fahrstuhles in Bewegung setzte, als es hinter ihm ein paarmal knackte. Rasch drehte er sich um und sah auf dem Tische, der mit keiner Decke belegt war, plötzlich einige Teller stehen. Bald erschienen noch mehr und auch Flaschen und Gläser, doch als er schnell hinzusprang, kam er schon zu spät, um den Mechanismus zu beobachten, und konnte nur so viel erkennen, daß der Tisch unten nichts weiter besaß, als eine starke Stütze, durch welche Speisen und Getränke spaziert sein mußten. Zauberei war das nun freilich nicht, wohl aber eine sehr sinnreiche und praktische Einrichtung.
Was da vor ihm stand, sah gerade so aus wie ein großes, appetitlich gebratenes Beefsteak, Kartoffeln und Spinat; die Flaschen aber enthielten Weiß- und Rotwein, ein besonderes Glas Milch; und ebenso wie die Speisen aussahen, schmeckten sie auch. Richard ließ es sich daher trefflich munden; Messer, Gabel und Löffel waren silberne Künstlerarbeiten, und spanische Namen waren darin eingraviert. Jedenfalls waren sie Funde aus gesunkenen Schiffen. Daher stammte sicherlich auch das kostbare, chinesische Porzellan. Das Beefsteak, die Milch und anderes ließen aber darauf schließen, daß die geheimnisvollen Taucher trotz ihrer kreideweißen Gesichtsfarbe, die von dem Fehlen des Sonnenlichtes herrührte, noch immer mit der Erdoberfläche in Verbindung standen.
Richard hatte die Schüsseln eben geleert, als sich die Platte in der Ecke hob, und der alte Mann wieder auftauchte. Wahrscheinlich mußte der Speisende beobachtet worden sein, weil der Führer so rechtzeitig eintraf.
»Bist Du bereit, mir zu folgen?« fragte dieser.
»Ich bin bereit.«
Diesmal ging der Fahrstuhl nach oben, und bald stand Richard in einem mit Büchern und physikalischen Apparaten vollgepfropften Studierzimmer vor einem weißbärtigen Greise, dessen Gestalt von einem meergrünen Gewande umflossen war. Auch dieses Gesicht war weiß und ernst, und ebenso ruhig und freundlich wie dasjenige des anderen. Auf alle diese Gesichter hatte ein ungetrübter Seelenfriede seinen Stempel gedrückt — das war es, was Richard jetzt erkannte.
Die großen, blauen, scharfen Augen des Greises ruhten mit unverkennbarem Staunen auf Richard.
»Wer bist Du, Knabe, daß Du Dich in einem Taucheranzuge, der ganz dem unseren gleicht und dennoch nicht von uns gefertigt ist, was auch von allen anderen Zubehörteilen gilt, die man bei Deiner Ausrüstung fand, auf dem Meeresgrunde bewegst?«
Richard, der vor dieser würdevollen Erscheinung jede Befangenheit schwinden fühlte, erzählte frisch darauf los wie sein Name war, woher er kam, und daß das Taucherkostüm und alle Instrumente seine spielend leicht gemachte Erfindung seien, wie er sie geheim halte, um mit ihnen zum Vergnügen und aus Wißbegierde Forschungen zu unternehmen.
Wir haben Richard schon mehrmals als genialen Mathematiker und Physiker kennen gelernt, und auch bei dieser Erzählung offenbarte er genug von seinen Fähigkeiten, daß der Greis sofort wissen mußte, wessen Geistes Kind er vor sich hatte.
Dabei hatte er immer wieder erstaunt den Kopf geschüttelt.
»Es ist wunderbar,« nahm der Greis dann das Wort. »Mein Staunen trifft teils die ungewöhnlichen Kenntnisse Deines Alters, mehr aber noch die Merkwürdigkeit, daß Du ganz die gleichen Erfindungen gemacht hast, wie wir im Laufe von einem halben Jahrhundert und sie auch in ganz gleicher Weise ausführtest. Und dennoch ist mein Staunen ungerechtfertigt, denn das alles ist nur ein Beweis für die Theorie, die ich verfechte. Der der Menschheit wohlgesinnte Erdgeist, Genius genannt, streift mit einem Hauche nicht nur einen einzelnen Menschen, nein, viele können ihn fühlen, und wer ihn verspürt, der schafft das aus göttlicher Eingebung, um was ihn dann die anderen Menschen als Genie bewundern. So sind die meisten großen Erfindungen gleichzeitig an mehreren Orten der Erde gemacht worden, ohne daß die Betreffenden miteinander verkehrt hätten; gleichzeitig und plötzlich wurden die Erfinder von dem großen Gedanken erfaßt. — Doch lassen wir das jetzt. Setze Dich, mein Sohn, ich will Dir erzählen, wo Du bist, und wer ich bin.«
Richard setzte sich, und ihm gegenüber nahm der Greis Platz.
»Ich habe keinen Namen mehr, habe auch nie einen bekannten gehabt,« begann letzterer wieder, »ebensowenig brauchst Du meine Nationalität zu wissen. Man nennt mich hier den Meister, die anderen Mitglieder unserer Kolonie führen nur Nummern. Ich war bis vor fünfzig Jahren Ingenieur, zuletzt auf einem Taucherschiffe, hatte schon manche wichtige Erfindung gemacht und war immer um jeden Vorteil betrogen worden. Meine Gefühle damals und was ich alles erlitten habe, brauche ich Dir nicht zu schildern; ich könnte es auch gar nicht, weil schon längst alle Bitterkeit aus meinem Herzen geschwunden ist. Zuletzt konstruierte ich einen brauchbaren Taucheranzug, der jedem Drucke widerstand, und war diesmal so klug, meine Entdeckung für mich zu behalten. Diese vervollkommnete sich immer mehr, und bald konnte ich mich, frei wie ein Fisch, im Wasser und in jeder Tiefe bewegen. Aber immer tauchte ich allein, und so fand ich eine Perlenbank, und bald standen mir überhaupt alle Schätze des Meeresbodens zur Verfügung, kurz, ich war ein reicher Mann und konnte nun mein Ideal verwirklichen, von dem ich schon oft geträumt hatte.
Wir befanden uns im atlantischen Ocean, teils in, teils unter einem Felsenberge, der den Schiffern wohlbekannt und von ihnen gemieden ist. Er gilt als unersteigbar; niemand hatte ja auch auf der himmelhohen Klippe etwas zu suchen. Als ich in seiner Nähe einmal tauchte, fand ich zufällig einen unterseeischen Tunnel, denn dieser Felsenberg war nicht massiv, sondern hohl und nur von Wänden gebildet. Er paßte mir am besten als Ausgangspunkt meiner Pläne. Ich warb Leute, teils Kameraden, die mit mir harmonierten, teils solche, die aus bitteren Erfahrungen weltflüchtig geworden waren, teils bedeutende, aber verkannte Genies, die gern auf Ruhm und Ehre verzichteten, wenn sie nur ihre Pläne ausführen durften. Mit diesen siedelte ich hierher über; meine unerschöpfliche Schatzquelle erlaubte ja alles, was für Geld nur erreichbar war; wir luden alles Mitgebrachte aus und senkten das Schiff auf den Grund. Nun waren wir ganz allein auf uns angewiesen. Da legten wir den Schwur ab, nie wieder mit der Außenwelt in Berührung zu kommen, und was menschlicher Fleiß und menschlicher Geist im Laufe von fünfzig Jahren schaffen konnten, das wirst Du ja selbst nach und nach kennen lernen. Mehr brauche ich Dir eigentlich nicht zu erzählen. Wir sind von der Erdoberfläche unabhängig, das Meer liefert uns alles, was wir bedürfen. Das Beefsteak, das Du vorhin aßest, war von einer Seekuh, Kartoffeln und Gemüse von einem Seegewächs, den Wein gewinnen wir aus Beeren, die an Felsenklippen unter Wasser wachsen; die Milch, die Du nicht von frischer Kuhmilch unterscheiden kannst, ist ein chemisches Fabrikat. Unsere Eisenbahn hast Du schon gesehen. Die Stadt ist eine maurische, die vor vielen hundert Jahren im Meere versank. Wir benutzen die Steine, um uns das Behauen zu sparen. Einen Zwang zur Arbeit giebt es hier nicht. Wer Lust zur Arbeit hat, meldet sich freiwillig und ist dann nur für diesen Tag dazu verpflichtet. Die übrige Zeit geht in Studien und sonstigen Beschäftigungen auf. Bücher liefern uns ja die Schiffsbibliotheken. Wir sind alle sehr, sehr glücklich. — Hast Du sonst noch eine Frage? Später erfährst Du allerdings alles ausführlich.«
Aufmerksam hatte Richard zugehört. Jetzt aber kam der Kernpunkt der Unterhaltung.
»Ja, soll ich denn nun für immer hier bleiben?«
»Gewiß. Wie ich hörte, stehst Du ja ganz allein in der Welt, und es wird Dir hier schon gefallen.«
»Wenn ich aber nun nicht mag?«
Zwischen den Augenbrauen des Meisters entstand ein Fältchen.
»Dann mußt Du einfach hier bleiben, mein Sohn,« sagte er mit Betonung, »wer einmal in unsere Geheimnisse eingeweiht ist, darf uns nicht wieder verlassen.«
»Ich gebe mein Ehrenwort ab, nichts zu verraten.«
»Das genügt uns nicht. Du bist zu jung, und das Leben ist zu lang.«
»Ich habe gehört, daß hier die Freiheit des Willens als Heiligtum respektiert wird.«
»Dies gilt nur, wenn man uns beitritt, was sehr selten vorkommt. Bei Dir muß eine Ausnahme gemacht werden. Vor einigen Wochen beobachtete ich ein Segelschiff. Ein Schiffsjunge bekam jämmerliche Schläge, er sprang in seiner Verzweiflung über Bord. Mich dauerte der Aermste, ich brachte ihn unter Wasser schnell in die mit Luft gefüllte Rettungskugel und unterzog ihn einem Verhör. Er war eine Waise und mit Freuden bereit, bei uns zu bleiben. Da legte er den Schwur ab, uns nicht wieder zu verlassen. Hätte er ihn nicht freiwillig geleistet, so würden wir ihn wieder an die Oberfläche haben schießen lassen. Dann wäre es uns gleichgültig gewesen, was aus ihm geworden. Wäre er dann auch gerettet worden, so hätte man ja seine Erzählung für eine Ausgeburt seiner Phantasie in der Todesangst gehalten. Bei Dir ist das etwas anderes, Du hast uns beobachtet, Du darfst uns nicht wieder verlassen.«
Dann fuhr der Meister, der Herrscher des Meeres, der keinen Widerspruch duldete, fort:
»Versprichst Du mir bei Deinem Ehrenwort, nicht zu entfliehen?«
»Nein, dieses Wort gebe ich nicht.«
»Ueberlege es Dir und lerne unser Leben erst kennen — es wird Dir bei Deinem Geiste und Charakter hier gefallen. Jetzt geh'.«
Der Meister deutete bei diesen Worten auf das in der Ecke markierte Viereck, und als Richard sich darauf stellte, senkte sich der Fahrstuhl, und der Knabe befand sich in den Wohnräumen zwischen den anderen Kolonisten auf dem Meeresgrunde, denen er als unfreiwilliger Kamerad beigesellt worden war.
Richard war ein Gefangener, obgleich er das nicht im geringsten zu fühlen bekam.
Frei wie jeder andere konnte er sich bewegen, alle Räume standen ihm zur Verfügung, er konnte treiben, was ihm beliebte, niemand hielt ihn zu irgend etwas an.
Da er nun einmal hier war, benutzte er die Gelegenheit, sich umzusehen. Der ganze Felsenberg, die Seeburg genannt, war inwendig ausgehöhlt worden, über und unter Wasser und selbst noch unter dem Meeresboden. Das war die Wohnung und die Werkstätte der Kolonisten, angefüllt mit den Schätzen von gesunkenen Schiffen und mit Erzeugnissen des menschlichen Geistes und Fleißes.
Mit einer Beschreibung der wunderbaren Maschinen und Vorrichtungen wollen wir lieber gar nicht erst anfangen und erwähnen nur, daß zur Erzeugung der Elektricität die Kraft der Meeresströmungen benutzt wurde.
Einige Tage vergingen so dem immer von neuem staunenden Richard wie im Fluge, und wirklich, er bekam Lust, hier thätlich mitzuwirken. Gern beschäftigte man ihn in den Werkstätten, und so verstrichen rasch die Wochen.
Dann tauchte doch wieder der Gedanke in Richard auf, daß er nicht sein ganzes Leben hier bleiben könne. Dazu fühlte er sich nicht geschaffen.
Als er eines Tages bat, auch einmal auf dem Meeresboden spazieren gehen zu dürfen, führte ihn jener alte, freundliche Mann, der ihm als Lehrer und Erklärer beigegeben worden war, in die Rüstkammer, wo Richard sein eigenes Taucherkostüm sah und anzog.
Geheimnisvolle Thüren öffneten sich, dann umfloß ihn Wasser, und er wanderte mit seinem Mentor auf dem Meeresgrunde. Das war so belehrend, daß er beschloß, nicht eher an einen Fluchtversuch zu denken, als bis er hier unten alles kennen gelernt hatte.
Ja, wie wollte man ihn denn eigentlich an einer Flucht hindern? Diesem alten Manne konnte er doch bald entkommen! Das Luftreservoir war wieder für 100 Stunden gefüllt, damit vermochte er schon weit zu kommen. Ab und zu konnte er ja auch in die Höhe steigen und nach einem Schiffe ausspähen — er wollte es doch gleich einmal probieren.
Aber es ging nicht mehr. Die Vorrichtung, sich zu heben und wieder schwerer zu machen, die Schwimmblase war von dem Kostüm entfernt worden. Keiner der Taucher besaß sie. War das nicht eine Vorsichtsmaßregel des Meisters? Es schien so. Nun, dann mußte Richard also so lange auf dem Meeresgrunde wandern, bis er eine Küste erreichte. Aber wo befand er sich denn überhaupt?
Richard hatte keine Ahnung. Von jenem Felsenberge im atlantischen Ocean, den alle Schiffer kennen sollten, war ihm gar nichts bekannt. Er fand nichts davon auf einer Seekarte, niemand wußte oder wollte wissen, wo er sei, und jeder behauptete, das wäre ja ganz gleichgültig.
Da erkannte Richard, wie schlau es vom Meister gewesen war, die Schwimmblase zu entfernen. Denn um die geographische Lage zu bestimmen oder sich doch einigermaßen orientieren zu können, dazu muß man die Sonne und andere Gestirne beobachten, und diese Möglichkeit war Richard jetzt genommen. Auf dem Meeresgrunde aber einfach aufs Geratewohl fortzumarschieren, das wäre der sichere Tod gewesen.
Trotzdem ließ Richard die Hoffnung nicht sinken, dereinst doch fortzukommen. Vorläufig gab er sich allerdings gar nicht mit Fluchtgedanken ab, er wartete aber auf Fingerzeige und Gelegenheiten und nahm unterdessen an den Arbeiten der Seekolonisten auf dem Meeresgrunde teil, um alles kennen zu lernen. Er arbeitete mit in den unterirdischen Bergwerken, beförderte Kohle, Eisen und andere Rohstoffe herauf, er stieg bis auf zweitausend Meter hinab in Regionen, in denen jegliches Leben erloschen war, er bestand zahllose interessante Abenteuer und machte Jagden mit. So verstrichen Monate, und Richard, der sich jetzt fortzusehnen begann, sah noch immer keine Möglichkeit, die Sonne je wiederzuschauen.
Dennoch verweigerte er standhaft sein Ehrenwort, nicht an eine Flucht zu denken, wodurch er vielleicht die Wachsamkeit seiner Wächter hätte einschläfern können. Denn bewacht oder doch begleitet wurde er stets; hauptsächlich schien man ihn von denjenigen Tauchern fernhalten zu wollen, die manchmal ebenfalls Sehnsucht nach der Sonne, das heißt, nach der Außenwelt hatten.
Eines Tages machte er wieder mit einigen Tauchern einen Ausflug auf dem Meeresgrunde, um Beeren zu sammeln. Vorher wurde stets sein Kostüm untersucht; dann hielt man es nicht mehr für nötig, ihm einen beständigen Aufpasser beizugesellen, da ein Aufstieg unmöglich war und eine Flucht seinen Tod bedeutet hätte.
Die Suchenden zerstreuten sich. Bald sah sich Richard in dem kleinen Lichtkreis, den sein Leuchtgürtel um ihn verbreitete, allein. In der Ferne schimmerte eine intensive Glühkugel als Signal, das sich die Taucher nicht verirren konnten.
Plötzlich bemerkte Richard im Bereiche seines Leuchtkreises eine ungeheure Schlange, die kerzengerade aus dem Boden in die Höhe stieg. Das heißt, daß es eine Schlange sein könne, war nur eine phantastische Annahme von ihm. Nur der Gedanke spukte noch immer in seinem Kopfe, daß er einmal einer riesenhaften Seeschlange begegnen könne.
Eine Schlange also war es nicht, was da so kerzengerade vor ihm aufstieg! Doch noch ehe er es näher erkannt hatte, blitzte ihm ein hoffnungsfreudiger Gedanke durch den Kopf. Er warf rasch einen Blick auf seinen Tiefenmesser — ja, nur achtzig Meter war er noch unter dem Wasserspiegel — und als er sich jetzt bückte, richtig, da sah er einen mächtigen Anker vor sich, der sich im Grunde festgewühlt hatte und eine straff gespannte Ankerkette, und dort oben lag ein Schiff!
Richard sah sich bereits gerettet! Er löschte den Leuchtgürtel aus, ergriff die Kette und zog sich daran empor. Das war eine sehr leichte Mühe, selbst wenn er kein muskelstarker Turner gewesen wäre, jeder Ruck beförderte ihn einige Meter hinauf.
Jetzt fiel ein heller Schein in seinen Taucherhelm, er jauchzte laut auf, es war die Sonne! Wie er den schweren Kopf etwas hob, mit den Schultern natürlich noch im Wasser, sah er die Eisenplatten eines sehr hohen Dampfers. Weiter zu klettern vermochte er aber nicht. Schon der Helm war sehr schwer, und die Bleisohlen hätte er vollends nicht nachziehen können. Er schrie. Man konnte ihn aber schwerlich hören.
Kurz entschlossen klammerte er sich mit den Beinen an der Kette fest, schraubte den Taucherhelm ab und ließ ihn fallen.
»Mann über Bord! Mann über Bord!« schrie er dann jauchzend.
Da aber verwandelte sich sein Jauchzen in einen Angstruf.
»Zu Hilfe, schnell, zu Hilfe!«
Seine Füße waren nämlich gepackt worden, und wie er auch strampelte, sie wurden festgehalten, und eine gewaltige Kraft zog daran, der er nicht lange widerstehen konnte.
»Zu Hilfe! Mann über Bord!«
Schritte rannten über Deck, Köpfe erschienen über der Bordwand, man warf ein Tau hinab.
Zu spät, Richards Kräfte waren schon erschöpft, der Zug nach unten war stärker als seine Hände; sie verloren den Halt; mit einem verzweiflungsvollen Schrei versank Richard in der Tiefe, das Wasser schlug über seinem von keinem Taucherhelm mehr geschützten Kopfe zusammen.
Ein Röcheln und Gurgeln, ein kurzer Todeskampf — und Richard, der Träumer, erwachte zu neuem Leben in seinem Bette!
Roy Glashan's Library
Non sibi sed omnibus
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