Roy Glashan's Library
Non sibi sed omnibus
Go to Home Page
This work is out of copyright in countries with a copyright
period of 70 years or less, after the year of the author's death.
If it is under copyright in your country of residence,
do not download or redistribute this file.
Original content added by RGL (e.g., introductions, notes,
RGL covers) is proprietary and protected by copyright.


ROBERT KRAFT

»DETEKTIV NOBODY'S
ERLEBNISSE UND
REISEABENTEUER«

BAND 8

Cover

RGL e-Book Cover
Based on an image created with Microsoft Bing software


Ex Libris

Erstveröffentlichung als Heftreihe im Verlag
H.G. Münchmeyer, Dresden-Niedersedlitz, 1904-1906.

Nachauflagen erschienen 1908, 1918, 1919 und 1926.

Zwischen 1921 und 1923 erschien eine "für
den Film" bearbeitete Fassung in 16 Heften.

Diese E-Buch-Ausgabe: Roy Glashan's Library, 2024
Version von: 2024-08-03

Bearbeitung: Matthias Kaether und Roy Glashan

Link zu weiteren Werken dieses Autors



Illustration

Cover der Ausgabe von 1926



Illustration

Titelseite der Ausgabe von 1926



INHALTSVERZEICHNIS


I. Die Fahrt der Argonauten.

Freetown, jetzt 14 000 Einwohner, an der Sierra-Leoneküste gelegen, ist der einzige bedeutende Hafen von Westafrika.

Obgleich englischer Besitz, war es ein deutscher Dampfer, welcher kam, um die Post zu bringen und abzuholen.

Jetzt passierte er das Fahrwasser der Reede, auf der einige Schiffe und Fahrzeuge vor Anker schaukelten.

Das Deck des Postdampfers war sehr leer. Er nahm wohl Passagiere mit, aber nur bei Gelegenheit, auch nur erstklassige.

An der Reling standen zwei tabakkauende Matrosen, blonde Germanen. Der Dampfer kam sehr dicht an einem kleinen Kutter vorbei, dem man die italienische Felucca schon von weitem ansah.

Da hielt sich der eine der beiden Matrosen die Nase zu.

»O Mensk, o Mensk, wat ssstinkt dat Skip!«

Es war nämlich ein Ostfriese — direkt ut Jeiver, jau, jau.

Auch der andere hatte sich mit einer Gebärde des Abscheus von der Feluke abgewandt.

»Das ist ein chilenischer Guanokasten!«

»Nee, dat rücht nich nach Guano, dat ssstinkt nach Sk.....!«

Der Ostfriese sprach ein recht unästhetisches Wort aus. Aber sonst hatte er ganz recht, so roch es, das mußte auch Nobody bestätigen.

Nobody benutzte diesen Dampfer von Lissabon aus. Schon in Denver City hatte er aus den Schiffsplänen gewußt, daß er am schnellsten nach Freetown gelange, wenn er sich zunächst nach Lissabon begab. Hier hatte er also den besten Anschluß.

So telegraphierte er von Denver City aus, daß seine nächste Adresse New-York sei. In New-Nork meldete ihm eine der vielen Depeschen, die hier für ihn bereitlagen, daß jener Professor, dem er damals den Rubinring mit dem wunderbaren Stein zur Untersuchung übergeben hatte, gestorben sei, der Ring war nach Nobodys Wohnung zurückgekommen.

Was sollte er dort liegen? Nobody hatte ihn schon mehrmals vermißt. Er sollte nach Lissabon geschickt werden, und während Nobody über den großen Heringsteich kreuzte, machte der Ring die Landreise nach Lissabon, und so kam es, daß ihn Nobody wieder — nicht am Finger, sondern in der Tasche hatte.

Jetzt hatte Nobody anderes zu tun, als den penetranten Gestank der Feluke zu ergründen.

Der Dampfer lief in den Hafen ein. Daß Nobody hier nicht Edward Scott finden würde, das war ihm inzwischen klar geworden. Aber welchem Freunde würde er sonst begegnen, dem er sich anschließen sollte?

Es liegt doch ein großer Reiz in solchen ungewissen Zufällen, und nun gerade Nobody war für solchen Reiz außerordentlich empfänglich. In diesem Augenblicke, als der Dampfer am Kai anlegte, hatte der eiserne Mann das Herz eines Kindes, welches auf den Ton der Klingel wartet, die zur Weihnachtsbescherung rufen soll.

Last- und Gepäckträger, Hoteldiener, Hausierer, Bettler, Neugierige — lauter schwarze Gestalten, nur selten einmal das weiße Gesicht eines Agenten oder Kommis — aber vergebens schaute sich Nobody in dem Gewühl, welches von Land aus sich über die Laufbrücke auf das Deck ergoß, nach einem bekannten Gesicht um.

Nun, so schnell ging das wohl nicht. Es würde schon noch kommen. Der Glaube an die Sehergabe seines Freundes war unerschütterlich geworden.

Die aufdringlichen Träger zurückweisend, arbeitete er sich mit seinem Köfferchen durch die Menge. Dann aber mußte er sich den Sitten des Landes fügen, dessen Boden sein Fuß betrat.

Freetown macht Anspruch auf den Ruhm, die zivilisierteste Stadt von ganz Westafrika zu sein, und das mit Recht. Heute hat dieses Städtchen schon eine Menge von elektrischen Straßenbahnlinien, damals gab es fast ebensoviele Cabs und Hansoms, das sind die englischen vier- oder zweirädrigen Wagen, als sich Europäer in der Stadt befanden.

Wehe dem Europäer, der sich in Freetown zu Fuß auf der Straße sehen läßt! Einen größeren Gang wenigstens kann er nicht machen. Von seinen weißen Landsleuten wird er über die Achsel angesehen, weil er gegen die guten Sitten verstoßen hat, von der schwarzen Bevölkerung wird er gleich direkt boykottiert. Er bekommt keinen Dienstboten mehr, das schwarze Zimmermädchen verweigert dem Gast, der zu Fuß gekommen ist, das Waschwasser. Das sind eben Sitten, gegen die nicht anzukämpfen ist, und die vielen schwarzen Kutscher wollen doch auch leben.

Nobody war noch nicht in Freetown gewesen, hatte sich aber über alles schon zur Genüge orientiert.

Also zuerst auf einen der zweirädrigen Wagen zugesteuert.

»Wohin, Sir?« fragte der schwarze Rossetenker.

»Fahren Sie mich in irgendein besseres Hotel!«

»All right, Sir, Angostura-Hotel.«

Das Angostura-Hotel war voll besetzt. Ein zweites auch, ein drittes ebenfalls. In Freetown wurden nämlich die ersten Elfenbeinkarawanen aus dem Innern erwartet, deshalb zeigte das Städtchen auch den wimmelnden Charakter eines Ameisenhaufens.

Endlich im vierten Hotel wurde der Gast angenommen. Doch es sollte eben nicht sein. Nobody hatte den Kutscher bezahlt, dieser hatte sich schon entfernt, als dem Gaste bedeutet wurde, daß es leider ein Irrtum gewesen sei, es wäre dennoch kein Zimmer mehr frei.

Nobody regte sich über solche Kleinigkeiten nicht auf, nahm es nicht übel. So frühstückte er wenigstens in der Gaststube. Dieses Hotel war nach unseren Verhältnissen eigentlich mehr ein Gasthof mittlerer Güte, aber höchst komfortabel, alles blitzsauber. Hier gab es ja auch schwarze Diener genug, die nichts weiter zu tun haben, als nur immer zu scheuern und zu putzen und dafür nur Essen und alljährlich ein Hemd erhalten. Schlafen tun sie als Wächter vor der Haustür auf einem Fetzen Teppich.

Dann trat Nobody mit seinem Köfferchen wieder auf die belebte Straße hinaus. Wo blieb denn nun der Freund? Nobody war wirklich gespannt darauf. Und dieser Freund sollte es nicht so leicht haben, Nobody hatte sich einmal recht verändert, hatte sich das Aussehen eines Herrn mittleren Alters mit schwarzem Vollbart gegeben, einen gutbürgerlichen Eindruck machend — von dem Nobody mit den idealen Zügen war jetzt jedenfalls nichts mehr zu erkennen.

»Cab oder Hansom, Sir?« schrie ein Negerjunge dem in der Tür Stehenden zu, der natürlich auf eine Droschke wartete.

»Gleichgültig.«

Der Junge rannte davon und kam bald mit einein vierrädrigen Cab wieder, wofür er sein Trinkgeld erhielt.

Nobody trat an den Kutschersitz heran.

»Wissen Sie nicht...« Nobody schnüffelte, »ein Hotel oder Gasthof...« Nobody schnüffelte noch stärker, »wo noch ein Zimmer...« Himmel, was stank dieser Droschkengaul, »... frei ist?«

»Yes, Sir, im Rosenhotel sind noch Zimmer frei — ein sehr gutes Hotel,« entgegnete der weißbärtige Neger, der einen sehr würdigen Eindruck machte, wobei er sich vom Bock etwas herabbeugte.

Nobody aber prallte vor dem würdigen Rosselenker förmlich zurück.

Pfui Luder, was roch der Kerl aus dem Halse! Nein, ging der üble Geruch nicht von der ganzen Gestalt aus? Erst hatte er den armen Gaul im Verdacht gehabt.

Na, gleichgültig, der Stänkerfritze saß ja hoch oben auf dem Bock, der Fahrgast war von ihm durch eine Scheidewand getrennt.

»Fahren Sie mich nach dem Rosenhotel!«

Nobody öffnete den Schlag und...

Himmel Herrgott, was war aber das erst für ein Duft, der von den Polstern ausging? Gerade wie nach...

Nein, Nobody wagte das Wort nicht einmal in Gedanken auszusprechen. Wenn die Gesellschaft darnach war, wenn der Detektiv sich selbst als Runks präsentieren mußte, dann war er wohl solcher Ausdrücke fähig, aber sonst waren sie seinem Charakter fremd.

Ja, das war's: von den sonst sehr sauber gehaltenen Polstern ging gerade derselbe penetrante, Uebelkeit erregende Geruch aus, wie vorhin von der italienischen Feluke.

Was für ein Zusammenhang herrschte hier? War vielleicht einer der Mannschaft in dieser Droschke...

Ein Wagen fuhr so dicht vorüber, daß Nobody schnell einsteigen mußte, wollte er nicht überfahren werden, und da setzte sich das Cab auch schon in Bewegung.

Na, egal. Lange konnte die Fahrt ja nicht währen. Nobody saß mehr im Stehen, wenn man sich so ausdrücken darf, um seine Hose möglichst wenig mit den verdächtigen Polstern in Berührung zu bringen, und hielt die Nase über den Schlag hinaus.

Die Straße, in dem das Rosenhotel lag, hatte keine Läden, hier hatten sich hauptsächlich die reichen Geschäftsleute angesiedelt, daher war die Straße weniger belebt, und zu den recht eleganten Villen paßte auch dieses Hotel — zwar nicht sehr groß, aber schon von außen einen sehr vornehmen Eindruck machend.

Nobody entlohnte den Kutscher und trat in das Portal. Kein Portier, kein Kellner. Alles wie ausgestorben.

Er öffnete die Tür zum Gastzimmer, und obgleich sein Blick auf blanke Spiegelscheiben und luxuriöse Kronleuchter und Marmortische und auf ein Büfett fiel, das einem Aufbau von Kristall glich, so wäre er doch am liebsten gleich wieder umgekehrt, er prallte auch zuerst entsetzt zurück, denn auch hier wehte ihm ein Duft entgegen, der nichts mit Rosen zu tun hatte.

Aber wie gebannt blieb Nobody auf der Schwelle stehen. War es denn nur möglich? Hier in Freetown an der Westküste sollten sie sich einmal wiederbegegnen? Und sollte es gar etwa der Freund sein, dem er sich anschließen mußte?

In dem Zimmer befand sich nur eine einzige Person, offenbar ein Gast, ein älterer Herr, sehr klein und sehr dick, trotz der herrschenden Tropenglut in einen schwarzen Gehrockanzug gekleidet, dabei auch noch bis an den Hals zugeknöpft, auf dem Kopfe einen hohen Zylinder, von dem anstatt des weißen Nackenschleiers ein schwarzer herabwehte, und daß der Mann trauerte, verriet auch noch ein besonderes schwarzes Band um den Zylinder und ein zweites um den Arm. Schwärzer und tiefer hätte er seine Trauer überhaupt gar nicht ausdrücken können, besonders der schwarze Nackenschleier erinnerte lebhaft an die unglückliche Witwe.

Der kleine, dicke Herr marschierte in dem Gastzimmer zwischen den Marmortischen auf und ab, wühlte mit den Fingern in den graublonden Bartkoteletten und führte dabei ein Selbstgespräch. Aber ein ganz merkwürdiges Selbstgespräch:

»Rrrrrrrrrrr — — — pft pst pft — — — bscht bscht bscht — — — rrrrrrrradsch kladderadatsch datsch datsch — — — brrrrummderreummbumbum — — — pft pft pft......«

»Cerberus Mojan, ist es möglich!!« rief Nobody in grenzenlosem Staunen.

Der Erkannte und Genannte blieb stehen, noch einmal ›pst pst pst — bruch bum pstsch pstsch‹ — dann machte er sein Maul sperrangelweit auf und machte es mit einem hörbaren Krach wieder zu, und dann verbeugte er sich, so weit das sein Schmerbauch zuließ.

»Sehr angenehm — freut mich sehr, daß Sie mich schon kennen — treten Sie näher, ich bewillkomme Sie als meinen Gast.«

Himmelbombenelement, was war das in diesem Rosenhotel ein Duft! Und jetzt verspürte der Geruchsnerv des Nähertretenden mit Sicherheit, daß dieser mörderliche Gestank nur von diesem Manne hier ausgehen konnte, von seinem Freunde Cerberus Mojan.

In der Droschke hatte es übel gerochen, die italienische Feluke hatte gestunken, aber hier war die Quelle, von diesem Manne ging der Gestank aus, hier wurde er stechend, atemversetzend.

Doch jetzt war Nobody hauptsächlich überrascht, seinen alten Freund Mojan hier wiederzutreffen, das beherrschte alle anderen Empfindungen. Und Nobody hatte nicht vor, ihn noch einmal zu mystifizieren, das war nichts Neues mehr, er wollte sich gleich zu erkennen geben.

»Nun sagen Sie mal, Sie alter Schwede, wie kommen Sie denn eigentlich hierher nach Freetown? Sie erkennen mich natürlich nicht.«

Nein, das sah man gleich dem fetten Gesicht an. Wie sollte er auch eine Ahnung haben.

»Nobody,« flüsterte der Detektiv.

Jetzt machte der Dicke ein verächtliches Gesicht und eine entsprechende Handbewegung.

»Na, denken Sie denn etwa, ich hätte Sie nicht gleich erkannt? Sie wissen doch, wer und was ich bin. Setzen Sie sich. Was wünschen Sie zu trinken?«

Mr. Mojan spielte seine Rolle ganz gut. Es war, als ob die beiden nur einmal fünf Minuten getrennt gewesen wären. Das half aber auch über eine lange Einleitung hinweg, gerade so etwas liebte Nobody.

Er setzte sich an einen Marmortisch. War denn Cerberus Mojan jetzt hier in Freetown Wirt und Hotelier geworden? Nun, das würde er ja alles noch erfahren. Jetzt nur auf alles eingehen.

»Haben Sie Bier?«

»Echt Münchner Export.«

»Herrlich! Her mit zwei Flaschen! Sie trinken natürlich mit.«

»Aber das sage ich Ihnen gleich: bei mir kostet die Flasche einen Dollar. Wenn's Ihnen zu teuer ist, müssen Sie an den Hafen gehen, in den Spelunken kriegen Sie's billiger.«

»Machen Sie keine Witze. Sind Sie denn hier der Wirt?«

»Yes, Sir,« entgegnete der Trauerflor, der hinter das Büfett gegangen war, wo bald zwei Stöpsel knallten.

Mit zwei Flaschen und zwei großen Bierseideln deutschen Fabrikates kam er zurück, schenkte die Gläser voll, in jedes ging gerade eine Flasche, und setzte sich.

Das dunkle Bier schäumte auch nicht im mindesten.

»Na dann prost.«

Mojan hatte nach dem Anstoßen aus seinem Glase einen tiefen Schluck getan.

»Fein, was? Sieht zwar nicht besonders aus, der Schaum fehlt, aber sonst schmeckt das Bier vortrefflich.«

Nobody roch noch einmal in sein Glas und dann nahm er nur ein zaghaftes Schlückchen.

»Hören Sie, das ist kein Bier, das ist Jamaikarum von der schwersten Sorte.«

Mojan nahm noch einmal einen guten Zug.

»Ja, Sie haben recht, es ist Rum. Ich habe mich in den Flaschen vergriffen. Na, egal, trinken wir's für Bier. — Wie geht's denn sonst?«

»Gestatten Sie, daß ich erst einmal meinem Staunen Luft mache: was in aller Welt treiben denn Sie hier?«

»Mein Aufenthalt hier ist nur ein vorübergehender.«

»Ich denke, das Hotel hier ist das Ihre?«

»Auch nur vorübergehend.«

»Wie soll ich das verstehen?«

Cerberus Mojan schob seine Augenbrauen bis zur Glatze hinauf und machte eine seiner unnachahmlichen Handbewegungen.

»Geheimnis.«

Ja, der quecksilberne Cerberus Mojan konnte auch ein Stockfisch sein, wenn er wollte.

Die Unterhaltung kam gleich im Anfang ins Stocken. Der kleine Mann versenkte sich in das Bierseidel mit Rum.

»Sie sind in Trauer?«

»Ja.«

»Um wen, wenn ich fragen darf?«

»Das müssen Sie doch am allerbesten wissen.«

»Ich? Keine Ahnung.«

»Um meine Frau.«

»Um Ihre Frau? Waren Sie denn unterdessen verheiratet?«

»Nun hören Sie aber auf!! Sie wissen doch am allerbesten, daß ich Witwer bin und was ich an meiner Frau verloren habe!«

Und Mojan zog ein riesiges, rotes Taschentuch hervor und trocknete sich die Augen.

»Mei — mei — meine gu — gu — gu — gute Susanne, äääääähhh!« heulte und schluchzte er.

Nun freilich wußte Nobody, weswegen sein Freund trauerte. Er war noch immer derselbe, unverbesserlich! Dem war nicht mehr zu helfen.

Der Schmerz um die letzte Cherokesin hielt nicht lange an, Mojan versenkte sich wieder in's Rumglas, und keine Unterhaltung wollte zustande kommen.

Da mußte Nobody anders vom Leder ziehen.

»Hören Sie mal, Mojan, nehmen Sie's mir nicht übel, aber — aber — Sie stinken gerade wie ein verfaulter Wiedehopf.«

O nein, Cerberus Mojan nahm es nicht übel, vielmehr verklärte sich sein Gesicht gleich.

»Nicht wahr?« fragte er freudestrahlend.

»Was ist denn das nur?«

»Jaaaaa! Hier, hier,« freudestrahlte der kleine Dicke weiter, gegen seine Brust klopfend.

»Was haben Sie denn da in der Tasche?«

»Etwas Feines, etwas Pikfeines.«

»Na ich danke!! Das stinkt gerade wie — wie...«

»Das muß es auch, es stinkt noch lange nicht genug, es muß noch viel mehr stinken, dann ist es erst gut.«

»Na, ich danke! Was ist es denn nur?«

»Haben Sie keine Ahnung?«

»Nicht die geringste.«

»Dann tut es mir leid. Geheimnis. Sie werden schon später sehen, wenn ich die Menschheit damit überrasche. Ich habe eine hochwichtige Erfindung gemacht. Und draußen habe ich noch eine ganze Tonne voll.«

Schon ging Nobody eine Ahnung auf. Er wollte sich aber vergewissern.

»Wo draußen?«

»Draußen auf dem Wasser.«

»Doch nicht auf der italienischen Feluke?«

Mojan nickte geheimnisvoll mit dem Kopfe.

»Yes, Sir. Da habe ich eine ganze Tonne voll drauf.«

»Sagen Sie einmal, sind Sie vielleicht in dem Cab Nummer 68 gefahren? Der Kutscher ist ein alter Neger mit weißem Bart.«

»Yes, Sir, das ist meine eigene Kutsche.«

»Das ist doch ein Mietswagen.«

»Habe ich auch kaufen müssen. Die fährt jetzt für meine Rechnung. Auch dieses Hotel habe ich kaufen müssen. Jaaa, was meinen Sie wohl, was mich meine Erfindung schon alles gekostet hah!«

Und er erzählte. Den Ursprung dieses Geheimnisses allerdings bekam Nobody nicht zu erfahren.

Es handelte sich um ein Faß, gefüllt mit einem stinkigen Stoffe, das Mojan aus irgendeinem Grunde mit sich führte.

Bis nach Genua hatte er die Tonne glücklich gebracht — von woher, das war wiederum Geheimnis —, hatte aber schon auf der Eisenbahn viel Unannehmlichkeiten gehabt, und in Genua fingen diese erst recht an.

Kein Packträger, kein Spediteur wollte sich mit der Tonne befassen, von der solch ein entsetzlicher Teufelsgestank ausging, und noch weniger erklärte sich ein Kapitän bereit, die Tonne mitzunehmen, nicht einmal Mr. Mojan als Passagier, und wenn er noch so viel zahle; denn von dem ging ja derselbe Teufelsgestank aus, da liefen ja alle anderen Passagiere da-davon, das ganze Schiff wurde für immer verpestet.

Ja, es gelang ihm nicht einmal, einen Dampfer zu chartern, d.h. zu mieten.....

»Wohin wollen Sie nur eigentlich das Zeug bringen?« wurde der Erzähler von Nobody unterbrochen.

»Geheimnis, lieber Freund, Geheimnis. Südwärts. Meinetwegen auch: um Kap Horn herum. Aber über alles andere bewahre ich unverbrüchliches Schweigen.«

Zuletzt erklärte sich der Patron einer italienischen Felucca bereit, das Teufelsfaß an Bord zu nehmen und es um Kap Horn herumzubringen, irgendwohin, vorausgesetzt, daß der Signor gleich die Feluke kaufe.

»Und Sie haben deswegen gleich den ganzen Kutter gekauft?!«

Ach, wenn's weiter nichts war! Was Mr. Mojan wegen dieses Stinkfasses nicht alles schon gekauft hatte! Oder doch Geld dafür ausgegeben hatte! Er hatte den Eisenbahnwagen, in dem das Faß gestanden, auf seine Kosten scheuern lassen müssen, die Eisenbahnverwaltung drohte mit einer Klage, eher hatten sie das Faß nicht herausgeben wollen — aus dem Coupé, in dem Mojan selbst gesessen, hatten die Polster herausgerissen und durch neue ersetzt werden müssen, so hatte er alles verstänkert, und so hatte er immer nur zahlen und zahlen müssen.

Die Feluke mit dem geheimnisvollen Stinkfaß ging ab. Alle Matrosen bekamen doppelte Heuern, sonst wäre keiner geblieben. Nach Passieren der Straße von Gibraltar wurde der Kutter in einem Sturme etwas leck geschlagen, mußte Freetown anlaufen, ins Dock gehen.

Mojan wollte einstweilen in einem Hotel logieren. Er bestieg ein Cab. Der arglose Kutscher, der Besitzer des Fuhrwerks, ahnte ja noch nichts. Auch der Wirt des Rosenhotels war so harmlos, den anrüchigen Gast aufzunehmen.

Da kam jammernd der Kutscher jenes Wagens gelaufen. Kein Mensch mehr wolle mit ihm fahren, der Wagen sei ja für immer und ewig verstänkert...

»Na, um keine Umstände weiter zu haben, habe ich Droschke und Pferd gleich gekauft, der Kutscher steht jetzt in meinen Diensten, und wenn niemand mit ihm fahren will — Nevermind, ich kann's mir ja leisten. Am andern Morgen kam der Wirt zu mir und machte Krakeel, ich verpestete ja sein ganzes Haus, er wollte mich hinausschmeißen — na, da habe ich eben gleich das ganze Hotel gekauft, ich kann's mir ja leisten. Gäste kommen freilich nicht mehr her, deshalb sind auch alle Kellner und Dienstboten weggelaufen — desto besser, dann trinke und esse ich eben alles selber, und wenn die Feluke wieder seeklar ist, mache ich die Bude eben zu. Sehen Sie, so bin ich zu diesem Hotel gekommen, das heißt, ich bin erst seit gestern drin. Jaaaa, was meinen Sie wohl, was mich meine Erfindung schon gekostet hat! Aber da wird auch was draus!«

Nobody konnte nur den Kopf schütteln. Immer derselbe! Ein Glück nur, daß er sich so etwas wirklich leisten konnte. Der brachte auf harmlose Weise Geld unter die Leute.

»Na, da verraten Sie mir doch, was das eigentlich ist?« bettelte Nobody.

»Nee, wird nicht verraten. Ich will nicht umsonst drei Jahre lang im Verborgenen gearbeitet haben.«

»Drei Jahre lang?«

»Jawohl, gleich nachdem ich der letzte Cherokese geworden war, fing ich mit den Experimenten an.«

»Sie haben es auch bei sich?«

»Eine Probe davon, ganz genau dasselbe wie in dem großen Fasse ist.«

Nobody beschnüffelte ihn einmal. Pfui Deibel!

»O, da müssen Sie erst einmal das große Faß anriechen, das ist erst eine Wonne!«

»Ich danke. Bei Ihnen genügt's gerade.«

»Sie werden dereinst anders sprechen.«

»Sie haben es erfunden?«

»Ich selber,« war die stolze Antwort.

»Eine chemische Erfindung?«

»So etwas Aehnliches.«

»Vielleicht Kakodyl?«

»Ka — ka was?«

»Kakodyl. Das ist Arsendimethyl, eine chemische Verbindung, sehr giftig und fürchterlich stinkend. Auch die chinesischen Stinktöpfe, deren sich die Seeräuber bedienen, entwickeln es.«

»Giftig? Nee, meine Erfindung ist nicht giftig, ganz im Gegenteil. Das heißt, ich will mich nicht selbst überschätzen. Es ist eigentlich keine Erfindung von mir, ich habe es nur selber gemacht. Na, ahnen Sie nun immer noch nicht, was es ist?«

Aha, jetzt kam ihm der große Erfinder doch entgegen, er konnte sein Geheimnis doch nicht für sich behalten, es brach ihm das Herz.

»Es fängt mit dem Sch an.«

»Mit dem Sch?« wiederholte Nobody sinnend.

Er ging in Gedanken alles durch, was mit dem Sch anfing und so entsetzlich stinken konnte.

»Na? Na? Sch... Sch... na? Na? Schei... Schei....«

Aaaaahhhh!! Jetzt ging Nobody ein Seifensieder auf. Daß er aber auch nicht gleich darauf gekommen war! Freilich, so roch es auch gerade, das hatte doch auch gleich jener Matrose herausgefunden.

»Ach so, also.....«

Nobody beugte sich vor, brachte seinen Mund an Mojans Ohr und flüsterte etwas hinein.

Da aber schnellte der kleine Dicke wie von einer Tarantel gestochen empor.

»Sir, wofür halten Sie mich eigentlich?!« rief er in beleidigtem Tone. »So etwas nehme ich nicht einmal in den Mund, noch viel weniger schleppe ich es mit mir herum! Und nun gleich ein ganzes Faß voll! Und braucht man dazu etwa drei Jahre, um das zu machen? Und schmeckt das etwa gut? Denn ich habe Ihnen doch schon einmal erklärt, daß alles, was gut schmeckt, mit dem Sch anfängt. Schweinebraten, Schokolade, Schampagner, Schildkrötensuppe...«

»Achso, es ist etwas zu essen?!«

»Nu natürlich, mit etwas anderem gebe ich mich doch gar nicht ab. Schei... Schei.... na?«

»Und es stinkt so gräßlich?«

»Das muß es, sonst taugt's nicht. Schei... na?«

»Nee, Mr. Mojan, da komme ich nicht drauf!«

»Und Sie wollen ein Detektiv sein? Sie sind ein Rhinozeros. Na, ich will Ihnen auf die Sprünge helfen. Es steht ja auch auf meiner Karte.«

Und er zog seine Brieftasche, Nobody erhielt eine Visitenkarte.


Illustration

Indianerhäuptling, Käsefabrikant und Novellist — es war und blieb eine Tatsache. Doch eins nach dem andern.

»Also Käse?«

»Na, endlich!«

Nobody beschnüffelte ihn nochmals von vorn und von hinten.

»Nee, Geehrtester!« sagte er dann mit aller Entschiedenheit. »Solch einen Käse, der so stinkt, den gibt's überhaupt gar nicht in der Welt — oder es ist einer aus der vierten Dimension.«

»Und es ist doch Käse!«

»Dann essen Sie ihn selber.«

»Es ist der feinste Scheidamer.«

»Sie meinen wohl Schiedamer?«

Jawohl, das meinte Mr. Mojan. Als Engländer oder Amerikaner aber sprach er das ie wie ei aus.

»Ja, was soll es aber nun mit diesem infernalischen Käse? Weshalb schleppen Sie ein ganzes Faß davon mit sich?«

Erst mußte Nobody sein Ehrenwort abgeben, nichts zu verraten, dann enthüllte Mojan seine epochemachende Erfindung. Freilich so alles bekam Nobody wiederum nicht zu hören.

Er hatte ein Rezept. Woher er das hatte, das sagte er nicht, und wer das nicht hatte, konnte seinen Käse doch niemals nachmachen.

Vor drei Jahren hatte er in Holland zwanzig Zentner Schiedamer gekauft und sie in einem Fasse vergraben, jetzt hatte er sie wieder ausgegraben, nun war der Käse so, wie er gegenwärtig roch, nun mußte er noch einmal den Aequator passieren, so wie auch der Engländer seinen Portwein einmal über den Aequator schickt, ehe er ihn trinkbar findet, jedenfalls soll er dadurch bedeutend gewinnen — so geht wenigstens die Sage, ob's wahr ist, weiß man nicht — deshalb war Mr. Mojan jetzt mit der Feluke unterwegs, und hatte der Käse diese Periode überstanden, dann wurde das flüssige Zeug wieder fest, verlor auch wieder den abscheulichen Geruch, und dann.....


Illustration

Und Mr. Mojan schwärmte weiter von dem köstlichen Stoffe, mit dem er demnächst die Menschheit beglücken würde. Dann wurde diese Käsevergraberei natürlich im Großen betrieben.

Nobody hatte zuletzt mit sehr wenig Interesse zugehört. Er betrachtete die Karte in seiner Hand.

»Mr. Mojan, Sie sind und bleiben ein originelles Huhn. Daß Sie Indianerhäuptling sind, weiß ich; daß Sie Käsefabrikant geworden sind, habe ich jetzt erfahren; und nun sind Sie auch noch unter die Schriftsteller gegangen? Sie schreiben Novellen?«

»Das wissen Sie noch nicht?«

»Mir ganz neu.«

Jetzt verwandelte sich der Käsefabrikant in den Dichter, seine Gebärden wurden mit einem Male ganz andere.

»Ich — äh — arbeite gegenwärtig an einem fünfbändigen Romaaan. Der Band zu 880 Seiten, die Seite mit 42 Zeilen, die Zeile zu 20 Silben.«

»Sind zusammen.... dreihundertundneunundsechzigtausendsechshundert Silben.«

»Stimmt! Habe ich mir auch schon ausgerechnet.«

»Und wie heißt der Roman?«

»Ueber den Gesamttitel bin ich mir noch nicht ganz klar. Ich möchte den ganzen Roman gern ›Liebe oder Delirium‹ nennen, möchte diesen Titel aber auch für das erste Buch verwenden.«

»Liebe oder Delirium? Ein sehr schöner, inhaltsvoller Titel. Und was behandelt der Roman?«

»Er soll das ganze menschliche Leben wie in einem Spiegel wiedergeben,« war die bescheidene Antwort. »Das erste Buch spielt in einem norwegischen Dorfe zwischen einem Pfarrer, der früher Missionar gewesen ist, und seiner schwarzen Dienstmagd, die er aus Honolulu mitgebracht hat. Das zweite Buch führt den Leser nach Honolulu selbst und spielt zum größten Teil teils unter, teils auf einem Affenbrotbaume. Das dritte Buch wickelt sich auf einem Ballsaale ab, wo eine Petroleumlampe explodiert. Das vierte Buch wirft den Leser mitten hinein in die Heilsarmee. Und das fünfte Buch endlich spielt zwischen zwei Essenkehrern, die in einem Schornstein stecken und nicht wieder herauskönnen. Das sind nämlich zwei Nebenbuhler. Hören Sie, Nobody, was für eine dramatische Wucht ich da hineinzulegen weiß — wie sich die beiden schwarzen Kerls in der Feueresse Herumbalgen — immer rauf, immer runter — 880 Seiten lang, die Seite zu 42 Zeilen, die Zeile zu 20 Silben — Sie haben gar keine Ahnung!«

»Allerdings, das scheinen packende Sujets zu sein. Wie weit ist denn der Roman schon gediehen?«

Das Quecksilber sprang auf und begann im Zimmer hin und her zu rennen.

»Das ist es ja eben! In meinem Kopfe ist der ganze Roman ja fix und fertig, aber das Schreiben, das Niederschreiben! Seit meiner Käsegeschichte leide ich so am Tatterich, das dreijährige Studium und Experimentieren Tag und Nacht hat mich so nervös gemacht! Ich hab's mit dem Diktieren versucht — es kommt niemand nach. Und wenn ich einmal im Fluß bin, kann ich nicht immer Pause machen, da fliegt mein Geist, wie er fliegt, da schüttele ich die Gedanken nur immer so aus dem Aermel.«

»Sie müssen sich einen Stenographen nehmen.«

»Hat sich was! Habe ich auch schon versucht. Es kommt keiner mit. Sie müssen mich nur einmal schwadronieren hören, wenn ich im Dichten bin. Können Sie stenographieren?«

»Gewiß, und bei mir können Sie so schnell sprechen wie Sie wollen, ich komme nach.«

»Ach nöööö?!«

Wie eitel Sonnenschein flog es über das fette Gesicht.

»Mensch, da kommen Sie mir ja wie gerufen! Da wollen wir gleich einmal loslegen, vielleicht bringe ich heute noch das ganze erste Buch fertig!«

Er rannte hinter das Büfett und holte ein Pack weißes Einwickelpapier, legte es vor Nobody auf den Tisch.

»Hier ist Papier, hier ein Bleistift, und nun mal los. Die Interpunktionszeichen sage ich gleich mit, die brauchen Sie natürlich nicht wörtlich nachzustenographieren, wie ich's schon einmal erlebt habe. Aber schnell geht's bei mir, das sage ich Ihnen.«

880 Seiten zu je 42 Zeilen zu je 20 Silben heute noch nachzustenographieren, dazu hatte Nobody nun weniger Lust. Na, eine halbe Stunde konnte er es ja einmal probieren.

»Was machen Sie denn da?« fragte er erstaunt.

Mojan hatte seinen Gehrock ausgezogen, wendete ihn vollständig um, da zeigte es sich, daß der schwarze Gehrock inwendig mit einem blau und weiß gestreiften Futter versehen war, und so zog er ihn an. Dann nahm er den Zylinder ab, brachte aus der Tasche eine rot und blau gestreifte Kappe zum Vorschein, zog aus seinem Hosenbein ein langes Futteral hervor, entnahm ihm eine Pfauenfeder, befestigte sie auf der Kappe, und so setzte er sie auf.

»So, fertig. Das ist mein Dichterkostüm. Ohne das geht's nicht. So muß ich mich immer im Spiegel besehen, und je heftiger die Pfauenfeder nickt, desto schneller kommen die Gedanken.«

Nobody wußte ja, daß fast jeder Künstler und Dichter seine Eigentümlichkeiten hat, und wenn Schiller zur geistigen Anregung öfters in eine Kiste mit faulen Aepfeln roch, so zog Cerberus Mojan eben den Duft von dreijährigem Käse vor — aber so ein Kostüm mit einer nickenden Pfauenfeder, das war ihm doch neu.

»Sind Sie bereit?«

»Passen Sie auf — eins, zwei, drei — los!«

Und der Novellist Cerberus Mojan schoß los. In einem Atemzuge rasselte er alles herunter.

»Liebe oder Delirium Fragezeichen weltgeschichtlicher Roman in fünf Büchern von Cerberus Mojan Punkt alle Rechte behält sich der Verfasser vor Komma insbesondere das der Uebersetzung Punkt höööööööööööhhhhhh,« schöpfte er tief Atem. »Sind Sie nachgekommen?«

»Jawohl.«

»Lesen Sie's vor.«

Nobody tat es.

»Gut, sehr gut. So, das war die erste Seite. Blättern Sie herum, nun kommt die zweite Seite. Aufgepaßt! Eins, zwei, drei — los! Liebe oder Delirium Fragezeichen weltgeschichtlicher Roman in fünf Büchern von Cerberus Mojan Punkt.....«

»Aber das ist doch ganz genau dasselbe.«

»Hööööööhhhhh. Halten Sie doch Ihr schnoddriges Maul, bis Sie gefragt werden!! Stören Sie mich nicht in meinem dichterischen Gedankenflug!!« wurde der gefällige Stenograph grimmig angeschnauzt. »Hat nicht jedes anständige Buch zwei Titelblätter, was? Wie? He?«

»Ach so.«

»Na ja. Außerdem kommt auf der zweiten Seite noch etwas anderes hinzu, während das ›Alle Rechte‹ wegbleibt. Nun muß ich aber noch einmal von vorn anfangen. Also aufgepaßt! Eins, zwei, drei — los! Liebe oder Delirium Fragezeichen weltgeschichtlicher Roman in fünf Büchern von Cerberus Mojan Punkt erstes Buch Punkt schwarzer Schnee Punkt Höööööööööhhhhhh. Sind Sie nachgekommen?«

»Jawohl.«

»Lesen Sie's vor.«

Es geschah.

»Gut, sehr gut. Wie finden Sie diesen Untertitel: schwarzer Schnee? Das ist nämlich symbolisch, weil das Buch doch im kalten Norwegen spielt, und es ist eine schwarze Köchin. Blättern Sie herum. Nun die dritte Seite des Buches. Aufgepaßt! Eins, zwei, drei — los! Liebe oder Delirium Fragezeichen weltgeschichtlicher Roman in fünf Büchern von Cerberus Mojan Punkt erstes Buch höööööööhhhhhh schwarzer Schnee Punkt erstes Kapitel Punkt die Katastrophe Punkt hööööööhhhhh ich bin etwas kurzatmig hööööööhhhh das schreiben Sie aber nicht mit hööööööhhhhh nun wollen wir erst mal trinken hööööööhh.«

Beim Trinken verschluckte sich Nobody einmal, daß er lange husten mußte, und es war ihm nicht übelzunehmen. Dann mußte er die ganze Geschichte zum dritten Male vorlesen, und der Dichter war zufrieden.

»Merken Sie, wie es bei mir fleckt, wie ich die Gedanken nur so aus dem Aermel schüttele?«

»Es ist erstaunlich!«

»Nicht wahr? Nun weiter, jetzt geht's los.«

Cerberus legte die Hände auf den Rücken, marschierte in seinem bunten Rocke hin und her und wackelte mit der Pfauenfeder. Er sah gerade aus wie eine chinesische Pagode.

»Also aufgepaßt! Eins, zwei, drei — los!«

Nobody hatte Angst, jetzt bekäme er dasselbe Lied zum vierten Male zu hören. Doch es sollte anders kommen, jetzt ging die Geschichte wirklich los.

»Unterdessen.... hm hm hm hm... unterdessen.... hm hm hm hm.... un — terrrr — dessen.... hm hm hm hm — — — kommen

Sie mit?«

»O ja,« entgegnete Nobody und mußte sich auf die Lippen beißen.

»Wirklich? Sie können fabelhaft schnell stenographieren. Also weiter. Sagen Sie nur, wenn's gar zu fix gehen sollte. Wo war ich stehen geblieben? Also noch einmal von vorn. Aufgepaßt! Eins, zwei, drei — los! Unterdessen.... hm hm hm hm.....unterdessen.... hm hm hm hm.....

un — terrrr.... ha ha ha ha hazzziehhhh... der verdammte Schnuppen! Trinken wir erst einmal. Prost!«

Sie tranken, und dann ging es wieder los:

»Unterdessen.... hm hm hm hm... unterdessen.... hm.... wissen Sie, ich habe etwas den Faden verloren. Das kann doch auch dem genialsten Schriftsteller einmal passieren, nicht wahr?«

»Gewiß doch. Aber erlauben Sie eine Frage — ist das der Anfang des Kapitels?«

»Nu natürlich!«

»Aber mit Unterdessen anzufangen, das ist doch etwas gewagt.«

»Sind Sie Schriftsteller, Mr. Nobody?«

»Nein, Gott sei Dank nicht.«

»Jaaaa, mein lieber Freund, dann können Sie auch gar nicht mitsprechen. Originell, originell — darauf kommt es an — daran erkennt man das Genie! Bleiben Sie nur beim Stenographieren. Nehmen Sie den Bleistift zur Hand. Aufgepaßt! Eins, zwei, drei — los! Unterdessen... hm hm hm hm.... unterdess.......«

Die Tür ging auf, ein vierschrötiger Seemann trat ein.

»Der Kutter ist klar, Patron, Ihr könnt an Bord kommen.«

Cerberus Mojan schlug die Hände zusammen und blickte zur Decke empor.

»Kommt dieser Kerl gerade, wenn ich im besten Zuge bin, wenn die Gedanken nur so auf mich einstürmen. — Na, egal, wir haben ja an Bord noch Zeit genug, bis Kap Horn kann der ganze Roman diktiert sein. Sie kommen doch mit? Natürlich, Sie haben ja doch nichts zu tun. Also packen Sie Ihre Papiere zusammen, wir gehen gleich an Bord.«

O nein, so hatten sie nicht gewett......

Nicht das Wort, sondern der Gedanke blieb ihm vor Schreck stecken.

Nobody hatte noch gar nicht daran gedacht, jetzt aber mit einem Male ward ihm mit fürchterlicher Gewißheit klar, daß das Schicksal, personifiziert in Edward Scott, ihn dazu bestimmt hatte, diesen verrückten Kerl auf seinem stinkigen Käsekasten rund um Kap Horn zu begleiten!

Doch nur kurz war das Sträuben, kurz der Kampf zwischen Vernunft und Glauben — dann war Nobody zu allem bereit.

»Gut, ich begleite Sie.«

»Na, ganz selbstverständlich, da gibt's doch überhaupt gar keine Widerrede. Die Zeit werden wir uns schon vertreiben, und daß ich gut verproviantiert bin, können Sie sich doch denken. Gehen wir!«

»Und was wird aus Ihrem Hotel?«

»Ich schließe einfach die Haustür zu. Den Schlüssel gebe ich im Vorbeigehen dem Agenten, der es wieder zu verklatschen sucht.«

— — — — —


Die als Kutter getakelte Feluke, die den klassischen Namen ›Argo‹ führte, war ein wurmstichiger Kasten, der auch beim besten Winde wie eine Schnecke kroch. Der maltesische Kapitän, ein tüchtiger Seemann, aber sonst ein beschränkter, abergläubischer Mensch, der nur deshalb das tollkühne Wagnis unternahm, das elende Fahrzeug um das stürmische Kap Horn zu bringen, weil ihm eine kluge Frau geweissagt hatte, daß er nicht ertrinken, sondern gehangen werden würde, außerdem hatte ihn der Geizteufel durch die hohe Heuer und eine Prämie verlockt. Dasselbe galt von den fünf italienischen Matrosen — zur Bedienung der paar Segel wären nur drei notwendig gewesen — bei denen noch hinzukam, daß sie überhaupt noch gar nichts von Kap Horn gehört hatten, dessen Schrecken also nicht kannten.

Nichtsdestoweniger fühlte sich Nobody an Bord bald ganz behaglich. Nobody verstand, wenn es sein mußte, mit Appetit an einer alten Stiefelsohle seinen Hunger zu stillen. Aber lieber waren ihm doch zum Frühstück hartgekochte Eier mit fingerdick Kaviar darauf, das Pfund zu dreißig Mark, und solche Delikatessen hatte die Feluke als Ballast mitgenommen, denn deren einzige Fracht bestand ja sonst nur aus dem Käsefaß, und wenn man einmal wußte, daß es Käse war, sogar dreijähriger, und wenn man sich erst etwas daran gewöhnt hatte, dann fühlten sich die Geruchsnerven gar nicht mehr so beleidigt.

Was die Gefahr betraf, auf solch einem Troge, dessen Planken kaum noch zusammenhielten, um Kap Horn zu segeln, so war Mr. Cerberus Mojan viel zu sehr ›Nevermindman‹, um dabei etwas Besonderes zu finden, und Nobody war erstens gar keine so sehr ängstliche Natur, zweitens war er schon immer überzeugt gewesen, daß über jedes Menschen Leben und Tod eine unerbittliche Bestimmung schwebt, welcher Glaube sich bei ihm in letzter Zeit zur Gewißheit verstärkt hatte.

Kolumbus hat, als er den Seeweg nach Ostindien suchte und dabei Amerika entdeckte, auch kein besseres Schiff gehabt. Mojan verwandelte den Namen ›Argo‹ in Arche, sprach immer gleich von der Arche Noah. Nobody hingegen fand den Namen ›Argo‹ ganz passend, es war wirklich eine Argonautenfahrt — eine abenteuerliche Fahrt ins Ungewisse.

Auch Langeweile kannten die beiden nicht. Nobody erlernte, wie schon während der Fahrt von New-York nach Lissabon, die isländische Sprache, wozu er sich in New-York mit Lehrbüchern versehen, und er hatte einen ganz besonderen Grund, diese sonst so wenig gesprochene Sprache zu erlernen. Außerdem studierte er ein Werk, welches die altmexikanische Knotenschrift behandelte.

Und Cerberus Mojan? Der dichtete, und sein fünfbändiger Roman war schon ganz bedeutend über das ›Unterdessen hm hm hm‹ hinausgekommen. Am sechsten Tage nach der Abfahrt, als die ›Argo‹ den Aequator passierte, konnte er seinem Stenographen folgendes diktieren:

»Erstes Kapitel Punkt. Die Katastrophe Punkt. Unterdessen war es Mitternacht geworden Punkt. Gleichzeitig hoben sämtliche Kirchtürme der Stadt zum Schlage aus Punkt Absatz — — aber den Absatz dürfen Sie nicht etwa mitstenographieren.«

»O nein, ich verstehe schon. Jetzt beginnt eine neue Zeile.«

»Ganz richtig. Also weiter. Aufgepaßt! Eins, zwei, drei — los! Da, was erschütterte plötzlich die Luft, daß sämtliche Fensterscheiben wie Glas sprangen Fragezeichen Ausrufungszeichen, zwei Ausrufungszeichen, noch eins — machen Sie immer noch ein Ausrufungszeichen — es kommt gar nicht darauf an, ich kann es mir ja leisten.«

Nobody malte Ausrufungszeichen die schwere Menge, und der Romancier fuhr fort:

»Rrrrrrrrrr — — pst pst pst — — bscht bscht bscht — — pst pst pft — — bum bruch kladderadatsch datsch datsch — — pst pst pst.......«

Und so pste und bschte und kladderadatschte Cerberus Mojan noch eine gute Zeit weiter, bis sich Nobody endlich einer Frage nicht mehr enthalten konnte.

»Aber erlauben Sie mal — was soll denn das eigentlich bedeuten?«

»Das wissen Sie nicht? Das erkennt doch gleich jedes Kind! Das ist eben die Katastrophe, die jetzt über die Stadt hereinbricht.«

»Was für eine Katastrophe?«

»Die Stadt liegt an einem Vulkan, und der bricht jetzt los.«

»Hm. Haben Sie schon einmal dem Ausbruche eines Vulkans beigewohnt?«

»Gewiß doch. Ich habe gesehen, wie ein Vulkan eine ganze Stadt unter seiner Asche begraben hat.«

»Was Sie nicht sagen?!« rief Nobody überrascht. »Wo denn?«

»Im New-Yorker Walhalla-Theater.«

»Ach so, es war nur ein Theaterstück!« lachte Nobody.

»Aber was für eins! Großartig! Die letzten Tage von Rienzi, hieß das Ding.«

»Sollten Sie nicht vielleicht Pompeji meinen?«

»Auch möglich. Mir ganz egal. Jedenfalls war's großartig, wie der Vulkan Feuer spie und die Kulissen den Weibern auf die Köpfe fielen, die im Hemd herumliefen, und dahinter standen die Feuerwehrleute mit der Spritze, falls was passierte. Und dieser Spektakel! Den will ich hier eben wiedergeben.«

»Ja, aber pst pst pst und bscht bscht bscht hat es wohl nicht gemacht.«

Cerberus Mojan ließ den Kopf mit der Narrenkappe und der Pfauenfeder sinken, ohne die er keine dichterischen Gedanken hatte.

»Das ist es eben,« gestand er kleinlaut, »ich kann den Höllenspektakel nicht recht in Worten ausdrücken. Aber es wird mir schon noch einsallen,« setzte er hoffnungsfreudig hinzu.

— — — — —


Vierzig Tage vergingen, und Mr. Mojans fünfbändiger Roman war immer noch nicht über das ›pst pst bscht bruch kladderadatsch‹ hinaus gediehen. Die ›Argo‹ hingegen war unterdessen in die Nähe des Kaps Horn gekommen, oder doch in die Nähe der Falklandsinseln, die sich der Südspitze von Amerika westlich vorlagern. Zwischen diesen und dem Festlande — wenn man das Feuerland noch hierzu rechnen will — mußte die Feluke hindurch.

Hiermit war ein Zufall verbunden, nämlich, daß die italienische Feluke, deren Erbauer sicher nicht daran gedacht hatte, daß das kleine Fahrzeug noch einmal zur Fahrt um Kap Horn bestimmt war, den Namen ›Argo‹ führte.

Die Falklandsinseln, zum Teil trotz ihrer Unwirtlichkeit bewohnt, bestehen aus einer ganzen Masse von Inselgruppen, und eine derselben haben die Engländer die Argonauten getauft, den einzelnen Felseninseln wieder die Namen der Helden des Argonautenzuges gebend, also Jason, Herkules, Castor, Pollux, Laertes, Orpheus usw.

Wie gesagt, das war ein merkwürdiges Zusammentreffen, woran auch Nobody nicht gedacht hatte, als er die ›Argo‹ zur Fahrt um Kap Horn betreten hatte.

Die Nähe des gefürchteten Kaps Horn machte sich schon seit einigen Tagen bemerkbar. Ständig herrschte nicht gerade ein furchtbares, aber doch ein böses Unwetter. Nobody kam fast gar nicht mehr vom Deck herunter, also auch nicht aus dem Wasser heraus, während Cerberus unbekümmert in der behaglichen Kajüte saß und.... dichtete.

So auch wieder eines Nachts, als das Schiffchen wie ein wildes Böcklein hüpfte. Aber wie Mojan auf dem kleinen Sofa saß und seine kurzen Beinchen gegen die andere Wand stemmte, um nicht herunterzurutschen, sah er recht trübselig drein, hatte auch nicht die Dichterfeder auf der Narrenkappe, sonst aber wohl sein Dichterkostüm an.

Da ward die Schiebetür geöffnet, Nobody trat ein, im Gehrock mit Südwester und wie aus dem Wasser gezogen.

»Mojan, ich muß Ihnen etwas mitteilen... « Im Augenblick klärte sich das trübselige Gesicht zu eitel Seligkeit auf.

»Ich Ihnen auch,« unterbrach er den anderen. »Wissen Sie, ich lasse den fünfbändigen Roman einstweilen, ich habe eine andere, prachtvolle Idee bekommen....... «

»Ach, lassen Sie doch Ihren Unsinn.«

»Was, Unsinn?!« fuhr der Dichter beleidigt auf, ohne Nobodys tiefernstes Gesicht zu bemerken.

»Ja, jetzt ist das alles Unsinn. Hören Sie, Mojan, wir sind in einer ganz schwierigen Lage. Machen Sie sich auf alles gefaßt. Kein Stern am Himmel, nach dem wir uns orientieren können, aber wir hören vor uns das Donnern einer Brandung, auf die uns der Nordsturm unaufhaltsam zutreibt, jeden Augenblick kann es zu einer Katastrophe kommen...... «

»Um Gottes willen, meine Käsetonne!!« kreischte

Mojan auf, wollte aufspringen.......

Er kam gar nicht so weit — ein Krach, ein Bersten und Splittern — und auch in der Kajüte befanden sich die beiden im Wasser, ohne noch Boden unter den Füßen zu haben.

— — — — —


Freundlich lächelte die Morgensonne auf das Eiland herab, von Riffen umgeben, zwischen denen das Meer fürchterlich schäumte.

Vor kurzem mußte der Wogenschlag noch höher gegangen sein; denn wie wäre sonst der mit einem Oelrock bekleidete Mann dort oben hinaufgekommen, wo er jetzt regungslos zwischen den Klippen festgekeilt lag? Nun aber benetzten die Wellen nicht einmal mehr seine Füße.

Da war auch etwas Lebendiges — ein zweiter Mann kletterte vorsichtig über die Riffe, bekleidet mit einem blau und weiß gestreiften Gehrock, der freilich arg gelitten hatte, und auf dem Kopfe eine ebenso gestreifte Narrenkappe.

Jetzt stieß er einen Jubelruf aus. Er hatte den Gefährten erblickt. Bald war er bei ihm.

»Nobody — Nobody, sind Sie tot oder leben Sie noch? Na, da antworten Sie doch!«

Der an der Schulter Gerüttelte schlug die Augen auf, und Nobody sagte nicht erst ein verstörtes »Wo bin ich?«, sondern gleich war er auf den Füßen und konstatierte zunächst, daß seine Glieder wohl schmerzten, daß er aber keins davon gebrochen habe. Er war wie Mojan mit einigen leichten Hautabschürfungen davongekommen.

»Sind noch andere gerettet worden?« war Nobodys erste Frage.

Mit einem verzweifelten Gesicht breitete Mojan beide Arme gegen das brandende Meer aus.


Illustration

»Mein Käsefaß, ach, mein Käsefaß!! Alles, alles ist fort, weg, futsch!!« jammerte er laut. »Ach, mein schöner Scheidamer!«

»Mensch, freveln Sie nicht!!« herrschte Nobody den Unverbesserlichen zürnend an. »Ich frage Sie, ob Sie noch einen geretteten Schiffbrüchigen gesehen haben!«

Nein. Und Mojan hatte viel weiter dort oben gelegen, wohl eine Viertelstunde war er an der Küste entlang über die Riffe geklettert, ohne einen Menschen gesehen zu haben, weder lebendig noch tot.

»Was wissen Sie von dem Schiffbruch? Können Sie sich auf irgend etwas besinnen?«

»Auf gar nichts. Ich lag plötzlich im Wasser, ich bekam wohl auch einen Schlag auf den Kopf, und dann dachte ich, ich wäre tot. Aber einen Traum habe ich während meiner Bewußtlosigkeit gehabt — einen Traum, sage ich Ihnen, Nobody — das gibt einen zweibändigen Roman! Ich habe auch schon einen Titel dafür gefunden. Mit und ohne Liebe. Klingt das nicht nach etwas? Mit und ohne aaauuuuuu!« heulte Mojan plötzlich auf und griff an seine Wade, wo sich ein großer Hummer festgekniffen hatte.

Es war nur eine Gefälligkeit von dem Ungetüm, daß es seine Scheren wieder öffnete, und dann lachte der kleine, dicke Kerl gleich wieder übers ganze Gesicht.

»Nobody, jetzt schnell ein Feuer angemacht, dann können wir das Ding kochen und essen!«

Eigentlich mußte Nobody diesen Amerikaner bewundern. Ein Nevermindman vom Scheitel bis zur Sohle! Kaum vom Tode errettet, denkt er nur an sein Käsefaß, macht noch im Todestraume Romane, wenn ihn ein Hummer in die Waden kneift, denkt er gleich ans Essen — ein glücklicher, ein beneidenswerter Charakter!

Aber sein ›Feuer anmachen‹ brachte jetzt Nobody auf andere Gedanken. Er hielt weitere Umschau, und immer mehr erkannte er, wie böse es hier aussah.

Es war ein Felseneiland, aus dem auch nicht ein Grashalm gedieh. Selbst wenn irgendwo Humus entstand, so hätte der Gischt des Salzwassers, welcher ständig die ganze Atmosphäre erfüllte, auch nicht die Spur einer Vegetation aufkommen lassen.

In der Mitte stieg die Insel an, bildete einen Felsenberg, so zerrissen und zerklüftet, wie die ganze Küste, und die ganze Insel war.

Mit Mühe erklomm Nobody die Spitze des Felsens, von wo er das ganze Eiland überblicken konnte. Er schätzte es etwa auf einen Quadratkilometer. In der Ferne waren noch andere Inselchen zu sehen, wenigstens konnte das erfahrene Auge von Nebelstreifen auf solche schließen — also so weit entfernt, daß sie für die Schiffbrüchigen gar nicht zu existieren brauchten. Nobody wollte sich lieber eingehender mit dem Boden beschäftigen, der ihrem Fuß Sicherheit bot.

Es sah trostlos hier aus! Die Küste überall so schrecklich zerrissen, und nichts, was an den letzten oder an einen früheren Schiffbruch erinnert hätte!

Nobody zog sein Taschenfernrohr, ein ausgezeichnetes Instrument, welches unbeschädigt geblieben, und musterte lange Zeit alle Stellen an der Küste.

Seltsam, daß er so gar keine Planke, gar nichts erspähen konnte, was von einem früheren Schiffbruch erzählt hätte. Es gibt doch eigentlich gar kein Inselchen im Weltmeer, an das nicht immer Schiffstrümmer angetrieben würden. Oder aber, es ist von einer ständigen Strömung umgeben, die immer wieder alles fortspült. Das konnte ja auch hier der Fall sein, es kam Nobody sogar so vor, als herrsche eine starke Strömung nach Norden. Ja, aber wie waren denn dann die beiden hierhergetrieben und an Land geschleudert worden? Es war eben Gottes Hand gewesen, die sie gerettet.

Er stieg wieder herab, umging die ganze Insel, immer von Klippe zu Klippe kletternd und springend. Er bekam nicht einen einzigen Holzspan zu sehen. Es könnte ja sein, daß er in dem Labyrinth von Blöcken, zwischen denen das Wasser kochte, etwas übersehen hatte, aber.... er kam immer mehr zu der festen Ueberzeugung, daß überhaupt auf keiner Seite dieser Insel irgend etwas angetrieben werden konnte, Strömungen trugen alles von ihr weg.

Dann durchstrich er noch die Insel nach verschiedenen Richtungen, untersuchte einzelne Spalten des Felsenberges, und das Negative, was er dabei zu sehen bekam, trug nicht dazu bei, seine Hoffnungen zu vermehren.

Als er zu seinem Gefährten zurückkam, patschte dieser mit seinen gelben Schnürstiefeln in einer Lache Wasser herum, welche die Flut zurückgelassen hatte, fischte Muscheln auf, öffnete sie mit seinem starken Taschenmesser und schlürfte sie aus.

»Austern, die feinsten Austern!!« jauchzte er dem Ankommenden entgegen. »Hundert Stück habe ich wenigstens schon gegessen, und sie werden gar nicht alle. Wenn ich jetzt nur noch ein Flasche Portwein dazu hätte!«

»Wir könnten schon mit einer Flasche Wasser zufrieden sein,« entgegnete Nobody ernst.

»Da haben Sie recht. Ich habe nämlich Durst. Ist hier kein Bach oder so etwas Aehnliches?«

»Keine Quelle, aus keiner Spalte tropft auch nur trinkbares Wasser.«

Sofort wußte Mojan, was das zu bedeuten hatte, er stockte mitten in der Bewegung.

»Au! Dann freilich sähe es auf dieser sonst so gesegneten Austernbank für uns faul aus! Haben Sie schon ordentlich nach Wasser gesucht?«

»Wenigstens eins Viertelstunde lang, und die Gegend sieht gar nicht danach aus, als ob hier frisches Wasser zu finden wäre.«

»Aber Wasser müssen wir finden, sonst geht's uns... suchen wir!!«

Und mit einem Male zeigte sich das spleenige Kerlchen von einer ganz anderen Seite, die zielbewußte Tatkraft des Yankees war in ihm erwacht! Uebrigens hatte er hiervon schon früher manchen Beweis abgegeben.

Er schloß sich beim Absuchen der Insel nach Trinkwasser seinem Gefährten nicht an, er suchte auf eigene Faust, und das gar gewissenhaft. Das Hauptaugenmerk mußte dem Felsenberg und seinen Spalten gelten. So sah Nobody ihn einmal eine ziemlich steile Wand hinaufklettern, ein ganz gefährliches Wagestück. Oben angelangt, verlor Mojan den Halt, auf Händen und Knien ruschte das kleine, dicke Kerlchen die ganze Fläche wieder herab, und hätte sein Bauch dabei nicht als Bremse gewirkt, so wäre es ihm gar übel ergangen. Aber nichtsdestoweniger begann er die Klettertour gleich von neuem, dann, als er sich überzeugt hatte, daß dort oben nichts zu trinken war, dieselbe Rutschpartie noch einmal freiwillig machend.

Erst nach gut zwei Stunden trafen die beiden wieder zusammen.

»Haben Sie etwas gefunden?«

»Dann würde ich Ihnen wohl anders entgegenkommen.«

»Wo mögen wir sein?«

»Sicher auf einer der Argonauteninseln.«

»Kommen hier öfters Schiffe vorbei?«

»Damit ist gar nicht zu rechnen. Die Argonauteninseln, die keinen Leuchtturm haben, werden von jedem Schiffer wie die Pest gemieden, auch kein Walfischfänger kommt hierher, um etwa Tran auszukochen, hier gibt es ja keinen Anlegeplatz, und wir können auch kein Flaggensignal errichten, kein Feuer anzünden.«

So sprach Nobody, und Mr. Cerberus Mojan griff zwischen Hosenbund und Bauch, zog aus dem Hosenbein ein langes Lederfutteral, entnahm diesem die aus dem Schiffbruch gerettete Pfauenfeder und befestigte sie an seiner Mütze.

»Was machen Sie denn da?«

»Jetzt werde ich meinen Schwanengesang dichten.«

Es kam gar nicht komisch heraus. Nobody sah ihn aufmerksam an und entdeckte, daß sein alter Freund plötzlich recht eingefallen aussah, er bemerkte auch etwas Besonderes in seinem Auge, was ihm gar nicht recht gefiel.

Offenbar wurde Mojan schon sehr von Durst gequält. Er hatte gestern abend reichlich Grog genossen, dann Salzwasser geschluckt, vorhin in unmäßiger Menge salzige Austern gegessen, das Meerwasser immer als pikante Brühe mit hineingeschlürft — und Mojan war kein allzu widerstandsfähiger Jüngling mehr, dabei so außerordentlich dick — bei so einem geht so etwas schnell!

»Na, alter Junge, so weit ist es noch nicht, daß Sie schon an Ihr Sterbelied denken müssen. Mut, nur Mut!«

»Lassen Sie mich allein. Ich will meinen Schwanengesang dichten. Heidiedeldiediedeldiedieldie — so ungefähr soll er anfangen, das summt mir schon im Ohr. Lassen Sie mich allein!«

Und Nobody ließ ihn allein, ihn, der immer derselbe blieb, auch wenn er sein Sterbelied dichtete.

Aber Nobody war es durchaus nicht lächerlich zumute. Auch er sah ihren unvermeidbaren Verschmachtungstod vor Augen.

Und doch nicht!!! Es gab etwas, was ihn mit einer wunderbaren, felsenfesten Zuversicht erfüllte, daß sie doch noch gerettet werden würden!

Weshalb hatte ihn sein prophetischer Freund nach Freetown zitiert? Weshalb hatte er ihn dort Cerberus Mojan finden, diesen auf dem Käsekasten um Kap Horn begleiten lassen?

Etwa deshalb, damit der Käsetrog hier scheitern und er, Nobody, auf diesem Felseneiland einen jämmerlichen Verschmachtungstod finden sollte?

Nein, nein, und abermals nein!!! Nobodys Glauben an Edward Scotts Sehergabe war nicht mehr zu erschüttern!

Entweder war dies hier auf der Fahrt nach dem geheimnisvollen Etwas nur einmal eine Zwischenstation, die sie schon wieder verlassen würden, wenn das Schicksal es bestimmte, oder aber......

Doch Nobody wollte sich jetzt gar nicht auf solche Kalkulationen einlassen!

Noch einige Stunden lang durchforschte er allein die Insel, es war mehr ein planloses Umherirren, denn hier gab es nichts mehr zu entdecken.

Und jetzt begann sich auch bei Nobody der Durst einzustellen. Auch er hatte Austern und andere Muscheln gegessen, um einen auftauchenden Hunger zu stillen. Ob aber rohe Muscheln überhaupt den Hunger stillen? Man erzählt es ja immer von Schiffbrüchigen. Ob es aber auch wahr ist? Rabiate Austernesser versichern das Gegenteil. Je mehr sie Austern essen, desto mehr Appetit bekommen sie. Gebackene und gekochte Austern sind allerdings sehr nahrhaft, aber sehr die Frage ist es, ob von rohen Muscheln überhaupt auch nur eine Spur verdaut wird. Aber Durst bekommt man von dem Salzgeschmack, das stimmt, und das war jetzt auch bei Nobody der Fall.

Und kein Tropfen Wasser! Wie lange würde man das aushalten können? Nicht bis morgen abend!

Auf der nördlichen Hälfte der Erdkugel brach jetzt der Winter an, hier der Sommer. Das war ein Glück für die Schiffbrüchigen. Sonst hätten sie andere Leiden ausgestanden, denen erst der Erstarrungstod ein Ende bereitet.

Andererseits brannte auch hier, jetzt zur Mittagszeit, die Sonne auf das schwarze Felsgestein ganz empfindlich herab, was den Durst nur vermehrte, und ebenso hinwiederum hätten sie im strengen Winter Aussicht gehabt, Eisschollen zu finden, welche zwar dein Meerwasser entstammten, aber doch genießbar waren, indem bekanntlich das Wasser beim Gefrieren alle fremden Bestandteile ausscheidet, also auch das Salz.

Bis morgen abend! Doch nein, der Glaube, diesmal sogar der Wunderglaube, um nicht zu sagen Aberglaube, war bei Nobody stärker als die erwägende Vernunft!

Hätte er nur seinem Freunde Mojan etwas davon erzählen können oder dürfen, um auch ihm solch eine hoffnungsvolle Zuversicht einzuprägen! Ja, Hoffnung, Hoffnung! Wenn sie auch manchmal, trotz des Sprichwortes, zuschanden werden läßt — eine unerschütterliche Hoffnungsfreudigkeit vermag doch im Menschen eine ganz eigenartige Spannkraft zu wecken!

Wo war Mojan? Der arme Kerl kauerte jetzt gewiß irgendwo, nickte mit der Pfauenfeder und dichtete an seinem Sterbe......

Nein, da kam er! Die Pfauenfeder nickte allerdings auf der Kappe, aber sein Gesicht, so sehr es auch plötzlich eingefallen, sah recht vergnügt aus, gar nicht nach Sterben.

»Nun, wie weit ist Ihr Schwanengesang gediehen?«

»Ja, Nobody, wissen Sie, hören Sie — jetzt vor allen Dingen kommt mir die Romanidee nicht wieder aus dem Kopfe, die ich vorhin geträumt habe. Sie wissen — mit und ohne Liebe. Aber ich will ihn doch lieber nicht gar zu lang machen, es gibt immer zu viel zu schreiben — nur zwei Bände, jeder Band bloß 600 Seiten, die Seite bloß mit 35 Zeilen, die Zeile soll bloß 16 Silben haben. Was meinen Sie dazu? Kommen Sie, wir wollen der Sonne und dem Winde aus dem Wege gehen. Dort in der Höhle schildere ich Ihnen in großen Zügen den ganzen Roman.«

O, du glückliche Natur!! Ueber solch einen Menschen verliert der Tod seine Macht, und wenn er ihn auch schon beim Kragen hat!

Sie lagerten sich in einer der Höhlen, von denen es in dem zerklüfteten Felsenberge genug gab.

»Eigentlich,« begann Mojan mit heiserer Stimme, »sollte der Roman heißen: Ohne und mit Liebe. Das erste Buch nämlich ist betitelt ›Ohne Liebe‹, das zweite ›Mit Liebe‹. Dem Ganzen liegt ein furchtbarer, origineller Gedanke zugrunde. Heutzutage muß doch jeder Roman mit Liebe gespickt sein, sonst wird er nicht gelesen. Liebe! Larifari! Ich will einen Roman schreiben, in dem kein Fünkchen von Liebe vorkommt, und dennoch will ich das Herz jeder jüngeren und älteren Jungfrau zum Schmelzen bringen. Passen Sie auf, wie ich das mache.«

»Ich höre.«

Mojan räusperte sich — oder er wollte es doch tun. Es klang mehr wie ein Röcheln.

»Die Heldin heißt — heißt — Hulda soll sie heißen — Hulda Strohbach sagen wir — Komteß Hulda von Strohbach. Ihr Vater ist nämlich ein Graf, die Mutter eine Gräfin, reich, furchtbar reich, gesund, glücklich — und dabei reich, sehr reich sogar — und — und — die Eltern sind überhaupt die bravsten Menschen, ehrlich, tun keinem Tierchen etwas zuleide — und reich, außerordentlich reich.....«

»Hören Sie, daß die Strohbachs reich sind, das haben Sie nun schon dreimal gesagt.«

»Habe ich? Dann bitte ich um Entschuldigung. Und da Hulda die einzige Tochter ist, so ungefähr zwanzig Jahre alt, ist sie natürlich ebenso reich. Und was sie nun sonst für ein Mädchen ist — hören Sie, Nobody, Sie machen sich gar keinen Begriff! So hold, so unschuldig, so lieblich, so reizend, so liebreizend — und nun noch schön dazu — schön, sage ich Ihnen — Sie machen sich wirklich gar keinen Begriff davon!«

Der Erzähler wurde ganz begeistert.

»Das muß allerdings eine ganz bevorzugte Vertreterin ihres Geschlechtes sein,« sagte Nobody, nur um etwas zu sagen.

»Na ja, deshalb eben habe ich sie ja Hulda genannt. Eines schönen Tages, wie das Glück zwischen den dreien gerade am allergrößten ist, begeht der Graf einen Raubmord, wird dabei ertappt, eingespundt....«

»Der Vater der Hulda begeht einen Raubmord?! Ja, aber wozu denn in aller Welt? Der reiche Graf hat es doch gar nicht nötig?!«

»I, wie schlau Sie sind!« sagte der Romancier mit überlegener Miene. »Geheimnis, lieber Freund, Geheimnis! Muß es denn immer Geld sein, was man maust? Könnte es sich nicht vielleicht auch um die Wiederherbeischaffung von wichtigen Familienpapieren handeln?«

»Das ist allerdings etwas anderes, aber....«

»Sehen Sie!« triumphierte Mojan. »Unterbrechen Sie meinen Gedankengang nicht. Also der alte Graf hat einen Raubmord begangen und...«

»Und doch müssen Sie mir erlauben. Sie sagten doch, der alte Graf wäre ein Ehrenmann und ein solcher......«

»Halten Sie's Maul, und hören Sie mir zu,« wurde Mojan jetzt grob. »Er hat einfach den Raubmord begangen, wird dabei ertappt, eingespundt, wird der Tat überführt, zum Tode verurteilt, zu lebenslänglichem Zuchthaus begnadigt. Wie finden Sie das?«

»Schrecklich! Die arme Hulda!«

»Nicht wahr? Nun kommt die Mutter dran. Die geht eines schönen Tages in ein Modemagazin und wird dabei ertappt, wie sie etwas in ihre Tasche verschwinden läßt, gleichzeitig hat sie ihre Hand auch noch in einer fremden Tasche. Natürlich Arretierung — Haussuchung — da findet man, daß sie Kisten und Kästen und Boden und Keller voll lauter gestohlener Sachen hat. Was sagen Sie dazu?«

»Kleptomanie.«

»Sssssst, nicht so voreilig! Das ist noch Geheimnis. Aber was sagen Sie zu Hulda, die hiervon noch keine Ahnung hat?«

»Das arme Kind!«

»Nicht wahr? Also die Mutter wird ebenfalls mit lebenslänglichem Zuchthaus bestraft.....«

»Aber hören Sie mal, wegen Diebstahls gibt's doch überhaupt gar kein Zuchthaus!«

»Zu der Zeit aber, wo mein Roman spielt, gab's für so etwas gleich lebenslängliches Zuchthaus, und damit basta. Und mausen Sie mal ein Kriegsschiff oder so was Aehnliches, ob Sie da nicht auch Zuchthaus kriegen. Also so ist's der armen Hulda ergangen! Natürlich aus allen Himmeln gestürzt. Nun bleibt ihr außer ihrer Schönheit und ihrer Unschuld nur noch ihr Reichtum. Da macht ihr Bankhaus bankrott — schrumm, jetzt hat sie keinen roten Cent mehr. Aber zu betteln braucht sie deshalb noch nicht. Sie hat ja noch ihre Schönheit. Mit Liebe soll ja eigentlich dieser erste Teil meines Romanes nichts zu tun haben, und es ist auch wirklich keine Liebe dabei, wenn sich ihr ein Freier naht, ein steinreicher Kerl, so reich wie — wie — wie....«

»Wie Krösus,« kam Nobody dem Stockenden zu Hilfe.

»Nee, so reich wie ich. Auch hierin gleicht dieser Kerl ganz mir, daß es ihm ganz egal ist, daß die beiden Eltern der Auserwählten lebenslänglich im Zuchthaus sitzen. Schon naht der Morgen des Hochzeitstages, da, als Hulda gerade in den Hochzeitswagen steigen will, fällt oben aus einem Fenster ein Glasballon mit Schwefelsäure herunter, gerade über Huldas Kopf — total verbrannt, futsch ist die Schönheit. Was sagen Sie dazu?«

»Gräßlich! Oder vielmehr furchtbar schauerlich schön! Woher nehmen Sie das nur alles?«

»Daher eben der Name Romancier und Novellist. Lernen läßt sich so etwas nie. Der eine kann's gleich, der andere lernt's nie und dann noch mangelhaft. Natürlich läßt der Freier die entstellte Hulda nun sitzen. Denn er ist ein Schuft, worin ich ihm nun wieder nicht gleiche. Was soll Hulda machen? Zu betteln braucht sie noch nicht. Sie will arbeiten. Als sie sich als Spinnerin das erste Stück Brot verdient hat, als sie sich hinsetzt, um es zu verspeisen, macht sie eine ungeschickte Bewegung, sticht sich mit der zweizinkigen Gabel beide Augen aus. Was sagen Sie nun dazu?«

»Ich kann nur Ihre Phantasie bewundern.

»Warten Sie nur, das Unglück ist noch lange nicht voll. Stellen Sie sich Hulda vor, wie ich sie Ihnen zuerst geschildert habe, das reinste Sonntagskind. Und jetzt beide Eltern im Zuchthaus, sogar lebenslänglich, sie selbst jetzt bettelarm, durch Schwefelsäure, auch Vitriol genannt, bis zur entsetzlichen Unkenntlichkeit entstellt, nun auch blind — ja, zum Himmeldonnerwetter noch einmal, kann es denn ein noch größeres Unglück geben? Jawohl, es kann ein noch größeres geben. Wie die Blinde ihren ersten Ausgang macht, stürzt sie, bricht ein Bein, es muß ein Stück herausgesägt werden. Jetzt hinkt sie auch noch, und zwar lebenslänglich. Und immer noch nicht genug! Als sie zum ersten Male über die Straße hinkt, geht neben ihr eine Kanone los, ihre beiden Trommelfelle platzen — schrumm, jetzt ist Hulda auch noch taub!«

»Hahahahaha!!«

»Na, was gibt's denn da zu lachen?« fragte Mojan mit gerechter Entrüstung.

Wie er vorgetragen hatte, es war wirklich zum Lachen gewesen, aber.... Nobody hatte gar nicht gelacht.

In der Höhle konnte es nicht ausgestoßen worden sein, diese war mit Tageslicht gefüllt, und ein Versteck gab es darin nicht. So sprang Nobody schnell hinaus, das Herz zum Springen mit Erwartung erfüllt. Um nach dem Lacher zu spähen.

In diesem Augenblicke sah er dicht vor der Höhle eine jener Möwen vorüberstreichen, welche die Seeleute direkt Lachmöwen nennen, weil sie ein ganz menschenähnliches Lachen auszustoßen vermögen.

Es hatte zwar geklungen, als ob das Lachen in der Höhle selbst erschollen wäre, aber das konnte nur der Widerhall der Felswände gewesen sein, und genau so heiser und etwas krächzend wie das einer Möwe hatte es auch geklungen.

Mit dieser Erklärung kehrte Nobody in die Höhle zurück.

»So?« meinte Mojan phlegmatisch. »Ich hätte eher geglaubt, es wäre hier aus der Felswand gekommen. Na ja, das Echo. — Also nun weiter! Hiermit will ich den ersten Band übrigens schließen. Ich könnte ja dem armen Mädel noch mehr Unglück zufügen, aber da müßte ich in das Buch wohl noch mehr Seiten hineinquetschen oder jeder Seite noch mehr Zeilen oder jeder Zeile noch mehr Silben hinzufügen. Das Schlußkapitel erzählt nun bloß noch, wie Hulda Gift nimmt und stirbt. Können Sie das dem Mädchen übelnehmen, wenn es Gift nimmt und stirbt?«

»Nicht im geringsten! Bei so vielem Unglück!«

»Nicht wahr? Und finden Sie, daß in diesem Buche etwas von Liebe vorkommt?«

»Keine Spur.«

»Das zweite Buch aber heißt nun: Mit Liebe. Da wimmelt es drin von Liebe. Da will ich mich einmal als Meisterschaftsjongleur der Liebesgefühle und Liebesworte erweisen. Dieses zweite Buch fängt damit an, wie Hulda begraben wird. Natürlich ohne Sang und Klang. Kein Hund folgt ihrem Sarge. Denn beide Eltern im Zuchthaus, und das lebenslänglich, Hulda selbst im Gesicht total verbrannt, lahm, taub, blind, und nun auch noch bettelarm dazu — i, wer soll denn bei so einer zum Leichenbegängnis gehen?! — Der Totengräber schaufelt das Grab zu. Dieser Totengräber ist der Held. Er heißt Eugen, so ungefähr fünfundzwanzig Jahre alt, ein sehr gebildeter junger Mann, der Jura und Medizin stud.... halt, das darf ich noch nicht verraten. Aber das darf ich verraten, daß er Hulda schon vorher gekannt und geliebt hat, als sie noch reich und unbescholten war und noch beide Augen und beide Trommelfelle und zwei ganze Beine gehabt hat. Wie sie jetzt aussieht, weiß er nicht, das ist ihm auch ganz egal. — Wenn das zweite Kapitel anfängt, ist es Mitternacht. Neben Huldas Grabe kniet Eugen und schreit in herzzerreißendem Jammer: ›Hulda, meine Hulda, wenn ich dich mit diesen meinen wohlgepflegten Fingernägeln wieder herauskratzen könnte, ich tät's!‹ — Und er läßt es nicht nur bei diesen Worten bewenden, sondern er wirft sich über das Grab hin und fängt an zu kratzen — und er kratzt und kratzt und hört nicht eher wieder auf zu kratzen, als bis er die ganze Erde von dem Sarge heruntergekratzt hat, und noch immer nicht genug, er kratzt immer weiter, bis er den Holzsarg aufgekratzt hat, nur mit seinen Fingernägeln — und da — und da — na, was meinen Sie wohl, was nun kommt?«

»Da liegt die Hulda gar nicht drin?!«

»Na und ob sie drin liegt! Sogar die Hände hat sie auf dem Leichenhemd gefaltet. Da aber — da aber....«

Mojan zog erst einmal das große rote Taschentuch hervor, das er aus dem Schiffbruch gerettet hatte, schneuzte sich die Nase und fuhr sich auch einmal über die Augen.

»Da schlägt die Tote die lieblichen Augen auf, und lächelte ihn freundlich an — jawohl, das tut sie!«

Jetzt hätte nicht viel gefehlt, so wäre Nobody laut herausgeplatzt. Besonders im Ton hatte das Humorvolle gelegen.«

»Ich denke aber, sie war blind?

»Ist sie auch noch. Aber daß sie lächeln kann, das kommt natürlich daher, daß sie nur scheintot war. Im übrigen will ich mich kurz fassen. Eugen ist eigentlich kein Totengräber, sondern ein Prinz oder so was Aehnliches. Hat als Totengräber nur ein Gelübde zu erfüllen. Hat, wie ich leider schon verriet, Jura und Medizin studiert. Er besitzt ein Mittel, um aus Huldas Gesicht die Schwefelsäureflecke wieder zu entfernen, setzt ihr statt des herausgesägten Knochens eine Stange Elfenbein ein, setzt ihr neue Trommelfelle ein, sticht ihr den Star......«

»Pardon, sie hat sich doch mit einer zweizinkigen Gabel die Augen ausgestochen?«

»Habe ich das gesagt? Nein, es war ein Star, der sie gestochen hat, und Eugen sticht nun wieder den Star. Nachdem er nun die Geliebte völlig wieder renoviert hat, macht er sich an die Eltern. Der Jurist beweist in großartigen Gerichtsverhandlungen, daß der Vater gar nicht den Raubmord begangen hat, daß die Mutter gar nicht gemaust hat, alles nur Verleumdungen und Intrigen — fertig ist wieder die glückliche Familie, das glückliche Brautpaar und die ganze Geschichte. Natürlich geht das alles nicht so fix, wie ich es Ihnen hier erzähle, sondern das wird in zwei Bänden, jeder zu 600 Seiten à 35 Zeilen à 16 Silben mit allen tragischen Finessen ausführlich geschildert. Na, was meinen Sie, ist das kein Stoff, was, wie, he?«

»Hören Sie, Mojan, da kann man wirklich einmal das Wort anwenden: wenn dieser Roman herauskommt, da kann kein Auge trocken bleiben.«

»Nicht wahr nicht? Und wissen Sie, wenn der Roman jetzt schon fix und fertig wäre, ich legte ihn einem Verleger vor, ich sollte ein Honorar verlangen — wissen Sie, was ich da jetzt verlangte? Wissen Sie es?«

Er hatte dabei die Hand auf Nobodys Schulter gelegt, blickte ihn an, so eigentümlich, und Nobody sah ihm in die Augen, die so feucht glänzten, und er las etwas Besonderes darin, und plötzlich stieg es Nobody so siedendheiß zum Herzen empor.

Armer Kerl! Nobody wußte, was jener meinte, was er aber gar nicht aussprechen wollte.

Für einen Trunk Wasser hätte er jetzt diese ganze grandiose Idee dahingegeben!

Doch Cerberus Mojan war ein Mann! Er jammerte nicht.

Wenn der nordamerikanische Indianer etwas Schmerzliches erfährt, etwa den Tod eines Freundes, so verhüllt er sein Haupt, um sein Gesicht, vielleicht auch seine Tränen nicht sehen zu lassen. Es ist merkwürdig, daß auch der alte Römer sich bei solchen Gelegenheiten ebenso benommen haben soll. Auch er verhüllte schweigend sein Haupt mit der Toga.

Und Cerberus Mojan war ja nicht nur professioneller Novellist und gescheiterter Käsefabrikant, sondern er war auch aktiver Indianerhäuptling. Er zog seine Narrenkappe übers Gesicht, wälzte sich herum auf den Bauch, und so blieb er liegen, ohne einen Laut von sich zu geben.

Es duldete Nobody nicht mehr in der engen Höhle. Doch was sollte er draußen? Nur das stürmische Meer in seiner ganzen Hoffnungslosigkeit beobachten? Es lag etwas von Wahnwitz darin, daß er immer wieder jede Felsspalte durchforschte, ob er nicht eine Pfütze Regenwasser fände. Oder wenn doch wenigstens eine Möwe diese Felseninsel zur Brutstätte erkoren hätte, damit man den Durst an ihren Eiern löschen könnte. Aber nichts, gar nichts!

Also bis morgen abend! Es wurde bei Nobody förmlich zur fixen Idee, daß es nicht länger dauern könne! Und dennoch oder ebenso wollte die feste Zuversicht nicht von ihm weichen, daß bis dahin irgend etwas geschehen würde, was ihnen Rettung brachte.

Als er nach einigen Stunden in die Höhle zurückkehrte, schlief Mojan, aber schon mit starkem Fieber. Er träumte, jammerte über seine verlorene Käsetonne, dazwischen schrie er nach Wasser, schien sich im Traume an einer Quelle zu befinden, aber das köstliche Naß wich immer vor ihm zurück.

Nobody kannte diesen Zustand. Das richtige Delirium, welches dem Verschmachtungstode regelmäßig vorausgeht, war das noch lange nicht — aber die Einleitung war es dazu!

Er konnte nur eins für den Freund tun, etwas, woran so mancher nicht gedacht hätte. Nobody untersuchte Mojans Taschen nach schneidenden Instrumenten, fand nur ein Messer, das er zu sich nahm, dann band er ihm die Füße mit Lederriemen, die der Detektiv stets bei sich führte, nicht fest, nicht schmerzend, aber einen Knoten schürzend, den kein anderer Mensch nur mit den Fingern lösen konnte.

War es wirklich ein Werk der Barmherzigkeit, wenn er verhüten wollte, daß sein Freund, wenn er im Delirium erwachte, sich in das Meer stürzte?

Ja, es war ein solches. Denn Nobody hoffte!

Der Nachmittag verging, die Nacht brach an. Jetzt lag Mojan im Delirium. Was er nun schwatzte, das war nicht mehr der Inhalt eines Traumes, sondern das war schon Wahnsinn, und wie ein Wahnsinniger wälzte er sich am Boden, ohne dabei zu erwachen.

Und doch war dies nur das erste Stadium, eine genügende Wassermenge, dem Blute zugeführt, hätte ihn sofort wieder davon befreit. Morgen früh würde noch etwas ganz anderes eintreten, und dann war es vielleicht schon zu spät.

Hat man schon davon gehört, daß Halbverschmachteten das Wasser nur nach und nach in ganz minimalen Portionen zugeführt werden darf? Ein kleines Glas Wasser würde ihren Tod unter entsetzlichen Schmerzen herbeiführen, schon jedes Schlückchen brennt ihnen wie Feuer im Magen, und etwas behalten solche Gerettete für ihr ganzes Leben lang.

So weit war es bei Mojan ja noch nicht, aber... es würde noch kommen, so oder so.

Nobody verbrachte eine furchtbare Nacht. Selten war ihm etwas so ans Herz gegangen, als wie er das kleine, dicke Kerlchen, seinen alten Freund, hier so leiden sah.

Warum er sich nicht eine Ader öffnete und ihm sein Blut zu trinken gab? Wäre das nicht heroisch gewesen?

Nun, vielleicht wäre Nobody dazu fähig gewesen, vielleicht dachte er auch schon daran — aber so weit war es denn doch noch lange nicht. Da kommen erst noch andere Zwischenstufen, ehe sich das Blut aus Wassermangel zu zersetzen beginnt.

Da — war das dort am Horizont nicht ein Feuer, das Toplicht eines Dampfers?!

Nobody stürzte zur Höhle hinaus, um nach dem Strande zu eilen.

»Wasser — Wasser!« stöhnte es mit heiserer Stimme ihm nach.

Es war eine mondlose Nacht, aber mit klarem Sternenhimmel. Selbst für den erfahrenen Seemann ist es in der Nacht außerordentlich schwer, einen besonders hellen Fixstern, der gerade über dem Horizonte der Wasserfläche steht, die, nebenbei bemerkt, selbst bei der stürmischsten See immer eine völlig ebene Linie zu bilden scheint, von dem Toplicht eines Dampfers zu unterscheiden. (Der Segler führt am Mast kein weißes Licht, sondern nur an den Seiten je ein grünes und ein rotes).

Auch der erfahrenste Seemann braucht nur etwas aufgeregt zu sein, braucht sich nur einzubilden, wirklich eine Toplaterne vor sich zu haben, so sieht er den Stern auch ab und zu unter dem Horizonte verschwinden, und die Astronomen haben noch lange nicht herausgebracht, ob hier tatsächlich nur eine optische Täuschung vorliegt.

Kurz und gut, so ging es auch Nobody, und erst nach einer halben Stunde unverwandten Hinsehens und Beobachtens wußte er bestimmt, daß es nur ein Stern war. Und was hätte es genützt, wenn es das Licht eines Dampfers gewesen, das dort in einer Entfernung von gegen zwanzig Meilen leuchtete? Er hätte sich ja doch nicht bemerkbar machen können.

Nobody kehrte in die Höhle zurück. Seine Enttäuschung war gering gewesen — aber groß war seine Verwunderung, Mojan ganz ruhig schlafend zu finden. Er lag auf dem Rücken, die Hände über dem Bäuchlein gefaltet und.... jetzt fing der Kerl auch noch an zu schnarchen!

War denn das bei seinem krankhaften Zustande ordnungsgemäß? Nein, das ging einfach gegen alle Naturgesetze — besonders das Schnarchen.

Nun, Nobody zerbrach sich nicht weiter darüber den Kopf, auch er bedurfte der Ruhe, er legte sich schlafen. Schlafen? Nobody war eine ganz andere Natur, aber ein Mensch war er doch auch, und besonders im Traume spielte es ihm bös mit.

Wasser, Wasser, Wasser — Wasser in Hülle und Fülle — und er konnte es nicht erreichen — oder wenn er trank, so wurde er dadurch nur noch durstiger.

Wie der Wasserspiegel, den schon seine Lippen berührten, wieder einmal ein hohles Loch bekam, wurde er an der Schulter gerüttelt.

»Sie, Nobody, schlafen Sie noch? Nein? Warum haben Sie denn meine Füße zusammengebunden?«

Vorbei war der schreckliche Traum, mit klaren Augen sah Nobody auf und blickte in ein leidlich frisches Gesicht.

Hier war ein Wunder geschehen — das war der erste Gedanke, von dem Nobody beherrscht wurde.

»Ja, Mojan, sind Sie denn nicht..... haben Sie denn kein Fieber?«

»Fieber? Nee. Warum denn? Aber Durst habe ich.«

»Das glaube ich wohl, aber.... Mensch, was ist denn mit Ihnen nur vorgegangen?! Sie müßten doch jetzt eigentlich im Delirium rasen!«

»Machen Sie keine Faxen. Ihre Vorsicht um mich war unnötig, jetzt schnüren Sie nur meine Füße wieder auf.«

Nobody tat es, wirklich ganz kopfscheu. Für ihn, der selbst schon so manchen Verschmachtungszustand durchgemacht, noch mehr Menschen dabei beobachtet, daran hatte sterben sehen, lag hier eben ein Rätsel vor.

»Und einen Traum habe ich wieder gehabt,« fuhr Mojan fort, während sich jener an den Fesseln zu schaffen machte, »Nobody, ich sage Ihnen — da könnte ich gleich einen dreibändigen Roman drüber schreiben.«

»Was für einen Traum?«

»Einen ganz kuriosen. Ich liege an einer Quelle, will immer trinken, aber komme nicht dazu, das Wasser ist wie verhext. Schrecklich, sage ich Ihnen. Da mit einem Male, wie ich mich so entsetzlich abquäle, steht plötzlich ein Löwe vor mir, mit einer ungeheuren gelben Mähne, hat einen Tonkrug zwischen seinen Tatzen, führt den Krug an meine Lippen, und da endlich bekomme ich wirklich Wasser in den Mund, und ich trinke und trinke — ach, schmeckte das köstlich! Mit einem Male sehe ich, daß das gar keine Löwentatzen sind, die den großen Tonkrug halten, sondern menschliche Hände, freilich Tatzen von Händen, und mit lauter gelben Haaren besetzt. Wie ich noch darüber staune, bemerke ich weiter, daß der Löwe auch unten keine Klauen hat, sondern Schnallenschuhe, — und Strümpfe — und blaue Pumphosen — das ist auch ein Menschengesicht — und doch kein Mensch, sondern ein Löwe — die gelbe, furchtbare Löwenmähne bleibt nämlich — ein Kerl, wie ich ihn in meinem Leben noch nicht gesehen habe — und das alles so deutlich, wie Sie jetzt vor mir stehen — ich glaube, ich habe im Traume laut aufgelacht.«

»Und er gab Ihnen zu trinken? Sie haben getrunken?«

»Immer! Aber so groß mein Durst auch war, und so viel ich auch trank, immer und immer wieder ansetzte — ganz leer machen konnte ich den Krug nicht. Es war ein gewaltiges Ding. Dann hörte der Traum plötzlich auf.«

»Fühlen Sie denn jetzt gar keinen Durst mehr?«

»Na, Gott — Durst schon — eine Buttel Selters wäre mir jetzt recht angenehm — eine Flasche Champagner noch lieber. Ja, was nicht so ein gesunder Schlaf tut — besonders, wenn man sich erst den Magen voll Austern geschlagen hat!«

Und Mojan stand auf, reckte die lahmgelegenen Glieder und ging hinaus.

Nobody war fassungslos vor Staunen. War es möglich, daß die Einbildungskraft so weit ging? Man trinkt im Traume und wird davon satt? An so etwas zweifelte Nobody. Für ihn gab es hier nur eine Erklärung. Um aber die zu verstehen, dazu mußte man diesen Cerberus Mojan näher kennen, dieses quecksilberne Kerlchen, dessen Einfälle und Verrücktheiten ganz unberechenbar waren, und diese Verrücktheit war bei ihm schon in Fleisch und Blut übergegangen. Näher läßt sich das gar nicht weiter beschreiben, was Nobody hier für vorliegend erachtete.

Es war eben nur einmal ein Umschlag in der fortschreitenden Entwicklung der Verschmachtung, in den Folgen des Wassermangels. Mojan war ein Opfer seiner Einbildungskraft, vorläufig ihm zum Heile. Aber dann würde wiederum ein Umschlag kommen, und das würde dann um so verderblicher für ihn werden. Dann sackte er sofort zusammen.

»Nobody, kommen Sie mal schnell her, was liegt denn dort?!« erklang es draußen.

Im Nu war Nobody an des Rufenden Seite, auch er sah es gleich, sie eilten hin.

Ueber Nacht hatte das sturmaufgewühlte Meer, das sich hier wohl auch nie beruhigte, die Schiffbrüchigen reich beschenkt, ihr Leben war gesichert, wenigstens für eine lange Zeit hinaus.

Gar nicht weit von der Höhle entfernt lag auf dem Strande, noch außerhalb des Bereiches der Riffformation, ein Trümmerhaufen von Planken, unverkennbar einem Boote angehörend, und zwar einem sehr großen, wohl einer Pinasse, und dazwischen und daneben und auch weiter abseits gerollt oder geschleudert Fässer und Kisten und Blechdosen in ziemlicher Anzahl.

»Das ist Corned beef!!« jauchzte Mojan und hob mit seinen Armen, mit deren Muskelkraft schon mancher Widersacher unangenehme Bekanntschaft gemacht hatte, einen zentnerschweren Blechkasten in die Höhe. »Das ist Corned beef, das fühle ich, das rieche ich, das schmecke ich mit den Fingerspitzen!!«

Nobody hob einen Stein auf, schlug den Deckel eines großen Fasses ein, es spritzte ihm entgegen, er kostete, trank gleich mit langen, langen Zügen — frisches Wasser!

»Und hier ein ganzes Faß mit Hartbrot — nee, das ist feiner Zwieback!«

»Und hier noch ein großes Faß mit Wasser, das allein schon reicht für vier Wochen.«

»Und hier noch zwei Dosen mit Corned beef!!«

Mojan untersuchte und zählte weiter auf — Nobody aber schaute sich plötzlich mit mißtrauischen Augen um.

»Wie kommt das Boot hierher?«

»Na, das ist eben gescheitert!«

»Wo sind die Menschen?«

»Na die sind eben ersoffen!«

»Warum liegen ihre Leichen nicht zwischen den Riffen?«

»Na, weil sie eben wo anders liegen!«

»Ja, wie aber ist denn das Boot über die Riffe hinweggekommen?«

»Na, Nobody, wenn Sie so fragen, dann können Sie mir leid tun. Da haben Sie noch nicht viel vom Meer gesehen, was das alles fertig bringt.«

Da hatte er allerdings recht, das mußte sich Nobody von ihm sagen lassen. Das Wasser steht wohl unter physikalischen Naturgesetzen, aber die Kraft des Meeres läßt sich mit keinen mathematischen Formeln berechnen.

Und doch! Es wollte verschiedenes nicht in Nobodys Kopf. Warum zum Beispiel gerade....

Doch da solche Grübeleien keinen Zweck hatten, ließ er es sich gar nicht erst in den Kopf kommen. Er stellte sachliche Untersuchungen an.

Es war eine vierzehnriemige Pinase gewesen, also eines der größten Seeboote, welches ein Schiff besitzt, von vierzehn Mann zu rudern. Man mußte annehmen, daß eine mächtige Woge es über die Riffe hinweg, bis hierherauf geschleudert hatte, wo es vollkommen zerschmettert worden war. Keine einzige Planke war mehr auf der anderen. Selbst diese waren zum Teil noch zersplittert. Auch kein einziges der mächtigen Ruder war mehr vorhanden. Jedes Seeboot ist auch zum Segeln eingerichtet. Doch hier war nichts davon zu bemerken. Keine Segelleine war zu entdecken. Ebensowenig wurde etwas von nautischen Instrumenten gefunden.

An Proviant waren vorhanden: drei große Fässer mit Trinkwasser, zwei Fässer mit bestem braunen Schiffszwieback und fünf Zentnerdosen Corned beef. Diese letzteren waren sehr verbeult, und dann waren noch die Trümmer eines Fasses da, welches jedenfalls auch Wasser enthalten hatte.

Alle Fässer und Dosen, wie auch eine hintere Planke, trugen in schwarzer Schrift den Namen ›Ecclesia‹, und beim Anblick dieser Buchstaben wurde Nobody wieder tiefsinnig. Er kratzte lange mit dem Fingernagel an der Farbe herum, roch daran, konnte sich gar nicht wieder davon trennen. Aber er sagte nichts. Sein Gefährte schien ja über jedes Mißtrauen erhaben zu sein, oder er wußte für alles eine Erklärung.

Mojan suchte sein Taschenmesser, Nobody gab es ihm zurück, beide öffneten mit vereinten Kräften die Blechdose. Das präservierte Fleisch war in vorzüglichem Zustande. Mojan machte seinen Rachen auf, stopfte immer hinein und schluckte den Klos wie eine Pille hinter; Nobody stillte zwar ebenfalls seinen respektablen Hunger, aber sein Essen war doch mehr ein Kosten.

»So ein Glück,« nahm Mojan endlich das Wort, »muß das Boot gerade hier stranden und auch noch gerade, wenn wir es am allernotwendigsten brauchen!«

Jetzt hielt Nobody es für angebracht, jenen noch einmal auf verschiedenes aufmerksam zu machen.

»Fällt Ihnen nicht auf, daß die Schrift noch recht frisch aussieht?«

»Jawohl, daran habe ich auch gleich gedacht. Die haben den Namen noch vor gar nicht langer Zeit draufgeschrieben. Ach, Nobody, wenn wir jetzt doch Streichhölzer hätten!« setzte er seufzend hinzu.

»Streichhölzer habe ich nicht, wohl aber ein Feuerzeug mit Stahl und Stein und Schwamm, und das leidet nicht unter der Nässe.«

»Was, Sie können Feuer machen?!« jauchzte Mojan auf. »Dann schnell los! Holz haben wir ja, wir machen die eine Blechdose leer, fangen Hummer, die werden gekocht!«

Ein anderes Anliegen, das nicht die Magenfrage betraf, hatte Mojan also doch nicht. Er ging gleich an die Arbeit. Nobody aber schlich noch lange mißtrauisch um den Trümmerhaufen herum wie ein Bär um die Honigfalle, jeden Gegenstand und den Boden der weiteren Umgebung prüfend.

Es hatte keinen Zweck. Er bekam nichts anderes zu sehen, als was er vor Augen hatte. So half er mit, Späne schnitzen, blies aus dem glimmenden Zündschwamm sie in Brand, was Mojan doch niemals fertig gebracht hätte, und während die Hummer kochten, wurden die Vorräte nach der Höhle gebracht.

— — — — —


Vier Tage verstrichen. Wenn auf der Insel unterdessen eine Veränderung vor sich ging, so war es eigentlich nur die, daß der Proviant abnahm. Das heißt, auf sechs Wochen hatten die beiden noch zu leben. Es soll hiermit nur gesagt werden, daß sich sonst absolut nichts änderte, so wenig wie auch während einer Windstille die Brandung an der Küste einmal an Heftigkeit abnahm.

Eben deswegen gestattete Nobody auch, daß Mojan für seine lukullischen Hummer- und Austernmahlzeiten nach und nach alle die Holzplanken aufbrannte. Das zertrümmerte Boot in seiner ursprünglichen Gestalt wieder zusammenzuflicken, daran war gar nicht zu denken; mit den Fetzen ihrer Kleidungsstücke aus den kurzen Planken ein Floß zusammenzubinden, hätte ebenfalls seine Schwierigkeiten gehabt. Und wie sollte man mit solch einem gebrechlichen Floß von hier fortkommen? Gar nicht daran zu denken!

Ja, aber was sollte denn schließlich aus ihnen werden? Keiner warf diese Frage auf. Mojan dachte auch wahrscheinlich gar nicht daran. Vorläufig war ja noch genug vorhanden, und damit basta.

Wieder brach eine Nacht an. Die beiden schliefen immer noch in derselben Höhle, in der sie nun schon auf dem Steinboden die weichsten Stellen herausgefunden hatten.

Wir haben schon bei früheren Gelegenheiten bemerkt, was für einen leichten Schlaf unser Held besaß, der durch zielbewußtes Training diese Gabe, auch im tiefsten Schlafe alles wahrzunehmen, immer weiter ausgebildet hatte.

So lag auch in dieser Nacht irgend etwas in der Luft, was ihn sofort die Augen aufschlagen ließ.

Da gähnte neben ihm Mojan.

»Sie, Nobody, schlafen Sie?« fing er wie gewöhnlich an.

»Was gibt's?«

»Hören Sie, aber ich habe einen merkwürdigen Traum gehabt — einen Traum, sage ich Ihnen — ich könnte gleich einen vierbändigen Roman darüber schreiben — nee, einen fünfbändigen, einen sechsbändigen sogar!«

»Na was denn?« fragte Nobody ungeduldig, denn seine Gedanken waren mit etwas ganz anderem beschäftigt.

»Ich träumte, ich säße in London bei Frascati und äße ein Beefsteak mit gebratenen Zwiebeln und — und — und — na ja, ich aß eben ein Beefsteak mit gebratenen Zwiebeln, weiter nischt.«

Also über dieses Beefsteak mit gebratenen Zwiebeln wollte er gleich einen sechsbändigen Roman schreiben!

Nobody aber erhob sich jäh von seinem Lager.

»Riechen auch Sie etwas?«

»Ich? Hm hm hm — nee, ich rieche nichts. Was denn?«

Nobody wunderte sich nicht besonders darüber, daß Mojan wohl im Traume oder im Schlafe den Geruch von gebratenen Zwiebeln wahrgenommen hatte, nicht aber im Wachen. Im schlafenden Zustande ist das Nervensystem dem Menschen bekanntlich für gewisse Eindrücke viel empfindsamer.

Da aber kam es doch noch!

»Donnerwetter ja! Nobody, wo haben Sie denn die gebratenen Zwiebeln her?!«

Der Detektiv war schon draußen. Der Regen goß in Strömen vom Himmel herab. Doch den Geruch nach gebratenen Zwiebeln konnte er nicht löschen. Nobody umschritt die ganze Insel, und dann hatte er konstatiert, daß der Geruch nur von der Mitte der Insel, also von dem Felsenberg kommen konnte. Denn es herrschte Nordwind, ausnahmsweise schwach, und der Geruch war nur auf der Südseite, nicht nördlich von dem Felsen wahrzunehmen.

In dieser stockfinsteren Regennacht war nichts zu machen. Er kehrte nach der Höhle zurück, wo er seinen Gefährten schon wieder schlafend fand.

Nobody wachte die ganze Nacht hindurch. Und was für Gedanken waren es, die ihn beschäftigten?

»Edward Scott, du hast mich nicht umsonst auf dieser Argonauteninsel Schiffbruch erleiden lassen!«

Das war der Kernpunkt, um den sich all seine Gedanken drehten.

Gegen Morgen ließ der Regen nach, der neue Tag brachte hellen Sonnenschein.

Nobody war nicht sonderlich davon erbaut, daß Mojan noch rechtzeitig erwachte, um sich seinem Gefährten anzuschließen. Doch er hielt es nur für den gewöhnlichen Morgenspaziergang, dazu bestimmt, sich zum Frühstück Appetit zu machen.

»Was war das heute nacht eigentlich mit den gebratenen Zwiebeln?« fing er gleich wieder an.

»Ach, Sie haben mir wieder einen Ihrer verfressenen Träume erzählt.«

»So? Traum? Ich dachte, es wäre Wirklichkeit gewesen.«

Zum Glück ließ er es hierbei bewenden.

So kamen sie auf die andere Seite der Insel, auf die westliche, hatten jetzt den ziemlich hohen Felsenberg zwischen sich und der aufgehenden Sonne.

Von einem Zwiebelgeruch konnte auch die feine Nase des Detektivs jetzt nichts mehr wahrnehmen. Da aber blieb er stehen und deutete nach dem Felsen.

»Mojan, sehen Sie dort oben etwas?«

»Ich? Nee,« lautete nach langem Beobachten der Bescheid.

»In der Tal,« fing er dann aber gleich wieder an. »Dort oben zittert etwas herum!«

Es war merkwürdig ausgedrückt, und dennoch ganz richtig.

Dort oben über einer gewissen Stelle des Felsens stand eine zitternde Luftsäule, von der umgebenden Atmosphäre ganz scharf abgegrenzt. Nobody hatte es schon seit längerer Zeit beobachtet, hier gegen die Sonne war es am allerdeutlichsten.

»Was kann das sein?«

»Das ist ein heißer Luftstrom, welcher aus dem Felsen emporsteigt.«

»Wir sitzen hier doch nicht etwa gar auf einem Vulkan?! Ich habe als Junge die Gänse gehütet, meiner Mutter ist prophezeit worden, daß ihr einziger Sohn noch einmal in die Höhe kommt, ich bin's ja auch — aber nun noch höher — gleich mit einem Vulkan — — nee!!«

»Wir wollen die Sache untersuchen.«

Sie kletterten hinauf, wobei Nobody bemüht war, die zitternde Säule nicht aus den Augen zu lassen.

Es gab hier manchen tiefen Spalt, auf dessen Grund man nicht blicken konnte, und aus einem solchen mußte der Luftstrom kommen.

»Nobody — Nobody — hier riecht's aber gut nach gebratenen Zwiebeln!« keuchte der schweißtriefende Mojan. »Sie, Nobody — es riecht immer besser nach gebratenen Zwiebeln.«

Noch eine halsbrecherische Klettertour, und Nobody stand auf einem kleinen Plateau vor einem trichterförmigen Spalt, oben etwa einen Meter breit. Das Zittern der Luft war hier in der Nähe nicht mehr zu bemerken, aber Nobody brauchte nicht erst die Hand darüber zu halten, um die Wärme zu fühlen, die diesem Trichter entströmte, und... ganz richtig, dieser Luftstrom roch akkurat nach gebratenen Zwiebeln! Der Regen hatte die Luft herabgedrückt, jetzt stieg die Wärme ungehindert empor.

»Verflucht, ein noch tätiger Vulkan!« brummte Mojan. »Er schlummert zwar noch, raucht bloß; aber der Teufel traue solchen Vulkanen. Na, ich glaube nicht, daß er schon einmal losgegangen ist, danach sieht die Umgegend gar nicht aus, und so lange wir uns hier noch aufzuhalten geruhen, wird er wohl auch anständig sein. Nee, was der nach Zwiebeln riecht!«

Natürlich war Nobody äußerst überrascht. Dachte sich dieser Mensch denn nur gar nichts dabei? Er stellte diese Frage laut.

»Waren Sie schon einmal auf Hawai?« fragte Mojan entgegen.

Nein, auf dieser Insel war Nobody noch nicht gewesen.

»Da ist der noch tätige Vulkan Matuwa, der riecht geradeso nach Zwiebeln.«

Da bekam Nobody etwas zu hören, was auch er noch nicht gewußt hatte. Und es ist wirklich so. Uebrigens gar nicht so seltsam. Schließlich ist das, was wir Zwiebelgeruch nennen, doch auch nur eine chemische Verbindung von Gasen, allerdings von organischen, aber das hat in der anorganischen Chemie alles sein Gegenstück, das bekannteste Beispiel ist vielleicht der Veilchenstein, der eben genau wie Veilchen riecht, und da die Vulkane doch die verschiedenartigsten Dünste aushauchen, warum soll nicht einmal einer nach gebratenen Zwiebeln duften?

Aber in Nobodys Kalkulationen, die er bereits gemacht, paßte diese Belehrung durchaus nicht, er war sogar enttäuscht. Doch da fügte Mojan gleich noch etwas hinzu, was ihn in der Richtigkeit seines ersten Urteils wieder bestärkte.

»Das heißt, so gut riecht's am Mutawa nun freilich nicht! Da stinkt es vielmehr ganz gräßlich, so etwa, wenn Zwiebeln in übergelaufenem Fett verbrennen. Aber hier — ei, das riecht ja gerade, als ob da unten spanische Zwiebeln in der feinsten Butter gebraten würden! Ich werde gleich dazu mein Frühstück verzehren.«

Jawohl, so war's! Nobody hatte seinen ersten Glauben wiederbekommen. Solche deliziöse Düfte haucht kein Vulkan aus — — dort unten wurden ganz einfach Zwiebeln in Butter gebraten!!

Aber recht so, mochte Mojan bei seiner Ansicht verharren! Der hatte sich neben den Trichter auf den Bauch gelegt, steckte die Nase hinein, zog aus der Tasche einen Schiffszwieback und ein Stück Corned beef, so verzehrte er sein Frühstück, dazu die gebratenen Zwiebeln wenigstens mit der Nase genießend.

Auch Nobody hatte sich hingelegt und blickte hinab. Wer war es, der sich hier im Innern dieser weltverlassenen Felseninsel der prosaischen Beschäftigung des Zwiebelbratens hingab?

Nobody hatte eine Ahnung. Aber was nützt eine Ahnung? Gewißheit wollte er sich verschaffen!

Zunächst suchte er in seinen Taschen, fand ein Stück altes Zeitungspapier, es war trocken, er setzte es mittels des Zunders in Brand und ließ es hinabfallen.

Zwanzig Meter tief war der Trichter mindestens, und unten konnte die Oeffnung kaum faustgroß sein.Hier verlosch die Flamme, die Asche des Papiers wurde durch die warme Strömung wieder heraufgetrieben.

Also hier war nur ein Schornstein, und auch dieser wäre nicht als Eingang zu benutzen gewesen.

Wo war der Eingang? Zwei Tage lang suchte Nobody danach und klopfte gar viel hier und da gegen die Felswände, aber in einer vorsichtigen Weise, daß auch kein heimlicher Beobachter eine Ahnung bekommen hätte, worauf der Spaziergänger es abgesehen, von Mojan ganz zu schweigen.

So vergingen abermals drei Tage, ohne daß sich irgend etwas geändert hätte.

Es war am zehnten Tage, seitdem sich die Schiffbrüchigen auf dem Eiland befanden, als Mojan seinen Gefährten, da sie morgens aus der Höhle traten, erschrocken anblickte.

»Mensch, wie sehen Sie denn aus?!«

Ja, Nobody sah recht leidend aus, ganz eingefallen, und seine Augen glühten.

»Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen, und das nicht etwa mit Absicht. Das mag mich etwas angegriffen haben.«

»Etwas? Mensch, besehen Sie sich nur mal im Spiegel!«

»Haben Sie einen?« lachte Nobody, und dabei begann er plötzlich mit den Zähnen zu klappern.

Jetzt mußte er selbst merken, wie es mit ihm stand. Er befühlte seinen Puls.

»Wahrhaftig, ich habe Fieber. Eine nette Geschichte, wenn das jetzt bei mir ausbräche! Und ich habe kein Chinin bei mir.«

»Sie brauchen ständig Chinin?«

»Immer, sobald ich etwas merke. Aber wer denkt denn in diesen Breitengraden an Fieber. Als wir Schiffbruch erlitten, hatte ich die Pulver nicht einstecken.«

Der ebenfalls weitgereiste Mojan brauchte weiter keine Erklärung, schon seine Fragen hatten gezeigt, daß er wußte, was ein Chininesser ist, und er machte ein sehr besorgtes, sogar ängstliches Gesicht.

Wer einmal ein tropisches Fieber gehabt hat, irgendeins, der bekommt es immer wieder, in jeder Gegend, wo sonst auch eigentlich gar kein Fieber herrscht. Das heißt, die kleinste Erkältung äußert sich bei ihm in Fieber, jede andere Krankheit ist von Fieber begleitet. Das klingt vielleicht viel gefährlicher, als es in Wirklichkeit ist. Jedenfalls aber ist es sehr unangenehm, man muß auch sehr vorsichtig sein. Gegen Fieber hilft Chinin. Hat man aber solches einmal gegen Fieber genommen, wie in den Tropen regelmäßig in größeren Dosen, dann kann man auch nicht mehr von dem Chinin lassen, man ist ein Sklave dieses Gegengiftes — allerdings immer noch ganz harmlos, nicht etwa zu vergleichen mit Morphium oder Opium und dergleichen, aber immerhin, man hat seine Gesundheit doch ganz von dem Extrakte der Chinarinde abhängig gemacht.

Mag diese Andeutung genügen.

»Legen Sie sich hin,« riet Mojan, der immer ängstlicher wurde, eben weil er dies alles kannte; »decken Sie sich warm zu, Sie müssen erst einmal schwitzen, ich will Ihnen meine.....«

»Hinlegen will ich mich wohl, aber zudecken darf ich mich nicht, da kenne ich meine Natur besser, ich muß gerade immer kühl liegen.«

Also Nobody kroch wieder in die Höhle und bettete sich auf seinen Oelrock. Eine weichere Unterlage gab es nicht. Mojan ging, um zu versuchen, aus dem Corned beef noch etwas Fleischbrühe zu gewinnen, was nun freilich schwer zu machen ist. Dagegen mußten Austern eine vorzügliche Kraftbrühe geben. Feste Nahrungsmittel dürfen Fieberkranke ja nicht genießen.

Es dauerte schon lange genug, ehe er Feuer angemacht hatte, und als er mit dem Suppenkessel ankam, lag Nobody schon im schönsten Fieber. Er phantasierte, schwatzte ungereimtes Zeug zusammen.

»Nun wird der auch noch krank!« jammerte Mojan. »Und kein Chinin! Meinen kleinen Finger, alle zehn Finger, meine sämtlichen Finger würde ich für eine Schachtel voll Chinin hingeben!«

Gefüttert konnte der Kranke in diesem Zustande nicht werden. Doch das ging auch wieder vorbei. Nach der Kälte kommt die Hitze, dann der scheinbar so wohltuende Zustand der Erschöpfung, wobei man nur leider nicht schlafen kann.

»Wie geht's?«

»Ach, Mojan, ich will Ihnen keine große Hoffnung machen — wenn man einmal an Chinin gewöhnt ist,« lächelte Nobody trübe.

»O, dieses verfluchte Chinin, wenn ich's nur hätte!« winselte Mojan wieder.

So wechselte das den ganzen Tag hin und her zwischen Zähneklappern vor Kälte, Toben vor Hitze und immer mehr zunehmender Erschöpfung im Wachen, und Nobody war schon so weit, daß er nicht mehr die Kraft besaß, die mit Bouillon gefüllte Austernschale selbst zum Munde zu führen.

Mojan war aber auch ein rührender Krankenpfleger. Als Nobody wieder einmal erwachte, es war gegen Abend, saß der kleine, dicke Kerl splitterfasernackt neben dem Krankenlager, in der ganzen tätowierten Glorie seiner Häuptlingswürde prangend. Mit allen seinen Kleidungsstücken hatte er den Kranken zugedeckt, sogar seine durchlöcherten Strümpfe und feine Stiefel hatte er auf Nobody gelegt.

»Mojan, machen Sie doch keinen Unsinn. Sie sind imstande und sitzen so die ganze Nacht, und wenn ich wieder gesund werde, dann haben Sie sich inzwischen den Tod geholt. Ich habe Ihnen doch auch gesagt, daß ich unbedingt kühl liegen muß... und im übrigen sind Sie ein guter Kerl.«

Weinend zog der dicke Novellist und Indianerhäuptling seine durchlöcherten Strümpfe und alles andere wieder an — er weinte wirklich dabei.

»A—a—a—ha—a—aber bi—bi—bi—bi—bi— binden will ich Sie,« schluchzte er, »wenigstens die Bei—bei—bei—bei— bei—Beine.«

»Ja, das tun Sie zur Vorsicht, damit Sie dann ruhig schlafen können.«

Nobodys Füße wurden gebunden. So brach die Nacht an. Aber Mojan dachte nicht an Schlafen, und er hatte auch Grund zur Besorgnis, jetzt in der Nacht fingen die Fieberphantasien erst richtig an.

So ging es stundenlang fort, und jetzt gab es kein Erwachen mit Erschöpfung mehr, und aus dem Schwatzen wurde ein unausgesetztes Röcheln und Stöhnen.

Da begann es in der stockfinsteren Höhle mit weinerlicher Stimme inbrünstig zu beten.

»Mein liebes, gutes Gottchen, ich weiß ja, ich bin immer ein recht gottloser Schuft gewesen, ich habe ja überhaupt gar nicht an dich geglaubt, aber mache meinen Freund nur dieses eine Mal wieder gesund, oder schenke mir wenigstens eine große Dose mit Chinin, aber recht bald, und ich will auch recht fromm und artig werden, ich will auch jeden Sonntag in die Kirche gehen....«

Der Beter wurde dadurch unterbrochen, daß des Kranken Stöhnen jetzt einen besonders heiseren Klang annahm. Dann fuhr er fort:

»... oder ich will dir auch eine Kirche bauen lassen und selber gleich jeden Tag hineingehen...«

Das Röcheln wurde stärker.

»... zweimal jeden Tag....«

Jetzt klang das Aechzen wie ein Niesen.

»... drei Kirchen will ich dir bauen... fünf... zehne...

Der Kranke röchelte entsetzlich.

»... ich will auch nicht mehr fluchen.... nicht mehr saufen...

»Ooooohhhhh.«

»... ich will auch nicht mehr... nicht mehr.... ich will auch nicht mehr.... nicht mehr....«

Der Beter schien einen sogenannten moralischen Anlauf zu nehmen.

»..... ich will auch nicht mehr lügen...«

Bum!!!

Und als ob der Kanonenschuß hier drinnen gefallen, als ob die Höhle selbst das Kanonenrohr und Cerberus Mojan die Kanonenkugel gewesen wäre, so schoß der große Novellist und Käsefabrikant zum Loche hinaus.

Denn es war wirklich ein Kanonenschuß gewesen! Ein Schiff in Seenot!!

Dieses Schiff hatte in seiner Apotheke natürlich auch Chinin, dann mußte dieses Schiff auch hier scheitern, sonst sollte es doch gleich der Deiwel...

Doch nein, Mojan wollte ja nicht mehr fluchen, wollte doch überhaupt fromm werden, und das wäre gerade kein frommer Wunsch gewesen.

Draußen herrschte dieselbe Stockfinsternis wie in der Höhle. Auch von Schiffslichtern war nichts zu sehen. Dann vielleicht auf der anderen.....

Mojan rannte in vollem Galopp gegen einen Felsen, raffte sich wieder auf und rannte um den Felsen herum.

Hier war aber ebenfalls nichts zu entdecken. Ja aber, wenn ein Schiff Hilfe haben will, so ist es doch seine verd.... nein, seine fromme Pflicht und Schuldigkeit, wenigstens eine Fackel oder sonst ein Licht zu schwingen.

»He, hallo, he, hallo, hierher, hier sind wir, Schiff ahoi, Schiff ahooooiiii, bssssst, holladrihohohooohhh, jujuuuuhhhh!!!«

Dann steckte er die Finger in den Mund und pfiff, erst ein Signal und dann ›Heil dir im Siegerkranz‹, dann blies er ein winziges Stückchen Zündschwamm an, und dann fing er wieder an zu jodeln.

Plötzlich verstummte er, lauschte.

Alle Wetter, das war Nobodys Stimme, die bis hierherdrang!

»Keinen Widerstand mehr! Mojan hierher!!«

Mojan flog wie ein Pfeil zurück. Wenn sich der Fieberkranke von seinen Banden nicht befreit hatte, so hüpfte er jetzt wie auf einem Beine herum, und natürlich dem Meere zu, um dort Kühlung für seine Glut zu suchen — und den Tod.

Mojan war um den Felsenberg herumgekommen. Es war ja nichts zu sehen, aber... stampften dort nicht Füße den Boden wie im Ringkampf?!

Und da eine fremde Stimme!

»Sacre du bleau — du oder ich!«

»Dann du!«

Ein dumpfer Fall folgte.

»Oho,« keuchte es, »die Hände sollst du mir nicht... verflucht!«

»Ja, das verstehen wir. Hierher, Mojan, mache Licht!! Ich glaube, ich habe deinen Löwen gefangen, der dich im Traume getränkt hat!«

Mojan konnte ebenso energisch wie manchmal dämlich sein. Schon hatte er in den Zunder Funken geschlagen, eine andere Hand nahm ihn, ein Blasen, ein langer Span brannte, er beleuchtete Nobody und....

»Da—da—da—da—das ist ja der mit der Mä—Mä—Mä—Määäähne?!« stotterte Mojan.

»Ich habe es ja gleich gesagt — und ich habe es mir auch sehr bald gedacht, daß Sie den menschlichen Löwen nicht nur geträumt haben.«

Auf dem Boden lag, an Händen und Füßen mit Riemen gebunden, ein großer, starker Mann, ein Riese zu nennen, und auch dem Aeußeren nach machte er ganz den Eindruck eines kinderfressenden Riesen aus dem Märchenbuche.

Schnallenschuhe, blaue Pumphosen, auch so eine altertümliche Jacke mit Puffärmeln — das war die Kleidung. Und nun der mächtige Kopf mit einem noch mächtigeren Haarwuchs wie von gelbem Flachse geschmückt, eine richtige Löwenmähne, der Bart weniger üppig, der Schnurrbart sogar spärlich und der Vollbart kurz und spitz — aber gerade dadurch kam so ein richtiges Löwengesicht heraus.

Im übrigen aber war dieses Löwengesicht gar nicht so grimmig, viel eher gutmütig, besonders die blauen Augen, zu denen schon eine große Faust gehörte, wenn sie, wie man sagt, darauf passen sollte. Jetzt freilich blickten sie sehr verstört, wozu ja auch aller Grund vorhanden war.

Nobody beleuchtete ihn.

»Das ist ein Holländer vom alten Schlage.«

»A—a—a—a—ach neee!« brachte Mojan in seiner Weise hervor. »Sind Sie da vielleicht aus Scheidam?«

Das Wort ›Holländer‹ hatte dem Geschäftsmanne gleich die Erinnerung an seinen Schiedamer Käse zurückgebracht. Doch ebenso erfaßte sein Verstand, daß hier ja noch ein zweites Wunder vorlag. und hastig wandte er sich an Nobody.

»Ja, was machen Sie kranker Starmatz denn eigentlich hier draußen?! Wollen Sie gleich marsch wieder ins Bette kriechen? Und wie — wie....«

»Ach, machen Sie doch keinen Unsinn! Verstehen Sie denn nicht? Mein ganzes Fieber war doch bloß Verstellung!«

»Verstellung?«

»Na, ich wollte doch bloß den geheimnisvollen Geist dieser Insel hervorlocken, um ihn packen zu können! Ja ja, Mojan, der Löwe, der Ihnen zu trinken gab, war nicht nur ein Traumgebilde, und ich heuchelte Fieber, mit der festen Ueberzeugung, daß wiederum der dienstbare Geist erscheinen würde, um mir Chinin einzuflößen — und richtig. Sie wurden durch einen fingierten Kanonenschuß von mir fortgelockt, dann erschien er prompt, schon fühlte ich den bitteren Stoff an meinen Lippen — da packte ich zu, ein kurzer Ringkampf, und da liegt er nun!«

Mojan blickte den Freund an — verschwunden war das eingefallene Gesicht, keine Spur mehr von Fieber.

»Na da,« sagte der Nevermindman, weiter nichts.

»Undank ist der Welt Lohn,« ließ sich jetzt der am Boden Liegende vernehmen, und es war ein recht bitterer Ton.

»O nein,« entgegnete aber Nobody schnell, »mag Undank auch der Lohn der großen Welt dort draußen sein, aus welchem Grunde Sie sich vielleicht hier auf diese einsame Insel zurückgezogen haben — in mir werden Sie einen dankbaren Menschen kennen lernen. Aber ich mußte eine Kriegslist gebrauchen, um des unsichtbaren Geistes habhaft zu werden. Oder hätten Sie sich uns sonst jemals gezeigt?«

Es erfolgte keine Antwort.«

»Nicht wahr. Sie hätten schon noch eine Gelegenheit gefunden, uns Schiffbrüchige wieder von hier fortzubringen, nur so lange wollten Sie uns am Leben erhalten?«

Keine Antwort.

»Sie wollen mir nicht antworten?«

»Nein.«

»Weshalb nicht?«

»Weil ich nicht will,« erklang es trotzig zurück.

Nobody verbeugte sich und blickte ihm im Fackelschein in die Augen. Was für unschuldige Kinderaugen dieser blondhaarige Hüne hatte! Und der unvergleichliche Menschenkenner verstand noch anderes darin zu lesen.

Er zog sein Messer und durchschnitt die Riemen an Händen und Füßen.

»Stehen Sie auf, Sie sind frei. Als freier Mann werden Sie mir eher antworten.«

Der vollendete Schauspieler wußte genau, was er sprach und tat — weshalb er die Banden nicht umständlich aufknüpfte, sondern mit einem Zuge durchschnitt — auch der Tonfall in seiner Stimme war genau berechnet gewesen.

Schwerfällig erhob sich der Riese, und als er endlich dastand, hilflos wie ein Kind, da quollen aus den großen, blauen Augen zwei dicke Tränen hervor.

»Wer sind Sie?«

»Ich bin — bin — ein — ein Mensch.«

Nobody mußte ein Lächeln unterdrücken. Es war gar zu kläglich hervorgekommen. Und nun diese Hünengestalt!

»Daß mir diese Antwort nicht genügt, können Sie sich wohl denken. Wer sind Sie?«

»Ich darf es ja nicht sagen,« erklang es ebenso kläglich, und vielleicht noch kläglicher, kindlich bittend setzte er noch hinzu: »Ach, lassen Sie mich doch wieder laufen, bitte, mein lieber Herr!«

Nobody mußte dem Riesen bei dem Ringkampfe übel mitgespielt haben, daß jener so gar nicht mehr an seine gewaltige Körperkraft dachte.

»Wer hat Ihnen das Sprechen verboten?«

»Meine Herrin, die......«

Erschrocken brach er ab.

»Führen Sie mich zu Ihrer Herrin.«

»Ich — ich — ich — es ist ja gar nicht wahr, ich bin ganz allein hier, ich bin — bin — ein Schiffbrüchiger wie Sie.«

»Papperlapapp. Führe mich zu deiner Herrin!« Der Riese suchte sich aus seiner demütigen Stellung aufzurichten, gerade jetzt, da Nobody ihn in einem anderen Tone anredete, als Diener.


Illustration

»Wohin denken Sie?«

»Melde mich deiner Herrin!«

»Niemals.«

»Ich befehle es dir!«

»Sie haben mir gar nichts zu befehlen.«

»Und ich sage dir,« fuhr Nobody mit erhobener Stimme fort, »deine Herrin wird sich freuen, mich zu sehen, denn ich kenne sie bereits!!«

Schreck und ungläubiges Staunen mischten sich auf dem bärtigen Antlitz.

»Sie — Sie — kennten meine Herrin bereits? Das ist nicht wahr!«

Nobody hatte die Hand in der Tasche gehabt, er zog sie hervor, und in dem blutigroten Fackelscheine blitzte ein wundersames Farbenspiel, gegen welches das eines Diamanten ein Nichts war, von einem Punkte ging es wie ein regenbogenfarbenes Feuermeer aus.

»Allmächtiger Gott, der Ring der Herrin!!!«

Mit diesen Worten war der Riese zurückgeprallt, dann lag er wie anbetend auf den Knien.

Nobody ließ ihm einige Zeit, sich zu erholen.

»Melde mich deiner Herrin!« befahl er dann nochmals.

Der Riese erhob sich, verbeugte sich mit auf der Brust verschränkten Armen, und verschwand in der Finsternis.


II. Vertauschte Rollen.

»I, wo haben Sie denn diesen wunderschönen Diamantring her? Wieviel hat denn der gekostet?«

Das war die erste Frage, die jetzt Mojans Hirn beschäftigte.

Nobody hatte den Ring bereits wieder eingesteckt, und er faßte seines Gefährten Arm und führte ihn abseits, dem Ufer zu, wo die Brandung jetzt unter einem Gegenwinde mit doppelter Gewalt donnerte, daß man den Mnnd ans Ohr bringen mußte, wollte man etwas verstehen.

»Hier können Sie Fragen stellen, dort nicht. Wir haben auf dieser Insel schon zu viel in unserer Sorglosigkeit geschwatzt. Was wollen Sie nun wissen?«

Die zweite Frage, welche Mojan stellte, mußte für Nobody ganz überraschend kommen — schließlich aber war sie dem spleenigen Charakter dieses quecksilbernen Yankees entsprechend.

»Hören Sie,« brüllte er Nobody ins Ohr, »Sie halten mich wohl für ein bißchen verrückt?«

»Durchaus nicht.«

»Nicht? Das wundert mich. Dann sind Sie der erste, der mich nicht für ein bißchen verrückt hält, und ich glaub's Ihnen auch gar nicht, Sie wollen mir nur schmeicheln!«

»Mißverstehen Sie mich nicht. Ich meine, ich halte Sie nicht nur für ein bißchen, sondern für total verrückt.«

»Falsch, grundfalsch! Herz, Niere, Lunge, Leber — ist alles bei mir normal, ganz normal! Und vor allen Dingen auch das Hirn, wo der Verstand drin sitzt. Ganz normal, unheimlich normal! Aber ich bin Philosoph, verstehen Sie? Ich habe meine eigene Philosophie.«

Nobody hatte schon immer eine Ahnung gehabt, daß dieses verrückte Kerlchen im Grunde genommen ein gar kluger Kopf war, der nicht sich selbst, sondern andere veralberte und daran seine Freude hatte. Sollte er jetzt hiervon die Bestätigung erfahren?

»Nun, was für eine Philosophie?«

»Das Leben ist so ernst, so furchtbar ernst, und wenn man da nicht selbst ein bißchen Jux hineinzubringen weiß — die anderen Menschen versuchen einem dieses ernste Leben nur noch zu verbittern. Verstanden? Und nun will ich Ihnen nur noch eins sagen: ich weiß, daß Sie Ihre Geheimnisse haben. Ich, Cerberus Mojan, bin der letzte, der in fremde Geheimnisse zu dringen sucht! Verstanden? Ich bin unter meiner Narrenkappe glücklich — seien Sie es unter der Ihren.«

Was für seltsame Worte waren das? Nobody verstand sie, und er fühlte es plötzlich so heiß zum Herzen aufsteigen, als er jenem die Hand drückte.

Ja, solch einen Begleiter ließ er sich gefallen! Mit dem wollte er Arm in Arm durchs ganze Leben gehen!

»Deshalb,« fuhr der lachende Philosoph unter der Narrenkappe fort, »werden Sie mir doch wohl noch einige Fragen erlauben.«

»Selbstverständlich, nur fordern Sie keine langen Erklärungen von mir, die ich Ihnen vielleicht verweigern muß.«

»Unsinn! Darüber habe ich mich doch eben vorhin ausgesprochen. Meinetwegen treiben Sie Ihren Hokuspokus, mir ganz wurscht. Nur gestatten Sie, daß ich etwas auf meine eigene Sicherheit bedacht bin.«

»Das kann ich Ihnen nicht verdenken.«

»Wem werden wir denn hier begegnen?«

»Mr. Mojan, da gestehe ich offen — da habe ich noch nicht die geringste Ahnung. Ich vermute nur, daß es ein Mitglied einer geheimen Sekte ist, welche ich.....«

»Still, will ich ja gar nicht wissen. Was schiert mich denn Ihre Geheimniskrämerei. Ich meine nur, hätten Sie den langen Lümmel nicht erst etwas in der Hypnose ausforschen können, was uns im Innern dieses Felsens erwarten wird?«

»Mr. Mojan, ich habe über Hypnose meine eigenen Anschauungen. Sofort, als sich der Riese als Diener legitimierte, widerstand es mir, ihn über seinen Herrn oder über seine Herrin auszuforschen, die sich gegen uns teilnahmvoll erwiesen hat. Jetzt will ich auch nur noch mit dieser seiner Herrin verhandeln.«

»Nobody, Sie sind doch ein Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle, und denselben Weg wieder zurück. Ich meine nur, könnten wir da unten nicht lebenslänglich eingespundt werden? Das würde mir nämlich gar nicht in meinen Lebensplan passen.«

»Ohne Sorge, ich werde die betreffende Person zu behandeln wissen.«

»Na, da vertraue ich Ihnen.«

»Nun sagen aber Sie mal: stieg Ihnen nicht auch ein Verdacht auf, daß hier über uns eine fürsorgende Hand waltete?«

»Hm. Wissen Sie — aus dem Krater roch es mir gar zu appetitlich nach in Butter gebratenen Zwiebeln.«

»Mojan, Sie sind ein Fuchs, in Ihre Karten soll einmal jemand blicken! Aber daß ich mich nur fieberkrank stellte, das ahnten Sie doch nicht.«

»Hohohohoho!!« lachte Mojan als Antwort. »Da kommen Sie bei mir gerade an den rechten.«

»Na, 's ist schon gut.«

Wie er sich ausgezogen hatte, um den Kranken zuzudecken, wie er die Gelübde abgelegt hatte — an alles dies wollte Nobody ihn jetzt lieber nicht erinnern. Schließlich hätte sich ja der Fuchs auch überall herauszubeißen gewußt.

»Doch wir wollen uns nach der Höhle zurückbegeben, der Diener sucht uns natürlich dort und...«

Da erscholl ein lautes »Hallo!«, wie ein weißer Bandstreifen huschte es schnell über die ganze Insel, und plötzlich wurden die beiden von einem blendenden Lichte übergossen. Sie standen im Strahle einer Blendlaterne. Aber was für eine mußte das sein!

»Verflucht, das ist wohl überelektrisches Licht?« meinte Mojan, sich schnell die Augen zuhaltend.

»Kommen Sie, wir werden erwartet.«

»Dann erst schnell Toilette, wir werden doch von einer Dame empfangen.«

Und schnell zog Mojan seinen gestreiften Rock aus, krempelte ihn um, es wurde ein schwarzer Gehrock daraus, brachte aus der Tasche eine dünne, schwarze Scheibe zum Vorschein, es knackte, der Chapeau claque war noch in Ordnung.

»Wie sehe ich aus?« fragte Mojan, an seiner ausgefransten Weste herumziehend und den Bauch herausreckend.

»Na, einen reinen Kragen könnten Sie sich endlich einmal umbinden.«

»Und Sie könnten sich erst etwas Ihre Stiefel wichsen lassen.«

Sie schritten dem Lichtstrahl nach, der von einem winzigen Punkte ausging, sicher in der Hand des Riesen befindlich, den man aber selbst nicht sah, und schon auf der Hälfte des Weges verlöschte auch der Lichtstrahl. Schwere Schritte kamen ihnen entgegen, die nur von dem Hünen herrühren konnten, Nobody hörte es auch sofort heraus. Sonst war in der Stockfinsternis absolut nichts zu unterscheiden.

»Die Herren werden erwartet,« sagte vor ihnen die nun schon bekannte Stimme, der offenbar auch jenes Lachen angehört hatte, welches Nobody damals für das einer Möwe gehalten. Sie waren also durch die Wände der Höhle belauscht worden.

»Bitte, wollen Sie meine Hand ergreifen.«

Nobody ergriff die Riesenfaust, die von Arbeit zeugte, Mojan torkelte an Nobodys Hand hinterdrein.

Es ging noch ein gutes Stück über die Insel weg und um den Berg herum, mehr aber konnten auch Nobodys Augen nicht erspähen.

Unterwegs probierte er einmal mehrere Zeichen, in die er von Miß Harriet Short eingeweiht worden war, an denen sich die Mitglieder jener Sekte untereinander erkannten.

Er knickte in der Riesenhand seinen Mittelfinger um, grub seinen Nagel in den Ballen — keine Antwort. Jetzt gab er das Erkennungszeichen, welches von jedem Mitglied der Sekte bedingungslos erwidert werden mußte — wiederum vergeblich. Das sah ja fast aus, als ob der Riese gar nicht zur Sekte gehöre, oder hiernach mußte es eigentlich unbedingt so sein. Sollte sich Nobody denn in seiner Vermutung geirrt haben? Nein, der Riese kannte ja den geheimnisvollen Ring; er war nur sonst in nichts eingeweiht.

Jetzt gaben die Füße auf dem Steinboden einen anderen Ton, es hallte wider, Nobody wußte bestimmt, daß sie sich jetzt in einer sehr geräumigen Höhle befanden, und da flammte in der freien Hand des Führers auch wieder das elektrische Licht auf, aber kein Blendstrahl, alles beleuchtend, schnell blickte Nobody zurück — zu spät, da hatte sich schon eine Wand hinter ihnen geschlossen! Was für ein ausgezeichneter Mechanismus mußte das sein, daß dies alles so völlig lautlos vor sich ging!

Eine Höhle war es dennoch, in der sie sich befanden, und zwar eine natürliche, deren früherer Zugang nur künstlich verdeckt worden war — geradeso wie damals im Roten Meer der Eingang des unterirdischen Flusses.

Es ging noch ziemlich tief in den Felsen hinein, dann hörte die Höhle aus, wenigstens geradeaus — dafür zeigten sich am Boden nach unten führende Stufen.

»Donnerwetter,« sagte Mojan, »ein Treppenläufer, der aus lauter kleinen, persischen Gebetsteppichen zusammengeflickt ist — so was hat ja nicht einmal Vanderbilt in seinem Palais in der fünften Avenue.«

Nobody zählte fünfzehn Stufen, dann kam eine hölzerne Tür, keine Kellertür, sondern eine solche, die zu den persischen Teppichen paßte, der Riese, der jetzt ganz als Lakai auftrat, auch solche abgeschliffene Manieren besaß, ließ die beiden ›Herren‹ zuerst eintreten.

Sie befanden sich in einem Gemach, das an Komfort nichts zu wünschen übrig ließ, obgleich das doch erst der Empfangsraum oder eine Vorhalle zu sein schien.

»Wünschen die Herren zu speisen?«

Nobody dachte nicht daran, der dicke Mojan aber hatte gleich ein ›Jawohl‹ bei der Hand, und dann fügte sich auch Nobody. Da wunderte er sich nur, daß die ›Herrin‹ so viel Geduld besaß.

»Bis das Essen serviert ist, wünschen die Herren wohl erst ein Bad zu nehmen?«

Ein Bad hatten die beiden allerdings sehr, sehr nötig. In Seewasser kann man sich bekanntlich nicht waschen, auch nicht mit Seife, und mit dem Trinkwasser waren sie wie mit Gold umgegangen.

Gleich nebenan war das Badezimmer, mit zwei Wannen. Mojan machte einmal sein Maul so weit wie möglich auf und klappte es mit einem hörbaren Krach wieder zu, und auch Nobody staunte doch nicht wenig, Marmorwannen zu sehen, die mit Mosaik ausgelegt waren, ganz abgesehen von der heißen Wasserleitung und noch manch anderem. Da war die Lichtquelle an der Decke noch das allerkleinste Rätsel.

Jedenfalls hatte man als bestimmt vorausgesetzt, daß die beiden ein Bad nicht abschlagen würden, denn alles war schon vorbereitet, und der Diener machte auf zwei Gewänder aufmerksam, welche die Gäste dann anlegen möchten.

Der Bademeister ließ Wasser einlaufen, erklärte, wie man es nach Belieben wärmer oder kälter machen könne, über jedem Bassin befände sich eine Klingel, die ihn rief, und er verließ die Stube.

»Na, da wollen wir mal,« schmunzelte der über jedes Staunen erhabene Mojan, entkleidete sich und kletterte als tätowierter Novellist und Cherokesenhäuptling in die Badewanne, gleich mit Vergnügen konstatierend, daß man sich dank einer schiefen Fläche, die sich im Rücken befand, ja ganz bequem anlehnen könne.

»Ich glaube, hier drin könnte man sogar schlafen.«

Richtig, es dauerte auch gar nicht lange, so hörte sein Plätschern auf, dafür setzte ein Schnarchen ein — mit weitgeöffnetem Munde lag Mr. Cerberus Mojan in der Badewanne da — er war mitten im Seifenwasser friedlich eingeschlummert.

Nobody war hiermit sehr einverstanden. Diese Gelegenheit mußte er benutzen, denn er hatte schon immer gewünscht, daß sein Begleiter nicht bei der ersten Begegnung mit der ›Herrin‹ zugegen sein möchte, hatte ihn aber auch nicht zurückweisen wollen.

Er beschleunigte also die Renovierung seines Körpers, legte das weiße, toga- oder burnusähnliche Gewand an; ein Druck auf den Knopf der elektrischen Klingel rief den Diener herein, der sehr große Augen machte, den einen in der Badewanne schlafen zu sehen, den weitgeöffneten Mund nur wenig über das Seifenwasser herausragend.

»Ich hoffe, daß Ihre Herrin sogleich zu sprechen ist?«

»Jederzeit, aber wollen der Herr nicht vorher speisen?«

»Nein, ich möchte die Dame zuerst allein sprechen. Lassen Sie meinen Freund nur schlafen, er wird schon erwachen, falls er etwas tiefer rutscht und ihm das Seifenwasser in den Mund dringt.«


Illustration

»Wie Sie befehlen. Bitte, wollen Sie mir folgen!«

Es ging durch einen langen Korridor, ebenfalls elektrisch erleuchtet.

»Madam Iduna erwartet den Herrn.«

Mit diesen Worten öffnete der geschulte Diener eine der vielen Türen.

Iduna! Nobodys lebhafte Phantasie stellte sich sofort ein großes, starkes Weib vor, umwallt von einem grünen Gazekleid, und... da stand es auch wirklich vor ihm, das junonisch gebaute Weib, genau so, gehüllt in ein grünes Gewebe, das nur von einem goldenen Gürtel zusammengehalten wurde.

Sie war nicht mehr allzu jung, die vierzig hatte sie hinter sich, aber das Alter hatte noch nicht seine Macht an ihr ausgeübt, eine vollausgereifte Schönheit, und alles an ihr Majestät und Ruhe.

Wohl hätte sie sich in einem Zustande gewaltiger Aufregung befinden müssen, das war gleich aus ihrer ersten Frage zu schließen, aber äußerlich war ihr davon nichts anzumerken.

»Sie besitzen einen Ring,« begann sie sofort, sich der englischen Sprache bedienend, »wollen Sie mir ihn, bitte, zeigen.«

Nobody hatte nichts in den Taschen seines abgelegten Anzuges zurückgelassen, er zog den Ring aus der großen Ledertasche, die er für gewöhnlich unter der Weste trug, jetzt unter der Toga.

Sie nahm ihn, und nur das scharfe Auge dieses Detektivs konnte erkennen, wie furchtbar ihr Schreck war, als sie den wundervollen Stein blitzen sah; ein anderer hätte nicht die geringste Verwandlung an ihr bemerkt.

»Es ist meines Gatten Ring!« sagte sie mit nur wenig leiserer und etwas zitternder Stimme. »Wie kommen Sie zu diesem Ringe?«

»Ich zog ihn dem vom Finger, der in meinem Hause zu London starb.«

»Wie sah — der Besitzer — dieses Ringes — aus?«

»Ein kleiner Mann, etwas verwachsen, auf dem linken...«

Eine Handbewegung unterbrach ihn, schnell hatte sie sich umgedreht, ging nach dem Hintergrunde des tiefen Gemaches — doch als sie sich wieder umwandte, war es, als hätte sie diesen Gang nur gemacht, um auf einen dort stehenden Stuhl zu deuten.

»Bitte, nehmen Sie Platz!«

Nobody folgte der Einladung. Sie saßen sich gegenüber. Neben ihrem Stuhle stand ein kleiner Knüpfapparat, auf dem ein angefangener Teppich lag.

»Sie bringen mir Kunde vom Tode meines Gatten.«

Ihr Gatte! Himmel, welcher Unterschied! Ja, aber warum nicht?

»Ich beklage Sie.«

»Wie starb er?«

Nobodys Entschluß war von vornherein gefaßt gewesen. Dieses edle Antlitz war keiner Lüge fähig, so sollte sie auch nicht getäuscht werden.

»Er beging Selbstmord.«

Sie senkte nur für einen Augenblick die reine Stirn.

»Selbstmord. Es kommt mir nicht überraschend. Maurice hat auch mir gegenüber oft davon gesprochen, wie sehr er sich nach dem Tode sehne, und... doch erzählen Sie ausführlich. Nein, ich weiß ja noch gar nicht, wen ich als meinen Gast begrüßen darf.«

»Haben Madam schon von dem Detektiv Nobody gehört?«

»Nein. Ich bin jener Welt, aus der Sie kommen, schon seit siebzehn Jahren entfremdet, seit siebzehn Jahren hause ich einsam hier auf dieser Insel. Doch was ein Detektiv ist, weiß ich.«

»Ich bin ein solcher, der erste Kriminalbeamte Englands.«

»Und mein Gatte beging den Selbstmord in Ihrem Hause? Darf ich die näheren Einzelheiten erfahren?«

Nobody erzählte die ungeschminkteste Wahrheit. Nur das, was nicht nötig war, ließ er weg, so die vorangehende Geschichte mit der Sängerin, ebenso die mit der Leiche in dem führerlosen Motorboote. Es war eben ein Mann zu ihm gekommen, hatte ihm geheimnisvolle Versprechungen gemacht, hatte ihn engagieren wollen — Nobody glaubte Grund zu haben, ihn verhaften zu müssen — in seinem Gefängnis hatte er Selbstmord begangen.

»Indirekt bin ich ja schuld an seinem Tode, aber...«

Er wurde wieder von solch einer Handbewegung unterbrochen, die keinen Widerspruch duldete, oder gegen deren Befehl man sich doch nicht auflehnen konnte.

»Sie haben getan, was Ihre Pflicht war — genug davon! Höchstens vielleicht haben Sie einen Fehler begangen.«

»Wieso?«

»Nach allem, was ich von Ihnen jetzt gehört habe, hatte mein Gatte Sie zu seinem Nachfolger bestimmt.«

»Er hinterließ mir auch etwas Schriftliches, er setzte mich tatsächlich zu seinem Erben ein.«

Und Nobody erzählte von dem hinterlassenen Schriftstück. Jetzt wurde die Dame gespannt.

»Und waren Sie schon dort in der Libyschen Wüste?«

»Ja.«

»Nun, was fanden Sie in dem Teufelsbrunnen?«

»Er war voll Wasser gelaufen, und jedenfalls die Hauptsache war für immer vernichtet.«

»Was für eine Hauptsache?«

»Ein Buch.«

»Stand auf dem Deckel dieses Buches mit leuchtenden Buchstaben der Name Snorre Sturluson?«

»So ist es. Das Papier dieses Buches war völlig aufgeweicht, es schwebte bei der leisesten Berührung als eine weiße Wolke im Wasser davon.«

»Dann war auch nichts mehr gutzumachen. Doch vielleicht besser so. Wissen Sie, wozu mein Gatte bestimmt gewesen war?«

»Nun?«

»Die ganze Erde in ein Paradies zu verwandeln.«

Oho! Das war ein großes Wort gewesen! Und indem sich Nobody den Mann vergegenwärtigte, der sich ihm gegenüber Mephistopheles genannt hatte, konnte er nicht recht daran glauben, er mußte sogar über solch eine Behauptung innerlich lächeln.

»Mein Gatte,« fuhr die Dame fort, »war eine Doppelnatur. Er war ein Franzose, hatte Chemie und Ingenieurwissenschaften studiert, er war ein Genie, hatte schon in früher Jugend eine hochwichtige Erfindung gemacht, die ihm reichen Gewinn versprach. Vertrauensselig, wie er war, wurde er darum betrogen. Und das ist ihm noch mehrmals passiert. Können Sie begreifen, daß man da zu einem menschenhassenden Sonderling wird, wenn man um die Früchte seines Fleißes betrogen wird?«

»Gewiß begreife ich das.«

»Seitdem hat er all seine Erfindungen, die er im Laboratorium und in der physikalischen Werkstatt machte, nie wieder zur Oeffentlichkeit gebracht. Doch war dies eigentlich kein Egoismus von ihm, noch weniger kann man von Verbitterung sprechen. Er besaß trotz alledem ein großes, edles Herz. Außerdem wohnte diesem schwächlichen, krüppelhaften Körper eine furchtbare Energie inne, die jedes Hindernis zu überwinden wußte, und rücksichtslos, wie er gegen sich selbst war, war er auch gegen andere Menschen — doch nicht aus Haß, sondern aus Liebe zu der gesamten Menschheit.«

»Madam, jetzt allerdings sprechen Sie wirklich für mich in Rätseln.«

»Ich glaube es Ihnen. Doch ich kann mich nicht deutlicher ausdrücken. O, ihn selbst hätten Sie sprechen hören müssen, wenn er hier zu meinen Füßen saß und mir mit feurigen Worten seine Pläne, die Zukunft der Erde und der Menschheit schilderte!«

Nobody wußte noch immer nicht, wo sie eigentlich hinauswollte.

»Was für Zukunftspläne?«

»Aus der ganzen Erde ein Paradies zu machen, und das mit einem Schlage, in einem einzigen Moment.«

»In einem Moment?! Wie wollte er denn das bewerkstelligen? Dann müßte er ja geradezu ein Gott gewesen sein.«

»In gewissem Sinne, ja. Sind Sie in Chemie bewandert?«

»Etwas.«

»Wissen Sie, aus welchen Grundstoffen sich sämtliche organische Substanzen zusammensetzen?«

»Aus Sauerstoff, Stickstoff, Wasserstoff und Kohlenstoff. In allen organischen Verbindungen kehren diese vier Elemente wieder, nur immer in verschiedener Zusammensetzung.«

»So ist es. Also auch das Albumin oder Eiweiß besteht nur aus diesen vier Grundstoffen, die sich überall in der Natur in unbeschränkter Menge finden. Nun, mein Gatte hat das Problem gelöst, das Eiweiß, das hauptsächlichste Nahrungsmittel des Menschen, welches dem Fleische und allem erst den Nährwert gibt, künstlich darzustellen, in der Retorte sowohl, wie auch im Fabrikbetriebe, und es kostet fast so gut wie nichts.«

Nobody war der Mann, der sofort verstand, was er hier zu hören bekam, und wie ein jäher Schreck durchfuhr es ihn. Aber er konnte es nicht glauben, wollte es nicht glauben.

»Es — ist — nicht — möglich!!«

»Und warum nicht?«

»Weil — weil.....«

»Weil dieses Problem bisher noch nicht gelöst worden ist? Mein Gatte hat es entdeckt. Hier der Beweis.«

Sie nahm vom Nebentischchen einen silbernen Teller, auf welchem einige grauweiße Pillen lagen, nicht größer als Medizinpillen, die man schlucken muß.

»Ich hatte vorhin Ihr Essen bereitet, diese sind nachgeblieben. Solch eine Pille reicht aus, um einen hungrigen Menschen zu sättigen.«

Jetzt trat bei Nobody gleich ein ungläubiges Lächeln hervor, als er solch eine Pille nahm. Sie war sehr leicht, er fühlte ihr Gewicht gar nicht.

»Um einen hungrigen Menschen zu sättigen?«

»Gewiß. Diese Pille enthält den Nährwert, dessen ein normaler Mann während vierundzwanzig Stunden bedarf.«

»Verzeihung, Madam, wenn ich da zu zweifeln wage. So weit, daß jeder Mensch sein tägliches Essen mit sich in der Westentasche herumträgt, wird es niemals kommen. Der Magen jedes lebenden Wesens bedarf nicht nur einer gewissen Qualität, sondern zu seiner Füllung auch einer gewissen Quantität, ganz abgesehen davon, daß Albumin oder Eiweiß in solch konzentrierter Form völlig unverdaulich sein muß.«

»Ganz recht. Aber das ist auch kein konzentriertes Eiweiß.«

»Was sonst?«

»An Kohle gebundener Stickstoff. Wie die Pille verwendet wird, um eine für den Magen geeignete Speise herzustellen, werde ich Ihnen gleich zeigen, es ist wohl das Einfachste.«

Sie drückte in verschiedenen Zwischenpausen auf den Knopf einer elektrischen Klingel; es war wohl ein telegraphisches System, denn der erscheinende Diener brachte gleich ein silbernes Becken mit, gefüllt mit einer wasserhellen Flüssigkeit.

»Es ist nichts weiter als reines Trinkwasser. Wasser besteht bekanntlich aus zwei Teilen Wasserstoff und einem Teil Sauerstoff. Die Pille besteht aus Kohlenstoff und Stickstoff, ich werfe sie in das Wasser — nun sehen Sie selbst zu.«

Die weißgraue Pille schwamm auf dem Wasser, sofort ertönte ein leises Zischen, die Pille bewegte sich, vergrößerte sich, Nobodys staunendes Auge sah, wie sich kleine Zellen bildeten, die sich an der immer mehr anschwellenden Pille ansetzten, sie wurde so groß wie eine Nuß, wie ein Apfel — bis in dem Becken ein kopfgroßer Hefenkloß lag. So sah das Zeug wenigstens aus. Das Zischen hatte aufgehört, obgleich noch nicht alles Wasser verbraucht worden war. Die Entwicklung hatte eben ihren Höhepunkt erreicht.

»Es ist dies reines Eiweiß, auch ganz mit dem des Eies vergleichbar. Den Nährwert des Fleisches übertrifft es noch, was aber auch vermindert oder noch erhöht werden kann. Es kann gekocht oder gebraten oder auch schon so genossen werden. Kosten Sie, es ist absolut geschmacklos. Das ist aber nur ein Vorteil. So kann man es mit den verschiedensten Gewürzen vermischen, welche mein Gatte ebenfalls auf chemischem Wege herzustellen weiß. Ich kann daraus einen Zitronenpudding machen oder aber auch ein Beefsteak, und Sie sollen es nicht von einem gebratenen Lendenstück unterscheiden können. Oder wünschen Sie Fisch? Nur die Gräten würden darin fehlen.«

Nobody kostete nicht. Er war nicht fähig dazu. Er war außer sich. Er konnte nicht sitzen bleiben, er mußte aufspringen und mehrmals durch das Zimmer wandern.

Himmel, wenn das Problem gelöst war, das hauptsächlichste Nahrungsmittel des Menschen billig auf künstliche Weise darzustellen — was für eine Perspektive öffnete sich da der Menschheit!! Ja, dann kehrte für die Erde wirklich das goldene Zeitalter des Paradieses zurück!

Und doch! Könnte das der Menschheit nicht vielleicht zum Fluche gereichen?

Der Franzose Berthelot, der genialste Chemiker der Jetztzeit, stellt in seiner Retorte bereits Kohlehydrate her, also tierische und pflanzliche Fette und Zuckerarten, die für die Ernährung nicht minder wichtig sind als das Eiweiß. Nun freilich ist das, was aus seinem Destillierkolben hervorkommt, nicht gleich direkt Ochsentalg und Schweinefett und Gänseschmalz — aber immerhin, es sind richtige Fette, zur Ernährung des Menschen vollkommen geeignet. Dieses Problem ist also bereits gelöst, und auch die Herstellung des Eiweißes, des wichtigsten Nährstoffes, auf künstlichem, chemischem Wege, die vier Grundbestandteile aus Luft und Wasser herausholend, stellt Berthelot in absehbarer Zeit in Aussicht.

Dieser geniale Gelehrte, der französische Edison der Chemie, ist zugleich Dichter, er wird wenigstens ein solcher, wenn er die Zukunft der Erde schildert, nachdem es gelungen ist, alle Nahrungsmittel, die der Mensch braucht, billig auf künstliche Weise zu fabrizieren. Es sind rosige Bilder, die er uns da vormalt. Es ist das Paradies, welches er uns schildert.

Aber.... er selbst findet einen Haken dabei. Auch er denkt daran, daß, wie Nobody immer sagt, der liebe Gott die Bäume nicht in den Himmel wachsen läßt. Anders ausgedrückt: nicht eher wird diese Entdeckung gemacht, als bis die Menschheit auch reif genug dazu ist, ihre Früchte ohne Schaden genießen zu dürfen, denn sonst... denn sonst würde sie der Menschheit nur zum Fluche gereichen, eine Zeit der fürchterlichsten Anarchie würde hereinbrechen!

Weshalb? Schnell war Nobodys erster Taumel verflogen, und dann erkannte er dieses ›Weshalb‹ auf den ersten Blick. Ernüchtert kehrte er nach seinem Stuhle zurück.

»Können Sie sich vorstellen,« nahm die Dame wieder das Wort, »wie es dann auf der Erde aus-sehen wird?«

»O ja, recht lebhaft. Der Landmann braucht keine Felder mehr zu bestellen, kein Schlachtvieh mehr zu züchten. Die grauen Aecker werden sich in Rosenhaine verwandeln und... wie Sie sagten, die ganze Erde würde ein Paradies werden.«

»Ja, aber die Menschen haben doch immer noch genug zu arbeiten.«

»Eigentlich, ja. Da gibt es immer noch genug zu tun. Aber ich denke, wenn jeder für ein paar Pfennige genug zu essen bekommt, wenn die Ernährung schließlich gar nichts mehr kostet, dann wird wohl niemand mehr arbeiten wollen, dann läuft jeder Schuster, anstatt mir die Stiefel zu besohlen, doch lieber in den Rosengärten herum.«

Ueberrascht blickte die Dame den humoristischen Sprecher an.

»Wie, das ist Ihnen sofort zum Bewußtsein gekommen?«

»O, ich habe eine gar schnelle Auffassungsgabe. Und dann kommt die Langeweile. Was soll man mit der vielen Zeit anfangen? Daraus entsteht zuletzt ein allgemeiner Mord und Totschlag. Ich kenne die Bestie, Mensch genannt. Verzeihen Madam, aber es ist meine ehrliche Ueberzeugung. Nein, auch das höchstkultivierte Volk steht noch lange, lange nicht auf der sittlichen Stufe, um diese Wohltat, sein Brot ohne Schweiß zu essen, von der Sorge um die Ernährungsfrage befreit zu sein, würdigen zu können.«

»So ist es. Und ich bewundere Sie, daß Sie das sofort erkannt haben. Ich selbst bin erst in langen Jahren zu dieser Erkenntnis gekommen, und dann erst verstand ich meinen Gatten, was er beabsichtigte.«

»Was beabsichtigte er?«

»Zuerst die ganze Erde zu erobern, rücksichtslos, mit Grausamkeit, wenn es sein mußte, und dann mit diktatorischer Gewalt und ebensolcher Strenge der ganzen Menschheit Befehle und Gesetze diktieren.«

»Ich verstehe. Das wäre auch der einzige Weg, um aus dem Segen nicht ein Fluch werden zu lassen. Und wie weit ist Ihr Gatte hierin gekommen?«

»Ich weiß nur, daß er mit der Unterjochung Abessiniens beginnen wollte, hier wollte er sich einen Zentralpunkt für sein weiteres Vordringen schaffen.«

Aha! Da aber war Nobody dazwischengekommen. Doch hiervon erzählte er nichts.

»Nun ist er tot« fuhr sie leise fort, »und mit ihm werden alle seine Pläne und Erfindungen zugrunde gegangen sein.«

»Hatte er denn keine Stellvertreter?«

»Wollte er nicht Sie zu seinem Nachfolger machen?« fragte sie entgegen.

»Ich nahm es nicht an, und dann konnte ich meine Erbschaft nicht antreten. Doch hatte er nicht auch sonst Leute hinter oder unter sich?«

»Ich habe mich wenig um das gekümmert, was mein Mann draußen trieb. Er kam alljährlich zweimal hierher, um der Ruhe zu pflegen, und das war seine glücklichste Zeit. In diesem schwächlichen Körper wohnte eine Kampfesnatur, sein ganzes Leben war ein ununterbrochener Kampf. Nur hier zeigte er sich von einer anderen Seite. Wie er mir hier zuletzt erzählte, besaß er damals zwei Unterseeboote mit zusammen achtzig Mann Besatzung Die ganze übrige Organisation ist mir völlig unbekannt, ich habe nie rechtes Interesse dafür gehabt.«

Ja, Nobody hatte schon längst bemerkt, daß sie sehr wenig Interesse für dieses Gespräch hatte. Sie hätte es zu gern abgebrochen. Nicht etwa, daß sie etwas verheimlichen wollte — nein, es war überhaupt eine indolente Natur, die von nichts, was nicht direkt im Kreise ihrer Interessen lag, belästigt sein wollte, und dieses Weib lebte in einer gänzlich anderen Welt. Das merkte Nobody immer deutlicher heraus.

Aber so leicht ließ er sich nicht abschrecken, diese Gelegenheit mußte doch benutzt werden.

»Ihr Gatte hypnotisiert die Leute, die er von sich abhängig machen will, nicht wahr?«

»Ich glaube, ja.«

»Aber doch wohl auf eine ganz andere Weise als die bekannte.«

»Ich verstehe gar nichts von Hypnotismus. Maurice selbst nannte seine Methode Tallismus. Er sagte nicht: ich hypnotisiere, sondern: ich talliere. Mehr kann ich Ihnen hierüber beim besten Willen nicht mitteilen, ich weiß es nicht. Mich selbst hat Maurice niemals hypnotisiert, auch nicht talliert, ebensowenig Peter, meinen Diener. Ich habe nie gelitten, daß er an dieser treuen Seele solche Experimente anstellte.«

Aha, hier auf dieser öden Insel schien die Allmacht des ›Herrn der Erde‹ eine Schranke gehabt zu haben!

»Wissen Madam, wie diese Eiweißpillen angefertigt werden?«

»Nicht im geringsten. Ich selbst verstehe nicht mehr von Chemie, als zur allgemeinen Bildung gehört. Mein Mann hat auch hier ein großes Laboratorium, es steht Ihnen, wie alles andere, offen, auch seine Bibliothek, wie seine Handschriften, vielleicht können Sie sich daraus orientieren.«

Das war viel wert, und es wurde immer ersichtlicher, wie sie hierüber nicht mehr gefragt zu werden wünschte.

»Madam, Sie haben mir und meinem Freunde das Leben gerettet,« schlug Nobody ein anderes Thema an.

»Ich konnte Sie doch nicht verschmachten lassen. Allerdings wäre es mir lieber gewesen, wenn Sie meinen Aufenthalt hier nicht entdeckt hätten.«

»O, Madam, ich bedaure sehr, in ihre Geheimnisse gedrungen zu sein...

»Sie stellten sich nur fieberkrank?«

Nobody mußte es zugeben.

»Indem Sie bestimmt erwarteten, daß jemand kommen und Ihnen Chinin einflößen würde?«

»Ja, ich vermutete es, und ich bin unglücklich, daß ich zu solch einer List...«

»Sie haben keinen Grund, um Entschuldigung zu bitten. Peter war etwas ungeschickt gewesen, schon mit der Arrangierung der künstlichen Bootstrümmer und des Proviants, den er auf mein Geheiß am Ufer aufstapeln mußte, dann ließ er es allzu offenkundig werden, daß sich hier unten eine Küche befindet — — kurz und gut, Sie mußten ja stutzig werden, uud Sie haben dabei nur eine außerordentliche Schlauheit gezeigt.«

»Wie lange hätten Sie uns durchgeholfen?«

»Nun, bis Sie wieder die Insel verlassen konnten.«

»Wann wäre das geschehen?«

»Ja, das weiß ich doch nicht. Bis zufällig einmal ein Schiff hierhergekommen wäre. Ich hätte Ihnen bis dahin in unauffälliger Weise mit immer mehr ausgeholfen.«

»Hätten Sie da nicht etwa auch ein Boot einmal an die Küste treiben lassen können, seefest und mit allem ausgerüstet?«

»Ich besitze kein solches Boot mehr. Peter hielt sich einmal ein solches zu seinem Vergnügen, um darin zu segeln und zu angeln — Sie haben die Trümmer gesehen und als Feuerholz benutzt.«

»Ja, aber wie können Sie da von dieser Insel fortkommen?«

»Gar nicht. Ich trage auch kein Verlangen danach. Wie gesagt, mein Gatte besuchte mich im Jahre zweimal, und das genügte mir.«

»Er kam mit einem seiner Unterseeboote hierher?«

»Ja, aber nicht direkt nach dieser Insel hier, sondern er legte an einer nördlicheren an, von dort aus kam er allein in einem kleinen Boote hierher, ebenfalls zum Tauchen eingerichtet, und brachte uns mit, wessen wir bedurften.«

»Wußten denn seine Leute, daß er Sie hier besuchte?«

»Ich bezweifle sehr, daß sie von meinem Aufenthalt hier etwas wissen. Nicht etwa, daß mein Gatte mich hier verborgen hielt, sondern ich selbst wollte so weltabgeschlossen leben.«

»So wird also niemand kommen, um Sie nun abzuholen?«

»Sicher nicht. Das wünsche ich auch nicht. Wir sind noch auf viele, viele Jahre verproviantiert, bis an unser Lebensende wird es reichen — — — — und im übrigen stehen wir in Gottes Hand.«

Sie erhob sich, nahm den wunderbaren Ring vom Tisch und reichte ihn Nobody.


Illustration

»Nehmen Sie ihn, mein Mann hatte ihn für Sie bestimmt, er gehört Ihnen.«

Nobody war äußerst angenehm überrascht, auf solch leichte Weise wieder in den Besitz des Ringes zu kommen, er hätte es nicht vermutet.

»Machen Sie den besten Gebrauch davon, ganz nach Ihrem eigenen Ermessen. Für mich ist die Welt gestorben, ich gehöre ihr nicht mehr an. Sie sind mein Gast, desgleichen ihr Freund. Alle Räume, bis auf wenige, die ich allein benutze, stehen Ihnen offen. Eine Gelegenheit zu Ihrem Fortkommen wird sich schon finden. Es vergeht doch selten ein Monat, an dem wir nicht ein Segel am Horizont erblicken, und ich werde Ihnen die Mittel geben, sich dem Schiffe bemerkbar zu machen. Peter steht zu Ihrer Verfügung.«

Ein leichtes Neigen des Hauptes, Nobody war entlassen. Gleich beim Schließen der Tür hatte er das Gefühl, als würde er diese geheimnisvolle Dame überhaupt nicht wiedersehen — höchstens noch einmal beim Abschied, und so sollte es denn auch kommen.

Auf dem Korridor war der Diener nicht zu sehen. Nobody begab sich, ohne sich in den vielen Türen zu irren, nach der Badestube zurück, um nach seinem Freunde zu sehen. Er wurde Zeuge eines Gesprächs, und er konnte es unbemerkt belauschen, weil in einiger Entfernung vor der Tür noch eine Portiere hing, damit der Blick nicht gleich auf die Badewannen fiel.

Offenbar saß Mojan noch immer in der Wanne, denn es plätscherte. Peter war bei ihm. Nobody konnte auch durch eine Spalte spähen, sah aber nur die Rücken der beiden. Sie schienen sich mit irgend etwas in der Wanne zu beschäftigen.

»Herrjeh, herrsch!!« sagte Mojan nur immer im Tone des größten Staunens.

»So, nun ist es fertig, nun kosten Sie mal.«

Mojan schien etwas zu essen, er schnalzte mit der Zunge.

»Hm. Das schmeckt — das schmeckt — nach — nach....«

»Nein, das ist ganz geschmacklos.«

»Nee nee, mein Bester, das schmeckt nach Seefe — und — und — nach Schweiß.«

»Ja, freilich, wenn Sie's im Badewasser machen!«

Nobody brauchte keine Erklärung weiter. Der Diener hatte seinem Freunde das Experiment mit der Eiweißpille vorgemacht, Mojan hatte sich den Hefen-Kloß gleich in seinem eigenen Badewasser entwickeln lassen, in dem er seinen zehntägigen Schmutz abgewaschen.

Da freilich mußte der Hefenkloß appetitlich schmecken!

»Aber 's ist alles nichts,« ließ sich des Riesen Stimme vernehmen, »was so eine richtige Holländer Zwiebel ist, die kann mein Herr doch nicht machen, und wenn's keine Zwiebeln mehr auf der Erde gibt, dann will ich auch gar nicht mehr leben.«

Nobody trat hinter dem Vorhang hervor, und der Riese stellte sich gleich in stramme Positur.

»Haben der Herr Befehle?«

»Nein, mein Peter, jetzt nicht.«

»Madam befahlen mir, gänzlich zu Ihren Diensten zu stehen und Ihnen auf alle Ihre Fragen zu antworten, was ich selber weiß, weil Madam nicht weiter von Ihnen belästigt sein will.«

Nobody mußte ein Lächeln unterdrücken. Daß die Herrin dem Diener aufgetragen, ihm dies zu melden, bezweifelte er stark. Für diese Offenheit gab ihm das blonde Antlitz des Riesen eine Erklärung; denn aus diesem leuchtete die ungeschminkteste Offenherzigkeit, der hatte die Seele in den blauen Augen und seine geheimsten Gedanken auf der Zunge, und die lange Einsamkeit mochte seine kindliche Naivität nur noch mehr entwickelt haben.

Mit Mojan wurde Nobody bald fertig, der verlangte keine langen Erklärungen. Der dicke Gentleman bedauerte nur, daß er der ›Dame des Hauses‹ nicht seine Aufwartung machen dürfe.

Und Peter ward bald Nobodys vertrautester Freund, dem er sein ganzes Riesenherz ausschüttete. Viel war es freilich nicht, was Nobody von ihm erfuhr, und dabei zeigte sich, daß der lange Peter wirklich ein sehr beschränkter Kopf war oder doch zu jenen gehörte, derer das Himmelreich ist. Kraft und Geist reimen sich eben meistenteils nicht zusammen.

Bis vor elf Jahren war Peter Nielsen Schiffskoch gewesen. Zuletzt war er mit seinem holländischen Schiffe in Kapstadt gewesen, und da hatte er die Pest ›gekriegt‹, die damals die Bevölkerung von Südafrika dezimierte. Auf der Straße hatte er sich befunden, als er es bemerkte, so hoch waren schon die Beulen an seinem ganzen Körper gewesen, und er war gleich vor Schreck ›zusammengezuckt‹.

Fremde Menschen hatten ihn aufgehoben — eine wundersame Ausnahme, daß fremde Menschen einen Pestkranken auch nur berühren — und hatten ihn an Bord eines Schiffes getragen.

Ein kleiner, hinkender, verwachsener Mann, welcher der Besitzer der wunderschönen Jacht war, hatte ihn wieder ›gesund gemacht‹. Auf welche Weise, das konnte Nobody nicht erfahren, und so konnte er nur annehmen, daß jener Hexenmeister auch ein Mittel gegen die Pest besaß, wodurch er ebenfalls zum Retter der Menschheit hätte werden können.

Doch ein gewichtiges Wort wenigstens fügte der Erzähler noch hinzu.

»Aber mein Herr wollte nicht alle Pestkranken wieder gesund machen; denn er meinte, wenn es keine Pest mehr gäbe, dann würden alle Schwarzen und auch viele von unseren weißen Landsleuten vor Schmutz und Ungeziefer umkommen.«

Nobody verstand die hohe Weisheit. Tatsächlich, es war eine Weisheit! Die Pest und manch andere epidemische Krankheit sind eine Geißel, sind ein drohendes ›Entweder-Oder‹ der fürsorglichen Natur. Warum werden von solchen epidemischen Krankheiten am meisten immer die Eingeborenen ergriffen, so daß die Sterblichkeit der Europäer gegen jene der Farbigen gar nicht in Betracht kommt? Weil die Europäer mehr Seife konsumieren.

»Willst du als Koch bei mir bleiben?« hatte der kleine Mann gefragt.

»Ei ja.«

»Nicht hier auf dieser Jacht, sondern bei meiner Frau.«

»Ei ja.«

»Es ist freilich ein ganz, ganz einsames Leben.«

Schadete nichts. Der lange Peter hatte sowieso eine unglückliche Liebe im Herzen.

Er wurde hierhergebracht, wo es schon damals genau so war wie jetzt. Nur Madam Iduna war elf Jahre jünger gewesen, aber auch schon gerade wie jetzt, so fromm, so schön, so gut, so so so so....

Der treue Diener fand gar keine Worte, die Vorzüge seiner Gebieterin zu schildern.

Ein halbes Jahr solle er es versuchen. Hielt er es in der Einsamkeit nicht aus, würde er wieder abgeholt. Aber Peter hielt es aus, denn er hatte ja eine unglückliche Liebe, die ihn glücklich machte — solcher Menschen gibt es nämlich genug! und wer hätte auch solch eine Herrin wieder verlassen können!

Bei dieser Erklärung warf Nobody für sich im geheimen die Frage auf, was wohl geschehen wäre, wenn es der fremde Diener hier nicht ausgehalten hätte. Nun, dann wäre er wohl für die Zukunft hypnotisiert worden. Bei der ersten Gelegenheit nahm Nobody ihn unter seine hypnotischen Augen, es gelang sofort, und so war hiermit konstatiert, daß der ›Herr der Erde‹ auch an dem Diener seiner Frau seine Experimente nicht probiert hatte, wie ihm ja auch schon von der Herrin versichert worden war.

»Was macht denn deine Herrin den ganzen Tag?«

Beten und arbeiten. Sie knüpfte vornehmlich Teppiche und betete dazu. Dazwischen musizierte sie auf einem Bechsteinschen Konzertflügel, und wenn der Herr kam, so musizierten sie alle beide.

»Wie kommt er hier nach dieser Insel?«

»In einem ganz kleinen Boote durch das Kellerloch.«

Nobody bekam das ›Kellerloch‹ zu sehen. Es war mit Seewasser gefüllt. Also auch hier ein unterirdischer Kanal, der den ausgehöhlten Felsenbau mit dem offenen Meere in Verbindung setzte. Das Boot sei von Eisen, ganz zu — mehr vermochte Peter davon nicht zu schildern.

Der Herr brachte immer ›schöne Sachen‹ mit und verließ nach einigen Wochen die Insel wieder mit den selbstgefertigten Teppichen seiner Gattin. Was Nobody sonst noch herausbrachte, danach mußte während dieser Besuchszeit hier das idealste Familienleben geführt worden sein — natürlich, wenn der blutrünstige Rinaldo Rinaldini nach seiner Höhle zurückkommt, so wäscht er sich und bettet das Haupt im Schoße seiner Rosa, dann ist er wie ein schneeweißes Lämmchen.

»Wer hat denn diese kolossalen Bohrungen und Aushöhlungen gemacht?«[*]

[* Es grenzt gewissermaßen ans Unglaubliche, was Nobody auf der Suche nach den geheimnisvollen Schöpfungen dieses wunderbaren Mannes alles entdeckte. So geht zum Beispiel aus den Tagebüchern, die der vorliegenden II. Serie zugrunde liegen, hervor, daß Nobody bereits viele Jahre vor dem furchtbaren Erdbeben, das 1906 die große, herrliche Stadt San Francisco vernichtete, die dadurch freigelegte unterirdische Chinesenstadt der Tongs entdeckte, in ihr verweilte und trotz der Scharen von angestellten Detektivs, welche die Geheimnisse derselben zu hüten hatten, wieder unversehrt an die Oberwelt zurückkehrte, was noch keinem Menschen gelungen ist, der in die Hände dieser schrecklichen Verbrechersekte geriet. Was Nobody hier alles schaute und erlebte, das wird am richtigen Platze geschildert werden, es sei hier nur hervorgehoben, daß die jetzt entdeckte Stadt unter San Francisco ein Beweis mehr ist für die vielen Rätsel der Welt, die noch der Lösung harren.]


Hierüber wußte Peter nicht das geringste. Der zerbrach sich überhaupt seinen dicken Schädel über nichts.

»Und was für eine Oeffnung ist das?« fragte Nobody, als er den tiefer liegenden Keller untersuchte, auf einen zweiten senkrechten Schacht deutend.

»Das ist der Brunnen.«

»Er gibt süßes, trinkbares Wasser?«

»Freilich, Sie trinken es doch selber jeden Tag.«

Daß sich hier, ringsum vom Meere umgeben, ein Brunnen befand, darüber wunderte sich Nobody nicht. Wer wußte denn, wie tief der gebohrt war! Denn für diesen Ingenieur schien es ja gar keine technischen Schwierigkeiten mehr zu geben.

Aber dann bekam Nobody etwas zu hören!!

»Wir brauchten den Brunnen gar nicht,« fuhr Peter fort, »wir können ja auch Meerwasser trinken.«

»Na nu! Meerwasser? Das kann man doch nicht trinken.«

»O ja, wenn's präpariert wird. Man braucht nur ein bißchen weißes Pulver hineinzutun.«

So kam Nobody ins Laboratorium. Erst aber schöpfte er selbst direkt aus dem Meere ein großes Glas mit Wasser, Peter nahm einen Teelöffel, holte aus einer Blechbüchse etwas weißes Pulver, schüttete es in das Wasser, rührte um — das weiße Pulver schien sich zu lösen, aber sofort entstand eine andere weiße Trübung, ein dicker Niederschlag setzte sich ab. Peter goß das Wasser durch ein einfaches Papierfilter, klar lief es durch, Nobody kostete — von bitterem Salzgeschmack keine Spur mehr, dagegen schmeckte es höchst angenehm säuerlich.

»Wenn es sauer schmeckt, so habe ich etwas zu viel Pulver hineingetan,« sagte Peter. »Eigentlich muß es abgewogen werden, auf ein Liter Wasser genau ein Gramm Pulver, dann ist es akkurat wie destilliertes Wasser.«

Nobodys Staunen war grenzenlos. Er hatte eine Perspektive in die Zukunft, die ihm viel lieber war als die mit den künstlichen Nahrungsmitteln.

Schon immer ist es ein Problem der Chemie gewesen, Meerwasser trinkbar zu machen, indem man durch Zusetzen eines anderen Chemikals die im Meerwasser gelösten Salze in unlösliche überführt, sie so ›fällt‹, daß sie sich niedersetzen und durch Filtration abgeschieden werden können.

Man stelle sich vor, was für eine Umwälzung das für die ganze Seefahrt und noch für manches andere bedeuten würde! Anstatt mit Trinkwasser belastet zu werden, genügte die Mitnahme eines Quantums solchen Pulvers, da könnte auf hoher See ja gar kein Wassermangel mehr vorkommen — noch ganz andere Aussichten stehen offen.

Theoretisch ist das sehr wohl möglich. Der salzige Hauptbestandteil des Meerwassers ist Kochsalz, das ist chlorsaures Natrium, bis zu vier Prozent. Das, was das Meerwasser so bitterlich macht, das eigentliche Ekelerregende, ist Chlormagnesium. Die übrigen Salze sind im Meerwasser in so winzigen Quantitäten vorhanden, daß sie gar nicht in Betracht kommen.

Nun gilt es also, das Chlornatrium und das Chlormagnesium als unlösliche Doppelsalze zu fällen.

Dieses Problem ist bereits gelöst worden, schon im 18. Jahrhundert, von einem spanischen Chemiker. Aber sein Fällmittel ist ein arseniksaures Salz, in dem Wasser bleibt freie Arsensäure zurück — das Wasser ist nun erst recht ungenießbar, weil giftig. Alle anderen Versuche, die Salze des Meerwassers durch ein harmloses Mittel zu fesseln, sind bis heute gescheitert.

Aber möglich ist es! Und wem das gelingt, der kann sich nicht nur einen Millionär, sondern gleich einen Milliardär nennen. Doch gebe sich lieber niemand damit ab, dieses Elixier finden zu wollen. Und wer weiß, wie viele Berufene, wie viele unserer genialsten Chemiker sich schon Tag und Nacht mit der Lösung beschäftigen — und einmal wird es gelingen, daran ist kein Zweifel!

Hier sah Nobody schon das Wunder vor seinen Augen sich vollziehen. Der Niederschlag war so schwer, setzte sich so schnell ab, daß eine Filtration schließlich gar nicht nötig war. Schon nach wenigen Minuten konnte man oben das salzfreie Wasser abtrinken.

Jawohl, er durfte so viel Pulver zu sich stecken, wie er wolle, es seien ja noch ein paar Fässer voll davon vorhanden. Wie es hergestellt würde, darüber freilich konnte Peter nicht die geringste Erklärung abgeben.

Nobody sah sich in dem Laboratorium um.

Die gläsernen Retorten erzählten ihm nichts von dem Geheimnis.

Aus dem Laboratorium kam er in die Bibliothek. Nur Bücher, die man überall zu kaufen bekommt. Aber da war auch eine Manuskriptensammlung!

Doch wiederum eine Enttäuschung. Meistenteils waren es handschriftliche Pergamente von alten Alchimisten, als Rarität sehr, sehr wertvoll — aber daß man den Stein des Weisen dadurch fände, daß man Eidechsenschwänze destilliere und anderes Teufelszeug mehr, daran glaubte Nobody so wenig, wie auch jener Mephisto solche Experimente schwerlich wiederholt haben würde. Das war ein moderner Chemiker gewesen, so modern wie die Einrichtung seines Laboratoriums.

Hauptsächlich vermißte Nobody eigene Aufzeichnungen dieses Chemikers, und wenn es selbst Geheimschrift gewesen wäre. Er fand keine, und auch Peter wußte nichts von solchen.

»Nee, nee, der hat alles frei aus dem Kopfe gemacht, und geschrieben hat er auch niemals.«

Da war auch eine spanische Handschrift, krause Buchstaben, auf echtes Pergament von Eselshaut geschrieben.

Gleich beim ersten Worte, auf das sein Blick fiel, zuckte Nobody zusammen. Er konnte ja Spanisch lesen und sprechen.

»Die mexikanische Knotenschrift als Geheimsprache der aztekischen Priester. Von Pater Capistranus.«

Es hätte nicht viel gefehlt, so wäre Nobody anbetend auf die Knie niedergesunken — nämlich anbetend die Vorsehung, die ihn hierhergeführt, die Vorsehung in Fleisch und Blut als Edward Scott.

Wie oft schon hatte sich Nobody nicht die Frage vorgelegt: Warum eigentlich hat mich Scott hierhergeschickt? Warum mich hier Schiffbruch leiden lassen? Wohl habe ich hier die Gattin des geheimnisvollen Mannes gefunden, aber hat dies irgendeinen Zweck gehabt? Habe ich hiervon irgendeinen Vorteil? Habe ich nicht nur ganz nutzlos meine Zeit vergeudet? Hätte ich nicht viel, viel mehr erreicht, wenn ich mich, wie es meine Absicht war, gleich nach Island begab?

Jetzt fiel es ihm wie Schuppen von den Augen! Hier sollte er den Schlüssel zu der Geheimschrift der Knoten finden, die für ihn sonst auf jeden Fall immer und ewig unlösbar geblieben wären!

Er zog sich in den Raum zurück, den er für sich als Arbeitszimmer in Anspruch genommen, und nach einigen Tagen des emsigsten Studierens und Grübelns hatte er sich durch die Wirrsale hindurchgefunden, hatte die sechshundertzweiundzwanzig Knoten in geistigem Sinne gelöst.

Nicht jeder Knoten war ein Buchstabe, das war es, was ihn irregeführt, dann mußten die Buchstaben auch umgestellt werden, und zuletzt waren es nur wenige Zeilen, welche in der Uebersetzung lauteten:

»Wisse, Nahuatlak, der du dein Eigentum suchst, daß es zu Tenochtitlatan im Tempel des Huitzilopochtli zu Füßen des schrecklichen Gottes liegt.«

Nichts weiter. Was konnte dort liegen? Ein neues Rätsel. Desto besser.

Wer war Nahuatlak? Lexika waren in der Bibliothek genug vorhanden. Keines gab Auskunft. Halt, unter dem Artikel ›Mexiko‹ fand er dieses Wort.

Nahuatlaken hießen die sieben Stämme zusammen, welche die Tolteken, die Ureinwohner des Landes, aus Mexiko vertrieben. Diese sieben Stämme waren die Xochimilker, Chalker, Tepaneken, Aeolhuer, Tlahoiken, Tlascaler und Azteken.

Die Azteken waren die mexikanischen Preußen, aus ihnen gingen die Kaiser hervor. Alle zusammen hießen sie Nahuatlaken. Also etwa: Deutscher, der du dein Eigentum suchst.

Wo lag Tenochtitlatan? Das Lexikon erzählte ihm, daß dies die erste Stadt gewesen sei, welche die erobernden Nahuatlaken in Mexiko gegründet hatten. Aber über ihre Lage schwiegen sämtliche Bücher und Karten beharrlich. Jedenfalls waren es nur noch Ruinen, nicht des Angebens wert, und Spezialwerke fehlten hier.

Wie war denn nun die Mumie nach dem Koloradotale gekommen? Wer hatte sie in den Schlangensee versenkt? Nicht wahrscheinlich der ›Herr der Erde‹?

Nobody fand es für gut, einmal die,Herrin der Erde‹ zu sprechen. Seine Bitte wurde abgeschlagen, sehr höflich, sie ließe bedauern, aber durch die Warte, welche Peter herdeklamierte, klang doch auch sehr deutlich durch, daß sie ein für allemal nicht gestört sein wolle.

Auch gut. Nobody würde dieses Tenochtitlatan und alles andere schon allein finden, wenn er nur erst in Mexiko war.

Für die beiden als Gäste aufgenommenen Schiffbrüchigen gab es hier kein Geheimnis mehr. Sie wurden auch eingeweiht, wie sie allein die Felsentür öffnen konnten. Nobody bewunderte den Mechanismus, und die Fuge hätte auch sein Auge nicht von einem natürlichen Riß im Felsen unterscheiden können.

Im übrigen widmete sich Nobody nicht mehr den hier vorhandenen Geheimnissen. Was für einen Zweck hatte es, daß er über die Quelle der elektrischen Kraft nachgrübelte, die das Licht erzeugte? Große Gefäße, mit Asbest gefüllt, in dem einen eine glänzende Stange, in dem anderen eine schwarze — solch eine Batterie hatte er ja auch zu Hause in seinem Schreibtische liegen, und er konnte sie doch nicht enträtseln. Wenn das Licht einmal etwas schwächer wurde, brauchte Peter nur einen Eimer Wasser auf den Asbest zu gießen, und man konnte wieder meterlange Funken herausziehen.

Von jenem Boote, das Peter früher besessen und dann den Schiffbrüchigen als Feuerholz gedient hatte, war noch der hohe Mast vorhanden. Er wurde auf der Spitze des Berges aufgepflanzt, willig gab Mojan sein ehemals weiß gewesenes Hemd als Flagge her, ein Knoten wurde hineingeschlagen, das Notzeichen, und Mr. Cerberus Mojans Hemd diente als Flaggensignal für ein vorübersegelndes Schiff.

Bei dem Aufpflanzen der Stange hatte Nobody ein Malheur, welches nicht unerwähnt gelassen werden darf. Er selbst merkte es erst hinterher. Er hörte an seinem Körper ein Klirren wie von Glas — als er in seiner Ledertasche nachsah, gewahrte er, daß die kleine Phiole, welche das hypnotische Mittel enthielt, zerbrochen war.

Tage, Wochen vergingen. Nobody studierte, Mojan dichtete, und was Peter an Kochkunst leisten konnte, das bewies der beiden Zunahme an Körperfülle. Besonders bei dem dicken Yaukee ward es unheimlich.

Nur eines einzigen Zwischenfalls sei hier Erwähnung getan, der sich während dieser Zeit ereignete, wobei Cerberus Mojans edle Seele beinahe ins Jenseits hinübergesegelt wäre.

Zum Frühstück servierte der lange Peter ungarischen Gulasch, ebenfalls aus solch einer aufgeschwemmten Eiweißpille zubereitet und dennoch nicht von dem echten Nationalgericht der Magyaren zu unterscheiden.

Auch Mojan hatte Platz genommen, aber er langte nicht zu.

»Danke, ich frühstücke nicht.«

»Warum denn nicht?«

»Ich werde heute überhaupt nichts essen.«

»Sind Sie krank?«

»Ich? Nee.«

»Ja, warum wollen Sie denn da nichts essen? Oder wollen Sie eine Abmagerungskur machen?«

»Geheimnis, lieber Freund, Geheimnis,« sagte Mojan mit einer seiner unnachahmlichen Handbewegungen, und dabei blieb er, er aß nichts. Aber dem Tee sprach er reichlich zu, trank auch ein großes Glas Wasser mit einem Zuge aus.

»Aha, jetzt geht's schon los!« meinte er nach einer Weile schmunzelnd.

»Was geht los?«

»Geheimnis, lieber Freund, Geheimnis. Sie werden es schon noch erfahren. Ich mache ein Experiment.«

Doch das Schmunzeln hielt nicht lange an — erst wurde Mr. Mojan auf seinem Stuhle sehr unruhig, mit einem Male ganz blaß.

»Mr. Mojan, was haben Sie denn?«

»Oooooooo!« begann jetzt der kleine Dicke zu jammern, sich den Leib mit beiden Händen haltend. »Daß es so wirkte, hätte ich nicht geglaubt — o, mein Bauch, mein armer Bauch!«

»Was haben Sie denn nur gemacht?«

»Ich wollte probieren, mit wie wenig...

»Jesses,« schrie da Peter auf, »der hat doch nicht etwa eine Eiweißpille verschluckt?! Wir hatten früher Hühner hier, eins verschluckte einmal so eine Pille, es platzte wie eine Bombe.«

»Und ich habe vorhin gleich drei verschluckt!« winselte Mojan, der schon nicht mehr stehen konnte.

Er hatte also das Eiweiß in konzentriertester Form nehmen wollen, nicht daran denkend, oder nicht wissend, daß es ja gar nicht Eiweiß war, sondern an Kohle gebundener Stickstoff, der erst mit Wasser zu Eiweiß wurde, er hatte auch reichlich Wasser getrunken, und nun spielte sich die ganze Geschichte eben in seinem Magen ab.

»Mein Bauch, mein Bauch, ich sterbe!«

»Schnell, schnell, ich hole Brechweinstein!« schrie Peter, der die wirklich vorhandene Gefahr wohl am besten erkannte.

Als er wiederkam, lag Mojan schon wie ein geprellter Frosch am Boden, Nobody hatte ihm Luft geschaffen, die Kleidungsstücke geöffnet, und es war ganz deutlich ersichtlich, wie der Leib immer mehr anschwoll. Mojan mußte wirklich unsäglich leiden, der kalte Todesschweiß stand in seinem purpurroten Gesicht.

Der Brechwein nützte nichts.

»Oel her,« kommandierte Nobody, »und eine Feder, er muß gekitzelt werden im Rachen!«

»Olivenöl?«

»Schmieröl.«

Das Schmieröl kam. Eine Feder gab es auf der ganzen Insel nicht. Doch, eine! Nobody zog die Pfauenfeder aus Mojans Hosenbein, tauchte die Spitze in das Schmieröl und fuhr damit in Mojans Rachen.

Aber es half nichts. Mojan handelte ja selber mit Schmieröl, dem konnte diese Substanz nichts anhaben.

»Er muß geschaukelt werden!«

Peter packte den Sterbenden bei den Beinen, Nobody ihn bei den Armen, und nun wurde hin und her geschwungen.

,,Er muß noch mehr geschaukelt werden, das ist seine einzige Rettung!«

Schon hatte Nobody zwei Haken an der Decke erspäht, schnell Seile her, mit Zauberschnelle hatte sie Nobody an den Haken befestigt, Mojan unter den Armen festgebunden, und nun — schwub, schwub, schwub — ging die Schaukelei los, Mojan immer durch den weiten Saal bis zur Decke empor.

Es wollte nicht kommen.

»Kopf nach unten!«

Jetzt wurde Mojan an den Füßen aufgehangen, und wieder ging die Schaukelei los, mit dem Kopfe nach unten. Bekam er einen Gehirnschlag — es schadete nichts; so oder so, sterben mußte er jetzt doch.

Nur noch ein Mittel kannte Nobody, um den Magen auf künstliche Weise zu entleeren — die Anwendung der Zentrifugalkraft.

Schnell wieder losgebunden, Nobody packte seinen Freund bei den Füßen und drehte sich selbst blitzschnell wie ein Kreisel herum, daß Mojan nur so durch die Luft wirbelte, durch die Zentrifugalkraft wagerecht in der Schwebe gehalten, zu welchem Kunststück nun freilich Nobodys Kraft und Gewandtheit gehörten.


Illustration

Und die Zentrifugalkraft siegte auch über den gefolterten Magen. Es kam! Und wie kam es! Drei winzige Pillchen hatte Mojan verschluckt, drei Hefenklöße von der Größe eines Kinderkopfes brachte er nach und nach wieder zum Vorschein.

»Sie, Nobody, so eine Teufelspille verschlucke ich aber nicht wieder, fällt mir gar nicht ein,« sagte er, als er sich wieder als lebendiger Mensch fühlte, und man glaubte ihm gern.

— — — — —


Es war in der vierten Woche, Mojan stach seiner Hulda gerade die Augen aus, als eines Morgens Nobody am fernen Horizonte ein Rauchwölkchen aufsteigen sah, und als er sich vergewissert hatte, daß sich die Rauchwolke nicht entfernte, sondern näher kam, teilte er es den anderen mit.

Peter eilte zu seiner Gebieterin, und als er wiederkam, wurde Nobody in das Heiligtum gebeten.

Sie war noch ganz dieselbe.

»Verzeihen Sie, daß ich mich gar nicht um Sie gekümmert habe. Doch war dies nur dem Anscheine nach. In Gedanken war ich immer bei meinen Gästen.«

»Madam, ich verstehe es zu würdigen, wenn sich jemand in die Einsamkeit zurückzieht.«

»Ein Dampfer kommt auf, er dürfte, wenn er den Kurs beibehält, ziemlich dicht an unserer Insel vorbeisegeln. Sie werden sich mit allen Mitteln bemerkbar machen, und ich hoffe mit Gott, daß er Sie und Ihren Freund aufnehmen wird. Wir haben damals nicht darüber gesprochen. Ich nehme Ihnen kein Versprechen ab, es steht bei Ihnen, zu erzählen, was Sie hier gefunden haben, aber wenn ich Sie bitten dürfte.....«

»O, Madam, für wen halten Sie mich?« unterbrach Nobody die Sprecherin vorwurfsvoll. »Mit Ihrem Diener habe ich dennoch darüber gesprochen, und ich weiß, daß Sie nicht entdeckt sein wollen. Von mir will ich gar nicht sprechen — für meines Freundes Verschwiegenheit garantiere ich. Und wenn sein Leib von Feuersgluten verzehrt würde, und er würde nur ein Wort über dieses Ihr Geheimnis verlieren, so will auch ich.... genug! Es ist bereits alles ausgemacht. Wir ziehen natürlich auch wieder unsere alten Kleider an.«

Sie reichte ihm die Hand.

»So leben Sie wohl. Grüßen Sie mir Ihren Freund. Gehen Sie mit Gott. Ich hoffe, daß Sie nicht gezwungen sind, noch länger hier zu weilen.«

»Und kann ich sonst nichts für Sie tun?«

Nobody hatte es kaum herausgebracht.

»Nichts! Leben Sie wohl!«

Da neigte sich Nobody über die weiße Hand und küßte sie. Dann ging er, ohne ein Wort des Dankes gehabt zu haben. Nur eine Träne hatte er auf jener Hand zurückgelassen, und diese Träne erzählte mehr, als Worte tun können.

Die Schiffbrüchigen mußten sich beeilen, ihrem Stande gemäße Toilette zu machen, d.h., wieder ihre schon in Lumpen zerfallenden Sachen anzuziehen. Von dem Dampfer, der naturgemäß nur nach und nach über dem Horizonte auftauchte, war schon der obere Teil der Schanzkleidung sichtbar, selbstverständlich waren jetzt die besten Fernrohre nach der gefährlichen Insel gerichtet, und wenn die Entfernung auch noch zu groß war, als daß man die Schiffbrüchigen hätte erkennen können, so mußte man doch vorsichtig sein.

Besonders zwischen Peter und Mojan war der Abschied ein geradezu rührender. Der kleine Mojan kletterte auf einen Stuhl, der lange Peter bückte sich, und so umarmten und küßten sie sich.

»Ueber Sie schrei — schrei — hei — schreibe ich ei — ei — ei — hei — einen zehnbändigen Roman,« schluchzte der Novellist.

Plötzlich wurde sein Entschluß schwankend, er hatte einen Anfall.

»Oder, he, Nobody, wollen wir nicht lieber unser ganzes Leben lang hierbleiben?«

»Machen Sie, machen Sie, wir müssen hinaus!«

Das künstliche Felsentor schloß sich hinter ihnen. Auch Nobody hatte ein ganz merkwürdiges Gefühl dabei — als hätte sich das Tor des Paradieses geschlossen, und dort kam das graue Leben heran, mit dem Fluche beladen, daß man das Brot im Schweiße seines Angesichtes essen soll.

Als sie den Berg hinaufkletterten, um sich neben die Flaggenstange zu stellen, verloren sie den Dampfer aus den Augen. Desto näher war er dann.

»Eine Jacht,« sagte Nobody, »ein recht stattliches Fahrzeug, wenigstens fünfhundert Tonnen, vollgetakelt und mit einer starken Hilfsmaschine, alles sehr sauber gehalten.«

Er nahm sein Taschenfernrohr zu Hilfe.

»Hm. Unser Notsignal haben sie gesehen, der Kurs wird etwas mehr nach der Insel geändert. Aber mir scheint, an Bord sind zwei Parteien, von denen die eine nichts von unserer Aufnahme wissen will.«

»Wirklich? Hoffentlich ist diese Partei in der Mehrzahl der Stimmen.«

»Ein Mann wenigstens scheint ganz energisch dagegen zu protestieren, er will sogar den Matrosen am Steuerruder wegschieben, wird aber daran gehindert.«


Illustration

»Hoch soll er leben, hoch, hoch, dreimal hoch. Er lebe hoch, er lebe......«

»Ach, hören Sie auf mit Ihrer Gröhlerei! Jetzt müssen wir uns bemerkbar machen, wir sind doch Schiffbrüchige, wir müssen winken und......«

»Fällt mir ja gar nicht ein! Hoffentlich ist der Mann stark wie Herkules und läßt sich nicht vom Steuerrad wegschubsen.«

»Mojan, seien Sie vernünftig! Sie wissen, was Peter gesagt hat, und wollen wir das Geheimnis unserer Gastfreundin verraten?«

Nobody begann zu winken, und jetzt machte auch Mojan mit.

»Hollahollaholladrihoh, juhuuuuhhh!« fing er an zu jodeln, zappelte mit den Beinen und schwenkte sein rotes Taschentuch! »Hilfe, Hilfe, wir ersaufen!!«

Der Dampfer stoppte, ein Boot wurde ausgesetzt, Matrosen gingen hinein.

Nobody legte den Signalmast um, damit durch ihn nicht unnötigerweise noch einmal ein Schiff angelockt würde.

»Aber mein Hemd ziehe ich wieder an,« sagte Mojan, den grauen Lumpen mit zärtlichen Blicken betrachtend.

»Das können Sie halten, wie Sie wollen. Doch wir müssen uns beeilen.«

»Mitnehmen tu ich's auf alle Fälle. Das laß ich fein waschen, laß ich fein plätten, und wenn ich einmal tot bin, zieh ich's als mein Sterbehemd an, und zwar eigenhändig.«

Und Mojan nahm sein zusammengeknotetes Sterbehemd über den Arm, sie kletterten hinab.

»Ist das wahr,« fragte Mojan unterwegs, »hat da wirklich einer widerstreben wollen, uns von der Insel abzuholen?«

»Mir kam es so vor, er wollte den Dampfer nicht beidrehen und stoppen lassen.«

»Das kann doch nur der Kapitän oder sonst einer gewesen sein, der ins Kommando mit hineinzureden hat, vielleicht der Besitzer der Jacht.«

»Das ist anzunehmen.«

»Ich werde die Sache prüfen — und wenn es an dem ist — Nobody — ich sage Ihnen — dann werde ich über den Kerl einen Roman schreiben — einen Roman, sage ich Ihnen — gar keinen großen — bloß einen einzigen Band, bloß acht Seiten lang, auf jeder Seite bloß fünf Zeilen, die Zeile bloß von drei Silben — aber ich sage Ihnen: auch der verhungertste Hundeköter soll von diesem Kerl jedes Stückchen Brot dankbar ablehnen.«

»Wenn es der Hundeköter aber nun nicht lesen kann?« lachte Nobody.

»Ich lasse den Roman gleich in sämtliche Sprachen der Welt übersetzen.«

»Auch in die Hundesprache?«

»Ich lasse die Bücher in Katzenfell einbinden.«

Nobody gab seine Widerreden auf: in so etwas war Cerberus Mojan ja doch nicht tot zu machen.

Sie standen am Ufer. Das Boot, von sechs Mann gerudert, tanzte heran. Himmel, wie das aussah! Fürchterlich! Die Schiffbrüchigen hatten sich nun schon an das ewig aufgeregte Meer und an die Brandung gewöhnt, heute war es gar nicht so schlimm — und doch! Was für ein Spielzeug der Wogen war nicht diese Nußschale! Jeden Augenblick sah es aus, als würde das Boot nie wieder aus dem Wellentale auftauchen, in das es hoch von einem Wasserberge hinabgeschossen war.

»Donnerwetter, die haben die Riemen in der Gewalt! Das muß eine Faust sein, die dort das Steuer führt! Lauter spanische Gesichter. Bravo, Spanier!«

Man sage nichts über die Spanier. Sie sind zu bedauern, nicht zu verachten. Besonders als Seeleute haben sie sich schon unzählige Male als die wackersten Männer bewiesen. Das Unglück des ganzen spanischen Volkes, die Verrottung, die das Mark der ganzen Nation auffrißt, kommt von oben und aus den Kirchen.

Der Steuernde setzte ein Sprachrohr vor den Mund.

»Kennt ihr einen besseren Platz?« donnerte es in englischer Sprache herüber.

Nobody winkte, weiter westlich zu fahren. Dort waren der Riffe weniger. Denn über diese hinweg und durch das Wasser mußten die Schiffbrüchigen, an ein Anlegen war nicht zu denken.

Das Boot tanzte um die Insel herum, immer in respektvoller Entfernung von den Klippen. Jetzt sahen sie selbst den günstigeren Platz. Es stoppte, hielt auf Riemen.

Es stoppte? Jetzt war es einen Kilometer von der äußersten Klippe entfernt, im nächsten Augenblick sah es aus, als müßte das Boot mittenhinein zwischen die Riffe geschleudert werden. Es klingt so einfach: das Boot näherte sich der Insel, um die zwei Menschen abzuholen — in Wirklichkeit war es ein furchtbares Schauspiel, ein Ringen um Tod und Leben.

Im Stern stand ein knebelbärtiger Matrose. Fünfmal schleuderte er die Leine, dann hatte Nobody ihr Ende erhascht.

»Einer nach dem andern!« donnerte es herüber.

Nobody dachte anders. Er schlang das Seil um Mojan, er selbst ging als Nachhut mit, sich nur an dem Freund festhaltend.

»Nun beten Sie erst einmal, und dann pressen Sie die Zähne zusammen. Go ahead!«

Es ging besser, als Nobody gedacht hatte. Der dicke Mojan schusselte wie ein Gummiball über die Klippen hinweg, und einmal aus diesen heraus, war alles andere im Vergleich ein Kinderspiel.

Sie wurden herangezogen und ins Boot gehoben.

»Ruder — an!«

Zurück ging es. Mochte das Boot auch noch so sehr tanzen, eine Gefahr war nicht mehr vorhanden, und ein sturmaufgewühltes Meer war das doch nicht. Nur die Brandung in der Nähe der Küste war zu fürchten gewesen.

»Wie ist's euch ergangen?« fragte der Steuernde, ein kleiner, krummbeiniger Gesell mit einem Gesicht wie von Leder, der erste Steuermann der Jacht.

Nobody erzählte kurz, was er dann an Bord nochmals ausführlich berichten mußte.

»Ihr könnt eurem Schutzpatron einige geweihte Kerzen anzünden.«

»Was für eine Jacht ist das?«

»Die ›Hortensia‹, eine Privatjacht von Santiago.«

»Wem gehört sie?«

»Einem Señor Juarez Travalko.«

»Ist er mit an Bord?«

»Ja.«

Zwischen seinen Antworten gab der Steuernde immer Ruderkommandos.

»Ihr kommt von Santiago um Kap Horn herum?«

»Ja.«

»Wohin geht die Jacht?«

»Nach Buenos Aires.«

Auch Mojan, der zwischen den Füßen der Rudernden kauerte, stellte an die Matrosen Fragen, sich eines fließenden Spanisch bedienend.

Ganz richtig, der Besitzer der Jacht, Juarez Travalko, war es gewesen, der nicht hatte stoppen lassen wollen. Aber durchaus keine bösartige Absicht. Er hatte auch durch das Fernrohr nicht die beiden Menschen sehen können, er war eben kein Seemann, wußte nicht einmal das Fernrohr auf den schwankenden Planken zu halten, und dann hatte er nicht das Leben von sieben Menschen für zwei hingeben wollen.

Aber als ihm gesagt worden, daß das unbedingte Seemannspflicht und auch keine weitere Gefahr dabei sei, hatte er sich natürlich gleich gefügt.

»'s ist zwar kein Seemann, aber sonst ein feiner Kerl, dieser Señor Travalko, ein untadelhafter Cavalleresko,« setzte ein Matrose hinzu, »unter seiner Flagge möchte ich mein ganzes Leben segeln.«

Nobody hatte noch mehr als nur einen bewundernden Ton herausgehört. Alle diese Leute schienen dem Besitzer der Jacht mit Leib und Seele ergeben zu sein.

Das Schiff war erreicht, und so sehr es bei ruhender Schraube auch schlingerte und stampfte, bot das Anbordgehen doch keine Schwierigkeiten.

An Deck standen die Matrosen, für die Jacht recht zahlreich, und betrachteten teilnahmvoll die Schiffbrüchigen, die in Wirklichkeit so wenig der Teilnahme bedurften. Es waren jedenfalls nur Spanier und Portugiesen, wenn auch wohl Südamerikaner, also Kreolen, der Kapitän war offenbar ein echter Spanier, ein stattlicher, ernster, würdevoller Mann, der auf Nobody einen außerordentlich günstigen Eindruck machte. Er erkannte den ehrenfesten Charakter gleich am Druck der Hand, mit dem er die Schiffbrüchigen an Bord des Schiffes, dessen verantwortlicher Führer er war, durchaus nicht immer abhängig von der Laune des Besitzers, begrüßte.

»Seien Sie mir herzlich willkommen. Kapitän Oleda, zur Zeit Kapitän dieser Jacht.«

»Jaques Bernard,« stellte sich Nobody vor, noch immer den Namen beibehaltend, unter dem er sich der Großfürstin Margot genähert hatte, denn er besaß auch noch die diesbezüglichen Papiere.

»Cerberus Mojan,« meldete sich dieser, und diesmal unterließ er merkwürdigerweise das Herbeten seiner sämtlichen Berufe und Titel.

»Ich bin nur der nautische Führer dieser Lustjacht, der Besitzer ist Señor Travalko, er befindet sich an Bord, in seiner Kajüte, er wünscht Sie sofort zu sprechen. Bitte!«

Er ging ihnen voran, öffnete die zur Kajüte führende Schiebetür, sie traten ein, der Kapitän blieb draußen, schloß hinter ihnen wieder die Tür.

»Hallo, der hat aber ein böses Gewissen!«

Das war Nobodys erster Gedanke, als er den Mann sah, der, in der Mitte der Kajüte stehend, die Schiffbrüchigen erwartete.

Es war ein noch junger Mann, mit spanischen Zügen und dennoch blondhaarig und blauäugig. Nobody erkannte sofort, daß hier eine Mischung von spanischem und germanischem Blute vorlag, und hier bestätigte sich wieder einmal, daß Nobody recht hatte, wenn er solchen Vermischungen stets mißtrauisch gegenüber stand.

Das schöne, bartlose Gesicht war eisern und dennoch von Leidenschaften aller Art durchwühlt, der fest zusammengepreßte Mund verriet unbeugsame Willenskraft und durch die aufgeworfenen Lippen eine ebenso große Sinnlichkeit, und am unangenehmsten waren die stechenden Augen, die alles durchdringen zu können schienen, aber auf keinem Gegenstand einen Moment ruhig haften konnten.

»Der ist zu allem fähig, und der hat auch schon etwas Lichtscheues auf dem Gewissen!«

Ein durchbohrender Blick auf Nobody, ein durchbohrender Blick auf dessen Begleiter, jedesmal wie ein giftiger Nadelstich wirkend, und die ruhelosen Augen huschten wieder in der ganzen Kajüte herum.

»Wer?«

Kurz und scharf hatte er dieses eine Wort hervorgestoßen, kaum die Lippen dabei auseinandermachend, noch weniger die Zähne.

Sollte das die Frage sein, wer die beiden seien?

Nobody wurde von einer plötzlichen Wut ersaßt. Er hätte dem Lümmel gleich eins mit der Faust geben können. Noch nie war ihm eine so unsympathische Person begegnet. Er selbst beherrschte sich, er fürchtete nur für den sanguinischen Mojan, der sich solch eine Behandlung noch weniger gefallen ließ. Aber der kleine Dicke stand wie ein Lamm da.

»Na?«

»Jaques Bernard ist mein Name.«

»Und?«

»Cerberus Mojan,« sagte dieser ganz demütig.

»Woher?«

»Aus Marseille, aber amerikanischer Bürger.«

»Und?«

»Aus Philadelphia, Yankee.«

»Wie kommen Sie auf die Insel?«

Nobody erzählte, wie er es mit Mojan verabredet hatte. Schließlich wich es nur insofern von der Wahrheit ab, als sich Nobody für den Mitbesitzer der Feluke ausgab. Es war der Einfachheit wegen. Dann wollte man auch nichts von dem Käsefaß erwähnen, solch eine verrückte Idee hätte ja doch niemand begriffen, sondern es handelte sich um eine Wette zwischen amerikanischen Gentlemen in Venedig, ob man solch eine elende Feluke, wie man sie dort hatte liegen sehen, um das stürmische Kap Horn herumbringen könne.

Das war eine echt amerikanische Wette, so etwas mußte auch dieser Südamerikaner begreifen.

Er ging übrigens gar nicht weiter darauf ein, zeigte kein Interesse dafür.

»Mit was befrachtet?«

»Nur mit Sand als Ballast.«

»Noch andere gerettet?«

»Nur wir beiden.«

»Die ganze andere Mannschaft absichtlich dem Tode preisgegeben, was?«

»Mein Herr!« wollte Nobody aufbrausen.

»Ruhig! Wovon gelebt?«

Nobody schluckte alles hinter, was in ihm aufsteigen wollte. Er wunderte sich nur über Mojan, daß der so ruhig dabei blieb.

»Wovon auf Insel gelebt?«

»Von angeschwemmtem Proviant.«

»Wie lange?«

»Vier Wochen.«

»Papiere zeigen!«

Nobody schluckte noch einmal kräftig, als er seine Legitimationspapiere auspackte.

»Und?«

»Ich bin Yankee, brauche keine Legitimationspapiere,« entgegnete Mojan.

»Taschen ausleeren!«

Oho! Jetzt hatte es aber gleich geschnappt! Wenn der Kerl nun wirklich auf einer Visitation bestand? Den geheimnisvollen Ring und noch manches andere fremden Augen preisgeben? Nein, das gab es nicht, eher.... Nobody war zu allem fähig!

»Na, wird's bald?! Taschen ausleeren, hierher auf den Tisch!«

»Señor, wir sind Ehren...

»Maul gehalten! Hier habe ich zu befehlen! Ich traue euch Brüdern nicht recht. Vorwärts, aus-ziehen, bis aufs Hemd!«

Himmeldonnerwetter!!! Nobody wußte, was er tat, und er tat es mit kühler Ueberlegung, trotz aller Schnelligkeit.

»Die Tür zu, Mojan.«

Ein blitzartiger Griff, er hatte den Spanier bei der Gurgel gepackt, er lag auf der Polsterbank, die sich an den Wänden hinzog.

»Ihr Taschentuch, Mojan, er muß geknebelt werden!«

Mojan war prompt nach der Tür gesprungen, hatte sie verriegelt, kam zurück, zwar schon sein Taschentuch in der Hand, aber doch noch ein anderes Mittel wissend und vorschlagend.

»Stecken Sie ihm doch so eine Pille ins Maul, Sie spucken ein paar Mal drauf, dann kann er mit dem Hefenkloße im Maule auch nicht mehr schreien.«

Nobody befolgte diesen Ratschlag nicht, er kniete auf die Arme des Niedergeworfenen, quetschte ihm die Nase zu, daß er den Mund öffnen mußte, wollte er nicht ersticken: der Spanier öffnete den Mund von ganz allein sehr weit — Nobody pfropfte schnell das große Tuch hinein. Aber einen Schrei hatte er doch nicht verhindern können.

»Hilfe!!!«

»Verflucht!«

Nobody gebrauchte das, was er sein Hausmittel nannte, nämlich im Gegensatz zur Anwendung der Hypnose. Nur ein leichter Schlag mit den Fingerknöchel gegen die Schläfe, und mit einem leisen Seufzer schloß der Spanier die wildrollenden Augen, um sie nicht so bald wieder zu öffnen.

Doch der Hilferuf war gehört worden. Die Tür ward von draußen zu öffnen versucht, dann stark daran geklopft.

»Na?« rief Nobody barsch, während er seine Lederriemen aus der Tasche zog und den Bewußtlosen an Händen und Füßen zu binden begann.

»Señor?« fragte draußen die Stimme des Kapitäns.

»Na?« stieß Nobody so wie vorhin hervor.«

»Riefen Sie nicht um Hilfe?«

»Unsinn! Weg!«

Die Schritte an Deck entfernten sich wieder.

Erstaunt blickte Mojan bald auf Nobody, bald auf den Gebundenen. Hätte er nicht seines Freundes Mund sich bewegen sehen, er hätte schwören mögen, es wäre der Spanier gewesen, der soeben hier geantwortet hatte. Ganz genau so, aber auch ganz genau so!

Und der Yankee, der sein riesiges Vermögen nur seinem Spekulationstalent verdankte, brauchte nicht lange Zeit, um zu erkennen, was Nobody eigentlich beabsichtigte.

»Ei die Dunnerwetter,« flüsterte er erregt, »Nobody, das haben Sie fein gemacht, das müssen Sie auch so weiterspielen!«

Es war ein sehr ernstes Gesicht, mit dem Nobody ihn anblickte.

»Wissen Sie auch, was ich getan habe?«

»Den Besitzer dieser Jacht überwältigt.«

»Ja, und ich ließ mich nicht etwa hinreißen, sondern es ist bei mir ganz selbstverständlich, daß ich nicht meine Taschen visitieren lasse, solange ich nur noch eine Hand zum Schlag und einen Fuß zum Tritt erheben kann. Ich habe verschiedene Geheimnisse bei mir, welche unter keinen Umständen ein Fremder......«

»Papperlapapp, das will ich ja gar nicht wissen, Und denken Sie etwa, ich, Cerberus Mojan, lasse mir so etwas gefallen? Ich bin nur eine bescheidene Natur, ich wollte Ihnen nicht vorgreifen, sonst hätte dieser Flegel schon längst am Boden gelegen. Ei der Deiwel noch einmal!«

»Jetzt ist es geschehen. Und was nun?«

»Wir machen uns zu Herren des ganzen Schiffes.«

»So einfach ist das nicht, die Mannschaft wird unbedingt auf der Seite ihres Gebieters stehen.«

»Der Deiwel sollte sie auch holen, wenn das nicht der Fall wäre. Jetzt heißt's den Gehirnkasten anstrengen, um uns wieder aus dieser Patsche herauszuhelfen, in die wir beim ersten Schritt an Deck dieses Schiffes hineingeraten sind. Nobody, Sie sind doch so ein Hexenmeister.«

Eine weitere Verständigung zwischen den beiden war gar nicht mehr nötig. Der eine wußte, was der andere jetzt unbedingt tun würde, und so geschah es denn auch.

Die Kajüte besaß noch drei weitere Türen. In dem einen Raume waren nautische Instrumente, Bücher und besonders auch Waffen untergebracht, der zweite zeigte drei elegante Kojen, die aber sicher nicht benutzt wurden, die dritte Tür führte in das Schlafzimmer des Jachtbesitzers, das war an dem benutzten Waschtisch und an allem ersichtlich.

Für Nobody war es von größter Wichtigkeit, zu wissen, daß sich die Kabine des Kapitäns anderswo befand, diese Kajüte mit den Nebenräumen nahm ausschließlich der Jachtbesitzer für sich und seine eventuellen Gäste in Anspruch.

»Hierherein mit ihm!«

Der Bewußtlose wurde in sein Schlafzimmer getragen und auf das Sofa gelegt.

»Entkleiden Sie ihn! Schnell! Dazu müssen Sie ihm einstweilen die Fesseln lösen. Kommt er wieder zu sich, bin ich auch noch da. Ich muß mich unterdessen rasieren.«

Mojan ging an die Arbeit, er knüpfte die Riemen wieder auf und zog den Spanier aus, unterdessen wetzte Nobody das Rasiermesser, das er in der Schieblade des Waschtisches vorgefunden, auch die Schere benutzte er, stutzte sich selbst die Haare, gab ihnen einen besonderen Schnitt.

Als Mojan sein Kammerdienerwerk beendet hatte und er sich umdrehte, konnte er trotz seines sonstigen Phlegmas kaum einen Ruf des Erstaunens unterdrücken.

Dieses schöne und doch so von Leidenschaft entstellte Gesicht, diese stechenden, flackernden Augen, diese aufgeworfenen Lippen, Juarez Travalko hatte einen Doppelgänger bekommen! Als Nobody nun gar die Kleidung von jenem anlegte, war die Auswechslung eine vollkommene.

»All right,« sagte Nobody, nachdem er noch einmal scharf in die Züge des Spaniers geblickt und sich selbst dann im Spiegel gemustert hatte, noch einige massierende Striche in seinem Gesicht machend. »Ich kann's riskieren. Jetzt muß ich mich erst einmal wenigstens vor der Türe zeigen, damit die Mannschaft nicht mißtrauisch wird, weil der Hilferuf gehört worden ist. Das genügt vorläufig. Was dann weiter zu tun ist, beraten wir später.«

Wie gesagt, Mojan hatte gewußt, oder doch geahnt, was sein Freund vorhatte, und dennoch — er sperrte seinen Mund auf.

»Nobody, Sie sind ein verwogener Satan!«

»Es hilft nichts, es muß riskiert werden. Wir haben einmal A gesagt, jetzt müssen wir auch B sagen. Binden Sie ihn wieder.«

Nobody war dabei behilflich, dann schritt er durch die Kajüte, riegelte die Ausgangstür auf, trat hinaus. Die Arme über die Brust kreuzend, lehnte er sich gegen die Kajütenwand, schaute einigen arbeitenden Matrosen zu.

Diese, ihm sehr nahe stehend, warfen einmal einen Blick nach ihm, so taten auch die übrigen an Deck befindlichen Leute, der auf der Kommandobrücke stehende Kapitän hob einmal den Kopf über das Schutzsegel, und dann kümmerte man sich nicht mehr um den vermeintlichen Señor Travalko.

Die erste Feuerprobe war bestanden. Was aber nun weiter? In Nobodys Kopfe arbeitete es fieberhaft. Erst jetzt kam ihm voll und ganz zum Bewußtsein, was er eigentlich getan, was für eine Aufgabe er nun zu lösen hatte.

Abgesehen von allen anderen tausend Schwierigkeiten, die er beim Spielen der Rolle einer ihm gänzlich unbekannten Person haben würde — — schon ein Gang über Deck konnte ihn verraten, schon die ersten Schritte genügten vielleicht. Denn er hatte den Spanier ja keinen einzigen Schritt machen sehen, wie konnte er da wissen, welchen Gang jener besaß, wie er die Füße dabei setzte usw. usw. Und dann das Verhältnis, welches er der Mannschaft gegenüber einnahm, wie er sie anredete, seine sonstigen Gewohnheiten — ja, da konnte man wirklich gleich von tausenden Schwierigkeiten sprechen, und jede einzelne war eine Falle, in der sich der Pseudo-Spanier fangen konnte.

Ein großes Hilfsmittel hoffte Nobody anwenden zu können. Er begab sich in die Kabine zurück.

Der Spanier, von Mojan auch noch auf dem Sofa festgebunden, damit er bei dem heftigen Schlingern des Schiffes nicht herabfalle, war wieder zu sich gekommen. Jetzt rollten seine Augen umher.

Nobody verriegelte hinter sich die Tür, dann beugte er sich über jenen, konzentrierte seine ganze Willenskraft, versuchte den Spanier zu hypnotisieren. Es gelang nicht, obgleich es der Hypnotiseur verstand, die ruhelosen Augen für längere Zeit auf die seinen zu bannen.

»Verflucht, daß meine Phiole zerbrechen mußte!«

Oder hatte ihn der Zufall wiederum mit einem von jener geheimen Sekte zusammgebracht, deren Mitglieder überhaupt gegen jede Hypnose gefeit waren, in dieser wenigstens den Gehorsam verweigerten?

Nobody ergriff eine der gebundenen Hände, nahm alle geheimen Erkennungszeichen durch — er erhielt kein Gegenzeichen.

Nein, dieser Spanier, dem man die Energie gleich ansah, war eben gegen jeden hypnotischen Einfluß unempfänglich, Nobody hatte es sofort erkannt, er hatte eben nur noch eine schwache Hoffnung gehabt. Sie hatte ihn getäuscht. Da freilich war der Verlust der Phiole mit jenem hypnotischen Mittel unersetzlich.

»Setzen Sie ihm einmal die Daumschrauben an,« riet Mojan in gemütlichem Tone. »Nur kein Erbarmen mit dem Schuft, der uns so schmählich behandelt hat. Ich verurteile die Folter durchaus nicht. Deshalb brauchen wir ihm ja nicht den Knebel aus dem Munde zu nehmen. Sie fragen, was Sie wissen wollen, er mag die Antworten niederschreiben.«

»Mojan, sind Sie sich auch bewußt, daß wir gar kein Recht haben, diesen Mann als Gefangenen zu behandeln? Daß er uns unziemlich behandelt hat, rechtfertigt unsere Handlungsweise noch lange nicht.«

»Ach was, sehen Sie dem Kerl doch nur in die falschen Augen! Wenn der nicht schon ein paar Morde auf dem Gewissen hat, will ich selbst dereinst als Raubmörder gehangen werden.«

Da hatte Mojan recht. Nobody wurde das Gefühl nicht los, daß dies ein ganz gefährlicher Mensch war, der entweder teuflische Pläne schon ausgeführt hatte oder sie noch ausführen wollte.

Indessen, das, was Nobody getan, war doch aus einem ganz anderen Grunde geschehen. Nobody hatte die Geheimnisse, die er in der Ledertasche bei sich hatte, um keinen Preis fremden Augen offenbaren wollen. Es war also mehr ein Akt der Notwehr gewesen. Dann aber hatte er auch kein Recht, diesen Mann etwa gar noch zu mißhandeln. Nobody hatte sich sowieso schon einer äußerst strafbaren Handlung schuldig gemacht.

Er nahm dem Gebundenen das Taschentuch aus dem Munde, ihm dabei die andere Hand auf die Gurgel legend. Einen zweiten Schrei sollte jener nicht ausstoßen können, dafür wollte Nobody sorgen.

»Sobald Sie nur etwas lauter sprechen als ich jetzt zu Ihnen, schnüre ich Ihnen die Luft ab,« sagte Nobody in leisem Tone.

Der Spanier hatte erst mit staunendem Schreck den Mann angestiert, in dem er sich selbst wie in einem Spiegel erkennen mußte. Doch das Staunen ging schnell vorüber, jetzt verzog sich sein Gesicht in Haß und Wut.

»Na, warten Sie, Sie Verwandlungskünstler, diese Komödie sollen Sie nicht lange spielen können.«

»Sprechen Sie leiser, oder ich muß Ihnen wieder den Knebel in den Mund pfropfen. Wollen wir uns nicht in Güte auseinandersetzen?«


Illustration

»In Güte? Hahahaha! Im nächsten Hafen kommen Sie vor ein Gericht, das Sie mindestens zu einem Dutzend Jahren Kerker verurteilt.«

»Señor, nehmen Sie Vernunft an. Vorläufig ist Ihr Leben in unserer Hand. Ja, wir haben eine verzweifelte Tat begangen, und Sie als Spanier wissen doch am besten, wozu ein Desperado, fähig ist.«

»Meinetwegen schneidet mir die Gurgel ab oder macht sonst etwas mit mir, ihr sollt dem Schicksal nicht entgehen, das ihr über euch heraufbeschworen habt.«

»Kitzeln Sie ihn doch einmal mit dem Messer,« riet Mojan nochmals, »oder pusten Sie ihm eine Eiweißpille in den Magen, das tut auch gut, ich kenn's.«

»Unsinn! Es hat auch wirklich gar keinen Zweck, noch einen Vergleich versuchen zu wollen. Wie sollte denn das geschehen? Ich muß eben die Rolle weiterspielen und auch ohne diesen Señor fertig zu werden suchen.«

Er pfropfte dem Spanier wieder das Taschentuch zwischen die Zähne.

Dann folgte eine Beratung, in welcher Nobody seinen anfänglich gefaßten Plan verwarf, als Pseudo-Travalko in der Koje den kranken Mann zu spielen. Es half alles nichts, Nobody mußte gleichzeitig als zwei Personen austreten. Sehr gut aber war es, wenn Mojan die Rolle eines Kranken übernahm, dann hatte Nobody einen Grund, in der einen Kabine immer aus- und einzugehen, wie wir es noch ausführlich schildern werden.

Der Gebundene wurde hinüber in die andere Kabine getragen, welche zur Aufnahme der Gäste bestimmt war, und in eine der Kojen gebettet, die mit Vorhängen verschlossen werden konnten. Daß sich auch Mojan niederlegte, war nicht unbedingt notwendig, denn hierherein durfte sowieso kein anderer mehr kommen, es geschah vorläufig nur zur Vorsicht.

Dann betrat Nobody wieder als Señor Travalko die Kajüte. Es half alles nichts, jetzt mußte er das zweite Risiko wagen, gegen welches jenes erste, als er sich nur einmal an Deck gezeigt hatte, eine Kleinigkeit gewesen war.

In der Kajüte befanden sich drei Klingeln. Die eine stand auf dem Tisch, links und rechts von der Ausgangstür war je ein Klingelzug angebracht. Welcher Klingel mußte sich Nobody bedienen, um den Steward zu rufen? Konnte er durch Ziehen einer falschen Klingel nicht schon irgendeinen Fehler begehen, der gar nicht wieder gutzumachen war, der sofort verriet, daß dies unmöglich der Jachtbesitzer sein konnte?

Doch mit solchen Kleinigkeiten gab sich Nobody gar nicht erst ab. Kurz entschlossen zog er an dem rechten Griff.

Ein junger Mann kam, nicht uniformiert, aber das war ganz sicher der Steward.

»Sie befehlen, Señor?«

»Frühstück!« stieß Nobody scharf und kurz hervor, dabei kaum die Zähne auseinandermachend.

Wie nun aber, wenn der Spanier sich dieser Sprechweise wohl den unerwünschten Gästen gegenüber bedient hatte, gegen die Mannschaft aber von vollendeter Liebenswürdigkeit war?

Es mußte eben riskiert werden, und Nobody schien doch den rechten Ton getroffen zu haben, der ehrerbietig dastehende Steward zeigte keine Spur von aufsteigendem Mißtrauen.

»Sehr wohl, Señor. Wieviel Gedecke?«

»Zwei. Der eine, Señor Mojan, fühlt sich krank, bleibt in der Koje.«

Nobody hatte eine Bewegung nach der Fremdenkabine gemacht.

»Da will ich doch erst einmal.....« sagte der Steward, jedenfalls nach jener Kabine springen wollend, wurde aber gleich unterbrochen.

»Nichts! Schon alles in Ordnung. Sonst aber werden meine Gäste wie ich selbst bedient. Verstanden?«

»Selbstverständlich, Sen....«

»Fort! Frühstück!«

Der Steward eilte hinaus. Auch die zweite Feuerprobe war glänzend bestanden. Nobody schien gar nicht kurz und abgerissen und herrisch genug sprechen zu können.

Hatten sich aber die Matrosen nicht über ihren Herrn in einer Weise geäußert, als sei dieser bei ihnen recht beliebt? Da mußte Nobody dem Steward, der einen recht simplen Eindruck machte, noch weiter auf den Zahn fühlen, ehe er sich unter die anderen Leute wagen, sich gar mit dem Kapitän in ein Gespräch einlassen durfte.

Nobody begab sich in die Fremdenkabine und vertauschte die Rollen, wurde wieder der echte Nobody oder vielmehr Bernard. Sein altes Kostüm zog er freilich nicht wieder an, er hatte schon vorhin in dem Garderobeschrank des Spaniers Umschau gehalten und einen Anzug mit hinübergenommen, der von dem des Spaniers, den dieser gegenwärtig getragen hatte, recht abstach, Nobody auch am allerwenigsten paßte, wenn er auch sonst mit dem Spanier die gleiche Figur hatte. Durch einige Künste wußte er den Eindruck noch mehr hervorzubringen, als ob ihm dieser Anzug recht schlecht sitze. Uebrigens wollen wir dies gleich näher bezeichnen: als der spanische Jachtbesitzer trug Nobody einen dunkelgestreiften Flanellanzug, als Bernard zeigte er sich in einem erbsengelben Kostüm.

Die Verwandlung war fertig, Mojan über alles unterrichtet. Nur eins war ihm noch unklar.

»Ja, wo bleibt denn nun aber der Spanier?«

»Der hat plötzlich keinen Appelit mehr, hat sich drüben in seine Kabine zum Schlafen zurückgezogen. Nur Señor Bernard wird speisen.«

»Ja, davon muß der Steward aber doch eigentlich erst benachrichtigt werden.«

»Ist gar nicht nötig, Señor Travalko fehlt eben beim Frühstück.«

»Er kann aber doch nur in seiner Kabine sein, und wenn der Steward nun an seine Tür klopft, immer wieder, dann müßte er eigentlich doch antworten.«

»Gewiß werde ich da antworten.«

Diese Worte aber hatte nicht Nobody gesagt, es war eine entfernte, gedämpfte Stimme gewesen, die von einer Zwischenwand getrennt zu sein schien. Es war auch offenbar sehr laut gerufen worden, nur hier klang es leiser, eben wegen der weiten Entfernung.

Mojan machte ein schr erschrockenes Gesicht, als er seinen Gefährten anblickte.

»Wer war das? Wer hat da nebenan gerufen?« flüsterte er.

»Ich — ich!« erklang es abermals in genau demselben Tone.

»Wir werden belauscht,« flüsterte Mojan noch ängstlicher. »Wer kann das nur sein?«

»Ja, das möchten Sie wohl gern wissen,« ließ sich abermals die weitentfernte Stimme vernehmen.

Mojan hatte Nobody angeblickt, machte sein Maul einmal auf und klappte es mit einem hörbaren Krach wieder zu, und dann war ihm die Erkenntnis gekommen, wodurch wieder einmal bewiesen wurde, was für ein Pfiffikus dieser spleenige Yankee in Wirklichkeit war. Denn ein anderer hätte es wohl schwerlich so schnell herausgefunden wie Cerberus Mojan. Etwas vielleicht mochte mit dazu beitragen, daß Nobody jetzt zu lachen begann.

»I, Sie sind doch ein Allerweltskerl! Das habe ich noch gar nicht gewußt, daß Sie auch Bauchreden können. Was können Sie denn eigentlich nicht?«

»Ich hätte mich schlecht auf meinen Detektivberuf vorbereitet, wenn ich das nicht könnte,« lachte Nobody.

»Aber so täuschend — ich habe schon manchen Bauchredner gehört — etwas bewegen sie die Lippen doch immer — bei Ihnen bemerkt man auch nicht das geringste davon, und ich hätte gleich schwören mögen, daß die Worte in einer anderen Kabine gerufen wurden.«

»Das ist bei mir eine Gabe, das konnte ich schon als Kind, habe manche Possen damit getrieben, und als Detektiv ist es mir schon manchmal von Nutzen gewesen.«

Der erbsengelbe Bernard verließ die Kabine und befand sich in der Kajüte, wo der Steward bereits den Tisch deckte, wozu wegen des Schlingerns des Schiffes besondere Vorkehrungen getroffen werden mußten, daß nichts vom Tische schusselte.

Der Steward konnte getrost an der Tür gelauscht haben, er hätte nichts gehört, und bei Nobody war es selbstverständlich, daß er auch sonst alles arrangiert, nichts vergessen hatte, wie z.B. die andere Kabine zuzuschließen, damit der Steward nicht einmal ohne weiteres hineingehen konnte.

Als Señor Bernard, der auch die Haare anders frisiert trug, war Nobody ein jovialer Mann, bedeutend älter als der Jachtbesitzer erscheinend, überhaupt in jeder Bewegung und allem grundverschieden von jenem.

Händereibend und schmunzelnd torkelte er um den Tisch herum, sich einmal auf den schaukelnden Planken gegen eine Säule werfen lassend, bis er in die Nähe des jungen Menschen kam.

»Na, mein Lieber, da wären wir ja glücklich in Abrahams Schoße gelandet,« eröffnete er das Gespräch, als Gast an den dienstbaren Geist Anschluß suchend. »Haben Sie auch schon einmal einen Schiffbruch durchgemacht?«

»Bedaure, Señor — es ist wohl Englisch, was Sie zu sprechen belieben? Ich verstehe kein Englisch,« war die auf spanisch gegebene Antwort.

»Macht nichts, ich kann auch Spanisch. Sie sind der Steward?«

»Jawohl, Señor.«

»Recht so, recht so.« schmunzelte der gemütliche Gast, sich immer die Hände reibend. »Haben Sie auch schon einmal einen Schisfbruch durchgemacht, fragte ich?«

Der Steward ließ einmal die geschäftigen Hände ruhen und machte ein Gesicht, welches darauf schließen ließ, daß jetzt irgend etwas Bedeutendes kommen müsse.

»O, Señor, haben Sie nicht von dem Oliphant gehört oder gelesen?«

»Von dem Oliphant? Was ist das?«

»Der chilenische Dampfer, der als vollständiges Wrack nach Santiago kam, aber immer noch durch seine eigene Kraft. Es stand doch in allen Zeitungen der Welt.«

»Ja, mein Guter, ich habe auf der Argonauteninsel keine Zeitung in die Hand bekommen. Wann ist denn das gewesen?«

»Nun, erst vor vier Wochen.«

»Nein, da saßen wir schon auf der nackten Felsenklippe und waren schon sechs Wochen auf der Feluke gewesen, wo wir auch nicht mit Tagesneuigkeiten versehen wurden.«

»Ja, da bin ich mit drauf gewesen,« sagte der Steward stolz, die Hand in die Brusttasche steckend.

»Na, was war denn da?«

»Es war entsetzlich.«

»Erzählen Sie doch!«

»Wenn es der Señor lieber lesen wollen — ich möchte mich nicht rühmen — aber ich stehe auch mit drin — Alsonso Domani heiße ich — und 's ist wirklich so gewesen.«

Mit diesen Worten zog der junge Mensch mit errötender Bescheidenheit ein Zeitungsblatt aus der Tasche, das förmlich zerlesen war.

»Hier steht's,« sagte der Steward und verließ die Kajüte.

Es war eine in Valparaiso herausgegebene spanische Zeitung. Wie sich Nobody gleich vergewisserte, hatte der Artikel ursprünglich in einer englischen New-Yorker Zeitungen gestanden, er war ins Spanische übersetzt worden.

»Wie ein Heldenepos von sagenhafter Mannestreue klingt das Lied von der spanischen Besatzung des chilenischen Dampfers ›Oliphant‹.«

So begann der drei Spalten lange Artikel, als sachlicher Bericht ein Datum tragend, noch viele Daten anführend.

Wir wollen es hier kurz machen. Der ›Oliphant‹, ein großer Ozeandampfer, hatte in einem chinesischen Hafen Tee geladen, eine gar kostbare Fracht, nach Santiago bestimmt. Nur noch acht Tage von seinem Ziele entfernt, wurde er im Nebel von einem unbekannt gebliebenen Dampfer gerammt, der sich also auch nicht um das Opfer gekümmert hatte, vielleicht selbst gesunken war.

Der ›Oliphant‹ leckte stark. Die Maschinen funktionierten wohl noch, aber die Pumpe versagte gänzlich, auch dem Ruder wollte der Dampfer nicht mehr gehorchen. Und dabei alle Anzeichen eines bald ausbrechenden, furchtbaren Unwetters.

Was tun? Der Dampfer sank ständig.

Es kommen doch Gelegenheiten, da aus dem Schiff, sonst eine absolute Monarchie, eine Republik werden kann. Der Kapitän ist an Bord unumschränkter Machthaber, bedingungslos haben ihm die Matrosen wie Offiziere zu gehorchen, jeden seiner Befehle auszuführen, jeden, mag er der Mannschaft auch noch so zwecklos oder rätselhaft erscheinen, und wer es nicht tut, wird in Eisen gelegt, und wer auch nur eine Hand erhebt, den kann der Kapitän sofort niederschießen. Nur das Seegericht hat über ihn zu urteilen, und war es eine drohende Handbewegung gewesen, so wird der Kapitän freigesprochen.

Aber wenn nun Anzeichen vorhanden find, daß der Kapitän wahnsinnig geworden ist? Noch viel häufiger spielt dieTrunkenboldenhaftigkeit des Kapitäns eine Rolle.

Dann ruft der erste Offizier, oder eben der zweite nach dem Kapitän die Matrosen und auch die Heizer vor dem Mast zusammen, eine Volksberatung findet statt, das monarchische Schiff wird gewissermaßen zur Republik. Denn solange der Kapitän noch lebt, kann sein Stellvertreter nicht so ohne weiteres das Kommando mit absoluter Macht ergreifen, da hat erst jeder seine Stimme abzugeben, es wird gewissermaßen ein Präsident gewählt.

Ebenso verhält es sich, wenn Schiff und Leben in große Gefahr kommen. Dann ist der Kapitän verpflichtet, der ganzen Mannschaft hiervon Mitteilung zu machen. Er muß sie um ihre freie Meinung fragen. Denn Sklaven sind die Matrosen denn doch nicht.

So auch auf dem ›Oliphant‹.

»Wenn wir die Kurbeln mit den Händen drehen, können wir vielleicht das einströmende Wasser doch noch auspumpen und das Schiff nach Santiago bringen — vielleicht! Wollt ihr pumpen oder den Dampfer verlassen?«

Man kann es den Teerjacken bei solchen Gelegenheiten wahrhaftig nicht verargen, wenn sie zuerst an sich selbst, vielleicht auch an Frau und Kinder denken. Schiff und Ladung sind doch versichert. Und was bekommen sie denn schließlich für ihre Todestreue? In den allerallermeisten Fällen bekommen sie weder von der Reederei noch von der Versicherungsgesellschaft irgendeine Belohnung. Das sind Aktiengesellschaften, keine lebenden Menschen, mit Vernunft begabt, aber ohne Seele. Und wenn man das von der richtigen Seite aus betrachtet, so muß das auch so sein.

I, laßt doch den Dreck zum Teufel fahren! Oder denkt man etwa, wenn so ein Schiff mit Ladung, einen Wert von vielen Millionen repräsentierend, auf den Grund des Meeres sackt, deshalb rauft sich einer, der mit seinem Gelde dabei beteiligt war, die Haare? Oder es hinge sich wohl gar ein ruinierter Kaufmann oder Rentier auf? Ach, da sind Kapitalien daran beteiligt, wovon sich einer, der die Verhältnisse nicht kennt, gar keine Begriffe macht! Da gibt's nächstes Jahr ein Viertelprozent weniger Dividende, und damit basta, deshalb wird noch keine Zigarre weniger geraucht.

Doch soll hier nicht etwa gesagt werden, daß alle Seeleute, alle Teerjacken so praktisch-nüchtern denken. Um Gottes willen nicht! Auf der weiten See ereignen sich jeden Tag Heldentaten, ausgeführt von schlichten Männern in Matrosenkitteln und Kohlenhemden, — Heldentaten, von denen die Menschen drinnen im Lande niemals etwas zu hören bekommen! Hier war einmal an Bord ein amerikanischer Zeitungsschreiber gewesen, der für einen ausführlichen Bericht gesorgt hatte.

»Wir wollen pumpen, Kapitano,« lautete die einstimmige Antwort der versammelten Leute.

An Bord befanden sich auch einige Passagiere, sie wurden auf den nächsten dem ›Oliphant‹ begegnenden Dampfer gebracht, nur jener amerikanische Zeitungsmensch blieb. Er wollte sich diesen interessanten Fall gewissenhaft in allernächster Nähe ansehen, Bleistift und Notizbuch in der Hand; das brachte ihm auch etwas ein, die Zeile mindestens einen halben Dollar, und dann noch die zahllosen Nachdrucke, auch in fremde Sprachen.

Das Pumpen begann. An sich schon eine anstrengende Arbeit. Und dabei sollte es nicht bleiben. Schon der nächste Tag brachte einen orkanartigen Sturm, der Dampfer parierte dem Steuer nicht mehr, drehte immer von allein bei — der Sturm knickte alle Masten ab, wusch das ganze Deck leer, machte den Dampfer noch lecker.

Es mochte ja sein, daß der Berichterstatter eine etwas dichterische Brille aufgehabt hatte. Aber immerhin, Nobody glaubte wohl, daß die Mannschaft total erschöpft gewesen war, als sie den Dampfer, der sich kaum noch über Wasser hielt, in den Hafen von Santiago gebracht hatten, mit geretteter Ladung. Es waren Männer gewesen, Männer im vollsten Sinne des Wortes, daran war nichts zu deuteln, und der Reporter tat ganz recht, wenn er gleich hinter dem eisernen Kapitän Oleda auch den jungen Steward Alfonso Domani erwähnte, welcher, obgleich einmal während achtundvierzig Stunden keine Minute geschlafen habend, noch ebenso sauber seine Teller ausgewaschen und die Messer geputzt hatte, von Kopf bis zu Fuß vollkommen durchnäßt noch mit demselben Anstand in der Kajüte serviert hatte, als befände man sich noch auf der reizendsten Vergnügungsfahrt, und nicht, als ob es jetzt um Leben und Tod ginge. Ganz gewiß, das war in seiner Art ein Held! Abgesehen davon, daß auch er, als sich ein Matrose die Hand verrenkte, an die Pumpe gegangen war, freiwillig seinen Schlaf opfernd.

Der Steward kam zurück, jetzt das Geschirr bringend.

»Bravo! Hut ab! So ein Exemplar verschaffe ich mir, das hänge ich in meiner guten Stube in einem Goldrahmen auf. Habt ihr von der Reederei oder von der Versicherungsgesellschaft etwas bekommen?«

»Gar nichts.«

»Hat euch die Stadt Santiago nicht wenigstens ein Ehrengeschenk gemacht?«

»Nein. Ja. Ein großes Feuerwerk hat man uns zu Ehren abgebrannt, da bekamen wir zum Zusehen die besten Plätze und brauchten nichts dafür zu bezahlen.«

Also ein Feuerwerk und Freiplätze! Jawohl, das war so echt spanisch-südamerikanisch! Doch es ist zu traurig, um darüber lachen zu können.

»Nun, wie ist es euch dann weiter ergangen?«

»Wir haben uns ordentlich ausgeruht, acht Tage lang, dann kam Señor Travalko nach Santiago und musterte uns für seine Jacht an.«

Nobody wußte den Steward in aller Kürze weiter auszuhorchen.

»Die ›Hortensia‹ war aus Valparaiso gekommen, nicht stärker bemannt, als die Größe der Jacht vorschrieb, nämlich mit Kapitän und nur einem Steuermann, Bootsmann und Segelmacher, sechs Matrosen und drei Heizern, Koch, einem Steward. Diese Besatzung genügte auch vollkommen für den doch nur kleinen Dampfer.

Sie war erst kurz zuvor in Valparaiso gemustert worden, wo die Jacht lange Zeit ohne Mannschaft und zum Teil auch abgetakelt und abgerüstet gelegen hatte. Damals hatte sie noch nicht dem Señor Travalko, sondern einem reichen Chilenen namens Alvarez gehört. Von diesem hatte Travalko sie erst gekauft, mit allem, was dazu gehörte, für 300 000 Pesos.

Zunächst machte die ›Hortensia‹ nur die kurze Fahrt nach Santiago, dem Valparaiso benachbarten Hasen, nur wenige Stunden.

Sie kam gerade an, als auch der wackere ›Oliphant‹ in Santiago einlief und mit solcher Begeisterung empfangen wurde. Sofort begab sich Travalko nach dem Gasthause, wo die tapfere Besatzung, die schon abgelöhnt worden war, Quartier genommen hatte — ob die ganze Mannschaft des ›Oliphant‹ für seine Lustjacht anmustern wolle. Solch wackere Leute brauche er für seine Jacht, wünsche er wenigstens an Bord zu haben.

Und Señor Travalko war nicht nur ein reicher Mann, sondern auch ein Cavalleresko, ein Gentleman. Die spanische Heuer ist nur gering, der Matrose bekommt monatlich 10 Pesos, 40 Mark, während die deutsche Heuer 60 Mark ist, die englische 90, Nordamerika und Novascotia zahlen sogar 120 Mark, und dementsprechend verhalten sich auch die Heuern für Kapitän und Offiziere. Aber Señor Travalko hatte doch kein Handelsschiff, hielt die Jacht nur zu seinem Vergnügen, wollte sich auf ihr die Welt besehen und mit ihr prunken, und so bewilligte er ohne weiteres jedem eine bedeutende Zulage, und den Speisezettel könnten sie sich selbst aufsetzen, da gab es bei ihm noch weniger ein Knausern, verhungert sollten seine Staatsmatrosen nicht aussehen — nur von der Mitnahme von geistigen Getränken müsse Abstand genommen werden.

»Wollt ihr an Bord meiner Jacht kommen?«

O ja, warum denn nicht? Einmal mußten sie doch wieder anmustern, und so etwas wurde ihnen nicht so bald wieder geboten. Vielleicht wurde das auch eine Lebensstellung.

»Eine Woche konnten wir uns auf seine Kosten noch an Land pflegen, dann sind wir alle an Bord dieser Jacht gegangen.«

»Alle? Wieviel wart ihr denn auf dem Oliphant?«

»Kapitän, erster und zweiter Steuermann, zwei Maschinisten, Bootsmann und Segelmacher, der auch zimmern kann, zehn Matrosen, acht Heizer, der Koch und ich.«

»Und die sind jetzt alle hier auf dieser kleinen Jacht?!«

»Jawohl, warum denn nicht? Wenn's der Señor bezahlen kann, und es macht ihm eben Spaß, recht viele Leute an Bord zu haben, und wenn dann bei der Einfahrt und Ausfahrt alles so schneidig klappt, das ist eben sein Stolz. Das ist doch eine Jacht und kein Frachtkasten, wo man sich die Zunge aus dem Halse schinden muß.«

Der Steward hatte ganz recht, Nobody brauchte sich nicht im geringsten zu wundern. Jene englischen und amerikanischen Millionäre, die mehr auf ihren Jachten als an Land leben, was für ein Menschenmaterial die erst mit sich herumschleppen! Zunächst Matrosen und Heizer zur persönlichen Sicherheit in überreichlicher Anzahl, dann Arzt, Masseur, Barbier, einen Photographen, einen Landschaftsmaler, einen Klaviervirtuosen, einen Sekretär, einen Dolmetscher und Gott weiß was, schließlich Stewards und Diener die schwere Menge.

Und hier kam noch der Stolz hinzu, an Bord seiner Jacht jene Seeleute zu haben, welche als Helden jetzt das Tagesgespräch bildeten.

»Was hat die ›Hortensia‹ geladen?«

»Gar nichts. Als Ballast hat sie Trinkwasser und Kohlen. Es ist doch nur eine Lustjacht.«

»Wo ist die erste Besatzung geblieben?«

»Die ist in Santiago abgemustert worden, hat noch eine Monatsheuer extra bezahlt bekommen.«

»Habt ihr seit eurer Abfahrt von Santiago noch einen anderen Hafen angelaufen?«

»Nein, direkt um Kap Horn herum.«

»Ihr steuert doch nicht den eigentlichen Dampferkurs, seid doch recht nahe an die gefährlichen Argonauteninseln herangekommen.«

»Ja, die wollte sich Señor Travalko einmal ansehen.«

»Wollte er landen?«

»Das weiß ich nicht. Wohl kaum, wir haben die Inseln doch jetzt auch schon hinter uns.«

Ein Glück war es für Nobody, daß dieser junge Mensch ein äußerst naiver Charakter war. Sonst hätte es ihm doch auffallen müssen, warum der Gast, der mit dem Jachtbesitzer frühstücken wollte, denn solche Frage nicht an diesen stellte. Nun benahm sich ja auch Nobody recht jovial und geschwätzig, so etwas dumm-neugierig, aber Matrosen oder gar den Kapitän hätte er doch nicht so aushorchen dürfen, das wäre sofort aufgefallen.

Bei diesem Steward durfte er es wagen, und er nahm diesen Vorteil wahr.

»Wer ist denn eigentlich dieser Señor Juarez Travalko?«

»Das weiß ich wirklich nicht. Er ist wohl ein Argentinier.«

Nobody wunderte sich nicht über diese teilnahmlose Unkenntnis des Stewards, und Nobody bezweifelte, daß er hierüber selbst vom Kapitän etwas Näheres erfahren konnte, vorausgesetzt, daß er solch eine Frage überhaupt hätte stellen dürfen.

Da kommen Schiffsverhältnisse in Betracht, die sogenannte Schiffsroutine. Ein Dampfer soll von Hamburg nach Australien ein halbes Jahr brauchen.

Während dieser Zeit werden die neuangemusterten Matrosen unter sich doch sehr vertraut, da wird manches besprochen. Aber soll einmal einer seinen Kameraden fragen: ›Du, sage mal, wer ist denn eigentlich unser Kapitän? Woher stammt er, ist er verheiratet, hat er Kinder?‹ — Fällt ja gar niemandem ein! Das würde jeder Matrose sogar direkt als ›gegen die Routine‹ bezeichnen, d.h. als unanständig. Das Schiff ist eben eine kleine Welt für sich, in der es ganz anders zugeht als in der großen Welt, die von Landratten bevölkert wird.

Ja, wenn der Schiffsbesitzer ein Vanderbilt ist — den kennt jeder. Aber sonst gibt es an Bord keine Neugier, soundso, und damit basta, und der Segelmacher und die Offiziere haben überhaupt keine Namen.

»Kümmert sich Señor Travalko auch um das nautische Kommando?«

»Gar nicht. Er versteht auch nichts davon, fängt wohl erst mit dem Jachtsport an.«

»Ich dachte, weil er vorhin in die Speichen des Steuerrades griff.«

»Ja, er behauptete, auf der Insel wären gar keine Menschen, das wären Seelöwen, die sich auf dem Lande sonnten, und dann, als er unserer Versicherung glaubte, es wären wirklich Menschen, Schiffbrüchige, die uns winkten, da wollte er unser Leben nicht in Gefahr bringen. Er ist eben kein Seemann.«

»Sonst kommt ihr aber wohl gut mit ihm aus?«

Solch eine Frage durfte Nobody nun freilich bloß an diesen naiven jungen Menschen stellen.

»Ei gewiß, über den gibt's nichts zu klagen, das weiß ich, der ich ihn bedienen muß, doch am allerbesten.«

»Er ist doch ein bißchen barsch.«

»Das kommt einem nur zuerst so vor, er spricht so kurz und abgerissen. Sonst hat er mir noch kein böses Wort gesagt. Und so auftreten muß er doch auch.«

Es lag für Nobody eine tiefe Bedeutung in diesem letzten Satze. Wenn sich der Jachtbesitzer gegen Kapitän und die ganze Mannschaft wirklich so benahm, wie es die Schiffsroutine, der Anstand des Seemanns, verlangte, so kam dies Nobody außerordentlich zustatten, dann hatte er leichtes Spiel. Vor allen Dingen gibt es an Bord keine Leutseligkeit, und wer sie den Leuten entgegenbringt, so lange man Planken unter den Füßen hat, der wird verachtet. Dienst ist Dienst und keine Gefälligkeit, vor allen Dingen nicht an Bord.

Der Steward ging und kam sehr bald mit rauchenden Schüsseln wieder.

»Aaaahh, gebratene Eier mit Speck,« schmunzelte der joviale Gast, »das gab's auf unserer Felsenklippe nicht.«

»Ich kann den Señor gar nicht sehen,« meinte der servierende Steward, »an Deck ist er nicht.«

»Der Señor? Der ging vorhin dort in die Kabine.«

»In seine Kabine?«

Der Steward wartete noch etwas, während Nobody einstweilen den appetitlichen Duft inhalierte, dann ging er hin und klopfte an die Tür.

»Was?« erklang es drin kurz mit der Stimme des Spaniers.

»Das Früstück ist serviert.«

»Señor Bernard soll allein essen. Will schlafen.«

Der Steward zeigte nicht die geringste Verwunderung darüber, daß sein Herr erst das Frühstück bestellt hatte und jetzt, noch am frühen Morgen, plötzlich schlafen wollte.

Es ist schwer, einem Uneingeweihten die an Bord eines Schiffes herrschenden Verhältnisse verständlich zu machen. Daß es auf einem Schiffe, wo es zwischen Tag und Nacht keinen Unterschied gibt, so ganz anders zugeht, merkt man schon als Passagier auf dem Salondampfer. Und auf einem Handelsschiffe oder auf einer Privatjacht hört in gewisser Beziehung vollends jede Rücksicht auf.

»Na, da werde ich ohne Señor Travalko loslegen,« sagte der erbsengelbe Nobody, und er legte denn auch mit gutem Appetit los.

»Soll ich dem andern Herrn in seiner Kabine servieren?«

»Nein, lassen Sie nur, der schläft wie ein Murmeltier. Ich sehe dann schon nach ihm.«

In der offenen Ausgangstür erschien der Kapitän, und Nobody beobachtete, daß er nicht einmal den Fuß auf die Schwelle setzte.

»Wo ist Señor Travalko?«

»In seiner Kabine, er will schlafen,« entgegnete der Steward.

»Aber er ist doch noch zu sprechen? Ich muß den Kurs ändern.«

»Er hat soeben noch geantwortet.«

»Sage ihm, daß wir die Argonauteninseln hinter uns haben. Ob ich den früheren Kurs wieder aufnehmen soll.«

Der Steward ging wieder hin, klopfte an dieTür.

»Was?« erklang es drinnen ganz deutlich. Nobody hatte zwar gerade den ganzen Mund voll gehabt, aber das machte nichts, er brauchte diesen ja nicht zum Reden, er sprach in die Bauchhöhle hinein.

Der Steward entledigte sich seines Auftrags.

»Jawohl, wieder früheren Kurs.«

Der Kapitän ging.

»Was für ein früherer Kurs ist das, der wieder eingeschlagen werden soll?« fragte der kauende Nobody.

»Nun, wieder direkten Kurs nach Buenos Aires. Als wir um Kap Horn waren, äußerte der Señor das Verlangen, möglichst dicht an den Argonauteninseln vorbeizufahren, er wollte sich diese wüsten Eilande wohl einmal in der Nähe besehen, und da mußte doch ganz bedeutend vom eigentlichen Kurse abgewichen werden.«

»Achso. Wo quartiert denn der Kapitän?«

»Der hat seine eigenen Kabinen, gleich neben der Offiziersmesse. O, die ›Hortensia‹ ist gar fein eingerichtet, auch die vielen Leute sind gut untergebracht.«

»Leistet der Kapitän dem Señor nicht manchmal Gesellschaft?«

»Der Kapitän dem Señor? Niemals. Der Kapitän kommt niemals hierherein in die Kajüte, da weiß der Señor auf Anstand zu halten. Umgekehrt ist es wohl der Fall, Señor Travalko geht manchmal auf die Kommandobrücke. Aber weiter unterhalten tut er sich nicht, er ist sehr wortkarg, und das muß auch so sein.«

Der Steward verließ die Kajüte, und Nobody war sehr zufrieden mit dem Gehörten. Er leerte schnell seinen Teller, dann nahm er das ganze Präsentierbrett, auf dem noch genug war, um vier hungrige Menschen zu sättigen, und trug es in die Fremdenkabine, wo Mojan, der schon immer sein Geruchsorgan am Schlüsselloch gehabt hatte, ihn mit dem Titel ›Rabenmutter‹ empfing, die ihren Pflegling verhungern lasse.

Jetzt begann Mojan zu — — — nicht zu kauen, sondern nur zu schlucken, während Nobody berichtete.

»Wir können mit allem zufrieden sein. Es wird mir gelingen, meine Rolle bis nach Buenos Aires durchzuspielen. Was dann weiter zu geschehen hat, werden wir ja sehen. Sobald das Schiff in den Hafen läuft, müssen wir eben verduften — wenn nicht etwas anderes dazwischen kommt. Jetzt muß ich mich erst näher informieren, in den Schiffspapieren Umschau halten, vielleicht ist auch eine Korrespondenz des Jachtbesitzers vorhanden. Er hatte doch in seinem Anzug ein Schlüsselbund.... ah, hier ist es.«

Nobody brachte aus dem Anzuge, den Travalko getragen, ein großes Schlüsselbund zum Vorschein.

Aus der Koje, in der der Gebundene lag, erscholl ein heiseres Stöhnen.

»Immer stöhne,« sagte Mojan, »immer recht laut, damit es auch der Steward hört. Ich bin doch krank, da muß ich auch stöhnen. Oder hast du Hunger? Nein, ich könnte dir wohl die Daumschrauben anlegen, aber einen Menschen hungern sehen, das kann ich nicht.«

Nobody kam seinem Freunde zuvor, er zog die Vorhänge von der Koje zurück und nahm dem Spanier den Knebel aus dem Munde, zur Vorsicht eine Hand auf der Kehle liegen lassend.

»Schreien Sie nicht! Sofort schnüre ich Ihnen die Kehle zu. Wollen Sie etwas?«

Der Spanier war ganz artig. Er hatte unterdessen seinen Entschluß geändert. Doch in's Auge sehen konnte er dem sich über ihn Beugenden noch immer nicht.

»Geben Sie mir die Freiheit wieder,« bat er leise.

»Señor, das läßt sich wohl nicht so leicht machen.«

»Ich gebe Ihnen ein Boot, die Jacht fährt dicht ans Ufer, Sie können sich vom Schiffe entfernen.«

»Das würden Sie wohl nicht so ruhig zulassen.«

»Auf mein Ehrenwort!«

»Hm. Das gilt mir in diesem Augenblicke verteufelt wenig. Sagen Sie mal, Señor, es ist Ihnen wohl recht unangenehm, daß ich jetzt mittels Ihres Schlüsselbundes etwas Umschau zwischen Ihren Papieren halten will?«

Nobody hatte das Richtige getroffen. Er hatte es ja auch gleich geahnt. Nämlich gleich, als das Schlüsselbund geklappert hatte, war auch das Stöhnen gekommen.

«Hil.....«

So weit war der Hilferuf noch nicht einmal ausgestoßen worden, Nobody hatte sofort an dem Gesichtsausdruck erkannt, daß jetzt ein Hilferuf kommen würde, und da hatte seine Hand jenem auch schon die Luft abgeschnürt, der Knebel machte ihn vollends stumm.

»Bin doch neugierig, was ich da finden werde. Ich glaube immer mehr, daß ich diese Ueberrumpelung vor jedem Gerichte werde verantworten können. Irgend etwas geht hier nicht mit rechten Dingen zu, irgend etwas ist faul im Staate Dänemark.«

Der erbsengelbe Bernard verwandelte sich in den dunkelgestreiften Travalko, und Nobody begab sich mit dem Schlüsselbund hinüber in die andere Kabine.


III. Um zwanzig Millionen.

Schon vorhin hatte Nobody den kleinen Panzerschrank bemerkt, der neben dem Waschtisch an der eisernen Wand befestigt war. Der Hauptschlüssel war am Ringe vorhanden, Nobody öffnete.

Als erstes fand er in zwei Schatullen Gold-, Silber- und Papiergeld, nach vorläufiger Schätzung ungefähr 10000 Pesos betragend. Das war offenbar die Schiffskasse, aus der die Bedürfnisse bestritten wurden, für solch eine Jacht, die auch in jedem Hafen ein ganz bedeutendes Ankergeld zu zahlen hat, gar keine so große.

Ein anderes Fach enthielt beschriebene Papiere. Zuerst fiel Nobody der Versicherungskontrakt in die Hände, für die ›Hortensia‹ abgeschlossen mit einer nordamerikanischen Gesellschaft, die in Valparaiso eine Filiale hatte.

Aus Bemerkungen ergab sich, daß dies der zweite innerhalb einer Woche abgeschlossene Kontrakt war, wodurch ein früherer ungültig gemacht wurde.

Zuerst war eine Versicherungsprämie des vollen Kaufpreises der Jacht, also 300 000 Pesos, angesetzt worden, wie sie solch einer Jacht, nachdem die Seebehörde diese als vollkommen seetüchtig anerkannt hatte, üblich entsprach.

In diesem zweiten Kontrakte hier wurde betont, daß die Hortensia‹ die vollständige Besatzung des ›Oliphant‹ als Mannschaft an Bord nehme, wodurch die Prämie ganz bedeutend ermäßigt wurde.

Hieraus also ersieht man, daß es einer Versicherungsgesellschaft durchaus nicht gleichgültig ist, wie viele und was für Leute ein Schiff an Bord hat. Eine tüchtige, in Gefahr schon erprobte Mannschaft bietet der Versicherungsgesellschaft eine Garantie, da läßt sie gleich einige Prozente nach.

Ein zweites dokumentartiges Schreiben erregte Nobodys besondere Aufmerksamkeit, mit vor Spannung weit geöffneten Augen las er es.

Der argentinische Finanzminister erteilte dem Señor Juarez Travalko den Auftrag, fünf Millionen Pesos von Valparaiso nach Buenos Aires zu bringen, und ein weiteres Schriftstück belehrte Nobody, daß Travalko die fünf Millionen von dem chilenischen Schatzamt auch wirklich erhalten hatte, und zwar vier Millionen in Goldbarren, eine Million in nordamerikanischen Doppeladlern.

Fünf Millionen Pesos — zwanzig Millionen Mark! Hallo, das war eine Summe, wegen der ein Mensch unruhig werden, manchmal auch ein schlechtes Gewissen bekommen kann!

Dieses Gold befand sich ganz sicher an Bord, seinetwegen hatte Travalko die Jacht doch erst gekauft, der Ueberführung dieser Summe von einem Lande zum andern galt die ganze Reise, das war für Nobody nun zweifellos.

Wo war das Gold untergebracht? Erst stöberte Nobody weiter in den Papieren. Er fand den Kontrakt über den Verkauf der ›Hortensia‹ von Señor Alvarez in Valparaiso an Juarez Travalko, er fand noch verschiedenes andere, aber nichts, was ihn weiter interessiert hätte. Vor allen Dingen war kein Schriftstück vorhanden, was ihm näheren Aufschluß über die Person Travalkos hätte geben können, der vom argentinischen Finanzminister mit solch einer wichtigen Mission betraut worden war.

Doch der Geldschrank enthielt ja noch andere Fächer. Alle leer! Hier nur ein kleines Kästchen. Was war darin? Watte. Und in dieser Watte sorgsam eingepackt ein Fläschchen, gefüllt mit einer wasserhellen Flüssigkeit.

Nobody entfernte den eingeschliffenen Glasstöpsel, roch hinein — wie der Blitz sprang er empor, riß das runde Fensterchen auf und atmete in tiefen Zügen die frische Seeluft ein.

»Ich lebe noch, fühle nichts von Gliederstarre — gelobt sei Gott!«

Ein Glück war es, daß er nur ganz vorsichtig daran gerochen hatte, die Luft schnell wieder ausstoßend — denn diesen Geruch nach bitteren Mandeln kannte er — Blausäure, das furchtbarste Gift, welches, als Gas nur in ganz minimaler Menge in die Lunge gebracht, oder als Lösung in den Magen, sofort das flüssige Blut erstarren läßt, daher durch Herzschlag einen fast augenblicklichen Tod nach sich ziehend.

Wozu bedurfte der Jachtbesitzer dieses Giftes? Nobody hatte hierüber seine eigenen Gedanken.

Zunächst wollte er Umschau nach dem Golde halten, zuerst in dieser Kabine.

Die Koje war ziemlich hoch über dem Boden angebracht, und auf dieser Jacht wie auf jedem Schiffe mußte mit dem Platze gegeizt werden. Der freie Raum unter der Koje diente als ein Verschlag, verschließbar — Nobody besichtigte das Schloß, hatte gleich den passenden Schlüssel am Bund gefunden — richtig, unter der Koje standen eine ganze Menge eiserner Kisten, jede mit Vorhängeschloß und Handgriffen versehen, und es wäre gar nicht nötig gewesen, daß sich Nobody erst von der außerordentlichen Schwere eines Kastens überzeugte, den er kaum hervorbrachte — er kannte schon diese schatullenartigen Behälter, hatte solche schon oft auf dem Schatzamt zu Washington, bei Bankiers und auch bei Privatleuten gesehen, welche glückliche Besitzer von Goldbarren waren.

Auch zu den Vorhängeschlössern war ein Schlüssel vorhanden, der sämtliche schloß. Nobody konnte sich an den Anblick von vierkantigen Goldbarren weiden, immer recht hübsch eine Kiste füllend, vom Washingtoner Schatzamt mit je zwei Stempeln versehen, das Gewicht der Barre und die Feinheit des Goldes angebend.

Das Pfund Gold, wie es aus dem Schmelzofen der Münze kommt, kostet rund 1000 Mark, hier waren 80 Zentner vorhanden gleich 8 Millionen Mark, einige der Schatullen enthielten keine Barren, sondern waren mit nordamerikanischen Doppeladlern gefüllt, der Doppeladler zu 20 Dollar, und Nobody brauchte nicht zu zählen, was eine gar langwierige Arbeit gewesen wäre, er brauchte nur durch Heben das Gewicht einer einzelnen Münzkiste zu taxieren und sich dann zu vergewissern, wieviel solcher vorhanden waren, und er wußte bestimmt, daß es eine halbe Million Dollar oder Pesos waren, wozu noch zwei Millionen in Goldbarren kamen.

Wolle sich der geneigte Leser nicht wundern, daß unter der Koje ein Gewicht von 100 Zentnern Platz gefunden hatte. Gold ist eben ein gar schweres Metall, fast zwanzigmal schwerer als Wasser. In eine Kiste von einem Kubikmeter Inhalt, was man also eine Raumtonne nennt, würde für 40 Millionen Mark Gold hineingehen, und das hier war nur der vierte Teil, der ging bequem unter die Koje.

Aber das war nur die Hälfte von den 5 Millionen Pesos. Wo war die andere Hälfte?

Nobody suchte nicht erst lange in dieser Kabine. Hundert Zentner sind doch ein Gewicht, bei dessen Plazierung mit der Balance gerechnet werden muß, besonders bei solch einer schlankgebauten Jacht mit nur 600 Tonnen Tragkraft. Aber auch der größte Riesendampfer nimmt auf 5 Tonnen recht wohl Rücksicht, und das ist ja nicht so einfach, daß etwa die Schauerleute nach Gutdünken drauflosschütten und aufstapeln, nur kleinen Anweisungen folgend — hier kommt das hin und das dorthin — nein, da ist ein physikalischer Apparat vorhanden, der den Neigungswinkel angibt, und die Balance muß bis auf den feinsten Strich stimmen, sonst steuert das Schiff falsch. Besonders die Marinematrosen können etwas davon erzählen, was für eine Heidenarbeit das ist, wenn das Kriegsschiff, ehe es eine Reise antritt, ausbalanciert wird, was für ungeheure Quantitäten von Gewichten da ständig von einer Bordwand nach der anderen geschleppt werden müssen, und immer wieder hin und her, bis die Balance justiert ist. Kohlenübernahme und Ausbalancieren — das sind die Schreckenstage der Kriegsmatrosen im Frieden.

Diese Kabine hier lag mittschiffs auf Backbordseite, die Fremdenkabine gerade gegenüber auf Steuerbordseite, und auch dort hatte Nobody unter den Kojen solch einen Verschlag gesehen. Es war ganz selbstverständlich für ihn, daß er die anderen 100 Zentner Gold dort finden würde.

Er begab sich wieder hinüber, den betreffenden Schlüssel schon in der Hand.

»Nun, was haben Sie gefunden?« wurde er von Mojan empfangen.

»Etwas sehr Wertvolles, doch erst die eine Hälfte. Nach der anderen Hälfte will ich mich einmal hier umschauen.«

Er öffnete den Verschlag — richtig, wieder solche eiserne Schatullen — Nobody machte die eine auf und Mojan seinen Mund, um ihn nicht sobald wieder zu schließen.

Nobody erzählte.

»Sapristi!« brachte Mojan endlich hervor.

»Fünf Millionen Dollar in Gold! Und was hat da der Kerl mit dieser kostbaren Fracht, die ihm anvertraut worden ist, vom direkten Dampferkurs abzuweichen und einen Abstecher nach den Argonauteninseln zu machen?«

Mit hochgezogenen Augenbrauen hatte Mojan es gesagt, hierdurch wieder einmal einen Beweis dafür gebend, daß er nicht so auf den Kopf gefallen war, wie er sich immer stellte.

»Nun, was meinen Sie?« fragte Nobody, freilich nur, um seine eigene Meinung aus einem anderen Munde bestätigt zu hören. Na, der Kerl hatte das Schiff mit dem vielen Golde ganz einfach irgendwo zwischen den weltverlassenen Argonauteninseln versenken wollen, um dann später den Schatz für sich selbst wieder zu heben.

»Mojan, bedenken Sie, was für eine ungeheuerliche Beschuldigung Sie aussprechen!«

»Zweifeln Sie etwa daran? Ich nicht im geringsten. Und stellen Sie sich doch nicht so! Sie kennen die Menschen doch noch viel besser als ich, und sehen Sie diesem Spitzbuben doch nur in die Augen! Und ein Fläschchen mit Blausäure haben Sie gefunden? Und Sie halten diesen Kerl nicht für fähig, den Koch zu beauftragen, für die ganze Mannschaft einen Mandelpudding zu backen? Und wenn einmal niemand hinsieht, gibt er dem Kuchen mit Blausäure noch einen ganz besonders lieblichen Beigeschmack. Gehen Sie doch weg, Nobody! Hören Sie doch nur, wie ängstlich der Kerl schon knurkst.«

In der Tat, der ›Kerl‹ hatte schon seit einiger Zeit ein Stöhnen hören lassen.

Nobody nahm ihm mit der nötigen Vorsicht den Knebel aus dem Munde.

»Wollen Sie etwas sagen?«

»Sie sind — doch nicht — der Detektiv — Nobody?« brachte der Spanier zwischen klappernden Zähnen mühsam hervor. Zum ersten Male hatte er diesen Namen hier aussprechen hören.

»Der bin ich. Wollen Sie gleich jetzt ein offenes Geständnis ablegen?«

»Mann, wie kommen Sie dazu, gegen mich solch eine furchtbare Anklage zu erheben?! Beweisen Sie mir doch irgend etwas!«

»Das werde ich allerdings. Wollen Sie mir zunächst mitteilen, wer Sie eigentlich sind, was Sie, vielleicht im argentinischen Staatsdienst, für einen Rang bekleiden, daß man Sie mit solch einer wichtigen Mission betraut hat?«

»Hil.....«

Wieder hatte ihm Nobody noch rechtzeitig den Hilferuf in der Kehle erstickt, er wurde wieder geknebelt.

»Es ist nichts mit ihm anzufangen, er hofft noch immer auf Rettung durch die Schiffsbesatzung, und die dürften wir allerdings gegen uns haben. Der Kapitän würde seinen Brotherrn doch natürlich sofort befreien, und ehe wir unsern Verdacht hätten aussprechen können, dürfte er uns selbst unschädlich gemacht haben, wenn nicht gleich ganz stumm. Wir müssen uns ohne seine Aussagen behelfen.«

»Sollten wir uns nicht mit dem Kapitän auseinandersetzen?«

»Mojan, das ist ein Risiko! Der Kapitän ist offenbar ein Ehrenmann, mir erscheint er als ein echt harmloser Charakter — in dessen Kopf geht der Gedanke, daß ein Mensch solch eines furchtbaren Verbrechens fähig ist, vielleicht gar nicht hinein. Und etwas Bestimmtes können wir doch noch gar nicht beweisen, wir haben vorläufig nur einen Verdacht, mchts weiter, und dem Kapitän wie der ganzen Mannschaft ist noch gar nichts Verdächtiges aufgefallen.«

»Ja, die wissen aber auch nichts von dem an Bord befindlichen Golde.«

»Gleichgültig. Ich bleibe bei meiner Ansicht.«

»Gut. Ist mir so auch viel lieber. Haben Sie nicht Dynamitpatronen oder so etwas Aehnliches gefunden?«

»Noch nicht. In dem Geldschranke waren keine. Zum Versenken eines Schiffes genügt übrigens ein Durchschlag und ein Hammer. Ich möchte nur wissen, woher das Gold eigentlich stammt.«

»Darüber könnte ich Ihnen vielleicht Auskunft geben.«

»Sie?!«

»Als ich in Venedig war, las ich es in der Zeitung. Chile hat bei den Vereinigten Staaten eine Anleihe von 26 Millionen zu 4 Prozent gemacht. Nun nehmen Sie an, Chile hat davon 20 Millionen weiter an das immer geldbedürftige Argentinien verborgt, zu einem Zinsfuß von 6 Prozent — das ist ein Geschäft! Nun möchte ich bloß noch wissen, wer dieser Juarez Travalko eigentlich ist, daß man ihm die Ueberführung anvertraut hat.«

»In drei Tagen werde ich es wissen. Denn jetzt bin ich entschlossen, auch bei der Ankunft dieser Jacht in Buenos Ayres Travalkos Rolle weiterzuspielen, es komme, was da mag.«

— — — — —

Nobody spielte seine Doppelrolle als erbsengelber Bernard und als dunkelgestreifter Travalko in einer Weise, daß auch nicht das geringste Mißtrauen geschöpft wurde. Daß immer nur einer von beiden sichtbar war, wußte er dem Steward gegenüber durch die Kunst des Bauchredens zu bemänteln. Freilich gehörte Nobodys Geschick dazu, um so etwas fertig zu bringen.

Viel zum Gelingen trug ja mit bei, daß zwischen dem Jachtbesitzer und dem Kapitän, als auch der ganzen Mannschaft eine unübersteigbare Schranke bestand, wohl von dem Kapitän als einem Seemanne, welcher wußte, wie man sich an Bord zu benehmen hat, selbst aufgerichtet. Niemand hätte gewagt, an den Jachtbesitzer eine neugierige Frage zu richten, noch weniger hinter seinem Rücken an den Gast. Und es waren ja nur drei Tage, welche schnell genug vergingen.

Während dieser drei Tage untersuchte Nobody, teils als Bernard, teils als Travalko, das ganze Schiff, unterhielt sich manchmal mit dem Kapitän, mit den Offizieren oder auch mit einem Matrosen, und einiges Neues erfuhr er doch, besonders durch den geschwätzigen Steward.

»Wenn uns Señor Travalko nur behält,« sagte dieser einmal zu dem Gaste seines Herrn, mit dem er immer vertrauter wurde.

»Nun, kann er euch in Buenos Aires denn gleich wieder abmustern?«

»Natürlich! Warum denn nicht? Er hat uns doch bloß für die Fahrt nach Buenos Aires angemustert.«

Nobody brauchte sich hierüber nicht besonders zu wundern. Dieses Engagement nicht auf Zeit, sondern nur von Fall zu Fall, richtiger von Hafen zu Hafen, ist bei der Seefahrt eben allgemein üblich, auch bei Privatjachten. Es hängt dies mit der ganzen Unsicherheit zusammen, der jedes Schiff ausgesetzt ist. Bleibt die Mannschaft auch im Hafen an Bord, so ändert das doch nichts an der allgemeinen Regel, und bei jeder Abreise wird der Musterkontrakt immer wieder erneuert.

Hier hatte Nobody nach allem, was er bisher zu hören bekommen, einmal eine Ausnahme vermutet; daß es nicht so war, kam ihm sehr zu passe. Schon jetzt stand der Entschluß bei ihm fest, vorausgesetzt, daß alles so kam, wie er hoffte, die ganze Mannschaft in Buenos Aires zu entlassen, wenigstens sie von Bord zu schicken.

Das waren solche Kleinigkeiten, welche Nobody nach und nach erfuhr. Aber wer der Señor Juarez Travalko sei, was für einen Rang er einnehme, für Nobody die Hauptsache, das konnte er nicht herausbringen.

Der Spanier begehrte noch mehrmals zu sprechen, aber stets ließ er sich nur deshalb den Knebel aus dem Munde nehmen, um Gelegenheit zu haben, nach Hilfe zu rufen, was Nobody immer noch rechtzeitig zu verhindern wußte, und dasselbe galt, wenn der an Händen und Füßen Gebundene gefüttert wurde.

Es war ja grausam, ihn immer so gebunden liegen zu lassen, auch noch einen Knebel im Munde, aber es half nichts, es konnte nicht anders sein, und die drei Tage würde er es schon aushalten.

Am Morgen des zweiten Tages entdeckte Nobody am linken Handgelenk des Spaniers frische Wunden, die nur von Zähnen herrühren konnten. Travalko hatte versucht, Selbstmord zu begehen, sich die Pulsader aufzubeißen, was nun freilich leichter gesagt als getan ist. Señor Travalko hatte es bei einem Versuch bewenden lassen, und Nobody sorgte dafür, daß er ihn nicht gründlicher wiederholen könne.

Hierdurch aber hatte Travalko auch eine verbrecherische Schuld eingestanden, jetzt mußte er erst recht dem Leben erhalten werden, und da war es um so notwendiger, daß Mojan auch die Rolle des bettlägerigen Kranken weiterspielte, um immer den Gefangenen zu beobachten.

Wie nun, wenn die Jacht in den Hafen von Buenos Aires einlief? Es war doch sicher, daß die große Summe dort von Staats wegen sehnsüchtig erwartet wurde. Sollte da nicht jemand gleich an Bord kommen, den er zum Vorzeigen des Goldes auch in die Fremdenkabine führen mußte?

Vorsicht war in jedem Falle geboten. Daß Nobody die Goldkisten von der einen Kabine in die andere brachte, war nicht angängig, dieses Verlegen einer Last von 100 Zentnern hätte der Steuernde sofort bemerkt, es hätte direkte Schwierigkeiten erzeugt.

Aber da war ja noch eine dritte Kabine vorhanden, in der die Bibliothek, nautische Instrumente und Waffen untergebracht waren, und diese lag mittschiffs. Nobody verschloß die Kajüte, stellte Mojan an, beide stapelten die vielen Kisten im Schweiße ihres Angesichts in dieser Kabine auf, so daß jetzt alle zusammen waren. Da die See ruhig war und das schöne Wetter anhalten würde, war ein besonderes Befestigen der Last, die geschickt gestapelt worden, nicht nötig.

Am Nachmittage des nächsten Tages, also des dritten, lief die ›Hortensia‹ mit der Flut in die Mündung des Paraguay oder Parana, hier aber La Plata genannt, ein, und zwei Stunden später in den Außenhafen von Buenos Aires.

Seltsame Gefühle waren es, welche auf Nobody einstürmten, wie er neben dem Kapitän auf der Kommandobrücke stand und vor sich die große Stadt auftauchen sah.

Was würde er erleben? Von wem würde er empfangen werden? Und er wußte noch nicht einmal, ob der Name Juarez Travalko nicht vielleicht ein nur vorläufig angenommener war, so daß sein Doppelgänger nicht einmal seinen eigenen Namen angeben konnte.

Trotzdem, oder vielmehr gerade! — Gerade diese drohenden Verwicklungen, denen er entgegenging, reizten ihn. Sich aus jeder Schwierigkeit des Lebens durch eigene Kraft herauszuwinden, das war ja seine Lust.

Vorläufig befand man sich noch im Fahrwasser der Reede.

»Wo werden wir anlegen?« fragte der Kapitän.

»Weiß noch nicht,« lautete die barsche Antwort des falschen Prinzen, wie man es von ihm gewöhnt war, ohne es ihm übelzunehmen.

Da kam ein kleiner Dampfer heran, welcher am Heck die Flagge der Steuerbehörde zeigte.

O weh! Für die Steuerbeamten gibt es keine verschlossenen Räume, da muß alles geöffnet werden. Also würden sie auch den gefesselten Spanier zu sehen bekommen, und dann mußten Erklärungen folgen.

Aber gehören denn auf ein Zollboot so viel Herren in Zivil mit Zylindern? Nobody ahnte schon etwas, er atmete erleichtert auf.

»Die Zolluntersuchung, wir müssen stoppen,« sagte der Kapitän und drehte den Signalapparat, ließ die Schraube etwas rückwärts gehen, der Dampfer lag still.

Nobody hatte die Kommandobrücke verlassen und sich dorthin begeben, wo Matrosen das Fallreep niederließen.

Jetzt — jetzt kam es darauf an!

Ueber dem Deck, von dem die Bordwand aufgeklappt, erschien ein schwarzer Zylinder, ein weißbärtiges Gesicht folgte nach, ein hoher Kragen, ein schwarzer Gehrock — und dann stürzte auf Nobody ein alter, patenter Herr zu, schloß ihn in seine Arme und küßte ihn links und rechts auf die Backen.

»Mein lieber, lieber Travalko! Endlich, endlich! Ach, die Angst, die ich um Sie ausgestanden habe!«

Ja, wenn Nobody nur gewußt hätte, wer der Mann eigentlich gewesen wäre! Die Küsse erwiderte er lieber nicht, denn hätte hier ein vertrauliches Verhältnis geherrscht, so hätte ihn der alte Herr wohl geduzt und mit Vornamen angeredet.

Aber eins hatte Nobody nun schon herausbekommen: Juarez Travalko war sein wirklicher Name.

»Alles in Ordnung?«

»Alles.«

»Wo?«

»Dort in der Kajüte.«

Sie schritten dem Kajüteneingange zu. Gesetzt aber nun den Fall, die wußten gar nichts von dem Golde, erwarteten jetzt etwas ganz anderes zu sehen? Doch nein, das war schwerlich anzunehmen.

Es waren noch vier andere Herren da, meist jüngere, alle suchten im Gehen dem vermeintlichen Travalko die Hand zu schütteln.

»Ich gratuliere.«

»Ihr Glück ist gemacht.«

»Jetzt brauchen Sie Ihren Rivalen nicht mehr zu fürchten.«

»Travalko, Sie sind beneidenswert!«

Nobody konnte sich diese Bemerkungen auslegen, wie er wollte.

Da stieß ihn der eine heimlich in die Rippen.

»Haben Sie?« fragte er mit listigem Augenblinzeln.

Nobody blinzelte ebenso listig zurück.

»Schneidiges Weib, was?«

Nobody schnalzte als Bestätigung mit der Zunge. Wenn Señor Travalko früher nicht so listig mit den Augen geblinzelt und mit der Zunge geschnalzt hatte, so hatte er sich das eben in Valparaiso oder während der Reise angewöhnt.

»Haben Sie es mir mitgebracht?« fragte ihn ein anderer.

Meinte der das schneidige Weib oder was sonst? Nobody blieb bei seinem verschmitzten Augenblinzeln.

»Es ist doch merkwürdig,« sagte ein dritter, »wie man sich auf dem schaukelnden Schiffe einen ganz anderen Gang angewöhnt.«

Au! Also der Gang des falschen Prinzen stimmte nicht! Never mind — der Mann hatte ganz recht, während einer langen Seereise verändert sich der Gang, und das muß dann auch noch an Land vorhalten. O, aus solchen Schwierigkeiten wollte sich Nobody schon ziehen!

Der alte Herr stolperte beim Eintreten in die Kajüte über die hohe Schwelle.

»Hopsa, Exzellenz!« ertönte es im Chor.

Also eine Exzellenz war es! Wieder etwas gelernt. Dann war es jedenfalls auch kein anderer als der Finanzminister Carlos Riego in eigener Person, dessen Namen Nobody in jenem Schreiben gelesen hatte.

Wenn Nobody nur erst erfahren hätte, wer er eigentlich selbst war! Es ist doch äußerst fatal, von seiner eigenen Person nichts weiter zu wissen als nur den Namen.

Die Herren wurden in die Hintere Kammer geführt, wo die Eisenkästen aufgestapelt waren.

»Die sind ja gar nicht plombiert?!« war des Finanzministers erster Ruf, und der treue Schatzvermittler wurde von einem mißtrauischen Blicke getroffen, welcher ganz deutlich fragte: »Du hast von dem Golde doch nichts gemaust?«

Auch Nobody wie Mojan hatten sich schon darüber gewundert, daß die Kästen nur einfache Schlösser gehabt, ohne Plomben.

»Sie sind mir so übergeben worden,« entgegnete Nobody, eine der Kisten nach der anderen öffnend.

Der Anblick der gleißenden Goldbarren und der Doppeladler beseitigten bei den fünf Herren alle anderen Gedanken, sie schienen wie berauscht zu sein, sie hoben die Barren und wühlten in den Goldstücken, in einer enthusiastischen Weise, die bei den Staatsbeamten, denen der Schatz doch gar nicht gehörte, für Nobody ganz unverständlich gewesen wäre, hätte er sich nicht noch rechtzeitig daran erinnert, daß er ja Spanier und Kreolen vor sich hatte. Wenn schon bei uns eine Dame im Modemagazin vor dem Spiegel sämtliche Hüte aufprobiert, obgleich sie ganz genau weiß, daß ihr keiner gehören wird, weil sie ihr alle viel zu teuer sind, so ist ein Spanier noch zu ganz anderen Extravaganzen fähig.

Endlich hatten sich die Herren wieder beruhigt.

»Wir nehmen das Gold gleich mit,« sagte die Exzellenz, »deshalb sind wir ja mit dem kleinen Zolldampfer gekommen, weil die große Jacht ja doch nicht an der Treppe des Finanzgebäudes anlegen kann.«

Ohne weiteres wurde die Ueberfrachtung der Goldkisten von der Jacht auf den Zolldampfer vollzogen. Doch wurden dabei nicht die Jachtmatrosen in Anspruch genommen, sondern nur solche von dem Dampfboot trugen die Kisten hinüber, auch die Winden arbeiteten mit, schon nach einer halben Stunde war es geschehen.

Die fünf Herren beobachteten diese Arbeit mit argwöhnischen Argusaugen, Nobody wußte sich unterdessen unsichtbar zu machen. Er freute sich nur, daß jene zu diesem Zwecke das Zollboot benutzt hatten, so daß dieses ihm nicht gefährlich werden konnte. Denn, wie schon gesagt, was auch ganz selbstverständlich ist — eine genaue Zolluntersuchung hätte für ihn böse ablaufen können.

»Wie steht es mit der Zolluntersuchung?« wandte er sich einmal an einen Beamten, den er für den höchsten hielt.

»O, Señor Travalko!« stellte sich dieser gleich beleidigt, daß man ihm so etwas noch zumuten könne, zog sein Formularbuch, und Nobody hatte in der Tasche den Schein, der die ganze Jacht zollfrei machte.

Natürlich, wenn jemand im Auftrage des Finanzministers solch einen Schatz ins Land bringt, der darf dann doch nicht mit solchen Kleinigkeiten belästigt werden!

»Auf Wiedersehen, Sie sind heute abend natürlich bei mir,« sagte Exzellenz, als sie sich an Bord des Zolldampfers begab, und ebenso schnell verabschiedeten sich die vier anderen Herren.

Nobody blickte einige Zeit dem kleinen Dampfer nach, schüttelte den Kopf, gab dem sich an ihn wendenden Kapitän die Weisung, die Fahrt nach dem eigentlichen Hafen fortzusetzen und suchte seinen Freund Mojan auf.

Er erzählte, alles möglichst getreu schildernd, bis zu der Abschiedsszene.

Jetzt schüttelte auch Mr. Cerberus Mojan bedenklich seinen dicken Schädel.

»Haben Sie denn gar keine Quittung oder sonst etwas bekommen?«

»Gar nichts.«

»Die haben auch keinen Einblick in die dem Travalko von der chilenischen Regierung ausgestellten Papiere genommen?«

»Noch weniger.«

»Hm. Merkwürdig! Na ja, diese südamerikanischen Republiken kann man ja noch gar nicht zu den zivilisierten Staaten rechnen, da geht es manchmal noch schlimmer zu als in der Hundetürkei und bei den Hottentotten.«

»Und nun hätten Sie sehen sollen, wie die sich von mir verabschiedeten, wie die schnell machten, daß sie mit den Goldkisten fortkamen. Gerade wie — wie...«

»Wie die Spitzbuben,« ergänzte Mojan. »Na, würde es Sie denn etwa besonders wundern, wenn die jetzt mit den 200 Zentnern Gold durch die Lappen gehen? Fünf Millionen Dollar hat Argentinien noch niemals in der Staatskasse gehabt. Nur bare tausend Dollar brauchten einmal drin gewesen zu sein, da kann man schon lesen, daß irgend jemand damit durchgebrannt ist. Ich kenne doch diese Bande hier.«

Das waren ja nette Aussichten, die sich da eröffnten! Ohne jeden Zweifel hatte Juarez Travalko die Jacht mit Mann und Maus zwischen den weltverlassenen Argonauteninseln versenken wollen, um den Goldschatz dann später für sich selbst zu heben. Nur durch Nobodys Dazwischenkunft und Auftreten war er hieran gehindert worden, und zwar gerade noch rechtzeitig, denn offenbar hatte das Verbrechen gerade an diesem Tage, vielleicht noch in derselben Stunde stattfinden sollen, die Jacht war ja schon in nächster Nähe der Argonauteninseln gewesen.

Durch die Verhinderung an dem Verbrechen war Señor Travalko unfreiwillig wieder zu einem un-tadelhaften Ehrenmanne geworden. Und jetzt sollte das für Argentinien gerettete Gold wieder von anderer Seite aus entwendet werden?

Doch es konnte ja auch ein ganz grundloser Verdacht sein. Schließlich hatten sich die fünf Herren nicht anders benommen, als wie es bei solchen südamerikanischen Beamten, wenn Geld im Spiele ist, üblich.

Beim Einlaufen in den eigentlichen Hafen näherte sich der Jacht wiederum ein kleiner Dampfer, welcher die Flagge der Seebehörde zeigte.

Die einzige Zeremonie bestand darin, daß dem Kapitän in förmlicher Weise das Logbuch, das Tagebuch des Schiffes, abgefordert wurde. In diesem stand, wohlgemerkt, auch verzeichnet, wie die ›Hortensia‹ vor vier Tagen vom direkten Kurse abgewichen und so nahe an die gefährlichen Argonauteninseln herangekommen war, auf Wunsch oder vielmehr Befehl des an Bord befindlichen Jachtbesitzers.

Dann wurde noch gefragt, ob die Jacht ankern oder am Kai anlegen wolle. Platz sei vorhanden.

»Am Kai,« lautete Nobodys wohlüberlegter Bescheid.

Der mitgenommene Lotse übernahm das Steuer.

»Kapitän Oleda!«

»Señor?«

»Sofort, wenn wir am Kai anlegen, gehen Sie mit der ganzen Mannschaft von Bord.«

Der Kapitän machte ein sehr bestürztes Gesicht.

»Sie wollen uns abmustern, Señor?«

»Weiß noch nicht. Sie begeben sich erst in ein Quartier.«

Es erfolgte nicht die geringste Widerrede, keine Frage. Und an Bord geht alles schnell. Sofort packten Offiziere und Leute ihre Sachen.

Nur der Steward hatte noch eine Frage, und sie war berechtigt, denn falls der Señor an Bord blieb, so mußte er doch Bedienung haben.

»Auch ich und der Koch?«

»Alle!«

Und kaum hatten die Matrosen die Jacht am Kai festgemacht und die Heizer die Kessel abgeblasen, als auch schon sämtliche mit Koffern und Kleidersäcken über das Laufbrett schritten, zwar noch nicht entlassen, was nur auf dem Seemannsamt geschehen konnte, ihr Brotherr, als Schiffsbesitzer Reeder genannt, mußte bis dahin auch ihren Unterhalt an Land bezahlen, aber sie durften doch mit keinem Fuß mehr die Jacht betreten.

Jetzt war Nobody Herr der Situation. Mit eigener Hand hißte er am Topp die Flagge, welche allen Beamten erklärte, daß sie auf der zollfreien Jacht nichts mehr zu suchen hätten, für die anderen wurde einfach die Luke in der Bordwand verschlossen.

Dann begab sich Nobody wieder in die Fremdenkabine, und Mojan wußte, was nun das nächste sein müsse; er war dabei behiflich.

Man hatte dem Gefangenen ja sein Los so viel wie möglich erleichtert gehabt, er wurde nicht mehr durch das unförmige Taschentuch stillgemacht, aber lange hätte er das nicht mehr aushalten können, mindestens mußte er bald die Maulsperre bekommen.

Er wurde in jene hintere, mittschiffs liegende Kabine gebracht, deren Fenster nach einem Korridor hinausging. Hier konnte er so viel schreien, wie er wollte, seine Stimme wurde nicht gehört, weder an Deck noch an Land noch auf der Wasserseite. Nobody gab ihm auch die Hände frei, schloß nur einen Fuß mit einer Kette an einen in die Eisenwand eingelassenen Ring an.

»Barbaren!« war das erste Wort, welches der Spanier hervorbrachte, als er von seinem Knebel befreit worden war.

»Diese Grausamkeit haben Sie selbst verschuldet, indem Sie ständig versuchten, um Hilfe zu rufen. Hier werden Sie es besser haben, es soll Ihnen an nichts mangeln. Nur die Freiheit kann ich Ihnen nicht geben.«

»Mensch, wissen Sie denn gar nicht, was Sie tun?! Sie vergreifen sich an einen unbescholtenen Mann, beweisen Sie mir doch, daß ich....«

»Sollte nicht das ein Beweis sein, daß im Logbuche steht, wie Sie die Nähe der Argonauteninseln aufgesucht haben?«

Der Spanier lachte verächtlich, es schien ihm aber doch nicht ganz wohl zumute zu sein.

»Ob Sie übrigens,« fuhr Nobody fort, »schuldig oder unschuldig sind, werde ich selbst herausfinden, indem ich auch am Lande Ihre Rolle weiterspiele. Ich bin sehr begierig, was ich da erleben werde. Vielleicht mache ich eine interessante Bekanntschaft.«

Vor allen Dingen machten jetzt diese Worte auf den Spanier einen ganz gewaltigen Eindruck. Er knickte förmlich zusammen.

»Aha, habe ich das Richtige getroffen? Nicht wahr, Sie haben Komplicen, die nun gleich den Señor Juarez Travalko aufsuchen werden, ihn fragend, ihm Vorwürfe machend, warum er denn nicht den verabredeten Plan, das Schiff mit dem Goldschatze zu versenken, ausgeführt habe.«

Nobody hatte nur zu gut das Rechte getroffen, das war dem Spanier gleich anzusehen.

»Sie sind ein Teufel!« brachte er mit heiserer Stimme hervor.

»Nein, ich bin ein Detektiv.«

Travalko raffte sich mit der Kraft der Todesangst wieder auf.

»Sie sind Mr. Nobody, der Championdetektiv der englischen Königin?« vergewisserte er sich nochmals, und Nobody wußte, weshalb. Diesem Spanier war eben bekannt, welche fast unumschränkte Macht der englische Championdetektiv besitzt, dessen Aussagen doch nicht anzuzweifeln sind!

»Der bin ich.«

»Hören Sie, Mr. Nobody,« stieß da Travalko ruckweise hervor, »lassen Sie mich laufen — und ich verrate Ihnen ein Geheimnis — ein furchtbares Geheimnis — Sie können ein entsetzliches Verbrechen verhüten....«

»Was für eins ist das?«

»Ein Anschlag gegen das Leben einer Person...«

»Sprechen Sie sich deutlicher aus.«

»Erst schwören Sie mir zu, daß Sie mich...«

»Ich schwöre nicht, verspreche Ihnen auch nichts.«

»Es handelt sich um ein Attentat auf eine Majestät.«

»Vielleicht gar gegen das Leben der englischen Königin?« versuchte Nobody jenem eine indirekte Falle zu stellen, um ihn dann der Unwahrheit überführen zu können.

»Erst schwören Sie mir zu, oder Ihr Ehrenwort genügt mir schon, daß Sie mich dann sofort freilassen.«

»Nein, mein Bester, daraus wird nichts, und Sie brauchen sich auch weiter gar keine Mühe mit solchen Lockmitteln zu geben.«

Der Spanier mußte wohl heraushören, daß wirklich hier jede Bemühung vergeblich war.

»Dann sollen Sie aber auch weiter nichts von mir erfahren, kein Wort mehr,« sagte er zähneknirschend und drehte sich herum, daß er mit dem Gesicht gegen die Wand zu stehen kam.

»Haben Sie auch gar nicht nötig. Ich werde in Ihrer Gestalt alles von allein erfahren.«

»Sie werden schon sehen, der Dolch ist für Sie bereits geschliffen.«

»Daß Sie doch noch ein Wort gehabt, nämlich diese Bemerkung gemacht haben, dafür bin ich Ihnen sehr dankbar. So weiß ich, daß Señor Juarez Travalko, weil er den verbrecherischen Plan nicht ausgeführt hat, von seinen Spießgesellen mit dem Tode bedroht wird, und ich kann mich vorsehen.«

Der Spanier knirschte nochmals mit den Zähnen, dann aber schwieg er.

»Wir sollten doch die Tortur probieren,« riet Mojan zum dritten Male.

Ja, es war eine fatale Lage, in der sich Nobody durch das Schweigen seines Doppelgängers befand. Er wußte ja noch nicht einmal, ob diese Jacht überhaupt ihm gehöre, jetzt konnte irgendein anderer kommen und ihn davon herunterweisen, abgesehen von allem, allem anderen.

Aber an so etwas wie ein Foltern, um ein Geständnis zu erpressen, dachte Nobody natürlich nicht.

Außerdem war, von einer anderen Seite aus betrachtet, seine Lage ja gar nicht so schlimm. Ein Risiko wenigstens bedeutete es jetzt nicht mehr für ihn, den Champion der englischen Königin. Ja, er hätte jetzt gleich zu den Gerichtsbehörden gehen und alles erzählen können, er hätte die Justiz auf seiner Seite gehabt.

Aber wer wußte denn, wer alles hinter dieser faulen Sache steckte, wie dann alles noch geschoben werden konnte? Vielleicht wäre es das erste gewesen, daß man dem gesetzlich festgenommenen Travalko die Flucht ermöglicht hätte.

Nein, selbst ist der Mann! Das kann man besonders gut sagen, wenn man als erster Kriminalbeamter der ersten Weltmacht eine fast unbeschränkte Amtsbefugnis besitzt. Außerdem war das ja nun so etwas für unseren Nobody, der auch als solider Beamter noch immer seine unüberwindliche Lust zu Abenteuern beibehalten hatte.

Die beiden Freunde hielten eine Beratung ab. Mojan mußte als Gefangenwächter zurückbleiben, sich dann aber auch selbst behelfen.

»An Bord darf kein Mensch kommen, und sollte....«

Nobody brach ab und lauschte, und jetzt hörte auch Mojan etwas.

»Das sind Schritte an Deck!«

Nobody ging schnell hinaus. Es war ein älterer Herr, der die geschlossene Barriere nicht respektiert hatte.

Ein Blick, und Nobody wußte schon viel.

»Das ist das glattrasierte Gesicht eines Speichelleckers in dienstbarer Stellung,« lautete sofort sein Urteil, noch ehe der Herr sein Gesicht in freudestrahlende Falten zu legen suchte und komplimentierend mit ausgestreckter Hand auf den falschen Jachtbesitzer zutrippelte.

»Tausend Glückwünsche zur fröhlichen Rückkehr, und ich selbst bin glücklich, meinem Gebieter als erster die frohe Botschaft überbringen zu dürfen.«

Nobody legte einen Augenblick seine Hand in die dargebotene und nahm eine unnahbare Stellung an. Ob das für Señor Travalko in bezug auf diesen Herrn nun stimmte oder nicht, das war ihm ganz egal. Das mußte eben alles probiert werden.

Frohe Botschaft? Was für eine frohe Botschaft konnte der Kerl bringen? Das wollte nun auch erst wieder herausgebracht sein, und da machte es Señor Travalko nun sehr kurz.

»Und?«

»Ihr sehnlichster Wunsch ist in Erfüllung gegangen,« lächelte das geschmeidige alte Männchen.

»So?« sagte Nobody, und dabei dachte er: Himmelbombenelement, jetzt wird die Sache knifflich!

»Soeben hat Gott es geschehen lassen.«

Ja, was denn nur in aller Welt?

»Und?«

»Es ist — ein — Mädchen.«

Ach du großer Schreck!! Denn nun brauchte Nobody nichts weiter zu hören, um gleich alles zu wissen!«

Der Señor Travalko da unten hatte zu Hause eine Frau! Jetzt war Nobody glücklicher Vater geworden!

Glücklicher? Diesem Detektiv entging nichts, auch nicht das geringste!

»Es ist — ein — Mädchen,« hatte der Herr gesagt, mit sichtlichem Zögern, und verschwunden war das freudestrahlende Lächeln auf dem glattrasierten Fuchsgesicht gewesen, es hatte einem etwas ängstlichen Ausdrucke Platz gemacht, und wiederum wußte Nobody sofort alles, was er in diesem Augenblicke wissen mußte. Der Hausherr hatte ganz bestimmt einen Jungen erwartet.

Nobody schob also die Augenbrauen hoch.

»Ein Mäd—chen?«

Wie er es hervorgebracht hatte — es war vielleicht gut, daß er sich dabei nicht in einem Spiegel sehen konnte, er wäre wahrscheinlich über sich selbst in ein schallendes Gelächter ausgebrochen.

»Ein Mäd—chen?«

»Es hat dem lieben Gott nicht anders gefallen. Aber ein reizendes Geschöpfchen, süß wie ein Engel.«

»Na, dann geht's. Und meine Frau?«

»Mutter und Kind sind wohlauf und sehnen sich danach, den Papa wiederzusehen,« konnte das Fuchsgesicht jetzt wieder glücklich lächeln. Diese glückliche Dienstbeflissenheit ließ bei dem alten Herrn seltsame Stilblüten treiben.

»Ihre Equipage wartet,« setzte er noch hinzu. »Señor Travalko werden doch gleich mitkommen?«

»Selbstverständlich. Hier warten!«

Und Papa Nobody begab sich in die Kajüte zurück, in der sich Mojan befand.

»Mojan, gratulieren Sie mir.«

»Wozu?«

»Ich bin Vater geworden.«

»Ach nee!«

Das dicke Männchen hatte jetzt keine Zeit zum Staunen, denn es war soeben dabei, ein Butterbrot zu schmieren und aus einer Konservenbüchse Krabben daraufzulegen.

»Aber es ist nur ein Mädchen, und ich hatte ganz bestimmt einen Jungen erwartet.«

»Mum mum mum mum mum mum mnm,« entgegnete Mojan. Mehr war wenigstens nicht zu verstehen, denn er hatte sich den ganzen Mund vollgepfropft.

»Was sagten Sie?«

Ein Druck, ein Schluck, leer war der Mund, und Mojan konnte wieder sprechen.

»Ich sagte, daß jeder Ehemann auf ein Mädchen viel stolzer sein müßte als auf einen Jungen, denn aus einer alten Schachtel eine neue zu machen, das ist die wahre Kunst.«

Weiter ging dieses Zwiegespräch nicht. Es war ja auch nur in der Kajüte einer Zwischenstation auf dem Wege nach jener Kabine gewesen. Mojan folgte ihm.

Hier ließ Nobody natürlich jeden Witz beiseite. Er war sogar etwas weichherzig gestimmt, als er dem Gefangenen die Mitteilung machte.

Hörte Travalko das vielleicht aus der Stimme heraus? Jedenfalls wußte er gleich seinen Vorteil wahrzunehmen.

»Elvira, o, meine Elvira!« begann er plötzlich laut zu schluchzen. »Wir sind erst seit einem Jahre verheiratet!«

»Na, das ist gerade lange genug,« ließ sich hinter Nobodys Rücken Mojans Stimme knurrend vernehmen.

»Und endlich, endlich das ersehnte Kind! Mein lieber Herr, lassen Sie mich doch zu Frau und Kind!«

So flehte er noch weiter, der stolze Spanier brachte es sogar fertig, auf die Knie zu fallen und Nobodys Füße zu umklammern.

Aber das gefühlvolle Herz des Menschen mußte der kalten Vernunft des Detektivs gehorchen. Nobody ließ sich auf nichts ein. Er hatte nur herausgehört, daß Travalkos Gattin Elvira hieß, seit einem Jahre mit ihm verheiratet war, und daß dies das erste Kind war.

»Nein! Allerdings werde ich versuchen, Sie sogar als Gefangenen mit Frau und Kind zu vereinen, aber so, wie Sie es sich denken, geht das nicht. Sie bleiben hier in Gewahrsam, bis sich Ihre Schuld oder Unschuld herausgestellt hat.«

Als der Spanier sah, daß alles vergeblich war, änderte er freilich schnell genug sein Betragen, sogar Frau und Kind bedachte er mit einem fürchterlichen Fluche, was Nobody wiederum sehr zu denken gab, wonach er sich später zu richten hatte.

Jetzt mußte er schnell erst andere Toilette machen. Der dunkle Flanellanzug war ein Bordkostüm und schon stark mitgenommen. Er wühlte aus Travalkos Garderobeschrank einen Gehrockanzng, versah sich aus der Schiffskasse mit genügend Geld, noch einige Instruktionen für Mojan, und Nobody befand sich wieder an Deck, wo der alte Herr wartete.

Vorhin hatte Nobody an einer Straßenecke eine Equipage stehen sehen, jetzt hielt sie dicht vor dem Laufbrett, obgleich das Befahren des Kais verboten war. Demnach war Juarez Travalko eine Person, welche solche polizeilichen Vorschriften ungestraft überschreiten durfte. Die Livree des Kutschers und des Dieners, die beiden edlen Rappen, die ganze Equipage — das war auch ein Mann von Geld!

Was für eine Rolle nun spielte der alte Herr? Fuhr er mit? Mußte Nobody ihn dazu unbedingt auffordern?

Nobody fischte nicht im Trüben, sondern er probierte ganz vorsichtig aus.

»Einsteigen!«

So, das konnte der alte Herr nun auffassen, wie er wollte, oder wie er es gewohnt war.

Nobody schritt stracks über das Laufbrett auf den Wagen zu. Der Kutscher präsentierte mit wagerechter Peitsche, der den Schlag öffnende Diener hatte den lackierten Zylinder in der Hand — und der alte Herr suchte dadurch beim Einsteigen behilflich zu sein, daß er Nobodys Rockschoß in die Höhe hob.

Dann wurde der Schlag sofort geschlossen — nein, der alte Herr war nicht gewohnt, mit Señor Travalko in einem Wagen zu fahren.

Das waren alles Sachen, die Nobody seinem Gedächtnis einprägen mußte.

Aber er war doch nicht allein in der offenen Equipage. Auf den Polstern hatte ein winziges Bologneserhündchen gesessen.

Herrgott, machte das Vieh einen Spektakel, als der falsche Prinz einstieg!

»Na, kennst du mich denn nicht mehr, mein Liebling?« schmeichelte Nobody, ganz mit Recht annehmend, daß dieser Spanier zu seinem Schoßhündchen liebreicher war als zu seinen Dienern, dabei wohl acht gebend, daß der Liebling ihn nicht in die liebkosende Hand biß.

Nein, die Nase des Hundes ließ sich durch keine Maske täuschen, der wollte den fremden Mann nicht in seiner Equipage haben.

Nun aber wußte Nobody mit Tieren nicht weniger gut umzugehen als mit Menschen. Einige Blicke und Griffe genügten, und das Hündchen lag ganz ruhig neben ihm.

Fort ging es. Wohin? Für den abenteuerlustigen Nobody ward der Nervenkitzel nur immer größer.

Ein eleganter Straßenpassant zog vor dem Insassen der Equipage seinen Hut — Nobody grüßte ebenso höflich zurück.

Ein anderer Herr schwenkte auf dem Trottoir enthusiastisch seinen Sombrero — Nobody hob und senkte seinen Zylinder dreimal.

Aber auch im allgemeinen fand die Equipage große Aufmerksamkeit; wer nicht stehen blieb, blickte ihr wenigstens nach, die Passanten machten sich gegenseitig aufmerksam, und nicht zum mindesten das schönere Geschlecht, und seien es auch nur Bananenverkäuferinnen und Fischweiber.

»Jawohl, ich bin wieder da — ich, Señor Juarez Travalko!«

Jetzt kam ein Offizier geritten, hinter ihm eine Bande bewaffneter Zigeuner... pardon, ein Bataillon argentinischer Soldaten.

»Augen rechts!!!«

Wer von den Soldaten nicht gerade nach links blickte, weil es dort etwas Interessantes zu sehen gab, wendete denn auch den Kopf nach der vorgeschriebenen Seite, und wer sich gerade eine Zigarette anbrannte, schielte wenigstens nach der Equipage.

»Halloh, bin ich etwa gar Offizier? Na, wartet, ich will euch Gesindel zwiebeln! Wenn ich nur erst wüßte, wo ich eigentlich wohne.«

»Buenos Dias, Señor Travalko, hasta feliz luego!« jubelten ihm zwei herausgeputzte Damen zu, die mehr zur halben als zur ganzen Welt zu gehören schienen, und schwenkten ihre Taschentücher. »Bien venida, bien venida — willkommen, willkommen!!«

»Celebro la placer, Señoras!!« jubelte der falsche Travalko zurück und wedelte mit des echten Travalko Taschentuch.


Illustration

Viel kürzer machte es eine höchst elegante Reiterin, welche auf prächtigem Zelter die Straße entlanggesprengt kam. Sie hatte die Equipage schon passiert, riß ihr Pferd herum, jagte zurück, parierte abermals, hatte mit einem Griffe das Blumensträußchen vom Busen gelöst — und hätte Nobody es nicht geschickt aufzufangen gewußt, so hätte ihm das mit Draht umwickelte Bukettchen ein Auge kosten können.

»Der Señor Travalko scheint ja hier äußerst beliebt zu sein,« dachte Nobody, »und außerdem scheint er ein rechter Schürzenjäger zu sein.«

Die Equipage hielt in einer Hauptstraße vor einem palastähnlichen Gebäude. Ein reichlivrierter Portier war vorhanden, aber keine Schildwache, und so wußte Nobody wenigstens, daß er kein General war — immerhin eine Erkenntnis.

»Mein Haus habe ich gefunden, nun handelt es sich bloß noch darum, in welcher Etage ich meine Wohngemächer oder zuerst die meiner Gemahlin zu suchen habe, denn der muß doch mein erster Besuch gelten.«

So dachte Nobody, als er aus dem Wagen stieg. Was für ein Risiko war es doch! Durfte er sich denn an einen der vielen sich tief verbeugenden Diener mit der Frage wenden: Hören Sie, wo ist denn meine Frau? Führen Sie mich zu ihr!

Aber Nobody hatte seine Zeit während der Fahrt nicht nur mit humoristischen Betrachtungen der Straßenpassanten vergeudet, sondern er hatte sich auch immer mit dem Wachtelhündchen beschäftigt, dieses als einen Rettungsanker in der Kalamität betrachtend — und siehe da, jetzt wurden seine Bemühungen, das Vertrauen des Tieres zu gewinnen, belohnt.

Freudig kläffend sprang das Hündchen die teppichbelegte Treppe hinauf, den neuen Freund, den es, besonders wegen des Geruches der Kleidung, schon nicht mehr recht von seinem eigentlichen Herrn unterscheiden konnte, zum Mitgehen einladend, vor einer Tür verstummte das Kläffen, die Pfötchen kratzten, und kurz entschlossen öffnete Nobody.

Ein luxuriöses Schlafzimmer, die Jalousien herabgelassen, neben dem Bett im Lehnstuhl eine alte Kreolin — Nobody wußte alles. Er hatte sein erstes Ziel erreicht.

Die alte Frau erhob sich.

»Der gnädige Herr,« flüsterte sie ängstlich und zog sich gleich in den dunkelsten Hintergrund zurück.

Nobody schritt stracks auf das Bett zu, er sah ein schönes, bleiches Antlitz, zwei schwarze Augen blickten ihn angstvoll an, zwei weiße Hände streckten sich ihm flehend entgegen.

»Schlage mich nicht, Juarez, ich kann ja nichts dafür!« erklang es weinerlich mit vor Angst zitternder Stimme.


Illustration

Was Nobody in diesem Augenblicke empfand, das läßt sich nicht beschreiben. Ein furchtbarer Haß erfüllte plötzlich sein Herz, eine Art von Wut, die zu allem fähig ist — und die galt dem Manne, den er an Bord der Jacht gefangenhielt.

»Schlage mich nicht, Juarez, ich kann ja nichts dafür!«

Also dieser Mann war fähig, seine Frau im Wochenbett zu schlagen, weil es nicht ganz nach seinem Wunsche gegangen war, weil sie ihm statt eines Knaben ein Mädchen geschenkt hatte! Denn wäre er dessen nicht fähig gewesen, so wäre die junge Frau doch gar nicht auf solch einen furchtbaren Gedanken gekommen! Da brauchte Nobody nun keinen langen Kommentar. Er hatte so etwas Aehnliches gleich aus dem ängstlichen Verhalten der Wärterin herausgeahnt! Aber solch eine ungeheuerliche Vermutung — Nobody war außer sich.

O, warum hatte er Mojans dreifach gegebenen Rat nicht befolgt! Jetzt noch nachträglich hätte er diesen Unhold mit glühenden Zangen zwicken können, er hätte ihm gar nichts zu gestehen brauchen.

Doch Ruhe, kaltes Blut! Er war hier, um die Rolle des barschen, gewalttätigen Gatten zu spielen. Nur einen Trost durfte und mußte er der leidenden Frau zuteil werden lassen, sonst wäre ihm vielleicht selbst das Herz gebrochen.

»O, Elvira, was traust du mir zu!« sagte er, so weich, wie es die Möglichkeit gestattete, und er beugte sich hinab und küßte die fieberheißen Lippen, ohne jetzt oder später Gewissensbisse darüber zu empfinden.

Und sie schlang die weißen Arme um seinen Hals und drückte ihn an sich.

»Du bist so gut zu mir, mein Juarez!« flüsterte sie zärtlich.

Es hätte nicht viel gefehlt, so wäre Nobody in ein diabolisches Hohngelächter ausgebrochen. Er war so gut zu ihr, weil er sie nicht prügelte! O, Hohngelächter der Hölle! Aber es gibt solche Weiber genug, da kommt mehr noch als der Charakter die Erziehung in Betracht, besonders die Erziehung zur Ehe in Klöstern, wo jeder selbständige Charakter ausgerottet wird — und er soll dein Herr sein! — das war für Nobody gar nichts Neues mehr.

Er hatte in das Herz der unglücklichen jungen Frau einen hellen Sonnenstrahl gesandt, und nun genug damit! Mehr konnte er nicht tun. Jetzt mußte er der sein, den er vorstellen wollte.

»Wo ist das Kind?« erklang es schon wieder mit einiger Schroffheit.

Die alte Kreolin brachte es aus dem Nebenzimmer, ein — ein... ein Häufchen Unglück! Von einem ›süßen Engel‹, von dem jener Herr gesprochen, war wenigstens nichts zu bemerken. Das Kind sah aus, wie alle neugeborenen Kinder aussehen — nichts weniger als schön.

Nobody nahm es auf den Arm, es wie ein rohes Ei anfassend, und viel mehr war es ja auch nicht, und schon wandelte ihn wieder sein alter Humor an, jene unwiderstehliche Lachlust, zu deren Bekämpfung der sich ausbildende Detekiv gar lange Zeit gebraucht hatte, als er sagte:

»Glaube, sie sieht mir ganz ähnlich.«

Wieder waren diese Worte gleichbedeutend mit einem Sonnenstrahle des reinsten Glückes gewesen.

»Wie aus den Augen geschnitten!« riefen die junge Mutter und die Wärterin gleichzeitig.

Nobody mußte machen, daß er das Häufchen Unglück der Wärterin zurückgab und schnell hinauskam!

Wohin jetzt? Immer aus einem Zimmer ins andere. Nobody zählte drei Wohnzimmer oder Salons — und dann kam eine verschlossene Tür. Die durfte es für den Hausherrn nicht geben.

Ein Druck auf die elektrische Klingel rief einen Diener herbei.

»Wo ist hierzu der Schlüssel?« wurde der Mann angefahren, denn daß dieser erwartete, so angefahren zu werden, das hatte Nobody doch gleich an seinem ängstlichen Gesichtsausdruck erkannt.

»Señor hatten Ihr Arbeitszimmer doch selbst abgeschlossen und den Schlüssel mitgenommen.«

Ah, das Arbeitszimmer, das Heiligtum des Hausherrn!

An dem Bunde befand sich der Schlüssel nicht, aber Nobody dachte nicht daran, erst noch einmal an Bord zu gehen und nach dem fehlenden Schlüssel zu suchen oder nach einem Schlosser zu schicken.

»Richtig! Gut!«

Der Diener ging, Nobody zog sein Zauberinstrument von einem Taschenmesser hervor, welches das Ideal jedes Einbrechers gewesen wäre, und die Tür war offen.

In diesem geistigen Arbeitszimmer wurde wirklich gearbeitet. Davon zeugte der mit Tintenflecken bespritzte Schreibtisch, die vielen Bücher, dort auf Stühlen oder auch gleich am Boden liegend, wohin sie beim Wegwerfen gefallen waren, und noch anderes mehr. Dies aber, wie auch die Zigarrenasche verriet, daß hier nicht aufgeräumt wurde, wahrscheinlich nie aufgeräumt worden war. Eben ein wirkliches Heiligtum, welches von keines profanen Dieners Fuß betreten werden durfte.

Nebenan war das Schlafboudoir und die Garderobe des Hausherrn. Hier herrschte Ordnung, obgleich die vom Korridor hereinführenden Türen verriegelt waren. Da nicht anzunehmen war, daß der Hausherr sich das Bett selbst gemacht hatte, da er sonst doch auch das Arbeitszimmer hätte etwas aufräumen können, so war das Schlafzimmer eben erst vor seiner Abreise in Ordnung gebracht worden, dann hatte er es abgeriegelt.

Warum nun ließ er gerade in das Arbeitszimmer niemanden herein? Aus dem einfachen Grunde, weil er hier feine Geheimnisse hatte.

Die Schlüssel zu den Fächern des Schreibtisches hatte Nobody in der Tasche, sie befanden sich am Bunde; und er begann die Visitation.

Sie war ganz erfolglos. Quittierte Rechnungen, andere Schriftstücke — aber absolut nichts, woraus Nobody irgend etwas auf die Person dieses Juarez Travalko hätte schließen können. Vor allen Dingen vermißte er jede Korrespondenz.

Nobody blickte sich weiter im Zimmer um. Es war ein Kamin vorhanden, den man in diesem Teile Südamerikas zur Winterszeit — April bis Oktober — nicht etwa entbehren kann. Und der offene Kamin war mit Papierasche gefüllt, die einzelnen Blätter noch erkennbar.

»Hm. Mir scheint, Señor Travalko hat damals hier Abschied für immer genommen, hat alles Verfängliche verbrannt, nur bezahlte Rechnungen und so weiter hinterlassen, um zu beweisen, daß er als ein Ehrenmann ins nasse Grab gefahren ist, der Spitzbube!«

Oftmals sind auf der Papierasche noch die Schriftzüge zu erkennen. Aber es gelang nicht, einen Bogen zu retten, bald gab Nobody seine Bemühungen auf.

Worüber erzählten die Seiten der aufgeschlagenen Bücher? Ueber die verschiedensten Sachen, daraus war nichts Genaues zu schließen. Nur das eine Buch interessierte Nobody, es handelte über das Heben von gesunkenen Schiffen, und Nobody lächelte.

»Sie sind unvorsichtig gewesen, mein lieber Señor, höchst unvorsichtig!«

Die Untersuchung des Schreibtisches war noch nicht beendet gewesen, und aus einem Schränkchen brachte Nobody eine Strickleiter zum Vorschein.

Die Strickleiter ist ein Gegenstand, der nicht unbedingt zu jedem Haushalt gehört, auch nicht in einen Schreibtisch hinein.

Und Nobody sah sich daraufhin um, wie er die Strickleiter, die nicht mehr ganz neu war, mit diesem Schreibzimmer zusammenreimen könne. Da brauchte sein scharfes Auge auch nicht lange zu suchen.

Der starke Haken, der dort in das eine Fensterbrett eingeschraubt war, sah akkurat so aus, als wäre er nur dazu vorhanden, um daran solch eine Strickleiter zu befestigen. Und wie vortrefflich das hier alles paßte! Man konnte den Hinauf- oder Hinabkletternden gar nicht so leicht dabei beobachten.

Das andere Fenster dieses Zimmers hatte nämlich einen balkonartigen Vorbau, ebenso ein Fenster des angrenzenden Schlafzimmers, und so hing die ausgeworfene Strickleiter wie in einer Nische; und unten am Hause befand sich ein großer Park.

Die Vorsicht ging noch weiter. Bei näherer Untersuchung der Strickleiter entdeckte Nobody daran zwei besondere Schnüre, die in Röllchen liefen. Zog man an der einen, so rollte sich die Strickleiter von allein zusammen, beim Ziehen an der anderen faltete sie sich wieder auseinander.

»Hm. Dieser Señor Juarez Travalko scheint manchmal eine Abneigung davor zu haben, sein Haus durch die Türe zu verlassen, oder er empfängt manchmal Besuch, welcher des Zimmermanns Loch nicht finden kann und eine geschmeidige Strickleiter einer bequemen Treppe vorzieht. Wirklich ein ingeniöser Kopf, dieser Travalko, davon zeugen diese beiden Schnüre hier — ebenso einfach wie sinnreich erdacht. Nun, ich denke von seiner geistreichen Erfindung noch heute Gebrauch zu machen.«

Unterdessen war es dunkel geworden. Nobody ließ die Jalousien herab und brannte das Gas an. Dann wollte er sich umkleiden, und der Hausherr mußte reichlich mit Gardrobe versehen sein, darauf ließen die drei großen, sogar riesig zu nennenden Kleiderschränke im Schlafzimmer schließen.

Alle drei waren verschlossen. Das Auge dieses Detektivs vergaß nichts, was es einmal gesehen hatte. Nobody blickte nur einmal in ein Schloß hinein, und er wußte sofort, daß er den passenden Schlüssel an seinem Bunde hatte, auch für die beiden anderen Schränke paßte derselbe.

Er öffnete den ersten Schrank.

»Ahaaa!! Da hat er allerdings einen Grund, seine Garderobe unter Schloß und Riegel zu halten, damit auch der ehrlichste Diener nichts davon zu sehen bekommt! Ei, die Person dieses Señor Juarez Travalko wird ja immer mysteriöser!«

Perücken, falsche Bärte; die verschiedensten Kostüme; um als Maultiertreiber, als Arbeiter, als Bettler, als Matrose, als Stromschiffer und als Gott weiß was auftreten zu können — die ganze Requisitenkammer eines Schauspielers!

Der zweite Schrank enthielt die elegante Garderobe, wie sie einem Kavalier entsprach, der dritte hinwiederum durfte gar nicht den Namen eines Kleiderschrankes führen, sondern den eines Waffenarsenals — Handwaffen aller Gattungen, doch am meisten Revolver vorherrschend und — der schwere Entersäbel!

Prüfend hatte Nobody solch eine Klinge in die Hand genommen. Doch er unterdrückte jetzt jede Grübelei, was Señor Travalko mit Entersäbel und Entermessern zu tun hatte; er hing die Waffe wieder auf und wendete sich dem ersten Schranke zu, dem er nach kurzer Wahl einen Arbeiteranzug entnahm, ihn anlegend.

Um sein Gesicht zu verstellen, brauchte Nobody weder Perücke noch Bart — die Züge in andere Falten gelegt, an dem Kinn geknetet, einmal mit den Fingern durch die Haare gestrichen, und er war ein total anderer.

Nun das Gas wieder aus, die Strickleiter befestigt, das betreffende Fenster geöffnet, hinabgestiegen und die Strickleiter mittels der einen Schnur wieder hinaufgezogen.

Wenn nun jemand nach Señor Travalko fragte, von dem die Diener wußten, daß er sich zu Hause, in seinem separaten Zimmer befand?

Nobody fürchtete nichts dergleichen. Er nahm mit Bestimmtheit an, daß Travalko öfters die Strickleiter benutzte, also solche heimliche Ausflüge machte, und dieser so barsch auftretende Spanier, der seine junge Frau prügelte, war sicher nicht der Mann, der sich durch seinen Diener oder durch sonst jemanden in seinen Appartements stören ließ.

Das letzte Viertel des Mondes erhellte die Nacht. Nobody schlich durch den waldigen Park, kam an ein Gitter, überstieg es, mußte noch über das eines Nachbargartens klettern, und er befand sich in einer einsamen Villenstraße, von der aus er in ein belebtes Viertel gelangte.

Nobody war nicht zum ersten Male in Buenos Aires. Auch in der argentinischen Hauptstadt hatte der Detektiv, dessen Netz die ganze Welt umspannte, seine Hilfskräfte und Spione. Aber so wenig er daran gedacht hatte, einen dieser Leute an Bord der Jacht als Wächter des Gefangenen anzustellen, so wenig wollte er sich jetzt an sie wenden, um über die Person Travalkos Auskunft zu erhalten. Das konnte vielleicht noch geschehen, wenn es nötig war, sonst aber unterhielt er diese Hilfskräfte in den fremden Städten eigentlich zu ganz anderen Zwecken, und Nobody war immer selbst der Mann.

Um die neueste Neuigkeit zu erfahren, brauchte er sich gar nicht an eine einzelne Person zu wenden. Die Leute erzählten es sich auf der Straße.

»Wissen Sie es schon?«

»Jawohl, Señor Juarez Travalko ist es gewesen, der die fünf Millionen Pesos hergebracht hat.«

Schon diese wenigen Worte erzählten Nobody gar viel. Eigentlich aber war für ihn etwas ganz Selbstverständliches dabei.

Die öffentliche Unsicherheit ist in Südamerika ja noch größer als in den Vereinigten Staaten. Daran, den großen Goldschatz von Valparaiso nach Buenos Aires auf dem Landweg zu transportieren, wäre gar nicht zu denken gewesen. Die Entfernung beträgt zwar nur zweihundert deutsche Meilen, aber das ist alles pfadlose Prärie, dort Pampas genannt, auf ihr herrschen die Penchuenchen in völliger Unabhängigkeit, jede Gelegenheit, um den Kopf eines Blaßgesichtes auf die Lanze spießen zu können, wahrnehmend — die Penchuenchen sind keine Skalp-, sondern Kopfjäger — auch der weißen Pampasräuber gibt es genug — kurz und gut, da hätten selbst einige Regimenter den Goldtransport nicht beschützen können.

Das Gold mußte auf dem Seewege transportiert werden, um Kap Horn herum. Auf einem Kriegsschiffe? Amerikanische Räuber sind imstande, ein ganzes Kriegsschiff zu stehlen. Und wer garantiert dafür, daß Offiziere und Matrosen sich nicht in die Goldbarren teilen und mit ihnen das Weite suchen? Hier liegen eben südamerikanische Verhältnisse vor. Gesindel, alles nichtsnutziges Gesindel! Jeder hält sich selbst für einen tadellosen Cavallereseo, aber keiner traut dem anderen weiter, als er ihn sehen kann, und noch nicht einmal so weit.

Vor allen Dingen mußte die Ueberführung des Goldes ganz heimlich geschehen, die Oeffentlichkeit durfte nicht erfahren, welches Schiff dazu benutzt wurde.

So hatte der auserwählte Transporteur als Privat- und Sportsmann sich in Valparaiso erst eine Jacht gekauft — jetzt erst erfuhr das Publikum, daß die ›Hortensia‹ die zweihundert Zentner Gold an Bord gehabt hatte.

Nun mußte Nobody wissen, weshalb die Wahl gerade auf Juarez Travalko gefallen, wer dieser Mann überhaupt war; das konnte er aus den Straßengesprächen nicht erfahren, höchstens hörte er Bemerkungen wie: ›Ich habe mir ja gleich gedacht, daß es Travalko war, einem anderen hätte man doch auch die große Summe gar nicht anvertrauen können‹.

In einer Kneipe machte Nobody die Bekanntschaft eines deutschen Arbeiters, der schon seit vielen Jahren in Buenos Aires sein Brot verdiente und der ihm einen viel sachgemäßeren Bericht geben konnte, weil dieser durch keine spanische Prahlerei und Flunkerei getrübt wurde. Auch sonst war der Mann sehr gut orientiert. Die Hauptsache können wir kurz genug machen.

Juarez Travalko war der Schwiegersohn von Pinto Aleardes, er hatte dessen einziges Kind geheiratet, die Elvira, und Pinto Aleardes galt als der reichste Mann von Argentinien, er wurde auf vier Millionen Pesos geschätzt, und so hatte man eben seinen zukünftigen Erben zu dieser Mission ausersehen, wozu sich der schneidige Juarez auch recht gut eignete. Daß er nicht im Staatsdienst stand, hatte dabei nichts zu sagen. Die Hauptsache war, daß er die meiste Garantie bot, nur eine Million Pesos weniger als der Wert der Goldfracht betrug.

So die ganz einfache Erklärung. Für Nobody genügte sie natürlich noch lange nicht. Läßt man denn vier Millionen fahren, die man ehrlich in der Tasche hat, um zu versuchen, fünf Millionen zu stehlen, was aber auch mißlingen kann?

»Was ist denn dieser Pinto Aleardes?«

»Schiffsreeder. Das heißt, er betreibt nur Flußschiffahrt. Fast alle die Fahrzeuge, welche den Parana und La Plata und Uruguay befahren, gehören dem Aleardes. In diesen großen und kleinen Flußdampfern und Kähnen stecken seine vier Millionen, die jährlich etwa 200 000 Pesos Reingewinn abwerfen. Aber der alte Aleardes hat nichts von diesem Reichtum.«

»Weshalb nicht?«

»Der sitzt im Irrenhaus.«

»Er ist irrsinnig?«

»Seit einem Jahre. Gleich nach der Hochzeit seiner Tochter mit Travalko ist er plötzlich übergeschnappt.«

»Und jetzt führt Travalko das Geschäft?«

»Nein. Der streicht nur das verdiente Geld ein und bringt es unter die Leute. Und im Geschäft hat er auch gar nichts zu sagen, da hat der Alte, als er noch vernünftig war, einen gerichltichen Antrag gemacht, sein langjähriger Geschäftsführer ist sein Stellvertreter, und solange Aleardes lebt, läßt der den Schwiegersohn nicht ins Geschäft.«

»Und wenn Pinto Aleardes stirbt?«

»Ja, dann freilich ist nichts mehr zu wollen, dann ist Travalko der Universalerbe und kann machen, was er will. Aber Aleardes kann noch lange leben. So alt ist er noch gar nicht, in die vierzig, und abgesehen von seinem Wahnsinn soll er sich noch bei bester Gesundheit befinden.«

Ahaaa! Jetzt ändert sich die Sache ganz bedeutend! Es gibt genug ungeduldige Naturen, die nicht warten können, bis die Erbschaft ihnen zufällt. — eher sind sie zu einem Verbrechen fähig.

»Wer ist denn dieser Juarez Travalko. Woher stammt er?«

»Sein Vater war ebenfalls ein Schiffsreeder, aber nicht zu vergleichen mit Aleardes, hatte nur zwei kleine Flußdampfer, von denen den einen Juarez als Kapitän führte. Das Geschäft ging nicht besonders, die Schiffahrt hatte damals so von den Strompiraten zu leiden.... haben Sie davon nicht schon gehört?«

Ja, von den Flußpiraten des La Plata hatte Nobody schon genug gehört. Vor einigen Jahren hatte er sogar die Absicht gehabt, da ein Wort mit hineinzureden, doch gerade zu jener Zeit hatten die Piraten eine empfindliche Schlappe erhalten, man war erfolgreich gegen sie vorgegangen, seitdem hörte man nichts mehr von ihnen, und auch Nobody hatte sich nicht weiter darum gekümmert.

»Der alte Travalko machte bankrott, Juarez trat als Kapitän in Aleardes' Dienste, der auch sehr unter den Attacken der Flußpiraten zu leiden hatte. Da machte ihm Juarez einen Vorschlag, er wollte, wenn ihn Aleardes mit allem Nötigen unterstütze, auf eigene Faust einen Krieg gegen die Piraten führen. Und Juarez war auch der Mann dazu, denn keiner kennt das ganz ungeheure Stromgebiet besser als er, und noch immer war er mit seinem Dampfer den Piraten entschlüpft.

»Aleardes ging also darauf ein, und innerhalb eines halben Jahres hatte Juarez vier Piratenschiffe vernichtet, ihren Schlupfwinkel aufgestöbert und gegen ein Dutzend Piraten lebendig gefangen der Regierung ausgeliefert, daß sie gehangen werden konnten. Das ist nun zwei Jahre her, und seitdem hat man gar nichts wieder von Flußpiraten gehört.

»Juarez Travalko war natürlich der Held des Tages. Er verlobte sich mit Aleardes' Tochter, trat als Teilhaber in das Geschäft ein. Aber das dauerte nicht lange. Juarez wollte Neuerungen einführen, hauptsächlich die vielen Schiffe, welche seither immer nur auf fremde Rechnung fuhren, auf eigenes Risiko mit Fracht beladen. Dem war Aleardes entgegen, besonders auch der alte Johnson, der Geschäftsführer, dem Aleardes schon immer fast alles überließ. Aber Juarez wollte nicht nachgeben, es soll einmal im Bureau zu einer heftigen Szene gekommen sein, und da ist Juarez wieder ausgetreten.«

»Aber die Tochter hat er dennoch geheiratet?«

»Ja. Mit der Liebe hat das Geschäft nichts zu tun. Und Aleardes war ja auch ganz damit einverstanden, Juarez hatte ihm ja tatsächlich viel gerettet, nur in das Geschäft wollte er sich nicht hineinreden lassen.«

»Und dann ist der Alte irrsinnig geworden?«

»Gleich am Tage nach der Hochzeit.«

»Wie äußert sich denn sein Wahnsinn?«

»Er hält sich für einen Flußpiraten, alle seine Verwandten, auch seinen Schwiegersohn und seine Tochter.«

»Soso,« brummte Nobody.

Er hätte gern noch weiter betreffs des Wahnsinnigen gefragt, aber da wendete er sich wohl besser an eine andere Quelle.

»Was treibt Travalko denn jetzt?«

»Der privatisiert, macht sich das Leben schön, und mit 200 000 Pesos jährlichem Einkommen kann er das ja auch.«

»Er ist wohl ein rechter Lebemann!«

»Na ja, geknausert hat er niemals. Und wenn er das Geld so mit vollen Händen ausstreut, da hat er wohl guten Grund dazu, denn jedenfalls wird er bei der nächsten Präsidentenwahl von seinen Freunden als Kandidat ausgestellt werden, und solche Freunde wollen doch erst mit Geld erworben sein.«

»Sonst kann er aus dem Geschäft seines Schwiegervaters kein Geld ziehen?«

»Absolut nicht, das hält der alte Johnson in seinen Krallen fest, und seit er als General-Bevoll-mächtigter statt des wahnsinnigen Chefs unumschränkt schalten und walten kann, darf Juarez nicht mehr über die Schwelle des Bureaus kommen.«

»Da macht Juarez wohl noch Schulden auf seine zukünftige Erbschaft hin?«

»Davon ist mir nichts bekannt. Na, und ich denke doch, wenn man jährlich 200 000 Pesos hat, fast eine Million Mark, da braucht man doch keine Schulden mehr zu machen.«

Es war zwar ein für seine Verhältnisse recht gebildeter Mann, der so sprach, aber immerhin, es war doch ein Arbeiter, der das Geld mit ganz anderen Augen ansah, der sich mit 100 000 Mark schon für einen schwerreichen Mann gehalten hätte.

»Lebt er denn glücklich mit seiner Frau?«

»Na, ich denke doch, wenn man gesund ist und so eine junge, hübsche Frau hat und Geld im Ueberflusse vorhanden ist, da kann's doch gar keine unglückliche Ehe geben.«

Es war eben ein Arbeiter mit seinem eigenen Gesichtskreis. Jedenfalls aber war dem sonst sehr gut orientierten Manne nichts davon bekannt, daß Travalko seine Frau sogar prügelte.

»Er ist doch ein recht grober, barscher Mensch, habe ich gehört.«

»Ach, das scheint nur so, weil er so kurze, schnelle Bewegungen hat und auch alles so herauspoltert. Er ist eben sehr energisch. Aber sonst kommt jeder mit ihm aus, in seinem Hause hat sich kein Diener über ihn zu beklagen, und seine Frau trägt er auf den Händen.«

Ah! Also diesen Anschein der ehelichen Liebe hatte Travalko in der Gesellschaft und in der Öffentlichkeit zu erwecken gewußt! Nobody konnte etwas ganz anderes erzählen. Und die junge Frau, als vornehme Spanierin ganz sicher in einem klösterlichen Stift erzogen, wagte sich niemandem anzuvertrauen, ebenso schwiegen angstvoll auch die anderen, welche die Wahrheit kannten, wie z.B. die Wärterin und vielleicht auch die Hausdiener.

Nun hatte Nobody bloß noch eine wichtige Frage zu stellen.

»Was für ein Bewandtnis hat es denn mit der ›Hortensia‹? Ist die Jacht wirklich von Travalko gekauft worden, oder hat die Regierung sie erworben, oder wie verhält sich das sonst?«

»Soviel ich bisher gehört habe, hat Travalko sie für sich selbst als Lustjacht gekauft. Er brauchte sie ja nicht bar zu bezahlen, der hat doch Kredit, soviel er will.«


Illustration

Diese Auskunft war für Nobody sehr günstig. Er war schon in Sorge gewesen wegen seines Freundes und wegen des Gefangenen. Denn wäre die Jacht jetzt Eigentum der Regierung oder irgendeiner anderen Person gewesen, so wären doch wohl bald fremde Leute daraufgekommen, um sie zu besichtigen. War Travalko wirklich der Eigentümer, dann war so etwas nicht zu befürchten.

Nobody wußte vorläufig genug über seine eigene Person. War nicht zu erwarten, daß der Held des Tagesgespräches, der sich um das Vaterland so verdient gemacht, noch heute abend Besuche erhielt, sollte er nicht noch heute beim Finanzminister als Gast erscheinen?

Nobody hielt es für das Beste, sich sofort wieder nach seiner Wohnung zurückzubegeben und dort das Weitere abzuwarten.

So tat er denn auch, er ging denselben Weg zurück, schlich durch den Park bis an das betreffende Fenster, die Schnur funktionierte, die Strickleiter kam herab, und Nobody befand sich wieder in dem Arbeitszimmer. Die ganze Exkursion hatte kaum eine halbe Stunde in Anspruch genommen.

Es war zehn Uhr. Was nun? Zunächst mußte sich der Arbeiter wieder in den eleganten Hausherrn verwandeln.

Kaum war Nobody hiermit fertig, als ein Geräusch sein Ohr traf, das ihn sich schnell umdrehen und nach dem Revolver in der Tasche greifen ließ.

Es war ein Knacken gewesen, Nobody wußte sogar, daß es aus dem parkettierten Fußboden kommen mußte, er hatte es gewissermaßen mit den Fußsohlen gehört, und da klappte auch schon dicht vor dem Kamin ein Quadrat des Parketts in die Höhe, ein menschlicher Kopf erschien, ein Mann kletterte aus dem Loche, und vor Nobody stand.... kein anderer als der echte Juarez Travalko!

So wenigstens hätte wohl jeder andere Mensch glauben müssen, der den Spanier kannte. Es war eben Juarez Travalko mit dem schönen, etwas wüsten Gesicht in eigener Person, und daß er jetzt einen anderen Anzug trug, hatte doch nichts zu sagen.

Doch dieser Detektiv ließ sich durch nichts täuschen. Wohl waren das dieselben unsteten Augen — und dennoch waren das andere Augen — das war ein anderer Blick — das war nicht der Juarez Travalko, den Nobody gefangengenommen hatte — das war sein Doppelgänger!

»Die Pest über dich!!«

So begrüßte der dem Boden Entstiegene zischend seinen Doppelgänger, den er für den Hausherrn hielt.

Nobodys Entschluß war sofort gefaßt. Hier konnte eine Entdeckung nicht ausbleiben. Und da erkannte er in diesen Augen etwas, was ihn mit wildem Jubel erfüllte! Zwischen diesen und dem Gefangenen an Bord der Jacht war noch ein anderer großer, großer Unterschied, ein Unterschied der Seele!

Vorläufig nahm Nobody eine trotzige Miene an, er verschränkte die Arme über der Brust und schaute den anderen herausfordernd an.

»Nun?«

»Nun?!« wiederholte sein Ebenbild höhnend. »Du willst wohl auch noch wissen, weshalb ich komme? Der Teufel soll dich holen! Mensch, hast du denn das Gold wirklich hierhergebracht? Warum hast du die Jacht nicht bei den Argonauteninseln versenkt? Entweder bist du ein Verräter, oder du hast wieder einmal einen genialen Plan ausgeheckt, so genial, daß ihn keiner von uns allen begreifen kann. Gib eine Erklärung!«

Nein, die wollte Nobody vielmehr von seinem Doppelgänger haben, aber auf friedlichem Wege ging das jetzt nicht mehr ab.

Ein Sprung, ein Griff, der andere lag in einem Polsterstuhl, Nobody drückte ihn mit einem hochgezogenen Knie nieder, die eine Hand umklammerte beide Handgelenke wie mit einem Schraubstock, die andere Hand schnürte die Kehle zu.

»Blicke mich an!«

Es war nur nötig, daß Nobody einen einzigen Blick der unsteten Augen auffing, sofort hatte er den Blick regungslos auf sich gebannt, und da verdrehten sich auch schon die gefesselten Augen nach oben — der Mann war hypnotisiert!

Und das war es gewesen, das war der Unterschied, den Nobody beim ersten Blick herausgefunden hatte! Jener Juarez Travalko von der Jacht war für Hypnose nicht empfänglich gewesen, dieser hier unterlag dem Blicke des meisterhaften Hypnotiseurs, er mußte es, das hatte Nobodoy wenigstens mit Sicherheit angenommen, und hier war die Richtigkeit dieser Annahme erbracht!

»Hörst du mich sprechen?«

»Ich — höre dich,« erklang es röchelnd zurück.

»Wie heißt du?«

»Antonio — Miguel.«

»Antonio Miguel, du wirst mir gehorchen, ich befehle es dir!«

»Ich — gehorche.«

»Du wirst mir auf alle meine Fragen der Wahrheit gemäß antworten!«

»Der — Wahrheit — gemäß.«

Wir lassen die beiden allein.

— — — — —

Der damalige Präsident der Republik Argentinien war José la Rosa.

Wir haben von den spanischen Kreolen nicht zum besten gesprochen und können es auch niemals tun. Es ist und bleibt ein Lumpengesindel. Aber Ausnahmen gibt es überall, die haben wir auch stets hervorgehoben, zu diesen Ausnahmen gehört der Kapitän Oleda und auch dieser Präsident la Rosa.

Schon als Advokat hatte er sich durch seine Energie und durch seine Unbestechlichkeit einen Namen gemacht, und wenn er als Präsident von der Gegenpartei, die seiner Wahl entgegen gewesen, so grimmig gehaßt wurde, so geschah dies wiederum nur wegen dieser seiner unbestechlichen Gerechtigkeit. Sonst aber mußten auch seine Feinde ihm Dank zollen, denn José la Rosa hatte während dreier Jahre das Regierungsschifflein, immer etwas wrack, immer etwas leckend, mit klugem Kopfe, klarem Auge und starker Hand durch all jene Klippen gesteuert, welche diese unglücklichen südamerikanischen Staaten beständig mit Vernichtung bedrohen, durch einen Bürgerkrieg, durch Annektierung von einem stärkeren Staat oder von sonst etwas. Ruhe ist ja dort niemals.

Es war kurz vor Mitternacht. In der Wachtstube des Parlamentspalastes, in dessen einem Flügel auch der jeweilige Präsident wohnte, rüsteten sich die Soldaten zur Ablösung. Zu der Wohnung des Präsidenten wie überhaupt ins Innere dieses Hauses gab es bei nächtlicher Zeit keinen anderen Weg als durch diese Wachtstube, es sei denn, der Präsident hätte Gäste oder erwartete einen nächtlichen Besuch, vielleicht einen Boten mit wichtiger Meldung.

Ein Zivilist betrat die Wachtstube, ein anständig gekleideter Mann.

»Sie wünschen?« fragte der wachthabende Offizier.

»Ich muß sofort den Präsidenten sprechen.«

Natürlich war alsbald die allgemeine Aufmerksamkeit erregt. Solche Fälle waren ja schon vorgekommen, aber es waren doch stets Ausnahmen, und dann mußte es sich auch um etwas sehr Wichtiges handeln.

»Wie ist Ihr Name?«

»Lassen Sie, bitte, diesen Brief dem Herrn Präsidenten übermitteln, er wird mich sofort empfangen.«

Der Offizier nahm den dargereichten Brief, drehte ihn unschlüssig in den Händen. Der Mann sah ja ganz anständig aus, am wenigsten wie ein Irrsinniger, denn mit einem solchen haben derartige Posten immer zu rechnen.

»Der Herr Präsident wird sich schon zur Ruhe begeben haben.«

»Dieses Schreiben muß ihm übermittelt werden, es ist von höchster Wichtigkeit und von größter Eile. Sie sind für jede Verzögerung verantwortlich.«

Das schnitt jede weitere Frage und Bemerkung ab, der Wachthabende hatte seine Instruktionen.

»Leutnant Diego, befördern Sie diesen Brief, übergeben Sie ihn dem Kammerdiener. Bitte, nehmen Sie Platz!«

Der junge Leutnant mit der Ordonnanzschärpe entfernte sich mit dem Briefe, der Zivilist setzte sich einstweilen. Er brauchte nicht lange zu warten, bald kam die Ordonnanz zurück.

»Bitte, folgen Sie mir!«

Es ging durch gar viele Korridore, eine Treppe hinauf und dann wieder durch Gänge, deren Ausstattung immer kostbarer wurde.

»War der Herr Präsident schon schlafen gegangen?« fragte der Zivilist unterwegs einmal.

»Ja. Aber geschlafen hat er wohl nicht, es ging sehr schnell, der Kammerdiener hatte die größte Eile, mir den Auftrag zu geben, den Ueberbringer des Briefes zum Präsidenten zu führen.«

Schon bei jeder Gelegenheit während dieses Ganges hatte der Leutnant den Herrn neugierig von der Seite betrachtet. Da mußte im Vorzimmer des Präsidenten etwas Besonderes vor sich gegangen sein, und wer wußte denn, wer dieser nächtliche Besuch war? Jedenfalls kein gewöhnlicher Sterblicher, jedenfalls handelte es sich hier um etwas von höchster Wichtigkeit, darnach schien das Betragen des Kammerdieners beschaffen gewesen zu sein.

Der Zivilist wurde von einem Diener in Kniestrümpfen in Empfang genommen, gleich darauf stand er vor dem Präsidenten der Republik Argentinien.

José la Rosa, ein kleiner, sehniger Mann mittleren Alters mit energischen, aber freundlichen Zügen, war wirklich schon im Bett gewesen, hatte einen Hausrock übergeworfen. Er stand mitten im Zimmer, nicht einen Brief, sondern die Karte in der Hand, die das Kuvert nur enthalten hatte, mit zwei Zeilen beschrieben, und ließ die klugen Augen voll Erwartung, dem auch Staunen beigemischt war, auf dem Eintretenden haften.

»Ist es möglich?!«

Das waren die ersten Worte, mit denen er den sich Verbeugenden empfing.

»Ich bin der, dessen Name schriftlich auf der Karte steht.«

»Sir Alfred Willcox, genannt Nobody, der Championdetektiv der englischen Königin!«

»Ich bin es.«

Schnell hatte sich der ehemalige Advokat von seiner Ueberraschung wieder erholt. Er machte eine Handbewegung nach einem Stuhl, rückte für sich selbst einen zweiten heran.

»Nobody, der englische Championdetektiv, von dem ich schon gar viel gehört habe, hält sich nicht umsonst in Buenos Aires auf, noch weniger wird er mich umsonst aus dem Bett geholt haben. Nehmen Sie Platz. Wir sind hier völlig ungestört, brauchen nicht einmal unsere Stimmen zu dämpfen.«

Sie saßen sich gegenüber.

»Es handelt sich um den Mann, welcher das chilenische Gold nach Argentinien gebracht hat — um Señor Juarez Travalko,« eröffnete Nobody das Gespräch.

Sofort blickte der Präsident doppelt überrascht aus, eine Erregung befiel ihn gleich.

»Haben Sie gegen diesen Mann einen Argwohn?« stieß er hastig hervor.

»Gestatten Herr Präsident, daß erst ich einige Fragen stelle. Dies wird die Sache ungemein erleichtern.«

Schnell hatte sich la Rosa wieder in der Gewalt, und jetzt ließ er sich durch nichts mehr aus seiner Ruhe bringen, wenigstens vorläufig nicht.

»Immer fragen Sie. Ich kann mich mit Ihnen in Abwicklung dergleichen Angelegenheiten doch nicht messen.«

»Haben Sie selbst gegen Juarez Travalko einen Verdacht?«

»Ja.«

»Welchen?«

»Eigentlich nicht direkt einen Verdacht — es liegt nur etwas für mich Unerklärliches vor, weswegen Travalko morgen Rechenschaft ablegen muß.«

»Und was ist das? Sie können gegen mich ganz offen sein, ich bin......«

»Selbstverständlich werde ich Ihnen nichts vorenthalten. Die Sache ist die: die Eisenkästen, welche das Gold enthielten, sind Travalko vom chilenischen Schatzamt versiegelt und plombiert übergeben worden. Das weiß ich ganz bestimmt, das habe ich brieflich, das ist ja überhaupt gar nicht anders denkbar. Bei der Ankunft hier waren die Kisten ohne Plomben. Travalko hat dem Finanzminister und noch anderen Herren gegenüber behauptet, die Kisten wären ihm so unplombiert übergeben worden. Das ist ganz einfach eine Lüge. Er hat die Plomben doch jedenfalls selbst entfernt. Aber weshalb — das eben ist mir vorläufig ein unergründliches Rätsel. Morgen werde ich Travalko deshalb vernehmen.«

»An dem Golde fehlt doch nichts?«

»Kein Adler, von den Barren kein Quentchen, und nichts von einer Fälschung oder dergleichen. Die Untersuchung wurde noch heute abend vorgenommen, ich selbst war zugegen.«

»Haben Herr Präsident schon das Logbuch der ›Hortensia‹ geprüft?«

»Nein. Damit habe ich auch gar nichts zu tun. Doch was ist mit dem Logbuch?«

»Ist Ihnen auch noch nichts vom Seemannsamt deshalb berichtet worden?«

»Auch nicht.«

Nobody befriedigte keine etwaige Neugier, er sprang von diesem Thema ab, ohne daran gehindert zu werden.

»Hielten auch Sie diesen Juarez Travalko für den geeignetsten Mann, den Goldschatz zu transportieren?«

»Der Senat wählte ihn, das entschied, er war auch wirklich der einzige, der durch sein Vermögen eine Garantie bieten konnte.«

»Ohne dieses Vermögen, das eigentlich noch ganz in der Luft schwebt, hätten Sie ihn nicht dazu auserlesen?«

»Hm. Er hat ja, zumal früher, ein etwas leichtsinniges Leben geführt, aber sonst ist er ein Ehrenmann,. dem absolut nichts nachzusagen ist. O ja, auch ich, wenn ich allein zu bestimmen gehabt, hätte ihn mit dem Goldtransport betraut.«

»Dann hätten auch Sie dazu einen Räuberhauptmann, einen professionellen Dieb und Einbrecher auserwählt, wie es in Wirklichkeit denn auch geschehen ist. Nur einem Zufalle ist zu verdanken, daß das Gold sein Ziel erreicht hat. Travalko hat es stehlen wollen.«

Diese Worte mußten natürlich wie ein Donnerschlag wirken. Weit beugte sich la Rosa vor.

»Räuberhauptmann? Dieb? Einbrecher? Von wem sprechen Sie denn?«

»Von Señor Juarez Travalko.«

»Von dem Schwiegersohne Alcardes'? Sie scherzen.«

»Dieser Juarez Travalko, der Schwiegersohn des reichen Pinto Alcardes, ist der Anführer jener Flußpiraten, welche damals auf dem La Plata bis hinauf zum Parana ihr Wesen trieben und welche auch noch heute existieren, nur auf das Zeichen wartend, welches ihnen Travalko gibt, um ihre alte Tätigkeit wieder aufzunehmen. Unterdessen ernährt sich die gegenwärtig aus 28 Köpfen bestehende Bande schlicht und recht durch Viehdiebstähle in den Pampas und durch Einbrüche in den Städten, kurz, sie haben ihre Tätigkeit einstweilen vom Wasser auf das Land verlegt, bis die Stromverhältnisse wieder günstigere sind, und auch an Land ist noch heute Juarez Travalko ihr Hauptmann, der besonders hier in Benos Aires, wo mancher Juwelenschmuck zu holen ist, ausbaldowert. Aber auch sonst überall in Argentinien und im benachbarten Uruguay, wenn irgendwo in einer Stadt oder Ansiedlung oder auf einer einsamen Plantage ein listiger Einbruch oder ein kühner Ueberfall geschehen ist, können Sie sicher sein, daß Juarez Travalko der Anführer der maskierten Räuber gewesen ist.«

Die Erklärung, obgleich ganz ruhig ausgesprochen, mußte natürlich erst recht wie ein Donnerschlag wirken. Lange Zeit saß la Rosa wie gelähmt da.

»Nein! Nein!!« stieß er dann endlich hervor. »Das ist zu ungeheuerlich, um es glauben zu können, das ist ja überhaupt ganz unmöglich!!!«

»Wieso unmöglich?«

Jetzt verwandelte sich der Präsident wieder in den Advokaten, der seinen Klienten zu verteidigen sucht.

»Ich will noch nicht fragen, woher oder auf welche Weise Sie dies erfahren haben wollen, sondern ich werde versuchen, Ihnen zu beweisen, daß Ihre Behauptungen unhaltbar sind.«

»Bitte, versuchen Sie es.«

»Juarez Travalko ist der Schwiegersohn und der zukünftige Erbe des reichsten Mannes Argentiniens, er bezieht jetzt schon jährliche Einkünfte von mindestens 200 000 Pesos.«

»Welche er mit 28 anderen teilen muß, so daß auf jeden 7000 Pesos kommen, und das genügt für diese Leute noch nicht, welche gewöhnt sind, das Geld mit vollen Händen auszustreuen, so daß sie gezwungen sind, noch einen Nebenerwerb zu betreiben — Diebstahl und Einbruch.«

»Er muß mit ihnen teilen?«

»Selbstverständlich, die Leute wollen doch etwas für ihre Verschwiegenheit haben, daß sie ihren Hauptmann als ehrbaren Kavalier und als Aleardes' Schwiegersohn in achtbarer Gesellschaft dulden, während sie sich selbst wie wilde Wölfe hetzen lassen müssen. Sein Anteil als Hauptmann ist sogar nicht einmal größer, und daß Travalko mit 7000 Pesos auskommen kann, daran ist doch nicht zu denken, er ist am meisten gezwungen, sich an fremdem Gute zu vergreifen, und dabei hält er seine Bande immer in der Uebung.«

Hierin, als Gegenbeweis die großen Einkünfte anzuführen, war der Advokat geschlagen.

»Seit wie lange soll Travalko der Anführer der Flußpiraten sein?«

»Schon als Kapitän unter seinem Vater war er es. Er ist schon in früher Jugend in schlechte Gesellschaft geraten, unter die Räuber gefallen, die seine Kenntnisse über das ganze Stromgebiet für ihre Zwecke ausnützten, ihn deshalb zu ihrem Anführer machten, und er eignete sich auch durch seine anderen Fähigkeiten am besten dazu. O, er ist ein untadelhafter Seeräuberkapitän, seine Leute haben alle Achtung vor ihm und fürchten seine schnelle Hand, seine nie fehlende Kugel, schon seinen Blick. Unter ihm machten die Piraten auch reichere Beute denn je. Die beiden Schiffe seines Vaters blieben natürlich verschont.«

»Ist Ihnen denn ganz unbekannt, daß vor zwei Jahren Juarez Travalko selbst gegen die Flußpiraten zu Felde gezogen ist?«

»Ich weiß es.«

»Daß er einige Piratenfahrzeuge versenkt, viele Piraten getötet und andere der Regierung zur Bestrafung ausgeliefert hat?«

»Ich weiß es.«

»Nun, wie reimt sich denn das zusammen?«

»Das ist ganz einfach. Es gab zwei Banden von Piraten, deren jede auf eigene Rechnung arbeitete. Die eine nannte sich Banda oriental, sich durch diesen Namen einen politischen Anstrich gebend, weil damals, als all diese Länder noch unter spanischer Herrschaft standen, die Kolonien zusammen doch den Namen Banda oriental führten. Die Bezeichnung war auch deshalb treffend, weil diese Piratenpartei ihre Schlupfwinkel auf der Seite von Uruguay hatte. Deshalb nannten sich ihre Rivalen, die auf der westlichen Seite hausten, die Banda occidental. Dieser gehörte Travalko an. Und mit Hilfe von Aleardes, auch von der Regierung unterstützt, vernichtete er die Banda oriental, sich so seiner Rivalen entledigend.«

»Und diese Piraten sollen den Anführer der anderen Partei nicht gekannt haben?«

»Ach wo! Der ehrbare Kapitän war als Pirat doch immer ganz unkenntlich maskiert.«

Hiergegen wußte der Verteidiger des Angeklagten wiederum keine Einwendung mehr zu machen. Doch hatte er noch genug Gegenbeweise. Den stärksten wollte er aber bis zuletzt aufheben.

»Nichtsdestoweniger bleibt doch die Tatsache bestehen, daß Travalko so gestellt ist, daß er so etwas nicht nötig hat.«

»Seine Kumpane sitzen ihm auf dem Nacken, und es mag ja auch Lust am Verbotenen, an Abenteuern dabei sein.«

»Travalko ist ein gebildeter Mann, für ihn heißt die Welt nicht nur Argentinien.«

»Seine Kumpane würden ihn nirgends in Ruhe lassen, sein Vermögen ist ja vorläufig festgenagelt.«

»Wissen Sie etwas davon, wie er in das Geschäft hat eintreten wollen?«

»Ja, und das ist hierbei eine große Hauptsache. Um als Disponent hervorzutreten, hat er erst anregen wollen, Frachten auf eigenes Risiko zu nehmen. Auch dann wären die Dampfer seines Schwiegervaters von den Piraten natürlich in Ruhe gelassen worden, man hätte sich ja nur an seinem eigenen Gute vergriffen, sich in sein eigenes Fleisch geschnitten. Daher also jetzt diese Stromsicherheit. Dann hätte Travalko weiter durchgesetzt, daß das ganze Geschäft verkauft worden wäre, bei dem hohen Gewinn, den es bei eigener Befrachtung abwarf, zu einer doppelt hohen Summe. Dann hätte Travalko dereinst bares Geld zu erwarten gehabt, und die Piraten hätten natürlich sofort ihre alte Tätigkeit wieder aufgenommen, jetzt wären ja fremde Leute durch ihr Räuberwesen geschädigt worden.«

»Wäre Travalko dann noch immer ihr Anführer geblieben?''

»Mit baren drei Millionen Pesos sollte er sich von der Gemeinschaft seiner Genossen loskaufen können, so ist ausgemacht worden. Aber schon die Einleitung scheiterte besonders an der Halsstarrigkeit des alten Geschäftsführers Johnson, an einen Verkauf war gar nicht zu denken, Travalko wurde hinausgesetzt, der alte Alcardes kann noch Jahrzehnte leben, und so ist immer noch die alte Geschichte, Travalko muß seine Einkünfte durch Einbrüche vermehren, seine Kumpane lassen ihn ja auch nicht locker.«

»Er hat auch das chilenische Gold für sich auf die Seite bringen wollen?«

»Ganz gewiß. Nicht wahr, vor einem halben Jahre brach hier in Buenos Aires im Irrenasyl Feuer aus?«

»Ja. Es lag eine nichtswürdige Brandstiftung vor. Die hölzernen Treppen waren mit Petroleum übergossen worden, und wäre das Feuer nicht rechtzeitig gelöscht worden, gegen 400 Irre hätten ihren Tod in den Flammen gefunden.«

»Der Schuldige ist doch gefunden worden.«

»Ein Wärter, der im Asyl wohnte. Er hatte soeben seine Wohnungseinrichtung versichert, befand sich in Schulden, und nur um die Prämie herauszubekommen, faßte er den ungeheuerlichen Plan, deshalb die ganze Anstalt niederzubrennen.«

»Er gestand seine Schuld?«

»Nein, er wurde durch Beweise überführt.«

»Wie wurde er bestraft?«

»Mit zwanzig Jahren Zwangsarbeit. Wäre ich Richter gewesen, ich hätte ihm etwas ganz anderes zudiktiert.«

»Dann hätten auch Sie ihn unschuldig verurteilt. Santa Fernan, wie dieser Wächter heißt, ist unschuldig. Nur eine unglückliche Verwicklung von Zufällen zeugte wider ihn. Die Brandstiftung ging von Señor Juarez Travalko aus. Sein Schwiegervater lebt ihm zu lange, dessen Tod ist ja noch gar nicht vorauszusehen, und mit Gift oder Dolch oder Blei ist dem Irrsinnigen, der niemanden um sich duldet als seinen alten Diener, schwer beizukommen. Da hat Travalko einen Mann namens Patricio Leon, welcher damals im Asyl ebenfalls als Wärter angestellt war, bestochen, für ihn das Feuer anzulegen, die Treppen mit Petroleum zu übergießen, auf daß sich dann unter den Verbrannten auch Pinto Aleardes befände.«

Mit starren Augen hatte sich der Präsident halb von seinem Stuhle erhoben, er machte eine Bewegung, als wolle er die Hände über dem Kopfe zusammenschlagen, aber die Arme hatten keine Kraft dazu.

»Mensch! Mensch!! Wissen Sie denn, was Sie da sprechen?!«

Ja, gerade diese ruhige Vortragsweise Nobodys war es, die so furchtbar wirkte!

»Ich weiß es. Und warum soll ich mich denn überstürzen? Der unglückliche Santa Fernan kann doch nicht vor morgen früh vor den Richter geführt werden, der ihn in der Wiederaufnahme des Verfahrens freispricht, und der andere ist nicht mehr zu bestrafen, den hat bald danach Travalkos Dolch getroffen. Doch nun wieder zurück zu dem chilenischen Golde. Dieser Auftrag, das war so etwas für meinen Travalko! Seine Kumpane brauchten ihn doch gar nicht erst darauf aufmerksam zu machen! Sie vereinbarten, daß Travalko das Goldschiff an einem bestimmten Punkte in der Nähe der Argonauteninseln versenkte, wo sie den Goldschatz dann in aller Bequemlichkeit wieder ans Tageslicht befördern konnten. Dadurch verlor man zwar die Erbschaft von vier Millionen, gewann aber gleich bar fünf Millionen Pesos, und das ist doch ein ganz bedeutend besseres Geschäft. Wenn mich nur eines wundert, so ist es das, daß Travalko gar nicht daran gedacht hat, den Schatz für sich allein zu gewinnen, seine Kumpane darum zu prellen. Denn er steuerte wirklich nach den Argonauteninseln, überzeugen Sie sich davon nur im Logbuch, Sie können ja auch die Mannschaft der Jacht fragen. Entweder muß Travalko als Räuberhauptmann und Piratenkapitän ein Mann von musterhafter Treue sein, oder hier liegt irgendein furchtbarer Zwang vor, der von seinen Gefährten auf ihn ausgeübt wird, und daß dem so, ist, das beweist ja auch das, daß sich keiner seiner Leute als Kontrolleur an Bord seiner Jacht befunden hat. Natürlich, mit zweihundert Zentnern Gold kann man auch nicht so spurlos verduften, und einen Mörder liefert jede Regierung aus; in Ruhe hätte Travalko allein sich doch nicht des Goldes erfreuen können, seine Spießgesellen hätten bald seine Spur gefunden und ihm seine behagliche Ruhe vergällt.«

Wieder hatte der Präsident als Advokat, der nur Beweise haben will, nichts weiter, seine eiserne Ruhe zurückgewonnen.

»Noch will ich nicht wissen, woher Sie dies alles erfahren haben. Noch möchte ich für Travalkos Unschuld kämpfen. Ist Ihnen zum Beispiel ein Einbruch bekannt, an dem Travalko teilgenommen hat?«

»Jawohl. Also nur einen Fall wollen Sie haben? Gut. Wissen Sie, wie vor einem Vierteljahre die Plantage des Señor Palado von Räubern heimgesucht wurde, welche alles ausplünderten und auch die ganze Summe mitnahmen, welche der Plantagenbesitzer soeben erst für einen großen Viehverkauf erhalten hatte?«

Der Advokat hatte eine hastige, wie freudige Bewegung gemacht.

»Und bei diesem Ueberfalle, wobei gar viele, brave Menschen ermordet wurden, ohne daß bisher die Einbrecher und Mörder zur Verantwortung gezogen werden konnten, soll auch Juarez Travalko beteiligt gewesen sein?«

»Als Anführer.«

»Sie irren.«

»Ich weiß es ganz bestimmt.«

»Sie irren!« rief der Präsident nochmals, jetzt aber mit aus brechendem Triumphe. »Gerade an diesem Tage hatte ich in meinem Hause eine Gesellschaft, und Palados Hazienda ist von hier aus gute drei Tagesritte entfernt, und Juarez Travalko war bei meinem Feste zugegen!«

»Nein, er war nicht anwesend. Vielmehr sind Sie es, der sich in einein Irrtum befunden hat und noch befindet. Juarez Travalko leitete damals den Ueberfall auf jene Plantage — den Sie bewirtet haben, das war nur ein Doppelgänger von ihm als sein Stellvertreter.«

Die Verständnislosigkeit im Gesicht des alten Herrn war begreiflich.

»Juarez Travalko,« fuhr Nobody fort, »hat einen Doppelgänger, der ihn zeitweilig, manchmal auch für Wochen und Monate, vertritt. Der Name dieses Mannes ist Antonio Miguel. Schon sein Vater war ein Flußpirat, er ist als solcher erzogen worden. Er gleicht unserem Travalko wie ein Ei dem anderen, und gerade wegen dieser Aehnlichkeit war es bei den Piraten eine ausgemachte Sache, den Sohn des ehrbaren Kapitäns auf ihre Seite zu ziehen, was bei dem jungen, leichtsinnigen Menschen auch ohne Schwierigkeit, gelang. Es wurde noch etwas geübt, gleiche Bewegungen, gleiche Manieren, gleiche Sprache und Ausdrücke, und die Aehnlichkeit war eine vollkommene. Daß solch ein Doppelgängerpaar einer Räuberbande nützlich werden kann, liegt doch klar auf der Hand. Das Beibringen eines Alibis ist schon wichtig genug und doch noch das Allergeringste. Travalko schwang sich zum Anführer empor, Travalko ward Aleardes' Schwiegersohn — aber sein Doppelgänger blieb, die beiden teilten sich in das Leben. Soll ich es noch ausführlicher beschreiben?«

Nein, das hatte Nobody bei diesem Advokaten nicht nötig. Und doch war es etwas Furchtbares, was er da zu hören bekam, eben weil er sofort die ganze Situation begriff. Weit vorgebeugt und mit geöffnetem Mund saß er da.

»So war es — also — der andere — der Antonio Miguel — den ich — bewirtete — der — mit Travalkos Frau — tanzte — und — sie — auch nach Hause — begleitete?!«

»Natürlich, die Teilung war und ist noch jetzt eine perfekte. Und die beiden wissen wohl schwerlich, wer von ihnen der Vater des Kindes ist, dem heute Señora Elvira Travalko das Leben geschenkt hat.«

Es war nur eine Andeutung, die Nobody gemacht hatte, aber wohlverständlich für jedermann. Und der Präsident erhob sich, jetzt brachte er die Arme in die Höhe, und so blickte er zur Decke empor.

»Himmel, stürz ein!!« flüsterte er mit verstörten Zügen. »O Gott, kannst du denn nur wirklich solche Menschen auf der Erde dulden?!«

Nein, er hielt es nicht für möglich.

»Aber immer noch schulden Sie mir den Beweis,« fuhr er hastig zu Nobody gewendet fort, »daß Ihre Angaben auf Wahrheit beruhen. Ich — ich kann es nicht glauben!«

»Ich habe dies alles von Antonio Miguel selbst erfahren, der sich als Gefangener in meinen Händen befindet. Wollen Sie mich sofort nach Travalkos Wohnung begleiten? Auch noch andere Ueber-raschungen werden Sie dort erleben.«

»Ich komme sofort mit.«

»Dann nur noch eins: ist das gerettete Gold jetzt auch wirklich in Sicherheit?«

Ein listiges Lächeln huschte über das kluge, energische Gesicht des Präsidenten.

»Ich selbst habe dafür Sorge getragen. Nach menschlichem Ermessen kann das Gold nicht eher gestohlen werden, als bis es geprägt die Münzkammer verläßt.«

»Dann ist es gut, dann habe ich nichts mehr damit zu tun.«

— — — — —

Das Nachtleben war in den Straßen erstorben.

Mit leiser Stimme erzählte Nobody seinem Begleiter von dem Schiffbruch der Feluke, wie er dann die Rolle des Jachtbesitzers übernommen hatte, nachdem ihm schon das erste Mißtrauen erwacht war.

»Und niemand schöpfte Argwohn?« staunte la Rosa. »Sie haben aber doch mit Juarez Travalko nicht die gerinste Aehnlichkeit.«

»Blicken Sie mich an.«

Unter einer brennenden Gaslaterne tat es der Präsident, und im ersten Augenblicke prallte er erschrocken zurück, doch ohne dabei eine Unvorsichtigkeit zu begehen.

»Juarez Travalko, wie er leibt und lebt!« flüsterte er. »Ja, ich habe schon genug von Ihren Verwandlungskünsten gehört — aber offen gestanden, ich habe den größten Teil davon für Uebertreibung gehalten. Jetzt muß ich mich mit meinen eigenen Augen überzeugen, was Sie alles fertigbringen. Sie sind ein wunderbarer Mann!«

»Jetzt muß ich auch Juarez Travalko bleiben, denn als solcher habe ich dessen Haus verlassen.«

Eine kleine Pause entstand.

»Weshalb haben Sie gerade mich aufgesucht,« fragte dann der Präsident, »um mir die erste Mitteilung zu machen? Der Justizminister wäre zum Beispiel doch eine geeignetere Prrson gewesen als der Präsident.«

»Weil auch ich schon viel vom Präsidenten José la Rosa gehört habe,« lautete die Antwort, »und ich bin Menschenkenner genug, um auf den ersten Blick erkannt zu haben, daß man sich von Ihnen die Wahrheit erzählt.«

Jener verstand das Kompliment, schweigend wurde die letzte Strecke des Weges zurückgelegt.

Das Tor des Palastes war offen, der Portier wachte. Der Präsident schlug beim Passieren den Rockkragen hoch und zog den Schlapphut tief in die Augen. Es hätte auch nichts geschadet, wenn man ihn erkannt hätte.

Sie stiegen hinauf, Nobody schloß die Tür des Arbeitszimmers auf. Es war finster darin.

»Einen Augenblick, ich mache sofort Licht.«

Nobody trat schnell an den Stuhl, auf dem Miguel lag, noch immer hypnotisiert, aber schon an Händen und Füßen gebunden, nur keinen Knebel im Munde.

Es war nicht nötig, daß der Präsident alles erfuhr, Nobody hielt auf Geschäftsgeheimnisse.

»Mund auf!« raunte er dem im hypnotischen Schlafe Liegenden ins Ohr, auch für einen Näherstehenden unhörbar.

Der Hypnotisierte gehorchte, Nobody propfte ihm ein Taschentuch zwischen die Zähne.

»Alligator!« flüsterte Nobody weiter.

Es war das Stichwort gewesen, schon vorher suggeriert, wonach der Hypnotisierte erinnerungslos erwachen mußte, und Nobody war sich seiner Sache auch im Finstern sicher, jetzt brannte er das Gas an.

Der Präsident sah in dem Lehnstuhl einen gebundenen und geknebelten Mann liegen, und da dies nicht Juarez Travalko selbst sein sollte, so war es eben sein Ebenbild.

Nobody nahm ihm den Knebel aus dem Munde.

»Das ist mein Stellvertreter, der immer meine Rolle spielte, wenn ich von hier abwesend sein mußte. Jetzt darf ich es sagen, denn, Herr Präsident, Sie haben mir vollkommene Straflosigkeit zugesichert.«

Die beiden hatten auf dem Wege hierher durchaus nichts ausgemacht, aber der ehemalige Advokat, der sich so oft durch Scharfsinn ausgezeichnet, wußte natürlich sofort, was Nobody beabsichtigte, und dieser hatte sich denn auch nicht geirrt.

Ein entsetzter Blick auf den Präsidenten, ein furchtbar haßerfüllter auf den vermeintlichen echten Juarez Travalko, dessen Maske Nobody also wieder angenommen hatte, und Miguel brach in ein gellendes Hohngelächter aus.

»Straflosigkeit, hahahaha!!! Hast du denn auch schon alles gebeichtet, was du auf dem Gewissen hast, wie du den.....«

In aller Gemütsruhe konnten die beiden zuhören, wie der Doppelgänger sämtliche Schandtaten herbetete, die Juarez Travalko während seiner langen, langen Verbrecherlaufbahn begangen, und das hier war ein Belastungszeuge, dessen Glaubwürdigkeit nicht anzufechten war.

Wir wollen uns nicht bei diesem Sündenregister aufhalten. Jedenfalls war es ein äußerst geschicktes Kunststückchen gewesen, wie Nobody wieder als echter Travalko aufgetreten war, von seiner Straflosigkeit als Ankläger und Verräter sprechend, wodurch er nun ohne jede Mühe diesem Zeugen ein Geständnis nach dem anderen herauslockte, er brauchte ihn gar nicht mehr erst zu reizen. Der ehemalige Advokat sprach dann später dem Kollegen von der Kriminal seine Bewunderung hierüber aus.

Ganz kam das Sündenregister doch nicht zu Ende, ein Klopfen an der Tür unterbrach es.

»Wer ist da?«

»Hier ist ein Herr, welcher....«

Der sprechende Diener wurde unterbrochen, nicht durch ein abermaliges Klopfen, sondern durch ein Donnern gegen die Tür.

»Ich bin's, Novellist und Käsefabrikant!« rief eine dröhnende Stimme.

Mojan! Aber ein besonnener Kopf war er doch, seinen Namen nannte er nicht und gab sich dennoch deutlich zu erkennen, obgleich er sicherlich in höchster Aufregung war, und auch Nobody ahnte Böses, denn umsonst hatte der doch seinen Gefangenen nicht im Stiche gelassen.

Cerberus Mojan kam herein und... sperrte beim Anblick des Gebundenen seinen Rachen so weit wie möglich auf.

»Machen Sie's Maul zu und sprechen Sie!« kommandierte Nobody.

Der Befehl wurde mit einem hörbaren Krachen befolgt.

»Nun schlägt's aber dreizehn! An Bord der Jacht liegt er tot da, und hier liegt er lebendig im Lehnstuhle! Ei, da kann man ja gleich einen zwölfbändigen Roman darüber schreiben, jeder Band zu tausendachthundert Seiten, die Seite mit einhundertund.....«

»Tot?!« unterbrach Nobody das Exposé des zukünftigen Romans.

»Mausetot. Sie glauben's wohl nicht? Weiß Gott. Aber machen Sie mir keine Vorwürfe, ich kann nischt dafür.«

»Er hat sich selbst getötet?«

»Nee nee, so schnell ging das nicht mit dem Selbsttöten, er ist an Blutarmut gestorben.«

»Mensch, machen Sie jetzt keine faulen Witze, sprechen Sie deutlich!«

»Nee nee, 's ist so! Er hat sich doch noch die Pulsader geöffnet, und da ist er langsam an Blutarmut gestorben. Ich konnte nicht helfen. Ich briet mir gerade in der Kammer über Spiritus Bratkartoffeln, mit einem Male spritzte ein dicker Strahl Blut hinein, und wie ich hinsehe, hat sich der Kerl mit der scharfen Kante von der rechten Fessel die linke Pulsader ausgeschnitten, gleich durch und durch. Ach, was habe ich nicht alles versucht, um den Fritzen zu retten. Verbunden habe ich ihn, den Oberarm abgeschnürt, Leim habe ich auf die Wunde geschmiert, Gips, Syrup — alles was mir unter die Hände kam. Ja, du lieber Gott, ich konnte das Blut nicht stillen. Dann piepste er noch einmal und war tot. Und mir waren einstweilen meine ganzen Bratkartoffeln verbrannt. Da bin ich an Land gerannt, habe nach der Wohnung von Señor Travalko gefragt — da bin ich. Und Hunger habe ich wie ein Wolf.«

»So hat sich der echte Juarez Travalko bereits der irdischen Gerechtigkeit entzogen,« wandte sich Nobody an den Präsidenten.

Ein unartikulierter Schrei erklang. Miguel hatte ihn ausgestoßen.

Den letzten Namen, den er zu hören bekommen — Juarez Travalko als Gefangener an Bord der Jacht — jetzt tot — — und jener, den er bisher für seinen Doppelgänger gehalten, der ihn hier überwältigt, hatte plötzlich ein ganz anderes Gesicht, weil Nobody die fremde Maske als unnötig fallen gelassen — da erkannte der Pirat, daß er in eine ihm gestellte Falle gegangen war! Zu spät die Erkenntnis, jetzt war alles verloren!

»Mojan, Sie bleiben hier, bis ich wiederkomme. Niemand hat hier Zutritt. Daß nicht auch dieser zweite Travalko Selbstmord begehen kann, dafür sorgen die Fesseln. Und Sie, Herr Präsident, haben wohl die Güte, mich noch ein Stückchen weiter zu begleiten.«

»Wohin?«

»Dorthin, wo sich die 28 ehemaligen Piraten und die jetzigen Viehdiebe und Einbrecher versammelt haben, wohin auch Travalko kommen sollte, um über sein absonderliches Verhalten Rechenschaft abzulegen.«

»Und wo ist dieser Versammlungsort?«

»Kennen Sie die Calle Minor?«

»Gewiß doch, das ist eine der ältesten Gassen von Buenos Aires, gar nicht weit von hier, die sich in diesem vornehmen Viertel noch gehalten hat.«

»Kennen Sie da das kleine Haus eines Mannes namens Chubbin?«

»Genannt der Leichenhändler. Ja. Früher war die Polizei sehr hinter ihm her, weil der ohne Arbeit lebende Mann im Verdachte stand, ein Diebeshehler zu sein, was sich aber als grundlos erwies.«

»Der Verdacht war nicht so grundlos, er bestätigt sich jetzt, und den Spitznamen wird er wohl auch nicht ohne Grund bekommen haben. Er steckt mit der Diebesbande unter einer Decke; alle 28 Mitglieder sind gegenwärtig bei ihm versammelt.«

Während dieses Zwiegesprächs hatte Nobody den Gefangenen noch fester gebunden.

»Früher,« fuhr er fort, als er sich gegen den Kamin wendete, »bedienten sich die beiden Doppelgänger beim Auswechseln ihrer Rolle, wenn sie die Portierloge nicht passieren wollten, einer Strickleiter, mit der sie durchs Fenster ein und aus gingen. Dann wurde ein bequemerer Geheimgang geschaffen. Jetzt geht es durch einen falschen Kamin und durch den Keller.«

Jose la Rosa war sicherlich kein ängstlicher Mann, aber beim Anblick des dunklen Loches zögerte er doch, und er hatte auch ein gerechtes Bedenken.

»Wäre es da nicht gut, wenn wir zuvor die Polizei benachrichtigen und auch Militär requirieren?«

»Wozu?«

»Um jenes Haus umstellen zu lassen. So ohne weiteres werden sich die Verbrecher nicht gefangen geben.«

»Ist nicht mehr nötig, die sind bereits überwältigt und gefesselt.«

»Bereits überwältigt? Von wem?«

»Von mir.«

»Von Ihnen? Doch nicht von Ihnen allein?« staunte der Präsident immer mehr.

»Von mir allein. Sie können mir unbesorgt folgen. Der Weg ist nicht eben bequem, aber gefahrlos.«

Mit einem leisen Kopfschütteln folgte ihm la Rosa in das Loch nach, in das eine eiserne Leiter hinabführte.

»Ja, Sie sollen erst mal wissen, wer wir beide sind,« ließ sich noch einmal Mojans Stimme mit übertriebener Prahlerei vernehmen, und dann umgab die beiden Finsternis, bis unten in Nobodys Hand eine Blendlaterne aufflammte.

Der Kamin des Parterregeschosses, der nicht gebraucht wurde, führte in einen Kellergang, dann war ersichtlich, daß er weitergebrochen war, aber nicht von einem Maurer, nur ganz roh, nach etwa hundert Schritten kam wieder ein regelrecht gemauerter Keller, sie stiegen eine Treppe empor, Nobody stieß eine Tür auf — betroffen stand la Rosa da, kaum seinen Augen trauen mögend.

In der armseligen Kammer lag, zum größten Teil am Boden, dicht gedrängt zusammen eine Menge wilder Männergestalten, neunundzwanzig, wie die Zählung dann ergab, alle schlafend, meist laut schnarchend, alle an Händen und Füßen mit Stricken gebunden.

»Sie haben die sinnlos Betrunkenen...«

Nein, la Rosa selbst verwarf den Gedanken gleich wieder. Wohl standen Gläser und ein noch halb gefüllter Krug Wein auf dem Tische, aber ein Zechgelage hatte hier nicht stattgefunden, so etwas erkennt man doch auf den ersten Blick.

Bald hatte der ehemalige Advokat das Richtige gefunden.

»Sie haben den Männern in dem Wein einen betäubenden Trank beigebracht und sie dann, als das narkotische Mittel gewirkt hatte, gebunden?«

»So ist es.«

»So waren Sie vorher schon einmal hier, ehe Sie zu mir kamen?«

»Selbstverständlich, ich mußte mir auch erst vorher aus einer Apotheke das Opiat besorgen.«

»Ja, wie gelang Ihnen denn, das den Leuten beizubringen? Wie haben Sie sich denn hier hereinschleichen können?«

»Es gelang mir eben, ich mischte es in den Wein, den sie von draußen holten,« erklärte Nobody, nichts weiter, und es entsprach nicht einmal der Wahrheit.

Sollte aber Nobody diesem ihm sonst ganz unbekannten Manne sein Geheimnis mit dem Tarnkleid preisgeben, welches er hier wieder einmal benutzt hatte?

»Jetzt ist es wohl Zeit, die Polizei zu rufen,« sagte Nobody, riegelte die Tür auf, trat hinaus ins Freie, auf den Fingern ein eigentümlich trillernder Pfiff, das Notsignal der Konstabler dieser Stadt, und.....hiermit ist wieder eine Episode aus Nobodys Leben beendet!

Schutzleute stürmten herein — aber Nobody war nicht unter ihnen. Der Präsident sah ihn auch niemals wieder, niemand in Buenos Aires, in Argentinien. Nobody hatte sich unsichtbar zu machen gewußt — ohne Anwendung der Tarnkappe.

Was sollte er auch hier noch? Er hatte das für die argentinische Münze bestimmte Gold gerettet, hatte schuldbeladene Verbrecher der irdischen Gerechtigkeit ausgeliefert, und er hatte — für ihn das Wertvollste — einem unschuldig Verurteilten die Freiheit wiedergegeben und viele brave Männer, eine ganze Schiffsbesatzung, vor dem sicheren Tode durch Verbrecherhand bewahrt!

Sollte er jetzt etwa noch langen Gerichtssitzungen beiwohnen, als Zeuge vernommen werden? Dazu hatte ein Nobody keine Zeit! So etwas hatte er wohl früher einmal getan, um seinen Namen populär zu machen, aber der Championdetektiv der Königin hatte das nicht mehr nötig! Und die Hauptsache war doch immer die: er war und blieb der ruhelose Niemand aus Nirgendswo, dort erscheinend, wo man ihn brauchte und doch am wenigsten vermutete, und ebenso schnell wieder verschwindend, und eben dieser schattenlosen Plötzlichkeit verdankte er ja seine beispiellosen Erfolge.

Erst auf der anderen Seite des amerikanischen Kontinents bekam Nobody eine Zeitung in die Hände, welche den ganzen Vorfall ausführlich schilderte, auch schon den Ausgang der Gerichtsverhandlungen erzählen konnte.

Nobody, Nobody, Nobody, alles wimmelte von dem Namen Nobody.... und Nobody selbst hätte den Artikel am liebsten gar nicht lesen mögen. Nur eins trieb ihn dazu.

Die Schuldigen waren gehenkt worden. Die frühere Besatzung des ›Oliphant‹, dann auf der ›Hortensia‹, hatten einen Dankgottesdienst abgehalten. Warum hatte Juarez Travalko nicht noch etwas gewartet? Eine Woche darauf war sein Schwiegervater ins Grab gefahren. Und Señora Elvira Travalko war.....

Hier stockte Nobodys Herzschlag. Durfte er wagen, es zu lesen? Das war es, was er gefürchtet hatte!

Er wagte es!

.... und Elvira hatte ihren schuldbeladenen Gatten nur um wenige Stunden überlebt. Noch in derselben Nacht war sie am Kindbettfieber verschieden, ohne noch einmal zur Besinnung gekommen zu sein, nichts von all dem Fürchterlichen erfahren habend, von einem zwar gestrengen, aber sie dennoch liebenden Gatten phantasierend, das schwächliche Kind mit sich in den Tod nehmend.

Nun brauchte Nobody nichts mehr zu lesen, und als er die Zeitung aus der Hand legte, sandte er einen dankerfüllten Blick zum Himmel empor.

Wohl ihnen!


IV. Die Kristallkugel.

Mendazedes heißt das Städtchen, welches in Mexiko nicht weit von der texanischen Grenze entfernt liegt, nämlich auf der Karte durch einen kleinen Ring als Städtchen gekennzeichnet, auf größeren Karten ist auch die Poststraße angegeben, an der es liegen soll — und wenn man hinkommt, so besteht dieses ›Städtchen‹ nur aus einem einzigen Blockhause, und wer an eine chaussierte Straße gedacht hat, der sieht sich ebenfalls schwer getäuscht. Räderspuren bezeichnen hier und da den Weg, den der mit acht Maultieren bespannte und von ebenso vielen Dragonern begleitete Postwagen regelmäßig nimmt, und die einzige Wegebaukunst besteht darin, daß an sumpfigen Stellen Baumknüppel gelegt worden sind — daher der Name Knüppelstraße.

Dennoch ist es als Poststation, wo Maultiere und Pferde gewechselt werden, ein gar wichtiger Punkt, ganz mit Recht auf jeder Karte angegeben. Ist es doch auch eine Garnison! Zehn mexikanische Grenzsoldaten liegen ständig hier, zum Schutze gegen räuberische Apachen, deren Jagdgebiet hier ist, und deren Raublust sich um so mehr auf das einsame Blockhaus erstreckt, weil dieses zugleich ein ›Store‹ ist, d.h. eine Art von Kramladen, aus dem sich Waldläufer und Fallensteller mit allem versehen, was der Mensch braucht, und seien seine Bedürfnisse auch noch so gering, bei diesen Jägern vor allen Dingen Pulver, Blei, Tabak und Salz, und hierher bringen sie auch von Zeit zu Zeit ihre getrockneten Felle, welche ihnen Old Jimmy gleich bar bezahlt — d.h. bar mit Whisky und anderen edlen Getränken.

Schon seit einem Menschenalter steht Jim Paddington, ursprünglich ein Yankee, der sich aber als spanischer Mexikaner trägt, dieser Station als Postmeister vor. Er ist zugleich auch Kommandant der Garnison, bekleidet in der Armee den Rang eines Oberwachtmeisters, er ist Detailist und Großkaufmann, Hotelier und Kneipier, Schuster und Schneider... er ist alles, was einer sein muß, um solch einer weltverlassenen Poststation vorstehen zu können.

Wer an solch einem Augusttag, wie heute, hierherkam, der ahnte freilich nicht, wie lebhaft es hier manchmal im Frühjahr, nach Beendigung der Jagdsaison, zugehen konnte, was für ein Wert in den Pelzen und Fellen steckte, die dann hier aufgestapelt wurden, sonst hätte er schon eher geglaubt, daß dieses dürre, zigeunerhafte, zerlumpte Männchen bei einem Bankhause in New-Orleans einen Kredit bis zu fünfzigtausend Dollar hatte.

Schlafend lag das Blockhaus am Rande des Waldes, dem man getrost noch ein ›Ur‹ vorsetzen konnte, im Sonnenbrande da.

Ein Dutzend zusammengekoppelter Pferde schlief auf der Weide im Stehen, in einem Schuppen die Maultiere, in Hängematten schliefen die Soldaten, und in einem selbstgezimmerten Schaukelstuhle schnarchte der Postmeister.

Kein Hund war vorhanden, der gewacht hätte. Ein solcher war hier auch gar nicht nötig. Old Jmmy war selbst Wächter genug.

Ein scharfer Beobachter hätte gemerkt, wie sich plötzlich seine Ohren bewegten; noch im Schlafe spitzte er die Lippen, ein gellender Pfiff, und dann sprang er an eins der Fenster, die mit festen Läden, in denen sich Schießscharten befanden, verschlossen werden konnten, und im Nu füllte sich das Zimmer mit den zehn Grenzsoldaten, deren Gewehre, sauberer gehalten als ihre Besitzer, dort an der Wand standen.

»Nur ein Reiter.«

»Er hat einen Hund bei sich.«

»Solch ein Vieh habe ich noch nie gesehen.«

»Er kann doch nicht allein kommen.«

Schon bei dem ersten Ausruf hatte die Betonung auf dem ›ein‹ gelegen — nur ein einzelner Reiter!

Wer wagte es denn, allein durch das Gebiet der Komanchen und Apachen zu reisen? Wagen kann man es wohl, Wagehäse gibt es überall — aber lebendig kommt man nicht durch! Umsonst wird die Post doch nicht immer von acht bis an die Zähne bewaffneten Dragonern begleitet, im Schleichkampfe mit Indianern ausgebildet und schon bewandert, und wer von Norden nach Mexiko auf dem Landwege reisen will, wobei als Beförderungsmittel nur das Pferd in Betracht kommt, der wartet, bis die Post abgeht, dann schließt er sich an, und so ist solch ein Postwagen immer von einer großen Kavalkade von Reitern begleitet. Je mehr sich zusammengefunden haben, desto besser, denn desto größer ist natürlich die persönliche Sicherheit.

Und dieser Reiter kam von Norden her, und keine weiteren Gestalten wollten hinter ihm auftauchen, denen er vielleicht nur vorausgeritten war.

Old Jimmys feines Ohr hatte die Hufschläge schon von gar weither vernommen. Doch schnell kam er näher. Neben dem Pferde, einem mexikanischen Klepper, trabte ein gesteckter Jagdhund, wie man einen solchen überhaupt in Amerika viel, viel seltener zu sehen bekommt als etwa in Deutschland. In Amerika werden ja höchstens Bluthunde zur Hatz verwendet, die vom edleren Waidwerk gar keine Ahnung haben, so wenig wie ihre Herren.

Der Reiter stieg vor dem Blockhaus ab. Es war ein noch junger Mann, solch einem Ritte entsprechend gekleidet, den Gentleman verratend. Weiter sei er nicht beschrieben, der Leser würde ihn sonst sofort erkennen, und der Leser soll das erst im Laufe der Erzählung erraten.

Old Jimmy war zur Stelle, jetzt nicht als Postmeister oder sonstiger Beamter, sondern als Hotelier, als Herbergsvater und Kneipier. Denn an so einer Station im Urwalde reitet doch niemand vorüber.

»Wieviele kommen noch?«

»Ich komme allein.«

»Allein?« erklang es mißtrauisch zurück. »Woher da?«

»Von Austin.«

»Von Austin? Und Ihr seid immer allein gereist?«

»Immer allein, nur begleitet von diesem meinem Hund.«

Der alte Postmeister kannte seine Leute, und er war ein offener Charakter.

»Fremder, Ihr seht nicht aus wie ein Wegelagerer, Ihr seht auch nicht aus, als ob Ihr ein Prahlhans oder ein Flunkerer wärt, es ist etwas an Euch, was mir gefällt — aber, Fremder......«

»Worüber wundert Ihr Euch so?« fragte der Fremde, als jener abbrach.

»Weil Ihr sogar noch Euren Skalp habt.«

»Bestimmung!«

Der Postmeister konnte sich dieses Wort auslegen, wie er wollte. Zunächst wunderte er sich darüber, wie aufmerksam sich der Fremde nach allen Seiten umsah, wie er das Blockhaus musterte.

»Was für eine Station ist das?«

»Mendazedes.«

»Ich vermisse eine mächtige Sykomore, die neben dem Stationsgebäude steht.«

»Die habe ich vorige Woche abgehauen, auch die Wurzeln herausgeholt, sie war faul geworden. Hier gewesen seid Ihr noch nicht. Woher kennt Ihr die Station so genau?«

»Sie ist mir beschrieben worden.«

Hieran hatte der Postmeister nichts mehr auszusetzen. Er führte das Pferd in den Stall, der Fremde betrat das Gastzimmer, bedachte die Soldaten mit dem üblichen Gruß, ohne ihnen sonst weiter einen Blick zu schenken.

Der Wirt kam wieder, der Fremde bestellte Essen, was zu haben war, als Getränk Wasser.

Ein merkwürdiger Mensch! Wie er so teilnahmlos dasaß. So abgeschlossen, so wortkarg, und dennoch klang alles so höflich von ihm!

Wir befinden uns im freien Amerika. Fragen darf man wohl, aber man muß sich auch mit den einmal gegebenen Antworten begnügen. Nach dem Namen wird überhaupt nicht gefragt.

»Habt Ihr auf der Station Santano übernachtet?«

»Ja.«

»Wie lange habt Ihr von Austin gebraucht?«

»Elf Tage.«

»Da seid Ihr gut geritten. Wie oft habt Ihr das Pferd gewechselt?«

»Jeden Tag.«

»Und immer allein?«

»Immer.«

»Ist Euch denn unterwegs gar nichts zugestoßen?«

»Gar nichts.«

»Da habt Ihr Glück gehabt, Fremder. Seid Ihr keinen Indianern begegnet?«

»Keinem einzigen.«

»Na ja, es kommen solche Fälle vor. Die vorige Post hat auch keine einzige Rothaut erblickt. Wollt Ihr noch weiter?«

»Nein.«

Diese Antwort hatte natürlich niemand erwartet. Die Frage hätte eigentlich auch lauten sollen: wohin wollt Ihr?

Zum ersten Male ergriff der Fremde von selbst das Wort.

»Ich erwarte hier jemanden.«

»Wen denn?«

»Einen Mann.«

»Hm. Die Weiber sind hier auch verdammt dünn gesät. Wie heißt er denn?«

»Das weiß ich nicht.«

Das wurde ja immer merwürdiger!

»Ihr wißt gar nicht, wie er heißt?«

»Nein. Es ist ein Mann mit schwarzem Vollbart, trägt einen hellgelben Lederanzug. Verkehrt ein solcher Mann bei Euch? Oder kennt Ihr ihn sonst?«

Hallo, jetzt ging dem Wirt und sämtlichen zuhörenden Soldaten eine Ahnung auf! Ein Geheimer! Ein Detektiv!

Und solch einen Mann kannten sie alle.

»Das ist kein anderer als Bob!« rief ein Soldat und bekam dafür gleich von verschiedenen Seiten vorwurfsvolle Rippenstöße, der Verräter.

Der Postmeister aber war ein Beamter, das war ein Kollege von ihm, und da mußte jede Rücksicht aufhören.

»Ja, das wird Bob sein, mein Stationsdiener. Aber das ist ein ganz braver Kerl.«

»Warum soll er nicht brav sein?«

Der Postmeister beugte sich zu dem Ohr des Fremden herab.

»Na, Ihr seid doch ein Detektiv!« flüsterte er ihm ins Ohr.

»Nein.«

Natürlich, ein geheimer Kriminalbeamter muß eben geheim bleiben, auch einem Kollegen vom Staatsdienst gibt er sich nicht ohne weiteres zu erkennen. Sehr geschickt benahm sich dieser Detektiv übrigens nicht, der fiel ja gleich mit der Türe ins Haus.

»Da kommt er!«

Ein baumlanger Mensch ging an dem offenen Fenster vorüber, die Soldaten flüsterten ihm etwas zu, und nun wußte der Gesuchte gleich, woran er war, noch immer hätte er seine unendlich langen Spazierhölzer dem Walde zuwenden oder über ein schnelles Pferd werfen können.

Aber der Gesuchte dachte an keine Flucht, er kam herein.

»Da bin ich. Na, was denn? Ich habe nischt gemaust.«

Der vermeintliche Detektiv warf kaum einen Blick auf die lange, schwarzbärtige Gestalt, bekleidet mit einem schmutzigen, hellgelben Lederanzug.

»Das ist er nicht. Der, den ich suche, ist viel kleiner, hat ein ganz anderes Gesicht.«

»Was soll er denn sein?«

»Ich halte ihn für — für — für einen von der Jagd lebenden Mann.«

»Waldläufer oder Trapper.«

»Was für einen Unterschied macht Ihr da?«

»Na, der Waldläufer hat vor allen Dingen keinen festen Sitz, keine Hütte und nichts. Wo der sich hinlegt, da ist er zu Hause.«

»Dann kann ich das nicht angeben.«

»Er kommt hierher nach Mendazedes?«

»Jawohl, vor drei Monaten ist er hier gewesen.«

»Hm, das war im April, da ist hier alles voll von Läufern und Fallenstellern. Was soll er denn gemacht haben? Weswegen wird er gesucht?«

»Ich muß den Mann nur sprechen.«

»Wohl als Zeuge? Hm. Könnt Ihr ihn sonst nicht ein bißchen beschreiben? Nicht so sehr groß und einen schwarzen Bart — das ist verdammt wenig.«

»Ein sehr deutliches Erkennungszeichen kann ich vielleicht angeben. Ich habe bei dem Manne eine merkwürdige Tabakspfeife gesehen, aus der er beständig rauchte, ein kurzes Rohr, daran ein Kopf, der fast wie der Kopf eines kleinen Raubtieres aussah, mit langgestreckter Schnauze.......«

»Weaselbill!!« erklang es sofort im Chor.

»Ja, dann ist's Weaselbill,« bestätigte der Postmeister. »Aber um den zu finden, seid Ihr umsonst hierhergekommen, da hättet Ihr erst einmal schriftlich anfragen sollen.«

»Warum?«

»Das ist ein gar seltener Gast, der kommt im April mit seinen Fellen hierher, hält sich gar nicht auf, und dann bekommt man ihn bis zum nächsten April nicht wieder zu sehen.«

»Wo wohnt er?«

»Wohnen?« wiederholte Old Jimmy lächelnd. Dieses Wort wirkte komisch auf ihn in bezug auf solch einen freien Jäger. »Der wohnt gar nicht. Seine Wohnung ist der unendliche Wald und die Prärie.«

»Ich meine: wo hat er sein Jagdgebiet?«

»Ja, wenn ich und noch manch anderer das wüßte! Keiner bringt so viele und schöne Felle mit, wie Weaselbill — aber wo er die jagt, das ist sein Geheimnis, und das wird wohl niemand herausbringen. Kommen tut er jedesmal von Westen her und geht auch in dieser Richtung wieder davon, aber Weaselbill ist ein Fuchs, der verrät seinen Bau nicht.«

»Er gebraucht Witterung,« meinte ein Soldat.

»Was gebraucht er?«

»Witterung, um das Wild anzulocken,« erklärte der Wirt. »Aber ich glaub's nicht. Und doch ist was Merkwürdiges dabei.«

»Was?«

»Im Januar oder Februar bringt die Post von New-Orleans jedesmal ein großes, schweres Paket, addressiert an Mister Wilhelm Wiesel...,« so einfach sprach der Yankee diesen deutschen Namen nicht aus, er hätte sich dabei bald die Zunge abgebrochen, ».... und das nimmt er dann mit, wenn

er im April herkommt. Ja, was in dem Paket wohl immer sein mag! Witterung? In dem großen, schweren Paket? Gott weiß es.«

Den die Köpfe zusammensteckenden Soldaten war anzusehen, daß sie die vermeintliche Verhaftung Weaselbills mit diesem geheimnisvollen Pakete zusammenbrachten. Und war der Fremde wirklich kein Detektiv, so kam er doch immer noch wegen dieses Paketes.

»Also, der Mann ist mittelgroß und hat einen schwarzen Vollbart?«

»Jawohl, das stimmt.«

»Und raucht aus einer Pfeife, deren Kopf...«

»... der Kopf eines Wiesels ist. Bill hat einmal ein Wiesel geschossen, als Wiesel ein kolossal großes Tier, und weil er doch nun auch so heißt, hat er sich aus dem Kopfe eine Pfeife gemacht. Als im April einmal ein Fremder hier war, hat er bis zu tausend Dollar für das Ding geboten, so etwas gibt's aber bei Weaselbill nicht.«

»Und er kommt nur im April hierher?«

»Nur im April.«

»Ich vermute, er wird sehr bald kommen,« meinte der Fremde sinnend, wohl mehr zu sich selber sprechend.

Da legte ihm der Wirt die Hand auf die Schulter.

»Hört, Fremder, wenn Weaselbill einmal außerhalb seiner Zeit hierherkommt, dann will ich ein halbes Dutzend Flaschen meines ältesten Rotweins zum besten geben.«

Der Angeredete erwachte aus seinem Träumen, in das er versunken gewesen, in das er überhaupt sehr häufig fiel.

»Warum? Ist es denn so ganz ausgeschlossen, daß er zweimal im Jahre Eure Station aufsucht?«

»Ganz ausgeschlossen! Seit fünfzehn Jahren kommt er nun schon hierher, nur im April, nur für einen Tag — 's ist überhaupt ein ganz kurioser Kauz.«

»Wieso?«

»Na, er — er — er versäuft seine Felle nicht, nimmt bares Geld dafür — was will denn so ein Waldläufer damit machen — und dann immer das Paket — 's ist eben überhaupt ein rätselhafter Mensch. Wie gesagt, ein halbes Dutzend von meinem ältesten Rotwein, den ich schon seit zehn Jahren vergraben habe, wenn Weaselbill ein andermal hierherkommt als im April, und wenn Ihr sein Jagdgebiet findet, sollt ihr noch extra ein halbes Dutzend haben.«

»Dann müßte ich also acht Monate lang hier auf ihn warten,« murmelte der Fremde, wieder in Träumen versunken.

Es war gehört worden. Verwundert sah man sich an. Acht Monate hier warten? Auf den Waldläufer?

Hätte jener gesagt: dann muß ich in acht Monaten wieder hierherkommen — das wäre nicht aufgefallen. Aber gleich hier warten — acht Monate lang — — der Fremde wurde immer unverständlicher.

»Sagtet Ihr nicht vorhin, er hätte einen hellgelben Lederanzug an?« fragte da ein Soldat.

»Jawohl.«

»Was, das habt Ihr gesagt?!« rief sofort der Wirt. »Einen hellgelben Lederanzug soll Weaselbill anhaben?! Nee, nee, so was gibt's nicht, am wenigsten bei Weaselbill! Sein Jagdhemd und seine Leggins aus Hirschleder sind ganz schwarzgeräuchert!«

»Er kann sich doch ein neues Kostüm zugelegt haben.«

»I wo! Der zieht sein Hirschleder nicht eher aus, als bis es ihm vom Leibe fällt, und er trägt seins ja erst fünfzehn Jahre, das ist noch so gut wie neu. Und überhaupt, Fremder — jetzt merke ich erst, was Ihr da für ungereimtes Zeug sprecht — ein Waldläufer soll es sein? Einer mit einem hellgelben Anzuge? Das ist ja ganz und gar unmöglich!«

»Warum denn?«

»Ihr seid wohl kein Waldmann?«

»Nein.«

»Na, mit einem hellen Jagdanzug kann man doch keinen Tag im Walde herumlaufen, dann hätte man keinen Skalp mehr. Da wird man doch meilenweit gesehen, und nun gar von Indianeraugen. Nee — der Stationsdiener kann sich wohl so ein helles Ding leisten — aber ein Waldläufer oder Trapper — so was gibt's ja gar nicht!«

»Und ich sage Euch: der Mann, der aus solch einem Raubtierkopf rauchte, trug einen hellgelben Lederanzug!«

»Wo habt Ihr ihn denn gesehen?«

»Ich habe ihn......gar nicht gesehen,« murmelte der Fremde, abermals plötzlich in sein eigentümliches Träumen versinkend.

Dann stand er schnell auf und verließ die Gaststube.

Die Zurückbleibenden blickten sich an, gleich mehrere klopften mit dem Finger gegen ihre Stirn.

»Verrückt, total verrückt! Der arme Kerl!«

»Einen tüchtigen Knacks wenigstens hat er weg,« mäßigten andere das Urteil. »Schade um den strammen, netten Menschen.«

Hiermit ist wohl zur Genüge angedeutet, welche Sympathie der Fremde gleich überall erworben hatte, was man aus seiner Fragerei und aus seinen kurzen Antworten doch nicht so ohne weiteres vermuten kann. Es war eben sein Wesen, sein ganzes Aeußere, was allen diesen rauhen und rohen Männern gleich so zusagte.

Und da fiel auch schon ein großes Wort, was man hier kaum vermutet hätte.

»Der hat eine unglückliche Liebe.«

Etwas anderes lenkte sofort die Aufmerksamkeit von diesem neuen Thema ab, das hier im mexikanischen Hinterwalde zwischen den Grenzsoldaten freilich auch gepaßt hätte wie die Faust aufs Auge.

»Was liegt denn da?«

Dort, wo der Fremde gesessen, auf dem Bärenfell, auf dem seine Füße geruht, lag etwas Glänzendes, Lichtstrahlen gingen davon aus. Einer hob es auf und faßte es an, als ob es glühendes Eisen gewesen wäre.

»Was ist denn das für ein kurioses Ding?!«

Es war eine Glaskugel, noch etwas größer als eine welsche Nuß, äußerst sauber geschliffen oder poliert, befestigt auf einem runden Stück schwarzpoliertem Ebenholz. Auf den Tisch gestellt, glich das Ganze einem kleinen Ornament — ein Briefbeschwerer — für diese Hinterwäldler ein rätselhafter Gegenstand, den sie mit höchstem Mißtrauen betrachteten — aber auch ein moderner Stadtmensch hätte nicht gewußt, was er aus dem Dinge machen sollte — als Briefbeschwerer war es viel zu leicht, viel zu unpraktisch — eine Spielerei, deren Zweck man nicht kannte.

Die Sonnenstrahlen brachen sich in der wasserhellen Glaskugel, der dahintergehaltene Finger nahm eine unförmliche Gestalt an.

Da wußten diese Leute sofort, was das war.

»Hört, Jungens, das ist ein Zauber,« wurde geflüstert.

An Gespenster glaubten sie nicht, aber.... da war eben irgendwie ein Zauber dabei, und auch Old Jimmy, der sonst weder an Gott noch an Teufel glaubte, faßte das Ding mit ganz vorsichtigen Fingern an.

»Das hat der Fremde verloren.«

»Wozu er das wohl braucht?«

»Da macht er Zauberei damit.«

»So sieht er auch gerade aus.«

»Hört, Jungens, faßt das Ding lieber nicht an, wer weiß, wer weiß!«

Das kleine Ornament wurde auf den Tisch gestellt. Der Fremde kam wieder herein. Als er die Kugel auf seinem Platze erblickte, schrak er sichtlich zusammen.

»Wie kommt denn der Kristall.... ach so, ich habe ihn wohl vorhin, als ich das Taschentuch zog, mit herausgerissen.«

Er steckte den Gegenstand in die Hosentasche, damit schien die Sache für ihn erledigt zu sein.

»Ich möchte mich noch nach einem anderen Manne erkundigen,« begann er von neuem.

»Ist es auch ein Waldläufer?« kam ihm der Wirt entgegen.

»Jedenfalls. Auch er war in ein Jagdkostüm gekleidet, hatte eine Pelzjacke an, die Haare nach außen, streifte gerade einen Hirsch ab. Auffallend war auch die hohe, spitze Pelzmütze.«

Wie merkwürdig das alles klang. Es konnte ja sein, daß er diesen Mann gesehen hatte, das mußte doch auch eigentlich der Fall sein, aber.... dem schien doch wiederum nicht so zu sein. Es klang eben ganz merkwürdig.

»Habt Ihr den Mann mit Euren eigenen Augen gesehen?« fragte der Wirt denn auch direkt.

»Ja — nein — ja — oder doch nicht... ich — ich — ich habe ihn beschreiben hören.«

Nun werde einer klug daraus!

»Kennt Ihr solch einen Waldläufer mit Pelzjacke und hoher, spitzer Pelzmütze? Ich nehme an, daß derartige Jäger nicht so oft ihre Kleidung wechseln.«

»Da habt Ihr ganz recht, und eben deshalb kann ich Euch versichern, daß es hier in der ganzen Umgegend, in ganz Cohahulla keinen Menschen gibt, der eine Pelzjacke und solch eine Pelzmütze trägt.«

»Doch!«

»Señor, ich bin schon 32 Jahre hier Postmeister und 45 Jahre überhaupt hier schon ansässig. Ich will nicht sagen, daß ich ganz Mexiko kenne, obschon ich überall herumgekommen bin, aber Cohahulla, wie dieses Gouvernement hier heißt, kenne ich wie meine Hosentasche. Und ich sage Euch: so wenig es möglich ist, daß Weaselbill jemals in einem gelben Jagdanzuge hierher.....«


Illustration

»Weaselbill!!« riefen die Soldaten. »Wahrhaftig, er ist es, und geradeso, wie ihn der Fremde beschrieben hat!«

Ein schwarzbärtiger Mann trat schnell herein, in einen gelben Lederanzug gekleidet, der den Eindruck der Neuheit machte, wenn er auch schon schmierig genug war.

»Old Jimmy, schnell eine Postkarte!«

Es sieht in der Wirklichkeit doch etwas anders aus, als es in Jugendschriften zu lesen ist. Besonders bei den Illustrationen wird immer viel gesündigt. Da sieht man selten einmal einen Waldläufer oder einen Trapper, dem der Zeichner nicht einen Kragen mit Schlips gegeben hat. So etwas gibt's nun freilich nicht. Alle diese amerikanischen Jäger und Fallensteller, welche unseren Kürschnern das Material liefern, ohne welche es keine Londoner und Leipziger Pelzmesse geben würde, setzen ihren Stolz darein, so verwahrlost wie möglich auszusehen. Tatsache! Das ist ihr Stolz, sie vernachlässigen ihr Aeußeres mit Absicht so. Hierzu ist noch ein anderer Grund vorhanden.

Der rote Krieger und Jäger schmückt sich gern, er will gestickte Mokkassins tragen, seine Leggins müssen bemalt und mit Franzen verziert sein usw. Nun aber blickt im allgemeinen der weiße Jäger doch mit unsäglicher Verachtung auf seinen roten Konkurrenten herab. Die idealen Freundschaften sind stets Ausnahmen, sonst herrscht zwischen Weiß und Rot der erbittertste Haß, ursprünglich dem Konkurrenzneid entspringend, der weiße Jäger will das mit Rassenhaß bemänteln, die Rothaut ist für ihn kein voller Mensch, und um nun auch äußerlich nichts mit dem ›Redman‹ gemein zu haben, verachtet er das, worauf jener hält, er sinkt mit Absicht zu einer Stufe der Verwilderung herab, wozu der echte Wilde gar nicht fähig ist. Dies ist übrigens ein Thema zur menschlichen Physiologie und Psychologie, würdig, von einer berufeneren Feder behandelt zu werden.

Hinwiederum bekommt man wenig davon zu lesen, wie sich diese Männer den Segen der Kultur und Technik zunutze zu machen wissen. Es gibt im eisigen Kanada wie im heißen Süden wohl kaum noch solch einen Jäger, der nicht ein gutes Taschenfernrohr besitzt. Man kommt ihm ja auch entgegen. In jeder amerikanischen Zeitung, besonders in illustrierten, die ihren Weg auch in die entlegensten Hinterwäldlerhütten finden, liest man Annoncen, welche direkt für solche Waldläufer und Trapper bestimmt sind. Wer sich auch nur gratis und franco den neuesten Katalog über Waffen schicken läßt, erhält gleichzeitig ein wertvolles Präsent, eine Pfeife, ein unübertreffliches Feuerzeug oder dergleichen. Und das kommt wieder heraus. So ein zerlumpter Kerl kauft sich einen Revolver, den ein reicher Sportsmann für einen zu teuren Luxus hält. Gleich direkt, ohne Bestellung, zur Auswahl, auf Risiko werden ihm solche Waffen und andere Jagdgegenstände zugeschickt, und immer nur das Beste und Teuerste. Gleich direkte Offerte. Denn so ein Pelzjäger ist den Pelzjuden in den fernsten Städten ebenso bekannt wie etwa ein Schauspieler in seinen Kreisen eine Berühmtheit ist; man besitzt seine Photographie, bei einer Bestellung genügt sein daruntergemaltes ›Totem‹, das man genau kennt, und der durch das Land reisende Pelzagent besucht und poussiert diese zerlumpten Jäger genau so wie der Weinhändler die Wirte und der Kunstdüngerreisende die Bauern. Hier liegt sogar noch etwas ganz anderes vor. Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob der Bär die Kugel ins Auge oder zwischen die Rippen bekommen hat; der Jäger erhält für das unverletzte Fell den doppelten Preis, im Handel aber kostet solch ein tadelloses Bärenfell das Zehnfache von einem durchlöcherten, und bei den kostbaren Biber- und Marderarten geht das nun gleich ins Hundertfache!

Also hier wunderte sich niemand darüber, daß der schmierige Wald- und Präriejäger eine Postkarte schreiben wollte. Das allgemeine Staunen hatte einen anderen Grund.

»Ist's, möglich!« rief der Postmeister. »Mann, kommt Ihr auch einmal außer Eurer Zeit?«

»Wie Ihr seht. Die Postkarte!«

Er erhielt sie, Weaselbill ging an das Schreibpult und begann sofort auf der Karte zu malen, den Federhalter mit der ganzen Faust wie einen Schippenstiel packend.

»Und einen neuen Anzug habt Ihr Euch zugelegt?«

»Wie Ihr seht.«

»Aber einen gelben, das ist ja...«

»Das kann ich machen, wie ich will. Haltet's Maul und laßt mich schreiben.«

Alle beobachteten den Schreibenden, an dessen Leggins der Jagdhund aufmerksam schnüffelte.

Endlich war die Karte fertig, sie wurde in den Briefkasten geworfen, an dem der Postbeutel hing, der nicht abgenommen werden konnte, ohne eine Plombe zu verletzen.

Jetzt durfte auch wieder gesprochen werden, und man mußte sich beeilen, der Waldläufer schien sich gleich wieder entfernen zu wollen, ohne Gruß, wie er gekommen war.

»Da ist ein Fremder, der Euch gesucht hat,« sagte der Postmeister.

Mit auffallender Hast fuhr der Waldläufer herum. Vorher hatte er auf den Fremden kaum einen Blick geworfen.

»Mich? Kenne den Mann nicht.«

Der Fremde war aufgestanden.

»So ist es. Ich komme Euretwegen hierher. Kann ich Euch einmal unter vier Augen sprechen? Bitte, folgt mir hinaus.«

Immer mißtrauischer wurde der Blick, mit dem der Waldläufer den anderen musterte.

»Habe verdammt wenig Lust dazu,« knurrte er. »Sprecht hier, was Ihr von mir wollt. Was mir jemand zu sagen hat, das kann auch jeder hören.«

»Kennt Ihr einen Mann, einen Waldläufer oder Fallensteller hier oder in der weiteren Umgegend, der eine Pelzjacke und eine hohe, spitze Pelzmütze trägt?«

Die Wirkung dieser Frage war eine für die Zuhörer ganz unerklärliche.

Die sehnige, verwitterte Gestalt des Waldläufers schien plötzlich zur Statue zu erstarren, mit wie vor Schreck weit aufgerissenen Augen stierte er den Frager an.

»Mann, wer seid Ihr, daß Ihr.....« brachte er endlich hervor, ohne den Satz vollenden zu können.

Plötzlich drehte er sich schnell um und verließ das Gastzimmer. Der Fremde hielt es für eine Aufforderung, das Gespräch draußen fortzusetzen, er folgte ihm.

Der Waldläufer wartete denn auch seitwärts im Walde unter einem einzeln stehenden Baume auf ihn. Seine Züge waren immer noch ganz verstört.

»Mann, wer seid Ihr?« empfing er mit leiser Stimme den Näherkommenden.

»Edward Scott ist mein Name.«

»Das sagt mir gar nichts. Was wißt Ihr von einem Waldläufer, der eine Pelzjacke und so eine hohe, spitze Pelzmütze trägt?«

»Kennt Ihr ihn denn?«

Jetzt weiß der geneigte Leser, wer der Fremde ist, und daher weiß er auch, woher wahrscheinlich Scott seine Kenntnis hatte, und wie schwer es ihm werden würde, diesem Waldläufer eine Erklärung zu geben. Edward Scott folgte wieder einmal einer Eingabe seines prophetischen Geistes, wovon er sich selbst gar keine Rechenschaft geben konnte. Er tappte ja selbst dabei immer im Finstern.

»Ich kenne ihn nicht, aber.....ich habe von ihm gehört.«

»Durch wen?« erklang es immer mißtrauischer, wenn nicht immer ängstlicher, und Angst wollte dieser verwegenen Gestalt nun gar nicht stehen.

»Das werde ich jenem Manne selbst sagen. Ihr werdet mich zu ihm führen.«

»Oho, fällt mir ja gar nicht ein!«

»Ich bitte Euch darum.«

»Ich darf nicht.«

»Laßt Euch etwas sagen: Ihr kommt doch sonst nur jedes Jahr einmal im April nach Mendazedes.« »Ja.«

»Dies ist seit fünfzehn Jahren das erstemal, daß Ihr ein zweites Mal hierherkommt.«

»Ich hatte eine Karte zu schreiben.«

»Nun, und ich wußte, daß Ihr heute hierherkommen würdet, wußte es schon vor einem Vierteljahr, und ich habe eine gar weite, weite Reise gemacht, um heute hier zu sein, um Euch heute hier zu erwarten, um Euch zu bitten, mich zu dem Manne zu führen, der eine Pelzjacke und eine hohe Pelzmütze trägt.«

Scott hatte mit Absicht so mysteriös gesprochen, und seine Worte verfehlten ihren Eindruck nicht. Alle Jäger sind mehr oder weniger abergläubisch, die in immerwährender Einsamkeit lebenden Waldmenschen sind es im doppelten Grade — aus einem Grunde, der schon früher einmal ausführlich erörtert wurde.

Dazu kam nun das ganze Wesen des jungen Kanadiers, seine schwermütigen Auge», in denen eine ganze Welt von Rätseln lag — — kurz und gut, auch dieser Waldläufer erlag dem geheimnisvollen Einflüsse, der von diesem Manne ausging.

»Ihr seid ein Hellseher!«

Scott wunderte sich nur, daß der Mann diesen Ausdruck gebrauchte.

»Ja.«

»Was wollt Ihr von Rübezahl?«

Es sei gleich bemerkt, daß Scott diesen Namen zum ersten Male hörte. Von dem englischen Kanadier war nicht zu verlangen, daß er die deutschen Märchengestalten kannte. Für ihn war das eben nur ein Name, wohl deutsch klingend, sonst aber auch weiter nichts als ein Name.

»Das muß ich ihm selbst sagen.«

Lange zögerte der Waldläufer, bis er seinen Entschluß gefaßt hatte.

»Seit länger denn zwanzig Jahren hält sich Rübezahl verborgen. Ich kann Euch nicht zu ihm führen, er hat es mir verboten, er will in seiner Einsamkeit von keinem Menschen gestört sein. Da muß ich ihn erst fragen.«

»So geht und erzählt ihm, daß hier ein Mann ist, der ihn zu sprechen wünscht.«

»Was soll ich ihm sonst noch von Euch sagen?«

»Nichts weiter, auch meinen Namen braucht Ihr ihm gar nicht zu nennen. Wann könnt Ihr wieder hier sein?«

»Vier Tage hin, vier Tage wieder zurück. In acht Tagen bringe ich Euch den Bescheid.«

»Wenn es nicht anders beschlossen ist!«

»Wie meint Ihr?«

»Geht, beeilt Euch. Da ich ein Geheimnis erfahren habe, so bin ich der Mann, es zu wahren.«

Noch einen prüfenden Blick in das tiefernste Gesicht des jungen Hünen, und der Waldläufer verschwand in dem Walde.

Scott blieb noch stehen, und bald darauf sah er jenen über eine Waldblöße traben, richtig traben, nicht gehen, das Gewehr zum Laufschritt über der Schulter, und dieses Gewehr hatte er vorhin nicht bei sich gehabt, es mußte im Walde versteckt gewesen sein.

Mit über der Brust verschränkten Armen blickte Scott ihm nach, bis jener seinen Augen hinter Bäumen verschwand.

»Bestimmung, o, Bestimmung!« flüsterte er. »Mein Kristall erzählt mir, daß du nicht wieder hierherkommen sollst. Du gehst einem anderen Schicksale entgegen, so unbestimmt, wie jedes Schicksal ist. Es ist Bestimmung, daß ich dir folgen soll. Warum? Ich weiß es nicht.«

Er schritt wieder dem Blockhause zu, aus dessen Tür soeben der Postmeister trat, bewaffnet mit Hacke und Schaufel.

»Nun?«

»Ich habe etwas erfahren, worüber ich nicht sprechen darf.«

»Gibt es denn solch einen Mann, der.....«

»Das ist es, worüber ich nicht sprechen darf.«

»Gut, dann werde ich auch nicht weiter fragen. Mann ist Mann, und Wort ist Wort, und deshalb gehe ich jetzt, um aus meinem Kellerloche das halbe Dutzend Flaschen Rotwein zu holen, das ich verspielt habe.«

»Laßt sie euch allen gut schmecken, ich trinke überhaupt keinen Wein, und ich will fort. Was habe ich zu zahlen?«

Der Postmeister hielt sich mit keinen weiteren Fragen auf. Vielleicht war er froh, den unheimlichen Gast loszuwerden.

Scott bezahlte sein Essen; sein Pferd sollte hier zurückbleiben; er hing sich den leichten Mantelsack um, schulterte sein Gewehr, pfiff dem Jagdhund und begab sich nach jenem einzelnen Baume zurück, unter dem das Gespräch mit dem Waldläufer stattgefunden hatte.

»Nun, Proteus, der du den Namen des weissagenden Meergottes führst — nun zeige mir, warum mich jenes geheimnisvolle Etwas bestimmte, dich in Austin zu kaufen. Nimm die Spur auf, die mich zu meinem verschollenen Freunde führen soll. Eine Witterung hast du ja schon vorhin genommen.«

Noch eine Ermunterung, und augenblicklich verstand das kluge Tier, was man von ihm verlange; es nahm die Spur des fremden Mannes auf, dessen Geruch es vorhin eingeatmet hatte, hinter ihm her der junge Kanadier mit weitausgreifendem Schritte.

Westlich ging es, immer westlich, wohl eine Stunde lang, meist durch Wald, und wo der Boden weich war, erkannte Scott, daß der Jäger seinen Dauerlauf beibehalten hatte. Diese Waldläufer führen überhaupt ihren Namen mit Recht. Der Hundetrab ist ihr gewöhnlicher Gang, dasselbe gilt ja auch von den Indianern, besonders von den südamerikanischen, und es soll hier lieber nicht gesagt werden, wie viele Meilen solch ein Dauerläufer an einem Tage zurücklegen kann, es klingt etwas unglaublich. Aber Tatsache ist wohl, daß solch ein Hundetrab, wenn man sich einmal daran gewöhnt hat, vielleicht weniger ermüdet, als das einfache Marschieren. Auch bei den meisten Säugetieren ist ja der Trab der eigentliche Gang.

Scott freilich war darauf nicht trainiert, und trotz seines weitausgreifenden Schrittes mußte er immer mehr hinter dem Waldläufer Zurückbleiben.

»Ich werde ihn erreichen, wenn das Schicksal es bestimmt hat, nicht früher und nicht später.«

So sprach der Fatalist, der an die Macht des Schicksals Glaubende, gegen das nicht anzukämpfen ist. Deshalb aber legte er sich nicht hin und wartete, bis dasjenige, was er suchte, zu ihm kam, sondern er tat, was in seinen Kräften stand — und das ist das Richtige, dann hat der Fatalismus auch seine Berechtigung!

An einem Bache versagte die Spürnase des Hundes. Ohne Aufforderung rannte er hin und her, beschrieb weite Bogen, konnte die Fährte nicht wiederfinden.

Weaselbill hatte seinen Weg im Wasser fortgesetzt. Er mochte einen Grund dazu gehabt haben, es konnte Gewohnheit des Waldläufers sein, jede Gelegenheit zu benutzen, um seine Spur zu verbergen.

Der Bach war seicht, aber steinig, nichts von einem Fußabdruck zu erkennen. Jedenfalls hätte hier auch der Spürsinn eines Indianers versagt.

Wohin nun? Hatte der Waldläufer den Bach stromauf oder stromab verfolgt?

»Nach welcher Gegend ich mich auch wende, ich werde ihn finden und einholen, und schlage ich jetzt die falsche Richtung ein, so daß ich viel, viel Zeit versäume, so hat das einen bestimmten Zweck, der aber wiederum zu meinem Vorteil ist.«

Mit diesen Worten verfolgte Scott, ohne irgendein Orakel befragt zu haben, den Bach stromauf, in südlicher Richtung.

Glücklich der Mensch, der so felsenfest von einer Bestimmung des Schicksals erfüllt ist! Oder kann das nicht auch ein großes Unglück sein? Wie man es nimmt! Setze an Stelle aller philosophischen Grübeleien das schöne Wort ›Gottvertrauen‹, und du bist befreit von allen Zweifeln!

Der wohldressierte Jagdhund wußte recht gut, daß er die Hoffnung seines Herrn getäuscht hatte, wenn auch ohne Schuld, er war bekümmert darüber, suchte es gutzumachen, und sein Instinkt, wenn nicht sein Verstand, sagte ihm noch mehr — er begnügte sich nicht, nur beide Uferränder nach der Spur abzusuchen, sondern streifte beständig auch in großen Bögen durch den Wald und durch die Haidegegend.

Anscheinend schien das ja ganz zwecklos zu sein, der Waldläufer mußte das Wasser wieder verlassen haben, also vom Ufer aus mußte die neue Spur auch wieder beginnen — aber bald sollte sich zeigen, daß solch ein Tier manchmal mehr ahnt, als der Mensch weiß.

Wieder verging eine Stunde; schon seit längerer Zeit war Proteus deu Blicken seines Herrn entschwunden gewesen, als jenes besondere, helltönende Bellen erklang, welches der Jäger beim Hunde ›Läuten‹ nennt. Proteus hatte eine Spur gefunden, die richtige, die gesuchte, das sagte dieses eigentümlich helle Bellen, durch das der Hund seine Freude auszudrücken weiß.

Tief aus dem Walde kam es heraus. Scott folgte der Richtung, Proteus sprang ihm entgegen, aber nicht die Nase am Boden, von diesem wollte er gar nichts wissen — er führte seinen Herrn nach einem Baume, sprang an diesem empor, lief mit am Boden gesenkter Nase in südöstlicher Richtung davon.

Scott war kein Pfadfinder, wohl aber ein denkender Jäger, und er hatte auch noch etwas mehr gelernt. Sofort wußte er alles.

Der Waldläufer hatte beim Verlassen des Baches nicht den Boden betreten, sondern sich gleich auf einen Baum hinaufgeschwungen, im Walde seinen Weg durch die Lüfte von Ast zu Ast fortsetzend, bis er an diesem Baume hier wieder herabgeglitten war.

Wozu diese Vorsicht? Sie war eben solch einem Waldläufer, der in jedem fremden Menschen einen Feind sehen muß, ganz entsprechend, da galt es wahrscheinlich, ein ertragsreiches Jagdgebiet geheimzuhalten, wovon ja auch der Postmeister schon gesprochen hatte.

Auf dem weiteren Wege hatte Weaselbill ebenfalls keine Gelegenheit versäumt, um seine Spur zu verwischen, er hatte ganz raffinierte Hilfsmittel dazu benutzt. Doch wir wollen nicht auf eine Schilderung der Verfolgung der Spur eingehen, der Hund und sein Herr wußten sie durch Spürnase oder Auge oder nachdenkenden Scharfsinn immer wieder zu finden, und zwar nicht nur an diesem angebrochenen Tage, sondern auch noch am nächsten und übernächsten.

Wir überspringen diese beiden Tage vollkommen. Scott wußte immer seinen Proviant zu erzänzen, des Nachts schlief er ohne Lagerfeuer, und wenn er auch einige Abenteuer erlebte, so sind diese doch nicht erwähnenswert. Wir bleiben bei dem, worauf es hier ankommt.

Aus der südöstlichen Richtung war zuletzt eine direkt östliche geworden, so daß jetzt also der Waldläufer die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen hatte, als da er die Station verließ — alles, um einen Feind oder einen Neugierigen, der gern gewußt hätte, wo Weaselbill sein Jagdgebiet hatte, irrezuführen.

Und immer noch jener fördernde Hundetrab, wie manchmal weicher Boden verriet! Und so mußte er stets vier Tage lang laufen, ehe er nach der nächsten Station gelangte!

Doch was ist das für ein Mann, dessen engere Heimat der Urwald und die Prärie ist? Was für ein Unterschied ist doch schon zwischen dem Bewohner einer Großstadt, etwa von Berlin, und einem Kleinstädter! Für diesen bedeutet ein Weg von einer halben Stunde schon ein Marsch, der ihn in eine total andere Gegend bringt, ihm sogar vielleicht ganz fremd — eben in die Fremde. Für jenen ist es nur ein kleiner Geschäftsweg, ein Gang zum Frühstück. Je größer das Gebiet der engeren Heimat, desto mehr schrumpfen Zeit und Raum zusammen.

Wald wechselte mit Heide und Prärie, Sandflächen waren die Ausläufer der nördlich gelegenen Wüste von Bolson, dann wurde die Landschaft immer hügeliger, schon tauchte in der Ferne ein hoher Gebirgszug auf, und die befragte Karte erklärte, daß es nur die Berge von Nuevoleon sein könnten.

Es war am Morgen des dritten Tages. Wieder einmal war die Spur in einem Bache verlorengegangen, dessen Ufer mit Bäumen bestanden waren. Doch Proteus ließ sich jetzt erst recht nicht mehr durch so etwas irremachen, er suchte bereits die engere und die weiteste Umgegend ab, und wenn kein Regen fiel, so hätte er die Spur noch nach Wochen verfolgen können.

Scott wartete nicht mehr untätig, bis sein Hund das Wiederfinden meldete oder ihn zu holen kam, er benutzte jetzt solche Aufenthalte immer, um seine Mahlzeit zu halten, oder er orientierte sich auf der Karte oder bereitete sich sonst auf den Weitermarsch vor.

Diesmal kam er gar nicht erst dazu, seinem Mantelsack das gebratene Hirschfleisch zu entnehmen, da läutete Proteus schon, noch heller als sonst, es klang wie ein Jauchzen, und zwar gar nicht weit entfernt von seinem Herrn.

Gefunden! Eingeholt! Scott zweifelte nicht daran, er hatte die Sprache seines vierbeinigen Freundes schon zu gut kennen gelernt.

Schnell war Scott zur Stelle. Unter einem sehr hohen Baume mit verhältnismäßig dünnem Stamme lag, von Proteus freudig umsprungen, am Boden Weaselbill, die linke Hand in einer Lederschlinge, welche an dem Baumstamm befestigt war.

Der erste Eindruck war der, als sei der Waldläufer hier mit Gewalt festgebunden worden, doch Scott erkannte schnell seinen Irrtum. Mit der rechten Hand, in der er jetzt das schußbereite Gewehr hielt, hätte er sich doch leicht befreien können, auch sein Jagdmesser steckte ja noch im Gürtel. Immerhin lag hier ein Rätsel vor.

»Weaselbill! Was ist mit Euch?«

Der Waldläufer senkte das Gewehr, machte aber ein äußerst grimmiges Gesicht.

»Daß mir so etwas noch passieren kann, hätte ich auch niemals geglaubt,« knurrte er.

»Was denn?«

»Vom Baume bin ich heruntergestürzt.«

»Und habt Schaden genommen?«

»Kleinigkeiten — hat gar nichts zu bedeuten.«

»Euer linkes Bein liegt doch in ganz unnatürlicher Stellung!«

»Ja, das ist gebrochen.«

»Warum habt Ihr die linke Hand an den Baum gebunden?«

»Um den Arm wieder einzurenken. Der ist ausgekugelt. Und hinein muß er wieder, ehe ich mir das Bein schienen kann.«

Dieser einfache Mann wußte selbst nicht, was für ein Heros er war. Gestern nachmittag war es geschehen, er war hoch oben von einem Aste herabgestürzt, hatte sich den linken Schenkel gebrochen und den linken Arm dabei ausgekugelt, und seit gestern nachmittag bis jetzt mühte er sich ab, durch Festbinden der Hand und durch Ziehen mit dem ganzen Arm diesen wieder in das ausgeschnappte Gelenk zu bringen. Was der Mann durchgemacht hatte, dafür fehlen die Worte. Der zur Schau getragene Gleichmut war ja stark erkünstelt — immerhin, in gewisser Hinsicht war Weaselbill ein bewundernswürdiger Held!

Doch sind die Indianer nicht Meister in der Erhabenheit über jeden Schmerz? Und die weißen Jäger, ihre Rivalen, blicken ja verächtlich auf die Rothäute herab, da dürfen sie sich doch auch in so etwas nicht von jenen ausstechen lassen.

»Es wäre mir schon noch gelungen, den Arm wieder festzumachen, dann das Bein geschient, und dann wäre ich dorthingekrochen, wo ich mich in aller Bequemlichkeit ausheilen kann — gar nicht weit von hier. Die Hauptsache ist, daß dabei nicht meine Pfeife kaputt gegangen ist.«

Neben ihm lag das kurze Rohr mit dem seltsamen Kopf, der skelettierte Schädel eines ausnahmsweise großen Wiesels, durch Verkitten der Löcher als Pfeife gebrauchsfähig gemacht, schön dunkelbraun angeraucht.

Hier also wiederholte sich das alte Lied vom ›Türkenkopf‹.... erst griff ich schnell nach meiner Pfeife, und dann nach meinem Bein.

Scott sagte nichts, machte ihn nicht auf die Hoffnungslosigkeit seiner Lage aufmerksam, er wußte, daß sich der Mann hierüber selbst nicht im unklaren war. Er löste die Schlinge vom Handgelenk.

»Nun umklammert mit dem anderen Arm den Stamm, haltet Euch fest.«

Weaselbill tat so, Scott beugte den schlaffen Arm zurück und riß ihn mit aller Kraft nach vorn, ein Knack, und Weaselbill stieß einen lauten Psiff aus. Nicht etwa vor Schmerz, sondern das war der erste Ton vom nachfolgenden Liede gewesen, das er jetzt zu pfeifen begann.

»Nun werde ich zuerst das Bein schienen, der Arm kann noch hängen bleiben.«

Ja, das ist nicht so, daß man den Arm gleich wieder ganz in seiner Gewalt hat, nachdem er erst wieder eingekugelt ist!

»Versteht Ihr etwas vom Schienen?« fragte Weaselbill, und es klang mit einem Male recht kleinlaut.

Scott verlor kein Wort, er schnitt schon das linke Hosenbein auf, untersuchte den Schenkelbruch, den er für einen doppelten hielt, und begann aus Zweigen geeignete Schienstöcke zu schnitzen.

Nach einer halben Stunde war es geschehen. Zierlich sah es nicht aus, aber haltbar war es. Dann wurde auch noch der Arm, den der Waldläufer vergebens zu heben suchte, in die Schlinge gelegt.

Ein leiser Seufzer kam von seinen Lippen, während Scott hiermit noch beschäftigt war.

»Hört, mein guter Mann — was ich vorhin gesagt habe — ich bin eigentlich kein Prahlhans — aber — aber — wenn Ihr nicht gekommen wärt.....«

»Weiß schon, weiß schon!«

»Nein, laßt mich nur sprechen. Mir wär's verteufelt dreckig gegangen — ich wäre ja gegen jedes Apachenkind ein Säugling gewesen — und — und...«

»Wie weit hättet Ihr Euch denn noch schleppen müssen?«

»Das ist es eben, da habe ich vorhin geflunkert. Oder auch nicht, wie man's nimmt. Es ist alles mit Unterschied. Dort, wo ich mich pflegen kann, wie ich vorhin sagte — das ist von hier aus noch zwei gute Tagemärsche weit. Ja, mit heilen Beinen ist das weiter nichts — aber so mit einem kaputten Spazierholz — Himmeldonnerwetter — schließlich hätte ich meine Wanderung doch wohl noch in den Magen einiger Schakale fortsetzen müssen, gleich nach verschiedenen Himmelsrichtungen — und mit Aasgeiern durch die Lüfte.«

»So dankt dem allgütigen Gott, der mich veranlagte, Eurer Spur zu folgen.«

»Ja, wie seid Ihr eigentlich dazugekommen, meiner Spur gleich nachzugehen? Denn gleich nach mir müßt ihr doch aufgebrochen sein. Aber weswegen denn?«

»Sagte ich es Euch nicht schon? Gott selbst gab mir ein, Euch zu folgen, weil es bereits im Buche des Schicksals verzeichnet stand, daß Euch ein Unfall widerfahren sollte, und Gott selbst bestimmte mich auch, schon vorher mir diesen Jagdhund anzuschaffen, ohne dessen feine Spürnase ich Euch niemals hätte finden können.«

Mit tiefster Ehrfurcht blickte der Waldläufer auf den ernsten Sprecher. Dieser fluchende Mann, die Roheit selbst, das war einmal ein gläubiger Christ!

»Habt Ihr Euer Pferd mit?«

»Nein, auch ich bin zu Fuß gekommen.«

»Hat Euch der liebe Gott nicht auch gesagt, daß Ihr mir lieber zu Pferde nachsetzen solltet? Denn hätten wir jetzt ein Pferd, mir wäre viel mehr geholfen. Hat Euch der liebe Gott nichts davon gesagt?«

Nicht etwa spöttisch war diese Frage gestellt worden — sie entsprang der gläubigsten Naivität.

»Wir werden wohl noch einsehen, weshalb wir kein Pferd zu haben brauchen oder sogar keins haben dürfen. Denn nichts geschieht in der ganzen Welt wie im Schicksale des einzelnen, was nicht irgendeinen Zweck hat, und alles, alles dient zum Guten, wenn wir es auch nicht gleich erkennen.«

»Hört,« frohlockte da der Waldläufer, »das sagte auch immer meine Großmutter, wenn wir Kinder uns einmal in den Finger geschnitten hatten oder mit dem Schädel gegen die Kommode gerannt waren!! Und weit könnte ein Pferd auch nicht mehr kommen, bald fängt das Gebirge mit schrecklichen Wegen an. Ja, was aber nun weiter? Wie bringt Ihr mich fort?«

»Genau so, wie Ihr es getan hättet, würdet Ihr mich so hilflos hier liegend gefunden haben.«

Und Scott bückte sich, Weaselbill schlang ihm die Arme um den Hals, so wurde er auf den Rücken geladen.

»Nun bezeichnet mir immer die Richtung, die ich einschlagen soll.«

Da stiegen dem Waldläufer, der ein Geheimnis zu hüten hatte, noch einmal Bedenken auf.

»Nach der Station Mendazedes ist es eigentlich noch näher als bis ins Gebirge und dabei ein viel, viel bequemerer Weg.«

»Würdet Ihr auf der Station auch eine bessere Pflege finden als dort, wo Ihr zu Hause seid?«

»Nein, das gerade nicht, Rübezahl ist sogar ein gar geschickter Arzt und hat alles, was nur ein Kranker brauchen kann, aber.... hm.«

»Es ist Bestimmung, daß ich mit diesem Manne, den Ihr Rübezahl nennt, zusammentreffen soll.«

»Ist es Bestimmung? Hm. Das ist etwas anderes, das hättet Ihr gleich sagen sollen. Dann marschiert einmal nach Osten, immer dort auf die krumme Bergspitze zu, und ich werde mich so leicht wie möglich machen, und ausspähen werde ich auch, da braucht Ihr keine Obacht mehr zu geben.« —


Illustration

Es gehörten die riesenhafte Kraft und die Natur dieses jungen Kanadiers dazu, um das zu vollbringen, was hier ausgeführt wurde. Immer felsiger wurde die Gegend, schon an diesem Tage gab es richtige Kletterpartien, auf dem auch der geborene Alpenjäger, die erlegte Gemse auf dem Rücken, auf seiner Hut hätte sein müssen, und hier handelte es sich um die Last eines ausgewachsenen Mannes, dessen Gewehr allein ganz gewichtig in Betracht kam.

Da war an eine Unterhaltung nicht zu denken, und wurde Rast gehalten, so war sie auch wirklich der Ruhe gewidmet, oder eine Besprechung anderer Art war nötig. Zum Beispiel mußte beraten werden, als eine Fährte ihren Weg kreuzte, von vielen Pferdehufen erzeugt, und auch die Mokassins waren zu erkennen. Das waren Apachen, und zwar auf dem Kriegspfade befindlich, sie hatten Kundschafter zu Fuß vorausgeschickt.

Am Abend lenkte der Waldläufer sein zweibeiniges Reittier nach einem Versteck an einem wildbrausenden Gebirgsfluß, wo die wachen Augen eines Mannes Garantie boten, von jedem Feinde unbelästigt zu bleiben oder ihm doch rechtzeitig noch entschlüpfen zu können.

Hier durfte getrost ein Feuer angezündet werden, und hier endlich kam es zur Aussprache, den Hauptzweck dieser ganzen Reise betreffend. Der stille Kanadier hätte deswegen wohl kaum eine Frage gestellt — — Weaselbill war es, der davon begann, und er tat es in seiner Weise, und zwischen Fragen und Antworten waren immer lange Pausen, die mit Hervorlocken von Rauchwolken aus der Tabakspfeife ausgefüllt wurden.

Es war übrigens gar nicht viel, was der Waldläufer erzählen konnte. Für ihn selbst war noch ein Geheimnis vorhanden, nur daß der einfache Mann dies gar nicht als Geheimnis empfand, sich keine Gedanken darüber machte.

»Schon zwanzig Jahre kennen wir uns.«

So begann Weaselbill aus dem Stegreife, und dann blickte er nach wie vor sinnend ins Feuer, zog an seinem Pfeifenrohr, und Scott hatte wohl fünf Minuten Zeit, darüber nachzudenken, wen jener eigentlich meine — vorausgesetzt, daß dies nicht ganz selbstverständlich gewesen wäre.

So erschien auch die Fortsetzung, löffelweise, wie bei Zeitungsromanen. Wir fassen es hier kurz zusammen.

Vor etwa zwanzig Jahren hatte Weaselbill, schon damals kein Jüngling mehr, sich ein neues Jagdgebiet gesucht, wo er womöglich nicht erst mit dem bisherigen alleinigen ›Besitzer‹ Freundschaft schließen, noch weniger erst mit ihm einen Kampf auf Leben und Tod führen mußte. Er war aus der Ebene zum Gebirge emporgestiegen. Hier ist die Jagd viel weniger ergiebig, so wenig, daß der Jäger im Sommer, wenn das Bergwild die höchsten, für Menschen unzugänglichen Stellen aufsucht, manchmal Hungersnot aussteht, während man im Winter selbst in Mexiko dem Tode des Erfrierens ausgesetzt ist. Aber die im Gebirge erbeuteten Pelze sind viel, viel mehr wert als die des Tieflandes, auch das Leder des Bergwildes wird vom Gerber bevorzugt, und Weaselbill hatte von jeher bei seinen Kollegen als der vorzüglichste Schütze und der schlaueste Fallensteller gegolten, als eine Spürnase, die jedes Wild schon von weitem wittert, ohne es zu sehen, und es zu beschleichen weiß.

Ueber ein Jahr lang war Weaselbill bereits im Nuevoleongebirge gewesen, dessen Gipfel mit ewigem Schnee und Eis bedeckt sind — oder nennen wir es gleich Löwengebirge, so genannt, weil hier sehr häufig der amerikanische, mähnenlose Löwe vorkommt, ganz verschieden von dem afrikanischen. In diesem einen Jahre hatte er ein Gebiet von fast hundert deutschen Quadratmeilen kreuz und quer durchstreift, ohne auf die Spur von einem jagenden Rivalen zu stoßen. Früher war das Löwengebirge einmal von einem Indianerstamme bevölkert gewesen, welcher nicht verdrängt worden ist, nicht durch Kämpfe vernichtet, sondern..... dieser Indianerstamm hatte eben in der Schöpfungsgeschichte seinen Zweck erfüllt, die Schöpfung brauchte ihn nicht mehr, da ließ sie ihn aussterben. Weaselbill meinte auch, daß das wohl ganz andere Indianer gewesen seien, Ureinwohner von Amerika, die im allgemeinen erst durch die von Norden kommenden Indianer verdrängt wurden, also wohl zu den Azteken und den anderen Stämmen gehörend, deren Reste man noch heute ziemlich zahlreich in den Niederungen an der Küste findet, noch ganz rein erhalten dagegen in den südlicheren Gebirgen.

Eines Tages stürzte Weaselbill in eine Schneespalte, konnte nicht wieder heraus, er erfror. Das war wenigstens sein letzter Gedanke gewesen, ehe er das Bewußtsein verlor.

Als er wieder zu sich kam, befand er sich in einer Höhle, recht behaglich eingerichtet, so weit das mit Pelzen und Fellen zu ermöglichen ist. Er war ganz in Schnee eingepackt, ein Mann beschäftigte sich mit ihm, ein Blaßgesicht, schon durch seine Pelzkleidung als Jäger gekennzeichnet.

Dieses Jagdgebiet hatte also doch schon einen Besitzer. Aber die beiden machten Freundschaft, wenn auch nur bis zu einem gewissen Grade.

»Ich habe,« sagte der bedeutend ältere Mann, »bisher einen Gefährten gehabt. Er ist erst kürzlich auf der Jagd tödlich verunglückt, ist gestorben. Mich an einen neuen Menschen zu gewöhnen, mit ihm diese meine Behausung zu teilen, dazu habe ich keine Lust, das kann ich gar nicht mehr. Ich will fernerhin allein sein. Trotzdem bleiben wir Freunde, und die Freundschaft wird jedesmal erneuert, wenn wir auf der Jagd einander begegnen. Anstatt, wie üblich, Kugeln zu wechseln, schütteln wir uns die Hände und rauchen eine Pfeife zusammen. Ich kann dir manchen Wildwechsel zeigen, und wenn du mir einen Gefallen tun willst, so schaffst du alljährlich meine Jagdbeute mit der deinen nach der nächsten Poststation und bringst mir dafür das mit, was dort für mich angekommen ist.«

»Na,« fuhr der erzählende Weaselbill nach Wiedergabe dieser Erklärung fort, »so leben wir schon seit fünfzehn Jahren ganz friedlich zusammen, und manches Jahr vergeht, an dem wir uns nur ein einzigesmal oder zweimal sehen, nämlich wenn ich seine Felle abhole und ihm dann sein Paket bringe.«

Jetzt machte Weaselbill wieder eine Kunstpause, die so lange gedauert hätte, als seine Pfeife anhielt, wenn Scott ihn nicht durch Fragen zum Weitersprechen ermuntert hätte, und dieser Kanadier war über Neugier erhaben, denn er stellte immer nur die zunächstliegenden Fragen.

»Das ist doch stets die Jagdbeute eines ganzen Jahres, noch dazu eine doppelte, von zwei Jägern, die ihr jedesmal im April nach Mendazedes befördert, nicht wahr?«

»Sogar von dreien, wir sind unserer drei.«

Scott ließ sich durch das Auftauchen eines Dritten im Bunde nicht irremachen.

»Nun, das muß doch eine ganz gewaltige Last sein, wie befördert Ihr denn die auf der großen Strecke?«

»Auf dem Wasser.«

»Auf welchem Wasser?«

»Auf dem Flusse, der vom Gebirge aus nach Osten fließt. Er kommt ziemlich dicht an der Station Mendazedes vorbei, dann ist es kaum noch eine Stunde, und im April finde ich dort immer genug Träger.«

»Wie heißt dieser Fluß?«

»Wie er hier heißt, weiß ich nicht. Dort bei Mendazedes heißt das Wasser Rio Carabes, von dem ist das aber nur einer der vielen Nebenflüsse. Es ist ein ganzes Wirrsal von Flüssen und Kanälen, aufpassen kann da niemand, von woher ich komme, und zurückfahren tue ich ja auch nicht, das Floß, auf dem ich die Häute hinunterfahre, lasse ich jedesmal dort.«

»Ja, aber wie bringt Ihr die Last von Fellen vom Gebirge an den Fluß?«

»Auf einem Schlitten, wenn auch unten der Schnee noch liegt. Dort habe ich mein Versteck, da kommen die Felle einstweilen hinein und werden erst im April des nächsten Jahres aufs Floß und hinuntergeschafft.«

»Und Euer Freund.... wie heißt er doch?«

»Weiß nicht, Sir.«

Der Waldläufer wurde nicht etwa einsilbiger, sondern auf diese Weise mußte Scott überhaupt alles aus ihm herausholen. Der Mann hatte auch gar zu viel damit zu tun, seine Pfeife in Brand zu halten, auszuklopfen, auszukratzen, auszublasen, wieder zu stopfen und in Brand zu setzen.

»Ihr nanntet ihn doch Rüb... Rübe...«

»Rübezahl! Ja, diesen Namen gab ich ihm. Als ich noch so halberstarrt dalag und das alte, faltige Gesicht mit dem langen weißen Barte sah, da war es mir wie ein Traum, ich war in jenem Lande, wo ich geboren bin — aus dem Riesengebirge bin ich her, und das Land, wo das liegt, heißt Dötschland — wir nennen es Germany oder auf spanisch Alemania....«

Und der junge Kanadier bekam einige Sagen aus dem Märchenkranze zu hören, der um den Berggeist Rübezahl gesponnen ist — aber auf englisch, welche Sprache in dieser nördlichen Gegend Mexikos schon sehr vorherrscht — dieser Deutsche, der als Knabe mit den Eltern nach Amerika ausgewandert war, hatte seine Muttersprache bereits vollständig vergessen, konnte nicht einmal mehr den Namen seines Vaterlandes richtig aussprechen. Doch deshalb empfand er keine Wehmut, er sagte dies selbst.

»Aber der alte Rübezahl, das ist nämlich auch ein Deutscher, das habe ich wenigstens gemerkt, gesagt hat er es mir nicht — der spricht doch ein perfektes Dötsch. Freilich ebensogut auch noch viele andere Sprachen, von denen ich nicht einmal weiß, wie sie heißen. Und das hat er alles nur aus seinen Büchern.«

Aus seinen Büchern! Ein alter Wildtöter und Fallensteller, der mit Büchern der verschiedensten Sprachen versehen war! Das war doch wirklich Grund genug, um gleich neue Fragen zu stellen.

Aber der junge Kanadier mit dem bedächtigen Benehmen huldigte dem lobenswerten Grundsatze: immer eins hübsch nach dem anderen! Nur keine Ueberstürzung!

»Einen langen weißen Bart hat er?«

»Hatte er. Den hat er schon vor vielen Jahren abgenommen, seitdem trägt er keinen mehr, sieht eigentlich trotz seines Alters noch ganz jung aus. Aber den Namen Rübezahl hat er trotzdem behalten, wenigstens bei mir. Bogenspanner nennt ihn einfach Vater.«

Auch auf diesen ›Bogenspanner‹ reagierte der Kanadier vorläufig nicht.

»Wie alt ist er denn?

»Keine Ahnung, Sir. Na, über die sechzig ist er sicher hinaus. Aber rüstig wie ein Jüngling — und dabei doch mit dem bedachtsamen Kopfe eines Greises.«

»Und wie ist sein eigentlicher Name?«

»Weiß nicht, Sir.«

Scott hatte die Bekanntschaft von derartigen Jägern schon in Kanada zur Genüge gemacht, um sich nicht zu wundern, daß nach fünfzehnjährigem Zusammenleben der eine noch nicht den Namen vom anderen kennt.

»Also auch Bücher hat er?«

»Einen ganzen Haufen, eine ganze Höhle voll, und jedes Jahr muß ich ihm neue dazubringen.«

»Neue? Woher bekommt er die?«

»Jedes Jahr, so im Januar oder Februar, kommt in Mendazedes ein großes Paket an, mit Büchern, aus einer Buchhandlung in New-Orleans, das hole ich im April ab, und in dem Paket liegt jedesmal ein — ein — na, wie heißt doch gleich das Ding.....«

»Ein Katalog,« ergänzte Scott, das fehlende Wort gleich ahnend.

»Richtig, ein Katalog. Da stehen die neuen Bücher drin, die man kaufen kann — wißt, die es voriges Jahr noch nicht gegeben hat. Da sucht sich Rübezahl nun aus, schreibt auf, was er haben will, das nehme ich im April mit, und nächstes Jahr im April hat er sie. Die Geschichte dauert allemal ein Jahr.«

»Aber diesmal habt Ihr doch schon früher Bücher bestellt. Oder schriebt Ihr deswegen nicht die Postkarte?«

»Jawohl. Da war in dem Katalog ein Buch drin; wie Rübezahl den Namen las, da wurde er ganz rappelig. Natürlich tat ich ihm den Gefallen, ich lief, sobald ich vom Wildwechsel abkommen konnte, gleich noch einmal hin.«

»Darf ich erfahren, was für ein Buch das ist?«

»Hier steht es.«

Weaselbill schien seine Postkarte von einem Zettel abgeschrieben zu haben, den er jetzt vorzeigte.

Eine fließende Handschrift, und unter der Adresse der Neworleaner Buchhandlung stand der Titel des gewünschten Werkes:

Spinoza, Ethik, mit Anmerkungen neu herausgegeben von Lester Arnold und Edmund Wolf.

»Nun muß ich natürlich noch einmal hin,« ergänzte Weaselbill, »in einem Monat kann's dasein. Der Alte brennt ja nach dem Buche.«

Hallo, ein Fallensteller, der Spinozas Ethik las! Der darauf brannte, die neueste Ausgabe von diesem philosophischen Werke zu bekommen!

»Der alte Mann kommt gar nicht mehr unter Menschen?«

»Niemals mehr. Er will nicht entdeckt sein, wie er immer lachend sagt.«

»Er kann also auch lachen?«

»Na und wie!«

»Eurer Beschreibung nach stellte ich ihn mir recht traurig vor.«

»Traurig? Ganz und gar nicht. Höchstens bedachtsam kann man ihn nennen.«

»Wie lange hält er sich nun schon in der Einsamkeit auf?«

»Habe keine Ahnung, Sir.«

»Wie hat er die Felle früher fortgeschafft, wer hat ihm da die Bücher besorgt?«

»Eben sein früherer Kamerad. Ich kenne nicht einmal seinen Namen. Der Alte spricht niemals von ihm. Wir sprechen überhaupt von nichts weiter als vom Wildwechsel und dergleichen, wenn wir uns einmal treffen.«

»Aber mir schien doch, als ob der Postmeister gar nichts von einem anderen wisse, der vor Euch immer solch ein Paket abholte.«

»Stimmt, Sir. Der andere lief immer nach der Station Horado los Angeles, die liegt sechs Tage östlich vom Löwengebirge, also viel weiter als Mendazedes. Von der Poststation Mendazedes wußte nämlich der alte Rübezahl gar nichts, auch sein Freund nicht, so wie ich noch niemals in Horado war.«

Hierdurch war ein Widerspruch beseitigt.

»Ihr nanntet vorhin den Namen Bogenspanner. Wer ist das?«

»Das ist ein junger Indianer, den der Alte seit ungefähr vier Jahren bei sich hat.«

»Also er ist doch nicht allein?«

»Nein. Plötzlich hatte er den fremden Indianer bei sich.«

»Wie ist er zu ihm gekommen?«

»Weiß nicht, Sir. Er hat ihn wohl auf der Jagd getroffen.«

»Welchem Stamme gehört er an?«

»Weiß nicht, Sir,« war wiederum die stereotype Antwort, aber es kam doch noch etwas hinzu. »Ich halte ihn für eine Rothaut aus dem hohen Norden, er mag aus seinem Stamme ausgestoßen worden sein, hat sich bis hierher verirrt.«

»Ausgestoßen, weshalb?«

»Weiß nicht, Sir. Ueber so etwas sprechen wir nicht. Bogenspanner ist Rübezahls Freund, und damit basta.«

Auch unter diesen Männern der Wildnis gibt es einen Anstand, sogar ein ganz ausgeprägt feines Taktgefühl. Böse Zungen behaupten, es käme daher, weil man bei Fragen und offenen Antworten gar zu viele Zuchthausstrafen und ungesühnte Raubmorde erfahren würde. Es liegt dem aber doch ein sittliches Gefühl zugrunde, welches nur nicht so leicht zu charakterisieren ist.

Doch andere Fragen waren erlaubt.

»Er wohnt auch in der Behausung des Alten?«

»Jawohl, an den Indianer hat er sich gewöhnt. Aber ich bin nicht im gerinsten eifersüchtig darauf.«

Wie merkwürdig diese naive Erklärung klang! Für den aber, der tiefer in ihren Sinn drang, für den klang sie köstlich.

»Wißt,« fuhr der Waldläufer fort, »der Alte ist zwar noch ganz rüstig und flink dazu, vielleicht noch fixer als ich, aber alt ist er doch, es kann ihm doch einmal etwas passieren, und da hat er den Indianer zu sich genommen.«

»Geht der Alte auch noch auf die Jagd?«

»Na und wie! Er macht ja gar nichts weiter. Schießen, schießen, immer schießen und neue Fallen erfinden. Und was für ein Pürschgänger das ist!«

»Ich denke, er studiert viel.«

»Na ja, in den langen Winternächten.«

.»Warum hat der Indianer den Namen Bogenspanner bekommen?«

»Weil er auf der Jagd nur Pfeil und Bogen benutzt. Aber was der mit dem elenden Pfeil alles machen kann! Da kommt manche Spitzkugel aus dem besten Hinterlader nicht mit. Hm — ehem.«

Weaselbill hatte noch etwas auf dem Herzen, erst mußte er sich ausknurksen.

»Ich glaube — ich glaube — da ist auch noch etwas anderes dabei, daß er nur mit Pfeil und Bogen schießt. Er mag ein Gewehr gar nicht mehr anfassen. Wie er zufällig einmal eins berührte, schrak er zurück, als hätte er eine giftige Schlange angefaßt. Seht, da ist eben ein Geheimnis dabei, und über ein Geheimnis soll man nicht sprechen und nicht fragen. — Und ich denke, nun legt Ihr Euch schlafen, ich werde die erste Wache übernehmen, oder ich werde lieber die ganze Nacht wachen, Ihr habt den Schlaf nötig, und ich kann morgen den ganzen Tag auf Eurem Buckel schlafen.«

— — — — —

Der nächste Tag brachte erst recht eine Hochtour mit immer steileren und gefährlicheren Wegen. Das Sinken der Temperatur wurde besonders im Schatten bemerkbar, die Vegetation nahm immer mehr einen alpinen Charakter an, die Nadelbäume traten in ihre Rechte, und Exemplare waren darunter, die den Kanadier an die Riesen seiner Heimat erinnerten.

An Schnee darf man in Mexiko bei dieser Höhe freilich nicht denken, wenigstens nicht im Sommer. Aber dort oben, wo es auf den Kämmen im Sonnenschein so blendend weiß glitzerte, das war wirklich Schnee, welcher in der verdünnten Luft den Sonnenstrahlen trotzte.

Weaselbill dirigierte sein zweibeiniges Reittier mit unfehlbarer Sicherheit.

Und noch solch eine Klettertag verging! Dann aber war die Erlösung nahe.

»Na, heute mittag werden wir zu unserem Hirschfleisch schon Kaffee haben,« sagte Weaselbill.

»Dann sind wir am Ziel?«

»Wenn Ihr damit meine Höhle meint, in der ich für gewöhnlich hause, wo ich meine Jagdgerätschaften aufbewahre — nein, das noch nicht. Aber dann sind wir schon auf meinem Jagdgebiet, wo ich überall versteckte Niederlagen habe.«

Einige Stunden später erreichten sie die Höhle, deren Eingang selbst ein dicht Vorübergehender, der nicht davon gewußt, gar nicht gesehen hätte.

Proteus bellte wütend, dann in ein ängstliches Geheul übergehend. Man durfte nicht unbedingt etwas darauf geben. Dieser Jagdhund hatte noch niemals mit großen Raubtieren zu tun gehabt, und sie hatten schon wiederholt die Fährten von solchen gekreuzt, und stets hatte sich Proteus so benommen.

»Hier riecht es recht scharf,« sagte der Kanadier, als er seinen Patienten im Vordergründe der Höhle, wo es aber wegen gegenüberstehender Felswände schon halbdunkel war, vorsichtig zu Boden gleiten ließ. »Hier riecht es nach......«

»Hallo, was ist denn das?!« rief in diesem Augenblicke der Waldläufer.

Er war auf ein weiches Fell zu liegen gekommen, und dieses Fell war lebendig, es quietschte und winselte und fand ein vielstimmiges Echo im finsteren Hintergrunde der Höhle.

Junge Bären! Das eine Baby hatte seinen ersten Ausflug in der Höhle gemacht, die für ihn vorläufig die Welt bedeutete. Man hatte Proteus' Warnung mißachtet, und wenn es irgendwo ungemütlich ist, so ist es im Wochenbett einer Bärin.

Doch keiner der beiden Männer dachte an eine Flucht, ganz im Gegenteil, das Jagdfieber bemächtigte sich ihrer.

Schnell wurde beraten. Lange blieb die säugende Bärin von ihren Jungen doch nicht fort. Weaselbill blieb in der Höhle zurück, aus dem Dunkel heraus nach dem hellen Eingang hatte er ein vorzügliches Ziel, Scott sollte draußen Posto fassen.

So geschah es. Der Kanadier untersuchte seinen Doppellader, ersetzte die eine Schrotpatrone durch eine Kugel. Er wartete einfach seitwärts vom Eingange der Höhle auf die Rückkunft der Bärin. Der Bär weicht ja eigentlich jedem Menschen aufs ängstlichste aus, um so mehr, je seltener der Mensch in seinem Revier ist — aber bei einer säugenden Bärin gibt es so etwas nun freilich nicht, zumal wenn sie ihre Jungen schon in Gefahr sieht.

Lange brauchte Scott nicht zu warten. Ein gemütliches Brummen erscholl, und um die Felsecke auf dem schmalen Grat bog ein zottiges Ungeheuer von einem Bären oder vielmehr einer Bärin.

Scott konnte einmal deutlich beobachten, wie auch die Physiognomie eines Tieres der Veränderung fähig ist. Dieser grenzenlose Schreck, den die Gesichtsmaske ausdrückte, wie das Tier dort den Menschen neben der Höhle stehen sah, neben seinem Heiligtume — wie sich dieser Schreck in die furchtbarste Wut verwandelte — — — Scott hatte keine Zeit, weiterzustudieren — einige große Sätze, und unter einem donnernden Gebrüll marschierte der Bär auf den Hinterbeinen auf ihn zu, um den Frevler in seine tödliche Umarmung zu nehmen.

Scott hatte schon im Anschlage gelegen, und seine Hand wußte nichts von Zittern, und er kannte sein Gewehr.

Er knackte.

Wenn dem sonst so eisernen Kanadier jemals der kalte Todesschreck durch die Glieder gefahren war, so war es damals, als die Patrone im kritischen Augenblick versagte.

Doch er war dabei nicht zusammengezuckt, sein Finger berührte den zweiten Drücker, und jetzt donnerte der Schuß, und die Kugel konnte nicht fehlgehen, zum offenen Rachen hinein, in den Gaumen hinein und durch das Gehirn hinten wieder heraus.....

Nein, eben nicht!! Wohl hatte der Schuß gedonnert, und zwar in einer furchtbaren Weise, ein hundertfältiges Echo erweckend, es hatte überhaupt gar nicht wie ein Gewehrschuß geklungen, viel eher wie ein schlechtgeladener Böller — und der Bär hatte keine Kugel in den Rachen bekommen, der schlang im nächsten Augenblick die Tatzen um den schlechten Schützen.

Doch der hatte sich nicht dabei aufgehalten, dem Echo des seltsamen Knalles zu lauschen, schon hatte er statt des Gewehres sein Jagdmesser in der Hand, und wie er sich bei der unerwünschten Umarmung durch die haarigen Arme benahm, wie er geschickt den Kopf noch rechtzeitig unter das Kinn des Rachens zu drücken wußte, das verriet, daß der junge Kanadier nicht das erstemal mit einem Bären handgemein wurde, in seiner kalten Heimat gab es ja genug von dieser Sorte.

Zu beschreiben ist so etwas nicht. Inzwischen wäre der Mann schon tot, schon zermalmt. Da gibt es nur ein Ende, ein Resultat.

Der Verzweiflungskraftakt eines Riesen, und, das Messer tief im Herzen, wirbelte das von dem Grat gestoßene Ungeheuer durch die Luft, bis es irgendwo unten mit zerschmetterten Knochen landete, und die gewaltigen Arme hatten nicht mehr die Kraft gehabt, den Sieger mit sich in die Tiefe zu nehmen.

Scott hatte, als er das Messer aus der Scheide gerissen, den Bären nicht bis an sich herankommen lassen, er war ihm entgegengesprungen, gerade vor dem Eingange der Höhle hatte das Rencontre stattgefunden, so war Weaselbill Zeuge der Heldentat seines neuen Freundes geworden, und der professionelle Jäger stieß ein wildes Triumphgeschrei aus, war ganz außer sich, tanzte, auf dem Rücken liegend, wenigstens mit dem gesunden Beine in der Luft herum.


Illustration

»Na, wenn das Rübezahl hört — oder wenn er das gar selbst gesehen hätte — aber er braucht es auch nur zu hören, mir glaubt er — — das ist so etwas für ihn, dann seid Ihr sein Mann!!«

Scott achtete nicht darauf, er hob sein Gewehr auf, und wie er es anfaßte, hatte er ein förmlich verstörtes Gesicht, er betrachtete es von allen Seiten, als wäre es ein fremdes Gewehr.

»Das war doch nicht mein Gewehr,« murmelte er, »oder aber.... Weaselbill, habt denn Ihr geschossen?«

»Ich? Nee.«

»Das war ein Doppelschuß!! Ja, ich — ich — ich glaube sogar, ich habe meine Kugel in der Luft gegen etwas klatschen hören!«

Da erscholl ein unterdrückter Schrei, Scott drehte sich um — in einiger Entfernung hinter ihm stand auf dem Felsgrat ein Mann, besonders auffallend durch die Pelzjacke und die hohe, spitze Pelzmütze. Er mochte schon ein Greis sein, aber das Gesicht war noch frisch wie die Hände muskulös, auch sonst mußte er noch im Vollbesitz der Manneskraft sein.

»Er ist es, wie der Kristall ihn mir zeigte,« murmelte Scott.

Der andere beachtete ihn zunächst gar nicht. Auf sein langes Gewehr gestützt, betrachtete er mit sichtlichem Staunen, wenn nicht mit heiliger Scheu, einen kleinen Gegenstand, den er in der Hand hielt, dann wandte er sein Gesicht dem Himmel zu, betrachtete wieder das Stückchen Blei, als welches Scott es jetzt erkannte, und dann erst blickte er nach dem anderen Jäger, und wieder war es wie eine heilige Scheu.

»Mann, wer bist du, den das Schicksal dazu bestimmt hat, mich in meiner Einsamkeit zu stören, mich von allem, was mir bisher lieb und teuer war, zu entfremden, weil das Schicksal will, daß ich von jetzt an bis zu meinem Lebensende mit dir die gleichen Wege gehe?«

Es waren dunkle Worte, die so feierlich gesprochen wurden — nur nicht dunkel für diesen jungen Kanadier mit den träumerischen Augen. Hier schienen zwei ganz gleichartige Charaktere zusammenzutreffen. Dabei ist zu bedenken, daß jeder echte Jäger abergläubisch ist, erst recht, wie schon wiederholt erwähnt und begründet, all jene Menschen, die ihr Leben in der einsamen Wildnis zubringen.

»Unsere Kugeln haben sich begegnet?« fragte Scott.

»Ueberzeugt Euch selbst.«

Scott nahm das dargereichte Stück Blei, welches der alte Mann am Boden hatte liegen sehen. Es hatte die doppelte Größe von einer Flintenkugel, dem Kaliber des Gewehres von Scott und des anderen entsprechend, beide Kugeln waren, beim Zusammentreffen bis zum Schmelzpunkt erhitzt, denn auch zusammengeschmolzen, dennoch war deutlich die Trennungslinie erkennbar.

»Es ist eingetroffen, was mir geweissagt worden ist,« fuhr der Alte in seiner feierlichen Weise fort. »Du und ich — ich und du — und wer bist du nun, an den mich das Schicksal ketten will?«

»Es ist Euch prophezeit worden, daß Eure Kugel einmal der eines anderen in der Luft begegnen wird — ein Fall, der bei Millionen gleichzeitigen Schüssen auf ein und dasselbe Ziel vielleicht nur ein einzigesmal vorkommt?«

Aber der Alte ließ sich auf keine Erklärung ein.

»Ich frage dich jetzt, wer du bist,« erklang es schroff, fast drohend.

»Ich komme, um Euch hier aufzusuchen.«

»Mich?!«

»Ja, Euch, den einsamen Mann in der Pelzjacke mit der hohen, spitzen Pelzmütze.«

»Ich kenne dich nicht, und du bist zu jung, um mich aus meinem früheren Leben zu kennen.«

»Rübezahl, Vater Rübezahl, kommt erst einmal zu mir!« ließ sich da Weaselbills Stimme in der Höhle vernehmen.

»Was, ist das nicht Weaselbill?« fragte der Alte erstaunt. Er hatte die beiden also noch gar nicht zusammen gesehen.

Ohne sich um Scott noch zu kümmern, begab sich der Alte in die Höhle, und jener folgte ihm nicht, begab sich sogar noch abseits von dem Höhleneingang, suchte einen Abstieg nach der Schlucht, in welcher der Bär lag.

Jetzt erfolgte dort drinnen die erste Erklärung, Weaselbill erzählte von dem Fremden.

Nach einer Viertelstunde kam der Alte wieder aus der Höhle. Er hatte drei kleine Bären, hilflose Geschöpfe, mit Lederriemen umwickelt, wie Säcke auf dem Rücken hängen.

»Was ich von Weaselbill zu erfahren bekommen habe, löst mir die vorliegenden Rätsel nicht, vermehrt sie vielmehr nur. Doch hier ist nicht der Ort, wo wir uns aussprechen können. Bist du imstande, den Mann noch zwei Stunden zu tragen?«

»Ich bin es.«

»So trage ihn dorthin, wohin er dich leiten wird. In zwei Stunden sehen wir uns wieder.«

Ohne ein Wort weiter zu verlieren, schulterte der Alte seine Büchse und verschwand hinter der Felsenecke.

Scott begab sich in die Höhle zurück. Weaselbill sagte ihm, daß er Rübezahl, während dieser schweigend mit kundiger Hand die Schienung untersuchte, ohne etwas daran zu ändern, alles erzählt habe. Er hatte dazu kein Wort geäußert, dann nur gesagt, Weaselbill solle den fremden Mann, dessen Namen er noch nicht einmal kannte, nach seiner Behausung dirigieren.

So geschah es denn auch. Noch ein Kletterweg von zwei Stunden, und wieder war das Ziel eine Höhle, noch versteckter gelegen als jene.

Erst das plötzliche Auftauchen eines Menschen verriet Scott, daß sich zwischen den zerklüfteten Felsen der Eingang befand. Es war ein noch junger Indianer, nur mit Mokassins und Leggins bekleidet, der Oberkörper trotz der herrschenden kühlen Temperatur nackt, und Scott erkannte sofort, daß die farbigen Tätowierungen auf der Brust, wie auch in dem Gesicht durch Ausstechen beseitigt worden waren, und da dies nicht so ganz gelingt, waren bei dem farblosen Nachstechen die Linien verändert worden, so daß man von der ursprünglichen Zeichnung gar nichts mehr erkennen konnte. Auch dadurch unterschied sich der dunkelhäutige Indianer von seinen nordamerikanischen Brüdern, daß er keine Skalplocke trug. Er hatte das schwarze, straffe Haar wieder langwachsen lassen.

Noch eins fand Scott an dem Manne sehr auffallend. Es war eine mittelgroße, schlanke Figur, dabei äußerst muskulös gebaut, eigentlich vom vollendetsten Ebenmaß, welches aber von einer einseitigen Entwicklung gestört wurde, ohne daß dies gerade das Auge beleidigte.

Sehnig und muskulös war der linke Arm, der ganzen Statur entsprechend — doch er konnte sich nicht vergleichen mit dem rechten Arm, welcher, von Sehnensträngen und Muskeln starrend, fast doppelt so stark im Umfange war wie der andere, und dasselbe galt von der rechten Hand, an der besonders der Daumen und Zeigefinger eine ungeheure Muskulatur zeigten.

So ganz kam dies dem Kanadier nicht befremdlich vor. Bei allen Indianern, welche noch heute Pfeil und Bogen benutzen, wie z.B. aus alter Überlieferung bei der Büffeljagd ausschließlich, findet man den rechten Arm stärker entwickelt als den linken, und es gibt wohl keinen echten Indianer, der nicht zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand ohne Anstrengung eine Haselnuß aufknacken kann.

Das rührt eben von dem Spannen des Bogens her, wobei der befiederte Schaft mit Daumen und Zeigefinger gepackt und so die Sehne zurückgezogen wird, und wer einmal Gelegenheit hat, solch einen indianischen Bogen in die Hand zu nehmen, etwa in einem ethnographischen Museum oder in einer Wild-West-Schaustellung, der soll nur versuchen, solch einen Bogen, ob er nun von Holz oder vom Horne eines Bergschafes ist, zu spannen! Vielleicht noch schwieriger ist es, die Sehne erst über den Bogen zu legen. Da scheitert die Kraft manches germanischen Hünen daran, während ein halbwüchsiger Indianerjunge es mit Leichtigkeit fertigbringt. Das macht eben die Uebung, da sind auch Tricks dabei.

Aber solch einen Unterschied zwischen zwei Armen an ein und demselben Körper hatte der Kanadier denn doch noch nicht gesehen!

»Bogenspanner heißt dich als den Gast seines alten Vaters willkommen, er hat für dich das Essen bereitet,« sagte der Indianer in geläufigem Englisch, mit der Hand auf dem Herzen sich leicht verbeugend, und edel wie jede seiner Bewegungen war auch dieses dunkle Gesicht, und daß sich trotz der unbeweglichen Ruhe darin etwas wie von leiser Schwermut ausprägte, machte es nur noch sympathischer.

Ein kurzer Tunnel, in dem sich der kanadische Riese bücken mußte, und er befand sich in einer geräumigen Höhle, in der alles vorhanden war, was ein Jäger und Fallensteller zur Ausübung seines Berufs und zur Erhaltung seines Lebens braucht, aber auch nichts mehr. Daß der Bewohner auf einer höheren geistigen Stufe stand, davon war hier noch nichts zu bemerken.

Weaselbill wurde auf Fellen gebettet, und ehe man sich mit ihm beschäftigte, trug Bogenspanner dem Gaste gebratenes Fleisch auf, welches er auf hölzernen Tellern aus dem dunklen Hintergrunde der Höhle brachte, und dort konnte diese noch nicht zu Ende sein, das hier war nur eine Abteilung.

»Wo ist der Vater, wie du ihn nennst?«

»Er ist schon hier, und wenn du gesättigt bist, wird er dich sprechen.«

Wenn der alte Mann so über jede Neugier erhaben war oder seine Ungeduld zu bezähmen wußte, durfte auch der Gast nicht drängen, und das lag ja auch gar nicht im Charakter des stillen Kanadiers.

Während der Indianer sich mit Weaselbill beschäftigte, aß Scott mit bestem Appetit und unerschütterlicher Seelenruhe, bis er den letzten Teller geleert hatte.

»Bist du bereit, mir zu folgen?«

»Ich bin es.«

»So komm! Der Vater erwartet dich.«

Es war ein wahrer Dachsbau, durch den Scott geführt wurde. Die meisten der einzelnen Abteilungen, durch Decken voneinander getrennt, waren mit getrockneten Fellen und Pelzen gefüllt, in anderen wurden diese aufgepflöckt, einige enthielten Fallen und andere zur Jagd nötige Utensilien, die Provianträume nicht zu vergessen. Künstliche Beleuchtung am Tage war nirgends nötig, überall drang durch Spalten und Ritzen das Sonnenlicht herein, während dafür Sorge getroffen war, daß Regen oder schmelzender Schnee nicht schaden konnte.

Ganz anders der letzte Raum, den Scott betrat. Es war die Bibliothek, das Studierzimmer des Alten, freilich nicht zu vergleichen mit dem Arbeitszimmer eines modernen Gelehrten. Die Bücher standen auf Regalen, deren Bretter nur dünne, der Länge nach gespaltene Baumstämme waren, auch sonst machte alles noch einen ganz hinterwäldlerischen Eindruck. In einem Winkel schien eine Werkstatt zu sein, wo aus Draht und anderen Eisenteilen Fallen hergestellt wurden.

Bogenspanner blieb zurück, ließ die zurückgeschlagene Decke vor dem Eingange niederfallen. Der Alte saß rauchend auf einem Baumstumpf, der mit einem Pelze belegt war.

»Du bist mein Gast. Setze dich. Ich bin gespannt, was du mir zu sagen hast.«

Ein Blick auf die Rückentitel der Bücher hatte Scott gesagt, daß er hier einen Mann fand, der ihn verstehen würde. Gracians Handorakel, dem Titel nach in Latein verfaßt, jedenfalls die Ausgabe von Schopenhauer, Scott sah es gleich an dem ihm wohlbekannten Originaleinband — wer sich für den Inhalt dieses Werkes interessierte, dem war auch das nicht fremd, was der somnambul veranlagte Kanadier dann erzählen mußte.

Scott hatte sich gesetzt, und der Alte wartete offenbar darauf, daß jener zuerst das Wort ergreifen sollte. Er wollte ihm die Einleitung und den ganzen Lauf des Gespräches überlassen.

»Kennt Ihr einen Mann namens Nobody?« begann also Scott.

»Nein.«

»Es ist ein berühmter Detektiv.«

»Ich kenne ihn nicht. Ich habe seit länger denn zwanzig Jahren keine Zeitung mehr zu Gesicht bekommen.«

»Dann allerdings könnt Ihr auch nichts von ihm gehört haben. Er ist eben ein weltbekannter Detektiv und, für mich die Hauptsache, er ist mein Freund. Dieser Nobody ist seit einem Jahre verschollen.«

»Und du suchst ihn?« fragte der Alte einfach, aber durch diese Frage doch Interesse zeigend.

»Ja. Ich fasse mich so kurz wie möglich. Im Oktober vorigen Jahres hielt sich Nobody in Buenos Aires auf, wo er eine ganze Bande von Verbrechern der Justiz zur Bestrafung ausgeliefert hatte. Den Bericht hierüber schickte er wie gewöhnlich an eine New-Yorker Verlagsbuchhandlung, von Buenos Aires aus. Ferner telegraphierte er von dort unterm 23. Oktober nach London an seine Gattin, daß er noch nicht genau wisse, wohin er sich jetzt wenden würde; der Bescheid würde ihr in den nächsten Tagen zugehen, ebenfalls per Draht. So hat es Nobody, der rastlos in der Welt umherreiste, stets gehalten, seine Gattin kannte stets sein nächstes Ziel, womöglich orientierte er sie schriftlich auch über sein ganzes nächstes Vorhaben. Auch sonst blieb er mit seiner Frau immer in Verbindung. Machte er eine Seereise, so war sein erstes, sobald das Schiff einen Hafen anlief, daß er der Gattin seine glückliche Ankunft meldete. Seit dem 24. Oktober hat Nobody nichts mehr von sich hören lassen, auch das versprochene Telegramm, das sein nächstes Ziel melden sollte, ist ausgeblieben.«

Scott machte eine Pause, und gleich die erste Frage des Alten zeigte, wie aufmerksam er gefolgt war.

»Wann hat er das Telegramm aufgegeben?«

»Am 23. Oktober.«

»Du sprachst aber soeben vom 24.«

»Ja, an diesem Tage hat er, wie der Stempel der Briefmarke zeigt, den Bericht nach New-York geschickt. Daraus ist doch also zu schließen, daß er sich mindestens noch einen Tag in Buenos Aires aufgehalten hat. Das ist aber auch das einzige, was wir von Nobody wissen. Seitdem fehlt jede Spur von ihm.«

»Hat man denn nicht in Buenos Aires nach seinem Verbleib geforscht?«

»Gewiß. Allerdings nicht sofort. Ende November, als Nobody noch immer nichts von sich hatte hören lassen, war es seiner Frau in London zur Gewißheit geworden, daß hier etwas passiert sei. Ein Telegramm kann ja verloren gehen, noch leichter ein Brief — aber beides zugleich — und auch der New-Norker Verleger, mit dem Nobody immer in lebhafter Verbindung steht, hatte kein Lebenszeichen erhalten — — — ein englischer Detektiv, ein ausgezeichneter Spürer, ging ab, der New-Yorker Verleger schickte gleich zweie nach Buenos Aires — ihre Recherchen nach Nobodys Verbleib waren erfolglos. Die beste Auskunft über ihn hätte ein Gentleman namens Cerberus Mojan geben können, der auch mit zu der Entdeckung jener Verbrecheraffäre beigetragen hatte, mit dem Nobody bis zuletzt zusammengewesen war. Mr. Mojan konnte nichts anderes aussagen, als daß sich Nobody von ihm schon am 23. Oktober verabschiedet hatte, also noch einen Tag zuvor, ehe Nobody den Bericht aus Buenos Aires abgeschickt hatte. Auch diesem Herrn hatte Nobody nichts von einem neuen Vorhaben oder seinem nächsten Ziele gesagt, kein Wort. Nun ist die Verfolgung einer Spur dadurch außerordentlich erschwert, daß Nobody immer inkognito reist, er ist überhaupt, wie schon sein Name sagt, ein Niemand, und dann versteht er die Kunst, sich nach Belieben ein völlig anderes Aussehen zu geben, wovon er ständig Gebrauch macht.«

Scott erklärte dies näher, erzählte zur Charakterisierung Nobodys einige Geschichtchen — und wir wollen diese Gelegenheit zur Erklärung benutzen, daß also weder Scott noch Mojan noch sonst jemand etwas von der mexikanischen Knotenschrift wußte. Wohl nur die Damen aus dem Koloradotal kannten den Fund, diese aber kamen hier nicht in Betracht. Nicht einmal zu Mojan hatte Nobody während der Fahrt auf der Feluke darüber etwas gesagt, Mojan hatte auch nicht bemerkt, wie Nobody auf der Argonauteninsel mit der Entzifferung der geknoteten Riemen beschäftigt gewesen war.

»Eine Vermutung lag ja sehr nahe,« fuhr Scott fort, »eine traurige Vermutung, die zur furchtbaren Gewißheit werden mußte, als die Zeit verging, ohne daß Nobody ein Lebenszeichen von sich gab. Nobody hat eben seinen Tod gefunden, und jedenfalls noch bevor er Zeit gehabt hat, an seine Frau das versprochene zweite Telegramm zu schicken, ehe er also über sein neues Ziel und Vorhaben im klaren war. Diese Gewißheit muß heute erst recht bestehen, da nun unterdessen fast ein Jahr verstrichen ist. Nur einer weiß ebenso gewiß, daß Nobody sich noch am Leben befindet.«

»Wer ist das?«

»Ich.«

»Woher weißt du das?«

»Da muß ich erst etwas über mich selbst sagen.«

»Sprich!«

»Mein Name ist Edward Scott, ich bin aus Kanada gebürtig. Und wie darf ich Euch nennen?«

»Nenne mich Vater — oder meinetwegen Rübezahl, wie Weaselbill mich getauft hat. Mehr freilich wirst du über mich nicht erfahren, und ich hoffe, bald von dir zu hören, weshalb du eigentlich zu mir wolltest.«

»Nun, Vater Rübezahl,« sagte Scott, und ein eigentümliches Lächeln umspielte dabei seinen Mund, «für wen haltet Ihr mich sonst?«

»Was soll diese Frage? Sprecht offen und kurz.«

»Ich möchte doch gern Euer Urteil hören. Euch kann ich etwas taxieren. Ich sehe dort z.B. Gracians Handorakel stehen.«

»Daß dir dieses mystische Werk bekannt ist, wundert mich nicht besonders. Trotz deines abgeschabten Hinterwäldleranzugs bist du jedenfalls ein gebildeter Mensch.«

»Und wenn ich Euch nun sage, daß ich somnambul veranlagt bin?«

Allerdings machte der Alte ein höchst erstauntes Gesicht, doch ein Zweifel an der Möglichkeit schien bei ihm nicht zu bestehen.

»Ich sah dich mit dem Bären ringen, wie du ihm dein Messer in das Herz stießest und ihn in den Abgrund hinabschleudertest — bei solch einem Manne sollte man so etwas kaum glauben!«

»Und doch ist es so, und vor allen Dingen freue ich mich, daß du überhaupt an den Somnambulismus glaubst.«

»Ich selbst habe noch kein Medium experimentieren sehen, zu meiner Zeit, da ich noch in der Welt lebte, kannte man dergleichen noch gar nicht, oder man hielt solche Erzählungen für eitel Humbug. Unterdessen hat sich vieles geändert; auch ich in meiner Einsamkeit habe mich dafür interessiert, viele Werke darüber gelesen, sowohl solche, welche dafür sind, als auch solche, welche den ganzen Somnambulismus als ein Märchen verwerfen — mich haben die ersteren überzeugt. Ja, ich glaube daran. Nur habe ich mir ein Medium ganz anders vorgestellt. Und doch, an dir ist etwas — etwas — ich kann es nicht ausdrücken — in deinen Augen lese ich, daß du eine ganz besondere Natur bist — — wie äußert sich bei dir der Somnambulismus?«

Nun hatte Scott leichtes Spiel. Doch es muß immer erwähnt werden, daß der junge Mann sich über seine seltsamen Fähigkeiten ja selbst keine Rechenschaft abzulegen vermochte, er konnte stets nur Beispiele anführen.

»Es war im Februar dieses Jahres,« kam er dann auf den vorliegenden Fall zu sprechen. »Ich hielt mich in Aegypten auf, in der Wüste, abgeschnitten von jeder Postverbindung. Wo sich mein Freund Nobody befand, wußte ich nicht. Wohl aber konnte dieser wissen, daß ich mich in Aegypten aufhielt, auch seiner Gattin konnte er es mitgeteilt haben. Was nun eines Tages mit mir vorging, das kann ich, wie gesagt, nicht beschreiben. Halb war es eine Vision, die mich dazu veranlaßte, halb war es eine innere Stimme, die mir zuflüsterte, mich sofort nach Kairo zu begeben. Ich folgte dem geheimnisvollen Drange, und dieser trieb mich noch weiter, bis zum englischen Generalkonsul. Richtig, hier war eine Anfrage aus London eingelaufen, von Nobodys Gattin, ob Edward Scott sich in Aegypten befände, ob man meinen Aufenthalt nicht erfahren könne. Ich sandte natürlich sofort eine Depesche ab und wurde von Mrs. Nobody telegraphisch gefragt, ob es möglich sei, daß ich einmal nach London käme; wenn nicht, so möchte ich doch in Kairo einen Eilbrief von ihr erwarten.«

Der Erzähler unterbrach sich mit einem Seufzer, und seine Stimme zitterte etwas, als er fortfuhr:

»Ich wurde in Aegypten mit meinem ganzen Herzen durch eine Aufgabe festgehalten, und ich hatte sie noch nicht gelöst. Aber wenn mich meines Freundes Gattin rief, so gab es für mich kein Bedenken. Es war auch noch etwas anderes dabei. Als ich diese letzte Depesche las, in diesem Augenblick wußte ich mit untrüglicher Gewißheit, daß sich mein Freund, mein einziger, in einer drohenden Gefahr befand — doch in was für einer, das erzählte mir die innere Stimme nicht. Genug — der nächste Dampfer brachte mich nach Genua; von dort weiter mit dem Expreßzug, über Calais und Dover nach London.

»Hier erfuhr ich die große Sorge, die um Nobody herrschte. Er wie seine Gattin kannten meine hellsehenden Fähigkeiten, von ihnen hoffte man eine Erklärung, und müßte ich auch Nobodys Tod offenbaren. Das war doch wenigstens eine Gewißheit.

»Wie ich es mache, wenn ich in die Ferne sehen will, schilderte ich schon ausführlich. So setzte ich mich auch diesmal hin, schloß die Augen, konzentrierte meine Gedanken auf Nobody, mein Diener war bereit, schnell nachzuschreiben, was ich sagen würde.

»Vergebens! Der Vorhang wollte sich nicht vor meinen geistigen Augen lüften. Im Gegenteil, es senkte sich vielmehr wie ein schwarzer Schleier herab, ich sah nur — — Nacht sah ich, nichts als Nacht, anders kann ich mich nicht ausdrücken.

»Sollte demnach Nobody tot sein? Nein! Schon oft habe ich mein zweites Ich nach einer Person befragt, die mir lieb und teuer war oder an der ich sonst ein Interesse hatte, und weilte sie bereits nicht mehr unter den Lebenden, so zeigte sie mir mein zweites Ich stets in einem Sarge liegend. Aber, Vater, mißversteht mich nicht etwa. Es ist nicht nötig, daß die betreffende Person, welche tot ist, wirklich in einem Sarge liegt. So sah ich auch einen Mann im Sarge liegen, von dem ich später erfuhr, daß er seinen Tod in den Flammen gefunden hatte, zur Asche verbrannt war. Der ist niemals in einen Sarg gekommen. Hier handelt es sich eben nur um Ideenverbindungen, und Sarg und Tod sind doch zwei engverwandte Begriffe, und eigentlich ist es ja nur meine Phantasie, welche zu mir spricht, mir Bilder zeigt, aber eine ganz besondere Art von Phantasie.....«

»Ich verstehe, ich verstehe,« unterbrach ihn der Alte, »gib dir keine Mühe, etwas erklären zu wollen, wofür der Mensch noch keine Worte erfunden hat. Ich weiß ganz genau, was du meinst, wenn ich es auch ebensowenig wie du ausdrücken kann.«

»So konnte ich nicht glauben, daß mir der schwarze Schleier Nobodys Tod anzeige. Außer meiner Erfahrung sprach da auch wieder meine innere Stimme mit: dein Freund lebt! Lüfte nur diesen schwarzen Schleier, hinter diesem befindet er sich!

»Wie sollte ich diesen Schleier lüften? Und mir kam es eigentlich nicht wie ein Schleier, wie ein Tuch vor, sondern wie — wie — wie eine Finsternis, wie eine Nacht, wie der Mangel an Licht.

»Da fiel mir etwas ein. Ich hatte noch niemals Gelegenheit gehabt, in meinem Hellsehen eine Person zu beobachten, die sich in einem dunklen Raume befindet. Konnte dieser Fall hier nicht vorliegen? Konnte Nobody nicht in einem stockfinsteren Raume gefangengehalten werden?

»Zunächst mußte ich das an anderen Personen ausprobieren. Mrs. Nobody begab sich in einen finsteren Raum, ich konzentrierte meine Gedanken auf sie, wollte sie sehen. Der Versuch mißlang ganz und gar. Ich bekam Mrs. Nobody überhaupt nicht zu sehen, auch wenn sie sich in einem hellen Raume aufhielt. Ich machte die verschiedensten Versuche — alles vergeblich — kurz und gut, es war fast, als hätte mich meine Sehergabe total verlassen, und nur wenn ich meine Gedanken auf Nobody konzentrierte, fiel vor meinen geistigen Augen wieder der schwarze Vorhang herab.

»Ich bin über meine Sehergabe gar oft sehr, sehr unglücklich gewesen. Nicht umsonst ist für den normalen Menschen vor die Zukunft ein undurchdringlicher Schleier gezogen, und auch das einfache Fernsehen hat mir schon unglückliche Stunden genug bereitet. Jetzt war ich unglücklich darüber, daß mich diese meine Sehergabe plötzlich verlassen zu haben schien. Sah ich doch, wie unglücklich meines Freundes Gattin war, die ihre letzte und auch ihre ganze Hoffnung auf mich gesetzt hatte.

»Vergebens zermarterte ich meinen Kopf, wie ich hier in meinem geistigen Schauen wieder Klarheit herbeiführen könne. Da spielte mir der Zufall — ich nenne es hier so, obgleich ich jetzt an keinen Zufall glaube — die Probenummer einer spiritistischen Zeitschrift in die Hände. Achtlos blättere ich sie durch — ich glaube nicht an Spiritismus. Wohl mag etwas Wahres daran sein, aber ich bin ein ausgesprochener Feind desjenigen Spiritismus, wie er heute betrieben wird. Ein Viertel Wahrheit, ein Viertel Einbildung, zwei Viertel betrügerischer Humbug. Doch das nur nebenbei. Mich fesselte im Annoncenanhang eine seitenlange Anzeige. Ein kleiner Apparat wurde angepriesen, der das sogenannte ›Kristallsehen‹ ermöglichen sollte. Unter Kristallsehen verstehen die Okkultisten.....«

»Ich weiß schon,« fiel ihm der aufmerksam Zuhörende ins Wort. »Man blickt in ein geschliffenes Glas, denkt dabei an eine bestimmte Person, dann sieht man diese Person sich in dem Kristall bewegen, das tun, was sie zur Zeit wirklich tut — vorausgesetzt, daß man überhaupt hellseherische Veranlagung hat.«

»Glaubt Ihr denn auch an dieses Kristallsehen?« fragte Scott mit einigem Staunen.

Zuerst hob der Alte skeptisch die Achseln.

»Wie gesagt, ich habe gelernt, daran zu glauben, was mir ernste Forscher versichern, und auch das Kopernikanische Weltsystem war anfangs als eine lächerliche Torheit verworfen, während jetzt doch kein halbwegs gebildeter Mensch mehr daran zweifelt, daß sich die Erde wirklich um die Sonne dreht, obgleich wir mit unseren Sinnen gerade das Gegenteil wahrnehmen, und obgleich doch nur die wenigen Menschen, welche Astronomie studiert haben, den theoretischen Beweis dieser Berechnung nachprüfen können. Da heißt es eben den größeren Geistern einfach Glauben schenken.«

»Und wer hat Euch gesagt, daß an dem Kristallsehen etwas Wahres ist oder sein kann?«

»Ich habe ein Werk von Andrew Lang darüber gelesen, und was er da ausführte, klang recht vertrauenerweckend.«

»Ah, Andrew Lang! Auch ich kenne diesen einwandfreien Okkultisten, der zugleich ein berühmter Physiker mit der nüchternsten Beobachtungsgabe ist. Und auch in jener Reklame ward auf diesen Forscher Bezug genommen. Ueberhaupt war die zum Kauf des billigen Apparates einladende Anzeige recht solid gehalten, eigentlich gar nicht reklamehaft. Es wurde gleich gesagt, daß nun nicht etwa jeder in dem Kristall entfernte Personen und Gegenstände sehen könne, dazu gehöre eine lebhafte Einbildungskraft, überhaupt eine ganz besondere Veranlagung, nur besäßen diese Veranlagung, von den Okkultisten latente Clairvoyance genannt, mehr Menschen, als man ahne, sie selbst wissen es nicht, wie jener Andrew Lang durch zahllose Versuche bewiesen hat, und die angepriesene Kristallkugel sei das beste Hilfsmittel, die latente Clairvoyance zum Erwachen zu bringen.

»Als ich dies las, da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich hatte ja schon oft genug von diesem Kristallsehen gelesen — wie kam es nur, daß es mir noch niemals eingefallen war, es zu probieren? Es hatte eben nicht sein sollen — nicht eher, als bis ich es wirklich brauchte.

»Es mußte ja nicht gerade jener käufliche Kristall sein, den ich benutzte. Ich nahm zuerst eins jener Prismagläser, wie sie am Kronleuchter hängen, setzte mich bequem hin, blickte fest in das geschliffene Glas, mit dem festen Wunsche, darin meinen Freund zu sehen — — und wahrhaftig, da plötzlich sehe ich in dem Kristall kleine, menschliche Figuren sich bewegen! Allein es war zu undeutlich, ich konnte die Umrisse der Gestalten nicht fixieren, alles huschte und zitterte durcheinander. Ich versuchte es mit anderen spiegelnden Stoffen, nicht nur mit Glas, immer sah ich etwas, besonders auch recht gut in einem mit Wasser gefüllten silbernen Becher, oder ich brauchte auch nur in klares Quellwasser zu blicken, vom Wunsche beseelt, etwas über das Schicksal meines Freundes zu erfahren, sofort erblickte ich in dem spiegelnden Wasser sich bewegende Figuren...«

»Da muß ich dich noch einmal unterbrechen,« sagte der Alte. »Hattest du denn schon früher solche Bilder gesehen, wenn du in Wasser oder sonst auf einen spiegelnden Gegenstand blicktest?«

»Niemals. Die Sache ist doch eben die, daß ich mir dieser meiner Fähigkeit bisher noch gar nicht bewußt gewesen war, und der Mensch im allgemeinen kann sich seiner Fähigkeiten, gleichviel welcher Art, erst bedienen, wenn er überhaupt weiß, daß er sie besitzt, und das gilt auch von den Fähigkeiten der Seele, des unbewußten Ichs. Allerdings bringt das Schicksal oder der Zufall immer eine Gelegenheit, daß man diese seine Fähigkeiten an sich entdeckt, sonst würden sie ja niemals zum Bewußtsein erwachen. Dann müßt Ihr doch auch bedenken, daß diese Bilder nur meiner eigenen Phantasie entspringen, in Wirklichkeit sind die Figuren doch gar nicht vorhanden, photographiert können sie nicht werden; nur ist es eine besondere Art von Phantasie, die Phantasie des Unbewußten....«

»Jetzt weiß ich, was du meinst. Fahre nur fort in deiner Erzählung.«

»Nach wiederholten Versuchen mit den verschiedensten Gegenständen merkte ich, wie der Spiegel beschaffen sein mußte, der mir die deutlichsten Bilder lieferte. Ein richtiger Spiegel zeigte mir überhaupt gar nichts, am deutlichsten wurden sie in einem einzigen Wassertropfen, den ich auf eine schwarze Tischplatte goß, und die Konturen der Figuren wurden um so schärfer, je kleiner der Wassertropfen war. Wie kam das? Nach einigem Nachdenken hatte sich diese Frage gelöst. Jeder Wassertropfen strebt danach, möglichst die Form einer Kugel anzunehmen, und je kleiner er ist, desto mehr kann sich der Tropfen wölben — je runder der Spiegel war, desto deutlicher wurden auch die Bilder, und zwar muß die Kugel nicht nur spiegelnd sondern auch durchsichtig sein!

»Man hat nicht immer eine wasserhelle Glaskugel zur Hand. Eine solche, wie man sie in jedem Spielwarengeschäft zu kaufen bekommt, versagte gänzlich, die spiegelte ja auch gar nicht. Und warum war in jener Annonce so betont, daß die auf einem kleinen Holzpostament ruhende Glaskugel vom feinsten Schliff mit sorgfältigster Politur sei, genau so hergestellt, wie Andrew Lang sie empfohlen hätte? Ich schrieb sofort hin, am anderen Tage hatte ich die bestellte Kristallkugel in meiner Hand — — — hier ist sie.«

Scott zog das Ornament aus der Tasche, und da solche Glaskugeln zum ›Kristallsehen‹ tatsächlich in entsprechenden Zeitungen angepriesen werden, kann jetzt auch genau gesagt werden, daß ihr Durchmesser zwei Zoll betrug. Der Alte nahm sie, betrachtete sie und gab sie wieder zurück.

»Nun, und der Erfolg?«

»War verblüffend. Ich setzte mich davor hin, sah starren Blickes in den runden Kristall, all meine Gedankenkraft darauf konzentrierend, meinen verschwundenen Freund darin sehen zu wollen, und da plötzlich sah ich in dem Kristall.... nun, was meint Ihr, wen ich sah?«

»Eben deinen Freund.«

»Nein. Euch sah ich.«

»Mich?!«

»So, wie Ihr jetzt vor mir sitzt. Ihr bewegtet Euch, ich sah Euch die verschiedensten Handlungen ausführen — aber fragt mich nicht, welche. Eine Beschreibung der Bilder ist nämlich ganz unmöglich. Mit einem richtigen Spiegelbilde ist das ja auch gar nicht zu vergleichen. Das ist ja eben nur eine Ausgeburt meiner eigenen Phantasie, und wie sich die Phantasie nicht so leicht bannen oder fixieren läßt, so wenig auch solch ein Bild in Kristall. Das zittert beständig hin und her, und ich brauche mich nur einmal verwundert zu fragen — ja, was soll das eigentlich? Was hat der Mann mit dem Pelzrock mit meinem Freunde zu tun? — weg ist das Bild, und ich muß es durch Geisteskonzentration von neuem hervorzaubern. Einmal sah ich ganz deutlich, wie Ihr einen an einem Baumast hängenden Hirsch abstreiftet.

»Die Hauptsache war für mich, daß der Mann eine Pelzjacke und eine hohe, spitze Pelzmütze trug. War denn das mein Freund Nobody? Kaum stellte ich diese Frage, so verschwand das Bild. Jetzt fragte ich: wo befindet sich Nobody? Keine Antwort, aber die Kugel wurde ganz schwarz, undurchsichtig. Also wieder jener schwarze Schleier. Wie finde ich Nobody? Sofort war wieder der Mann mit der Pelzjacke und Pelzmütze da.

»Ihr versteht wohl. So mußte ich nach und nach erst lernen, meine Fragen zu stellen, und dann auch, die mir bildlich gegebenen Antworten zu deuten. Nobody selbst war nicht zu erblicken, das war nun ein für allemal ausgemacht. An den Mann in der Pelzjacke mußte ich mich wenden, um Nobody aufzufinden. Wer war dieser Mann? Sofort sah ich ihn, wie er einen Hirsch abhäutete. Also ein Jäger. Wo war dieser Mann? Das Bild veränderte sich, die bisher schwachen Umrisse der Gegend wurden schärfer, weil sie jetzt für mich die Hauptsache waren, ich sah Berge, eine alpine Landschaft, mit Schnee bedeckte Kämme — ich dachte zuerst an die europäischen Alpen. Aber ich hatte auch bereits erfahren, daß ich sehr, sehr vorsichtig sein mußte, ich konnte mich täuschen. So lautete meine nächste Frage: Wie finde ich diesen Mann? Da plötzlich sah ich in dem Kristall mich selbst, in einem abstrapazierten Jagdkostüm, die Büchse über der Schulter hängend, und begleitet wurde ich von einem gefleckten Jagdhund, so sah ich mich durch Wald und Flur marschieren, und alle die Gegenden, durch welche ich in den letzten fünf Tagen gekommen bin, habe ich bereits in diesem Kristall gesehen, meine Phantasie, ich will es gleich meinen Sehergeist nennen, hat mir alles bereits vorgemalt......«

»Das ist ja wunderbar!!« rief jetzt der Alte in höchstem Staunen.

»..... und ich sah im Kristall, wie mich der Hund zu einem Manne führte, der hilflos unter einem Baume lag, an dessen Stamm er seine linke Hand gebunden hatte, und der Mann trug einen gelben Lederanzug und neben ihm lag eine seltsame Tabakspfeife, deren Kopf aus einem kleinen Tierschädel bestand.....«

»Höre auf, höre auf!!« rief der Alte, wie außer sich, sprang empor und begann in dem engen Raume auf und ab zu wandern.

Doch nicht lange währte es, so kehrte er beruhigt zu seinem Sitze zurück.

»Fahre fort!« sagte er kurz.

»Von wo muß ich ausgehen, um diesen Mann zu treffen? Das war meine nächste Frage. Und der Kristall zeigte mir ein am Walde gelegenes Blockhaus, und ich sah darin einen kleinen, zigeunerhaften Mann hantieren, und wie ich schaute und schaute, da sah ich auch den gelben Mann mit der merkwürdigen Tabakspfeife eintreten, und er stellte sich an ein Pult und schien zu schreiben, und worauf er schrieb, das sah aus wie eine Postkarte....«

»Wunderbar, wunderbar!!« flüsterte der Alte, den Erzähler immer mit starren Augen betrachtend.

»Wo liegt dieses Blockhaus? Da wurden die Personen zur Nebensache, das Blockhaus zur Hauptsache, es vergrößerte sich, die Umrisse nahmen an Schärfe zu, die Umgebung gesellte sich hinzu, ich sah eine riesige Sykomore daneben stehen, und ich sah, wie sie von dem kleinen Zigeuner gefällt wurde, und wie ich die Umgebung noch deutlicher zu sehen wünschte, da erkannte ich aus der Vegetation mit untrüglicher Gewißheit, daß dieses Blockhaus, an dem ich einen mit acht Maultieren bespannten Postwagen vorbeifahren sah, nur im nördlichen Mexiko liegen könne.

»Erspare mir die Aufzählung alles dessen, was ich im Kristall erblickte. Es hatte seine Grenzen. Oder aber, es war kürzer, wenn ich jetzt Menschen zu Rate zog. Ich kannte einen Mann, der in Mexiko zu Hause ist. Kaum hatte ich die Schilderung des Blockhauses und des kleinen Mannes mit der bunten Serape begonnen, als er schon rief: ›Das ist Old Jimmy, der Postmeister von der Station Mendazedes!‹

»Was sollte ich nun noch länger in den Kristall blicken? Ich reiste ab, nach Mexiko, über Galveston. Und in Austin führte mir das Schicksal diesen gefleckten Jagdhund zu, den ich nötig hatte, um Weaselbills Spur verfolgen zu können, und das Schicksal hatte auch bestimmt, daß des Hundes Herr am Tage zuvor gestorben war, denn er selbst hätte dieses edle Tier nimmermehr verkauft, während die Witwe es mir gern abließ. So kam ich nach jenem Blockhaus, und der Mann im gelben Leder trat ein und schrieb eine Postkarte — — genug!! — — jetzt bin ich hier, um dich zu fragen, wo sich mein verschollener Freund Nobody befindet.«

Der Alte hatte die Ellenbogen auf die Knie gestemmt und den Kopf in die Hände, so blickte er starr vor sich hin.

»Wunderbar, wunderbar,« flüsterte er, »und ich kann nicht mehr an der Wahrheit deiner Worte zweifeln... nicht umsonst begegneten sich unsere Kugeln.... o Mensch, wie armselig bist du, wenn du nur das zu glauben und zu fassen vermagst, was du mit deinen Fäusten packen kannst! Ja, aber.... wie soll ich dir sagen, wo sich dein Freund befindet, den du Nobody nennst? Ich kenne ihn nicht.«

»Das wird sich finden. Umsonst hat mich das Schicksal doch nicht zu dir geführt.«

»Ja, und umsonst trafen auch nicht unsere Kugeln zusammen.«

»Sobald ich den Kristall nach Nobody befragte, zeigte er mir immer und immer wieder den Mann mit der Pelzjacke und der Pelzmütze. Jetzt habe ich dich gefunden, jetzt in deiner Gegenwart muß ich meine unbewußte Phantasie im Kristall sich spiegeln lassen.«

Das Experiment wurde sofort vorgenommen, Vorbereitungen waren dazu nicht nötig. Scott stellte die Glaskugel vor sich hin, schloß erst etwas die Augen, dann blickte er in den Kristall, und da allerdings merkte der ihn beobachtende Alte, daß hier doch etwas Besonderes vor sich ging — immer mehr veränderten sich die Augen des jungen Kanadiers, immer träumender wurde der Blick, immer weltentrückter.

»Ich sehe..... nichts! Die Kugel verdunkelt sich — da ist der schwarze Vorhang wieder, den mein Auge nicht durchdringen kann.«

Und dabei sollte es bleiben. Auch in Gegenwart des Mannes, den ihm der Kristall stets gezeigt, wenn er ihn um das Schicksal Nobodys befragt, wollte der schwarze Schleier nicht weichen.

»Das entmutigt mich nicht,« sagte Scott. »Ich habe sogar dieses negative Resultat erwartet. Jetzt kommt offenbar der zweite Teil des Experimentes daran — jetzt müßt Ihr in den Kristall blicken. Denkt einmal fest an Nobody, so wie ich ihn Euch geschildert habe, und blickt dabei in den Kristall.«

Der Alte befolgte alle Anweisungen. Aber es gelang nicht, er sah nichts weiter als die durchsichtige Glaskugel, keine Bilderchen wollten sich ihm darin zeigen.

»Verdunkelt sie sich auch nicht?«

»Nicht im geringsten. Sie bleibt durchsichtig wie ein großer Wassertropfen.«

»Seht Ihr die dahinter befindlichen Gegenstände?«

»Ja — nur sehr vergrößert, verzerrt, wie es die Glaskugel nach dem optischen Gesetz fordert.«

»Nun, der Menschen sind ja auch wenige, welche diese außergewöhnliche Fähigkeit besitzen. Das entmutigt mich noch immer nicht. Ich kenne noch ein anderes Mittel, um auch Euer Auge in die Ferne und in die Zukunft zu richten.«

»Welches?«

»Ihr müßt mit meinem Auge schauen, und es ist nur nötig, daß ich dabei Eure Hand in die meine nehme. Dann konzentriert Ihr Eure Gedanken auf das, was Ihr sehen wollt, und ich selbst erblicke es im Kristall.«

»Also Gedankenübertragung! Wirklich, das geht?«

»Ich vertraute mich nicht so harmlos dem Kristall an. Die Sache war mir denn doch gar zu neu. Ich unterzog die Richtigkeit der Bilder den verschiedensten Prüfungen, und so kam ich auch zu den Experimenten mit anderen Personen, deren Hand ich nahm. Sie gelangen stets — stets! — ob ich nun Mrs. Nobodys Hand oder die eines Dieners in der meinen hielt. Die Person, an welche gedacht wurde, erschien mir im Kristall, stets stimmte die Beschreibung, die ich gab. Also probieren wir es.«

Sie reichten sich die Hände, Scott blickte starr in den Kristall.

»Richtet Eure ganze Gedankenkraft auf Nobody, erinnert Euch, was ich alles von ihm erzählt habe, fragt Euch immer: Wo ist Nobody? Wo ist Nobody? Wo ist Nobody?«

Einige Minuten vergingen schweigend.

»Merkwürdig,« murmelte Scott dann, und er sah recht enttäuscht aus, »es kommt nichts — nicht einmal der schwarze Schleier — die Kugel bleibt ganz klar.«

Nach wiederholten Versuchen mußten sie als resultatlos aufgegeben werden.

»Ich weiß ja gar nicht, wie dieser Nobody überhaupt aussieht,« meinte der Alte.

»Das ist auch gar nicht nötig. Wenn Ihr nur das nötige Interesse dafür habt, das andere besorgt dann schon meine Phantasie.«

»Interesse habe ich schon für ihn, für die ganze Sache, aber.....«

»Ich weiß schon, was Ihr sagen wollt. Probieren wir es erst einmal mit einer anderen Person. Für wen empfindet Ihr lebhaftes Interesse?«

»Lebhaftes Interesse? Hm,« brummte der Alte zögernd.

»Doch wohl für Weaselbill? Denkt einmal mit aller Konzentration an Euren Freund, der draußen auf seinem Schmerzenslager liegt.«

Die Hände sich gereicht und in den Kristall geblickt.

»Denkt Ihr an Weaselbill?« fragte Scott nach einiger Zeit.

»So viel ich kann.«

»Eure Gedanken schweifen nicht ab?«

»Nicht im mindesten. Ich sehe Weaselbill ganz deutlich vor mir.«

»Und ich.... sehe wiederum nichts! Die Kristallkugel bleibt ganz klar.«

Mit großer Enttäuschung gab Scott die Hand frei.

»Woran mag das liegen?« murmelte er.

»Höre — du nanntest Weaselbill meinen Freund. Er ist ja ein ganz guter Kerl — aber mein Freund ist er noch lange nicht. Ich könnte ihn ohne Wehmut von hier scheiden sehen. Also ein besonderes Interesse habe ich nicht für den.«

»Das mag es sein! Wenn ich Mrs. Nobody oder eine andere Person ausforderte, an irgend jemanden zu denken, so wählten sie natürlich immer einen Verwandten oder sonst jemanden, für den sie das lebhafteste Interesse empfanden. Kompliziertere Versuche daraufhin habe ich leider nicht angestellt. Ist Euch jener Indianer mehr ans Herz gewachsen als Weaselbill?«

»Ganz bedeutend mehr.«

»So probieren wir es mit dem. Denkt an Bogenspanner, stellt ihn Euch lebhaft vor.«

Wieder mißlang der Versuch, Scott sah nichts in der Glaskugel. Der Alte selbst wußte eine Erklärung hierfür.

»Ja, ich habe den jungen Indianer recht gern, aber wenn etwa vorausgesetzt wird, daß man an die betreffende Person mit sehnender Liebe denkt — nein, das ist bei Bogenspanner nun freilich nicht der Fall.«

Das war es! Es wurde mehr als nur einiges Interesse für die bestimmte Person verlangt!

»So denkt doch einmal an eine solche Person,« sagte Scott.

Der Alte machte ein recht trauriges Gesicht, ein Seufzer zitterte über seine Lippen.

»Zwanzig Jahre bin ich schon hier in der Einsamkeit, aber schon viel, viel länger habe ich die Welt verlassen, schon als junger Mann bin ich aus ihr gestoßen worden.«

»Habt Ihr denn keinen Menschen, an den Ihr mit freudiger Erinnerung zurückdenken könnt?«

Lange hielt der Alte die Lippen fest geschlossen.

»Niemanden!« stieß er dann kurz hervor.

»Ja, doch,« fuhr er dann fort, und es klang schwermütiger als zuvor, »nur eine Person vermag mir die sonst so bittere Erinnerung an meine Jugendzeit zu erheitern — und ich denke so oft daran zurück — — es war ein lallendes Kind — ein Knabe — ich ließ ihn auf meinen Knien reiten, und er zauste mich im Bart....«

Des Alten Hand fuhr nach den Augen, sie zerdrückte dort eine Träne.

»Was aus dem geworden ist, das möchte ich noch erfahren — dann würde ich gern mein Leben beschließen.«

»So denkt an diesen Knaben. Gebt mir die Hand.«

Der Alte zögerte noch.

»Und wenn er nun tot..... dann habe ich wenigstens Gewißheit,« unterbrach er sich selbst, seine Hand in die Scotts legend, »und wen die Götter lieben, den lassen sie jung sterben.«

Die Vorbereitungen waren beendet.

»Wird das Kind nun in dem Kristall so erscheinen, wie ich es vor mehr denn dreißig Jahren gekannt habe?« fragte der Alte noch einmal.

»Das weiß ich selbst nicht. Das kommt ganz darauf an. Da arbeitet ja auch meine eigene Phantasie mit, und daß Ihr nun gesagt habt, es sei bereits dreißig Jahre her, dürfte jetzt nicht mehr ohne Einfluß bleiben. Ihr aber denkt nur recht lebhaft an jenes kleine Kind, wie es auf Euren Knien saß.«

Scott begann in den Kristall zu blicken, in seiner Hand die des Alten, der die Augen geschlossen hatte.

Mit einem Male öffneten sich Scotts Augen weit.

»Was — was ist denn da?« murmelte er.

»Was erblickst du?«

»Das — das ist doch Nobody selbst! Endlich! Nobody zeigt sich meinen Blicken! Nur sehe ich keine Umgebung, es ist wie sein Porträt, wie eine Photographie. Gewiß, das ist Nobody! Ja, aber, Vater — da kennt Ihr Nobody doch auch!«


Illustration

»Ich kenne ihn nicht.«

»An wen habt Ihr denn gedacht?«

»An jenen kleinen Knaben.«

»Und wie hieß der Knabe?«

»Alfred,« erklang es zögernd.

»Alfred!« rief Scott in begreiflicher Aufregung.

»Und Nobody ist doch nur ein angenommener Name, in Wirklichkeit ist es Sir Alfred Willcox.... aber nein, auch diesen Namen hat der unbekannte, heimatlose Niemand ja erst als Champion der englischen Königin verliehen bekommen — Nobody ist der Sohn eines deutschen Fürsten, ist der Prinz von ***.«

Nobodys vertrautester Freund, in alles eingeweiht, hatte den vollen Namen und Titel ausgesprochen — und da traf ihn ein Blick — da breitete der Alte beide Arme aus, so sah er zur Decke der Höhle empor, so war er auf die Knie gesunken.

»Nobody — mein leiblicher Neffe — der Sohn meiner Schwester — — — ich bin ja kein andererals der für tot erklärte Herzog Franz!!«


V. Der singende Gott

Lange Zeit dauerte es, ehe sich der Alte, der wie ein Kind weinte, wieder beruhigt hatte, und auch der junge Kanadier war tief erschüttert. Jetzt erst erkannte er voll und ganz das Walten des Schicksals, das ihn nach Mexiko geführt hatte, um ihn hier in dem einsamen Gebirge einen Mann finden zu lassen, der sich auf wunderbare Weise als der leibliche Onkel des verschollenen Freundes entpuppte.

Nobody hatte ihm wohl in einer vertraulichen Stunde von seinen heimatlichen Familienverhältnissen erzählt, aber niemals von einem fürstlichen Onkel, der für tot galt — und hielt man diesen wirklich für tot, so war dies ja auch kaum erwähnenswert — und jetzt war auch keine Zeit, hierüber Erklärungen zu geben. Scott war überhaupt über jede Neugierde erhaben, am deutlichsten wurde das gezeigt, als er damals mit Nobody zusammen in dem führerlosen Motorboote die Leiche des jungen Mädchens fand, und der Alte wandte jetzt sein ganzes Interesse dem wiedergefundenen und nun wieder verlorenen Neffen zu, den er einst als lallendes Kind auf seinen Knien gewiegt hatte, und man braucht nur an eine innige Liebe für die Schwester zu denken, um sich auch diese Liebe für ihr Kind zu erklären.

»Mein kleiner Alfred!! Ja, aber... Detektiv ist er geworden — er, der bestimmt war, eine Fürstenkrone zu tragen?!«

Nochmals erzählte der in alles eingeweihte Scott, wie und weshalb dieser Fürstensohn allem entsagt hatte, und was der Alte da zu hören bekam, das erfüllte ihn mit einem stolzen Jubel, den man nur begriff, wenn man annahm, daß bei dem einstigen Herzog eine ähnliche Entsagung aus ähnlichem Grunde vorlag, als er der Welt den Rücken wandte.

»Ganz so wie ich — und das habe ich dem Jungen auch gleich angesehen — und es konnte ja auch gar nicht anders kommen, er war ja der Sohn meiner einzigen Schwester — und mehr noch als auf ihrem Schoß hat er ja auf meinen Knien gesessen — und es war mein Alfred!!«

So rief er ein übers andere Mal mit jubelndem Munde.

Dann aber kam das Bewußtsein zur Geltung, daß es sich um einen Verschollenen handelte — wenn nicht um einen Toten.

»Jetzt nimm meine Hand und befrage deinen Kristall — jetzt wirst du sehen, wo sich Alfred befindet, dem von jeher all meine Sehnsucht gegolten hat!«

Aber wiederum täuschte der Kristall, obgleich er sich diesmal ganz anders verhielt als bisher.

Zuvor, als der Alte nur an den Detektiv Nobody denken sollte, hatte Scott in dem Kristall überhaupt gar nichts gesehen, dieser war durchsichtig geblieben. Als dann der Alte, dessen Gedanken übertragen wurden, an seinen kleinen Liebling gedacht hatte, da hatte der Kristall Nobody gezeigt, also jenes Kind im Mannesalter, aber nicht handelnd hatte ihn der Kristall anstreten lassen, es war betont worden, daß es wie ein Porträt gewesen war — und jetzt, da der Alte seine Gedankenkraft auf den seinem Herzen nähergerückten Detektiv Nobody konzentrierte, erschien vor Scotts Augen in dem Kristall wieder der schwarze Schleier.

»Nur nicht verzagt,« tröstete Scott, als er des Alten an Verzweiflung grenzende Niedergeschlagenheit sah. »Einen Erfolg haben wir dennoch schon, und nicht umsonst hat mich das Schicksal seinen Onkel finden lassen. Es will nur nicht, daß wir wissen, was Nobody gegenwärtig treibt, oder aber, Nobody befindet sich eben in einem dunklen Raume. Woran habt Ihr immer gedacht?«

»An Alfred — an Nobody.«

»Auch jeden Gedanken muß man doch in Worte kleiden. Habt Ihr dabei im Geiste nicht immer eine Frage gestellt?«

»Ja. Wo ist Nobody? Ich will Nobody sehen.«

»Und er ist eben für uns nicht zu sehen. Auch das geistige Schauen hat ja seine Grenzen, sogar sehr enge. Eigentlich geht es gar nicht über das wirkliche Sehen mit den normalen Augen, wie Gott sie uns wirklich gegeben, hinaus. Vergebens würde ich den Kristall befragen, wie es etwa auf dem Monde aussieht. Und ist Nobody in einem finsteren Raume, so kann ich ihn nicht sehen, weil auch mein leibliches Auge die Finsternis nicht durchdringt. Insofern ist an dem Hellsehen gar nichts Wunderbares, nicht einmal die Phantasie spielt eine so große Rolle, wie man annehmen möchte. Nun stellt einmal die Frage: Wie werde ich Nobody finden?«

»Hast du selbst denn dies noch nicht probiert?«

»Gewiß doch, und das ist es ja eben! Dann habe ich stets Euch gesehen — Ihr seid eben dazu bestimmt, mich zu Nobody zu führen. Nun aber kommt Ihr an die Reihe, das Schicksal weiter zu befragen.«

Sie gaben sich wieder die Hände, Scott beugte sich über den Kristall.

Nicht lange währte es, so erkannte der Alte gleich am Gesichtsausdruck des Kanadiers, daß dieser jetzt im Kristall etwas sehen müsse.

»Siehst du etwas?«

»Ja — es zeigten sich schon Konturen, sie wurden schärfer, jetzt werden sie wieder schwächer — frage mich nicht, deine Gedanken schweifen ab, konzentrieresie wieder — so, so--ich sehe eine Stadt —Häuser — denke an diese Stadt, die ich sehe — das beeinflußt nicht etwa die Wirklichkeit — wahrhaftig!— an was für eine Stadt denkt Ihr?«

»Ich stelle mir eine Straße meiner Heimatstadt vor und denke dabei an den kleinen Alfred,« flüsterte der Alte.

»Aber das ist keine moderne Stadt — keine europäische — das sind — das sind — Ruinen! — grün umsponnen — sie machen mir einen altmexikanischen Eindruck, soweit ich das beurteilen kann...«

»Ist auch eine Pyramide vorhanden?« fragte der Alte hastig.

»Jawohl — ich sehe zwei — sie liegen dicht nebeneinander...«

»Wie sehen sie aus?«

»°Die eine, die größere, gleicht den ägyptischen, indem sie terrassenförmig ansteigt...«

»Und die andere?«

»Die ist vollständig grün umsponnen, so daß ich nichts unterscheiden kann, aber ich glaube, die Schlingpflanzen verhüllen nur schiefe Flächen, also keine Terrassen, ich sehe auch keine Treppen . .«

»Diese beiden Pyramiden kenne ich!« rief da der Alte. »Das sind die Ruinen von Tenochtitlatan!«

Da jetzt seine Gedanken abgelenkt wurden, verschwand auch für den anderen das Bild im Kristall, und es wollte auch nicht wiederkommen, gar nichts mehr. Was hieran schuld war, ob eine Zerstreutheit des Alten oder was sonst, konnte jetzt nicht konstatiert werden.

»Wo liegen diese Ruinen vor Tenochtitlatan?« fragte Scott.

»Zwei Tagemärsche von hier, in einem ganz versteckten Tale.«

»Dann hat uns der Kristall eben genug erzählt— dann auf nach diesen Ruinen, dort werden wir Nobody finden!!«

— — — — —

Zwei Tage später standen drei Männer, begleitet von einem gefleckten Jagdhund, am östlichen Abhange des Löwengebirges auf einem Plateau und blickten in ein Tal hinab, in welchem die Ruinen einer altmexikanischen Stadt lagen.

Während des Marsches war wiederholt die Kristallkugel befragt worden, aber wie nun auch die Frage gelautet haben mochte, die der Alte, Scotts Hand in der seinen, in Gedanken gestellt, stets hatte sie nur dasselbe Bild gezeigt, welches der junge Kanadier in diesem Augenblicke schaute, während, wenn er selbst etwas über Nobody wissen wollte, sich vor seinen geistigen Augen der Helle Kristall nach wie vor verdunkelt hatte, somit gewissermaßen die Auskunft gebend: Frage mich nicht, von mir erfährst du nichts; dein Gefährte aber wird dich dorthin führen, wo du deinen Freund finden wirst, und damit sei zufrieden!

Das Auffallendste waren die beiden der Größe und Gestalt nach so ungleichen Pyramiden, welche sich mitten in der Ruinenstadt erhoben. An diesen hatte Vater Rübezahl, wie auch wir ihn nennen wollen, aus der Beschreibung sofort erkannt, daß es sich nur um die Ruinen von Tenochtitlatan handeln könne, die noch innerhalb seines Jagdreviers lagen, obgleich er sie seit zwanzig Jahren nur ein einziges Mal betreten hatte.

»Ich fand nichts besonders Interessantes daran,« hatte er erklärt, »sie werden auch schon zur Genüge erforscht sein, und dann ist dort auch eine unheimliche Gegend — alles wimmelt von Schlangen, zwischen den Ruinen besonders von Klapperschlangen.«

Das war vor vielleicht vierzehn Jahren gewesen— genau konnte das der Alte gar nicht mehr angeben, wobei auch zu bedenken ist, daß die Gegend, welche er ›sein‹ Jagdgebiet nannte, über hundert deutsche Quadratmeilen umfaßte — und das war auch heute noch der Fall.

Schon am letzten Lagerfeuer waren durch die Wärme mehrere große Giftschlangen angelockt worden, die meistenteils von Bogenspanners Pfeil, den er von einem manneshohen Bogen absandte, am Boden festgenagelt wurden, wenn ihnen nicht sein mit derselben Todessicherheit geschleuderter Tomahawk den Kopf spaltete, und je mehr sie sich beim Abstieg den Ruinen näherten, desto mehr nahmen die in allen Farben schillernden Schlangen zu, wenn man auch nicht gerade bei jedem «schritte auf eine solche trat. Immerhin war es ein Glück, daß der Boden überall steinig und ohne Vegetation war, also keinen Versteck für die Reptilien bot. Aber besonders der kluge Hund schien die drohende Gesahr zu wittern, mit ängstlicher Scheu hielt er sich jetzt immer dicht an der Seite seines Herrn.

Die Ruinen waren erreicht. Es war eine Tempelstadt gewesen, d. H. eine ganze Stadt von Priesterwohnungen, die sich um das Allerheiligste und um die anderen Heiligtümer gruppierten, und wer sonst noch darin gewohnt, der hatte nur zur Ernährung und Bedienung der Priester als der Diener der Gottheiten arbeiten müssen. Was die alten Azteken in der Baukunst geleistet haben, das konnte man hier besonders an den Straßen sehen, an der Pflasterung, die so solid war, daß noch jetzt nach Jahrhunderten kein Grashalm in einer Fuge hatte Wurzeln schlagen können. Etwas anderes schien es mit der Mauerung der Gebäude zu sein, dort rankte sich hauptsächlich eine Art von Mauerpfeffer, der freilich überhaupt garkeine Wurzeln treibt, aber auch unbedingt klettern muß, in üppiger Fülle empor.

Im übrigen wollen wir uns jede Beschreibung dieser mexikanischen Ruinen ersparen, worüber es ja sachliche Werke gibt.

Die beiden Pyramiden im Auge, drangen die drei Männer vorwärts.

»Wir sind am Ziel,« sagte der Alte. »Wohin aber nun? Hier planlos umherirren? Sollten wir jetzt nicht noch einmal deinen Kristall zu Rate...«

Ein zischender Laut unterbrach den Sprecher. Der Indianer hatte ihn ausgestoßen, mit vorgebeugtem Oberkörper, wie lauschend, stand er da.

»Hörtest du etwas?« fragte Vater Rübezahl nach einer Weile, als der Indianer noch immer in seiner lauschenden Stellung verharrte.

Auch jetzt gab Bogenspanner noch keine Antwort, und den beiden anderen ward etwas unheimlich zumute, weil sich auf des Indianers Antlitz, der sonst sicher nichts von Furcht wußte, ein immer ängstlicheres Staunen ausprägte.

»So sprich doch! Was hörst du?«

»Ich höre — einen Ton,« flüsterte Bogenspanner endlich.

»Was für einen Ton?« fragte der Alte ungläubig, nachdem er selbst einige Zeit angestrengt gelauscht hatte.

»Ein..... Singen.... in der Luft.....

ja, ich täusche mich nicht, es ist wie ein Singen oder wie ein Pfeifen.«

Der Alte warf sich zu Boden, drückte das Ohr gegen den Stein, und schon seinem Gesichtsausdrucke konnte Scott entnehmen, daß jetzt auch jener etwas Auffallendes hörte.

»Wahrhaftig,« flüsterte er, »ein langgedehnter Ton — wie ein klagendes Singen — nein — es erinnert mich an — an — an den Ton einer Violine!«

Auch Scott versuchte die Erde als Schalleiter zu benutzen. Allein er vernahm nichts, sein Ohr war eben nicht durch langjährige Einsamkeit in der Wildnis bis zum feinsten Grade geschärft worden, noch weniger besaß er das instinktartige Hörvermögen eines Indianers.

»Wirklich, es klingt gerade, als ob es aus der Luft käme,« setzte Vater Rübezahl noch hinzu.


Illustration

Azurblau wölbte sich der Himmel über der Ruinenstadt, nur das Rascheln einer Schlange erscholl dann und wann, sonst herrschte eine Todesstille.

Es mußte etwas Rätselhaftes, etwas Unheimliches in dem Tone liegen, der für den jungen Kanadier gar nicht existierte, daß sich die beiden anderen mit fast verstörten Blicken ansahen.

»Wenn aber die Erde den Ton besser fortpflanzt als die Luft, so kann er auch nicht aus der Luft kommen,«sagte Scott.

Diese Bemerkung gab den beiden anderen ihre Ruhe wieder. Woher konnte der rätselhafte Ton kommen? Der Indianer lauschte stehenden Fußes, nur sein Ohr mit vorgelegter Hand nach verschiedenen Himmelsgegenden haltend, der alte Trapper legte sich noch mehrmals an den Boden, und dann stimmte das Urteil der beiden erfahrenen Jäger genau überein: nur von dort, wo sich die beiden Pyramiden erhoben, konnte der Ton kommen.

Sie schritten diesen zu, und jetzt, zwischen diesen ausgestorbenen Ruinen, die von Götzendienerei erzählten, wobei nicht nur Menschen geopfert, sondern auch gefressen wurden, und wie er seine beiden Begleiter so vorsichtig schleichen sah, da ward-es auch dem sonst über jede seelische Aufregung erhabenen Kanadier ganz unheimlich zumute — und da plötzlich wurzelte sein Fuß am Boden — jetzt vernahm auch er ganz deutlich den rätselhaften Ton!

Vater Rübezahl hatte richtig geurteilt, es klangwie eine gestrichene Violinsaite, ziemlich tief, etwa wie die G-Saite, immer in derselben Lage, und es schien hoch oben aus den Lüften zu kommen.

»Habt Ihr das schon früher gehört, als Ihr hier wart?«

Vater Rübezahl verneinte.

Jetzt versuchte auch Scott das Experiment, den Ton dadurch noch stärker zu hören, daß er sein Ohr an den Boden legte, und da dies nun wirklich der Fall war, der Ton dadurch auch wirklich lauter zu hören war, so konnte er also nicht aus der Luft kommen. Dann aber kam nur eine der beiden hohen Pyramiden in Betracht.

Die erste, deren Fuß sie erreichten, war die kleinere, also zugleich diejenige, deren schiefen Wände vollständig glatt waren. Breitete man die Schlingpflanzen zur Seite, so erkannte man weiter, daß es sich hier um kein künstliches Mauerwerk handelte, sondern das war ein im Tale stehengebliebener Fels, dem man durch Bearbeitung mit dem Meißel nur eine pyramidenähnliche Form gegeben hatte — eine kolossale Arbeit, denn hundert Fuß betrug jede Seite der viereckigen Basis mindestens, und doppelt so hoch mochte die ganze Pyramide sein, die oben ein ziemlich umfangreiches Plateau hatte, so weit man das vorhin von der Höhe aus hatte beobachten können.

Ja, Scott hatte während der Wanderung zwischen den Ruinen schon wiederholt den Eindruck gewonnen, als ob auch noch andere Gebäude wie aus einem massiven Felsblock bestanden hätten, und wenn man annahm, daß dies bei sämtlichen der Fall war, dann war dies überhaupt gar kein natürliches, sondern ein künstliches Tal, viele hundert Fuß tief in das Bergplateau hineingemeißelt, und nur das, was man an Gebäuden brauchte, hatte man stehen lassen!

Aber wer sollte denn eine solch ungeheure Arbeit bewerkstelligen? Denn, um einen Vergleich herbeizuziehen, die Durchstechung des Isthmus von Suez, oder die letzte Riesenarbeit unserer heutigen Jngenieur-kunst, die Abdämmung des Nils bei Assuan — das alles wäre ja eine Kinderspielerei gegen so etwas, hier so ein ganzes Tal aus dem Felsen herauszumeißeln!!!

Nun, die alten Azteken haben noch andere Baudenkmäler hinterlassen, welche beweisen, daß sie so etwas wohl fertig brachten. Was sind denn unsere Alpenstraßen gegen jene, welche die alten Mexikaner über ihre Gebirgskämme bauten! Man frage nur einmal einen Ingenieur, der hierin bewandert ist. Er wird ganz offen sagen: so etwas können wir heutzutage nicht mehr leisten. Wir haben wohl ganz andere technische Hilfsmittel, aber uns fehlt jenes gewaltige Menschenmaterial, die Sklavenarbeit, uns fehlt die Zeit, und vor allen Dingen: bei uns muß jedes angelegte Kapital Zinsen bringen, deshalb ist uns so etwas nicht mehr möglich. Deshalb sind wir auch nicht fähig, solche tiefe Bohrlöcher zu machen, wie sie die Chinesen in ihren Salinen haben, und selbst wenn wir anstatt Salz reines Gold herausbefördern würden. Die Chinesen bohren, nur mit dem primitivsten Fnisallbohrer, an einem Schachte jahrhundertelang, das geht von Generation zu Generation, das ist Pflicht der Bevölkerung einer ganzen Landschaft, die denken, dieses Bohren ist überhaupt ihr Lebenszweck, das ist eine religiöse Handlung, mit jedem Zoll tiefer kommen sie dem Himmel etwas näher, und reißt einmal der Strick, so brauchen sie vielleicht fünfzig Jahre dazu, um das Bohrstück wieder herauszubringen — ja, du lieber Gott, welche europäische Aktiengesellschaft kann sich denn so etwas leisten?! Das können eben nur die konservativen Chinesen mit ihren traditionellen Zöpfen — und die alten Azteken und Konsorten haben es auch gekonnt!

Vor allen Dingen wurde Nobodys Freund, alser immer mehr zu der Erkenntnis kam, daß hier alles aus dem massiven Gestein herausgehöhlt worden war, von einem Gedanken beherrscht, und dieser lautete:

»Dann glaube ich auch, daß ich Nobody hier finden werde, tot oder lebendig; denn hier befindet er sich in seinem Element, dieser professionelle Felsenmaulwurf, wie er sich immer selber nennt!«

Doch nicht lange konnte Scott solchen Gedanken mit einem leisen humoristischen Anfluge nachhängen.

Immer lauter war der singende Geigenton in den Lüften geworden, und als sie die erste Pyramide umschritten hatten, befand er sich hinter ihnen, was sie mit Sicherheit konstatieren konnten — dann aber konnte der Ton auch nur von dieser ersten Pyramide kommen, und zwar jedenfalls nur oben vom Plateau.

Es war zwischen den drei Männern keine Verabredung nötig, daß man erst die Ursache dieses seltsamen Geräusches ergründen wolle. Allen war ganz selbstverständlich, daß dieser rätselhafte Ton aufs engste mit Nobodys Verschwinden zusammenhinge, es erst verursacht habe, und das lag ja auch ganz klar auf der Hand, daß Nobody, wenn auch er diesen Ton gehört, sofort seiner Spur nachgegangen war.

Wie aber dorthinaufgelangen? Ein Rundgang um die Pyramide bestätigte nur, daß jede eingehauene Treppe und dergleichen fehlte. Und dieses eingentümliche Schlinggewächs zeigte nur gar dünne Triebe, zarter als wilder Wein. Würde es einen Menschen tragen?

Wenn man aber als bestimmt annahm, daß auch der Vermißte dort oben gewesen war, sich vielleicht noch, tot oder lebendig, oben befand, wie anders war er hinaufgelangt? Freilich entdeckten die scharsen Augen der Jäger hiervon keine Spur wehr, was aber seinen Grund einfach darin hatte, daß unterdessen, nach Scotts oberflächlicher Angabe,seit wann er den Kristall benutzt, mindestens ein Vierteljahr vergangen war, und das hatte dem Schlingengewächs genügt, um sich von jeder Zerstörung zu erholen, also jede Spur wieder zu verwischen.

Während Vater Rübezahl bedächtig erst mit einigen abgeschnittenen Ranken einen Versuch machte, inwieweit ihrer Festigkeit zu trauen sei, hing Scott schon mit einem hohen Sprunge in dem grünen Gewebe, es trug ihn, und sofort begann er wie eine riesige Spinne weiterzuklettern.

Zweihundert Fuß, wie man die Höhe dieser Pyramide geschätzt hatte, sind sechzig Meter. Man setze zwei vierstöckige Häuser mit hohen Parterregeschossen und Giebeldächern übereinander, und man kann sich ungefähr ein Bild davon machen, was für ein Wagnis diese Klettertour bedeutete!

Doch sie gelang. Der junge Kanadier war ein ausgezeichneter Turner mit stählernen Muskeln, seine Triebfeder zu dem tollkühnen Unternehmen war treue Freundschaft, die noch zu anderen Leistungen fähig ist als jene Liebe, welche der Venus Vulgivaga geheiligt ist, und da dieses Schlingkraut seine Hauptnahrung aus der Luft zog, nicht aus dem Boden, in dem es ja kaum wurzelte, so wurden seine Ranken nach oben hin nicht schwächer, sondern immer stärker, so verminderte sich die Gefahr also auch immer mehr.

Hochausatmend stand der Kanadier oben auf dem Rande des kleinen Plateaus. Zuerst warf er einen schwindelfreien Blick zurück in die grausige Tiefe — er hatte gar nicht gewußt, daß ihm feine beiden Gefährten so dicht auf den Fersen gefolgt waren, auch sie arbeiteten wie die Spinnen, und die alten Knochen hatten noch nichts an Gelenkigkeit eingebüßt, und dann standen auch sie neben ihm.

Daß der Ton von hier oben kommen mußte, hatten sie schon während der Klettertour gemerkt.

Denn je höher sie gekommen, desto lauter erscholl der Ton, zugleich aber war es ihnen gewesen, als ob sich die Vibration dem ganzen Felsen mitteile, und dieser Eindruck verstärkte sich erst recht hier oben.

Das viereckige Plateau war etwa zwanzig Meter im Quadrat groß, nur der Rand mit einem dicken Wall von Schlingpflanzen bedeckt, die hier oben ihren eigentlichen Halt fanden, sonst war das Plateau völlig eben, von Regengüssen reingewaschen, und in der Mitte befand sich ein Loch von Spannenweite, und nur diesem konnte der tiefe, vibrierende Ton entquellen, der das ganze Plateau in Schwingungen versetzte, so daß es unter den Füßen erzitterte.

»Das ist ein Schacht, dem komprimierte Luft entströmt,« sagte Scott sofort.

Der Alte wollte gleich daraufzugehen, er wurde von dem Kanadier zurückgehalten.

»Vorsicht! Es braucht keine atmosphärische Luft zu sein, es kann auch eine andere Gasart, eine giftige sein.«

Der schwache Wind kam von Norden her. So gingen sie am Rande des Plateaus entlang und näherten sich von dieser Seite der rätselhaften Oeffnung.

Die drei Männer hielten sich dicht zusammen, und es war doch etwas dabei, daß sie nur zaghaft Fuß vor Fuß setzten. Und das sollte ihr Glück werden.

Was plötzlich geschehen war, wußte dann später keiner der drei anzugeben. Keine Explosion, kein lauter Knall — nur eine unsichtbare, ungeheure Kraft, welche die drei plötzlich zurückschleuderte, zugleich eine versengende Hitze und ein entsetzliches Geheul, so schrill, daß es förmlich die Trommelfelle durchschneiden wolle.

Irgend einen Gedanken muß der Mensch doch immer haben.

»Der Welt Untergang! Das ist das jüngste Gericht!«

Das war Scotts Gedanke gewesen, als er unter brennender Glut und unter schmetterndem Geheul zurückgeschleudert worden war. Da hatte er eben an eine Vorstellung gedacht, die er sich früher einmal, vielleicht nur als Kind, vom jüngsten Gericht gemacht hatte.

Als er sich erhob, wußte er zuerst, daß ihm Bart und Augenbrauen versengt waren, ohne daß er sonstige Brandwunden oder andere Verletzungen davongetragen hätte; seine zweite Erkenntnis war, daß sich auch noch seine beiden Gefährten auf dem Plateau befanden und allein aufstehen konnten — also vorläufig gerettet! — und dann erst kam ihm als drittes zum Bewußtsein, daß das markerschütternde, pfeifende Heulen, das mit jenem ersten singenden Ton gar keine Aehnlichkeit mehr hatte, in Wirklichkeit andauerte, und daß jetzt dort aus jenem Loche eine weißliche, zwei Meter hohe Flamme schlug!

Es läßt sich denken, daß der Indianer der erste war, welcher hier an das Wunder einer Gottheit glaubte; Vater Rübezahl betrachtete die Flamme schon mehr mit den Augen des wißbegierigen Forschers, und Scott nun wußte sofort eine Erklärung, und es gereichte dem Indianer zur hohen Ehre, daß er sich sofort belehren ließ, alle abergläubische Scheu überwand.

Man hatte es hier mit einer dem Boden entsteigenden Gasart zu tun, die sich an der Luft von selbst entzündete, wie solche Flammen gar nicht so selten an verschiedenen Stellen der Erde zu finden sind. Die bekanntesten sind die Feuer von Baku.

Merkwürdig war nur, daß sich das Gas fast in demselben Augenblicke entzündet hatte, da die drei Männer das Plateau betreten, sich jener Oeffnung genähert hatten.

Alle diese bekannten Feuererscheinungen versagen ja manchmal, sei es, daß zeitweise überhaupt die Gasquelle versagt, weil es eben nur eine periodischeist — sei es, daß auch heftige Regengüsse das Gas zum Verlöschen bringen.

Was aber war hier die Ursache der plötzlichen Entzündung gewesen? Von dem Vorhandensein irgendeines Mechanismus war auf dem nackten Plateau auch nicht die geringste Spur zu entdecken, und die Flamme blieb ja jetzt auch brennen, die drei Männer mochten sich entfernen, wie sie wollten.

Viel einfacher waren die Ursachen der verschiedenen Töne zu erklären. Das mit Heftigkeit ausströmende Gas hatte in dem Schachte, den man sich als eine ziemliche enge Röhre vorstellen mußte, nur gebrummt; erzeugte das Gas aber als Flamme eine große Hitze, so entstand in der Röhre dieser pfeifende Ton— ein Pfeifen, so markdurchdringend, wie es auf eine andere Weise gar nicht erzeugt werden kann. Es ist dies die Folge eines physikalischen Gesetzes, und jeder Schüler einer höheren Anstalt wird sich erinnern, wie im Physikalunterricht, wenn die Lehre von der Akkustik darankam, wenn die Gesetze und das Wesen der Schallwellen erläutert wurden, auch mit solch einer langen Röhre experimentiert wurde, in der eine durchschlagende Stichflamme infolge der Vibration einen pfeifenden Ton erzeugt, den man sein ganzes Leben nicht wieder aus den Ohren bekommt.

Dann war aber auch hier unbedingt nötig, daß sich das Gas nicht erst bei seinem Austritt entzündete, sondern daß die Flamme schon durch den ganzen Schacht...

Doch die beiden gebildeten Blaßgesichter sollten keine Zeit haben, sich in weiteren wissenschaftlichen Spekulationen zu ergehen.

»Hugh!« rief der am Rande des Plateaus stehende Bogenspanner und deutete mit ausgestreckter Hand nach unten. »Dein Hund ruft uns, wir sollen zu ihm kommen.«

Dem war auch so. Die Jäger hatten bei derKlettertour ihre Waffen mitgenommen, nur Scott hatte seinen Rucksack abgelegt. Proteus war als Wächter zurückgelassen worden. Er hatte sich sofort neben dem ihm anvertrauten Gut niedergelassen, den Männern, die sich in Spinnen verwandelten, mit traurigen Augen nachblickend.

Jetzt jagte Proteus mit am Boden gesenkter Nase zwischen dieser Pyramide und jener zweiten immer hin und her, stets bis an den Rucksack zurück, den er zu beschnobern schien, dann sprang er jedesmal an dem grünen Gewebe empor, als wolle auch er hinaufklettern, dann wieder zurück nach dem Fuße der zweiten Pyramide, diese etwas umkreisend — ja, man hörte trotz der großen Entfernung auch ganz deutlich sein lockendes Bellen.

Daß man dies hören konnte, obgleich dicht in der Nähe das entsetzliche Pfeifen erscholl, ist nicht zu verwundern, sowie man sich auch mit gedämpfter Stimme ganz leicht unterhalten konnte. Den schrillsten Pfiff der mächtigsten Dampfmaschine hätte man nicht gehört, wohl aber die menschliche Stimme wie das Bellen des weit entfernten Hundes. Das hängt eben damit zusammen, daß jeder Ton seine besonderen Schallwellen hat, und zwei ganz verschiedene Schallwellen können sich recht wohl durchkreuzen.

»Das sieht fast aus, als hätte der Hund eine fremde Spur gefunden,« meinte Vater Rübezahl nachdenklich.

Scott beobachtete das Gebaren noch einige Zeit, und eine immer größere Spannung, vermischt mit Staunen, spiegelte sich in seinen Zügen wider, aber er sagte nichts, er meinte nur, man wolle den Rückweg antreten, hier oben sei von Nobody ja doch keine Spur zu finden.

Der Abstieg nahm nicht den vierten Teil der Zeic in Anspruch, die das Emporklettern erfordert hatte. Es gab langherabhängende, zusammengedrehteSchlingpflanzen, an denen sie wie an Seilen hinabgleiten konnten.

Jubelnd sprang Proteus an seinem Herrn empor, fuhr mit der Nase noch einmal über den Rucksack, den Scott über den Rücken hing, und lief wieder in der Richtung der zweiten Pyramide davon, durch Bellen die Männer zum Mitgehen einladend.

Wohl hatte Scott etwas bemerkt, aber er hielt seine Vermutungen zurück, er mochte vielleicht selbst nicht daran glauben — er folgte einfach wie die anderen dem klugen Tiere, welches durch Zufall irgendeine Spur gefunden zu haben schien, wobei es freilich einmal seinen Wächterdienst vernachlässigt haben, in der Umgegend herumgeschweift sein mußte.

Die Basis der anderen Pyramide lag also dicht neben dieser, zwischen beiden war nur ein schmaler Durchweg. Sie war viel höher und umfangreicher und bestand aus acht Terrassen, aus denen kleine Gebäude standen, wahrscheinlich Priesterwohnungen und dergleichen.

Ohne Leiter war solch eine Terrasse nicht zu erklimmen, doch es mußte hier einen bequemen Aufstieg geben, und der Hund hatte ihn bereits gefunden.

Proteus führte die Männer durch den schmalen Weg auf die andere Seite und verschwand plötzlich bellend in dem grünen Geflecht, welches auch hier überall herabhing, aber nicht etwa in einer Oeffnung, sondern es war eine steinerne Treppe, welche außen nach der ersten Terrasse hinaufführte, nur unter den Schlingpflanzen so versteckt, daß ein Auge sie schwerlich noch entdecken konnte.

Teils unter, teils über den Schlingpflanzen hinweg ging es die Treppe hinauf bis zur ersten Terrasse, hier hörte diese Treppe auf, aber schon hatte Proteus eine andere gefunden, welche sie zur zweiten Terrasse emporführte. Hier lief der Hund ein gutes Stück hin, und dann, auf der östlichen Seite, der anderenPyramide gerade gegenüber, öffnete sich plötzlich eine weite Halle, welche in den Felsen hineingehauen war.

Von außen wäre jetzt von dieser Halle nichts mehr zu sehen gewesen, die Oeffnung wurde gänzlich durch ein Gewebe von Schlingpflanzen verhüllt, aber der grüne Vorhang ließ doch noch genügend Licht hindurch, so daß das Auge in der Dämmerung noch alles hätte unterscheiden können.

Doch es erblickte nichts. In den Nischen an den Wänden mochten einst Götzenbilder gestanden haben — zählten die alten Mexikaner doch über zweihundert Haupt- und Nebengottheiten — sie waren alle entfernt worden.

Nur in der Mitte des Saales stand ein großer viereckiger Stein, ein Altar, auf dwsen lief der Hund, immer die Nase dicht am Boden, direkt zu, und die folgenden Männer sahen hinter diesem Altar am Boden eine weite Oeffnung gähnen, in welche Stufen hinabführten, die sich in der Finsternis verloren.

»Der Stein kann um seine Achse gedreht werden!«

Doch sie bewunderten jetzt nicht den ebenso einfachen, wie sinnreichen Mechanismus, der den schweren Steinkoloß mit leichter Mühe von der Stelle rücken ließ, sie probierten es auch gar nicht, ihn zu bewegen, aus Furcht, die Oeffnung könne sich wieder schließen, ohne daß sie das Mittel dann fanden, sie wieder bloßzulegen — nur eine Frage drängte sich ihnen allen jetzt auf.

»Wer kann es sein, der hierhinabgestiegen ist?« murmelte Scott, wohl mehr zu sich selbst.

»Alfred — Nobody!« rief der Alte.

»Ja, aber wie kann der Hund diese Spur...«

»Er freut sich eben, in diesem öden, ausgestorbenen Tale noch die Spur eines anderen lebenden Menschen gefunden zu haben, er zeigt sie uns.«

»Und das soll gerade die Spur von Nobody sein?«

»Zweifelst du daran?!«

»Und ich muß dich fragen: denkst du auch daran, daß mir der Kristall, der uns noch nie belogen hat, Nobodys Verschwinden schon vor drei, vor vierMonaten gemeldet hat? Und nach so langer Zeit sollte der Hund, und hätte er auch eine noch so feine Nase, den Geruch seines Fußes auf diesen Steinplatten wahrnehmen können?«

Allerdings — hierauf wußte der alte Jäger keine Antwort. Er dachte nur an den kleinen Knaben,den er einst auf seinen Knien gewiegt hatte, die einzige Sehnsucht, die noch sein Herz erfüllte.

»Vorwärts, dort unten werden wir die Lösung des Rätsels finden!!«

Scott war nicht so phlegmatisch wie der Indianer, aber er blieb der Besonnenste, er ermahnte zur Vorsicht.

»Wir müssen mit giftigen Gasen rechnen, denen auch Nobody zum Opfer gefallen sein könnte. Ich habe Wachslichter bei mir.«

Er entnahm ein solches seinem Rucksack, zündete es an, so stiegen sie die Treppe hinab, voran Scott, prüfend die Luft durch die Nase gehen lassend.

Doch die Luft war völlig atembar und sollte so bleiben, auch die Flamme des Lichtes verkleinerte sich nicht, woraus man sofort auf das Vorhandensein von zu viel Kohlensäure hätte schließen können, noch ehe dies das erschwerte Atmen bemerkbar machte.

Tief, tief ging es hinab, sicherlich noch unterhalb der Erdoberfläche. Dann kam ein senkrechter Gang, von riesigen Quadern hergestellt. Scotts Taschenkompaß zeigte an, daß der Weg direkt nach Westen führte, also nach jener Richtung, in welcher die andere Pyramide lag.

Nicht lange währte es, so teilte sich der Gang, dann zweigte sich ein schmälerer nach links ab, ein dritter nach rechts — hier unten schien ein wahres Labyrinth von Gängen zu sein.

Doch man brauchte nicht zu beraten, welchem man folgen sollte, Proteus war der sichere Führer, der die Nase immer am Boden hatte, jetzt aber nicht mehr fröhlich vorausspringend, sondern sich immer möglichst nahe seinem Herrn haltend, und die sichtliche Scheu des Tieres teilte sich auch ein wenig den Männern mit, wozu freilich aller Grund vorhanden war.

Seit dem Betreten jener großen Halle war das gellende Pfeifen immer schwächer geworden, hier untenhatte man gar nichts mehr davon gehört — jetzt aber ließ es sich wieder vernehmen, und je weiter man vordrang, desto lauter ward es, und hier unter der Erde in dem engen Gange nahm das heulende Pfeifen einen noch viel grausigeren Charakter an.

»Wir nähern uns der Quelle, aus der es kommt,« flüsterte Scott — und dann standen alle drei Männer betroffen da, und auch der Jagdhund wollte nicht weiter, sondern schmiegte sich winselnd und schutzsuchend an seinen Herrn.

Der Gang hatte eine Ecke gemacht, und wie sie herumbogen, erblickten sie plötzlich ein weißes Licht, das vor ihnen in der Luft zu schweben schien, wie ein weißer Stab, scheinbar in weiter Ferne und ihnen doch ganz nahe, nicht leuchtend und dennoch Helligkeit verbreitend, die gar keine Beschreibung zuläßt, und nur das war allen dreien sofort klar, daß dies die Quelle war, von der das schreckliche Heulen ausging.

Der erste, der eine Erklärung fand, war wiederum der junge Scott.

»Wir sind bereits unter der ersten Pyramide, und das ist die Flamme, welche durch einen Schacht nach oben ins Freie hinausschlägt.«

Das dies so war, das lüg ja jetzt klar auf der Hand, und doch gewährte diese ausgesprochene Erklärung eine große Beruhigung für die Nerven.

Die Männer setzten ihren Weg fort, die Flamme war doch noch ziemlich weit entfernt, und was sie nun auf diesem Weg zu sehen bekamen, das diente weniger zur Nervenberuhigung.

Wieder zeigten sich auf beiden Seiten in den Wänden Nischen, aber diese hier waren nicht leer, sondern in jeder saß ein vertrockneter Mensch, zum Teil in kostbare Gewänder gehüllt — Mumien, welche mit ihren behaarten Schädeln die Eindringlinge in ihr unterirdisches Reich höhnisch angrinsten, und kein Ende wollte dieser Gang nehmen zwischen denmenschlichen Leichen hindurch, welche der Verwesung trotzten, und auch der Hund, ein phantasieloses Tier, unterlag dem grauenvollen Zauber dieser Leichenparade.

Doch der Gang war zu Ende. Wieder eröfsnete sich vor ihnen eine weite Halle, und die Wachskerze wurde unnötig, die weiße Flamme spendete genug Licht, um ihnen mit schrecklicher Deutlichkeit alles zu zeigen.

In der Mitte des Raumes saß auf einem Postament eine riesenhafte Figur aus Erz, ein Götze. Aus seinem weitgeöffneten Munde quoll die weiße, armstarke Flamme hervor, oder wurde vielmehr mit Gewalt herausgestoßen, denn sie folgte zuerst nicht dem Gesetze jeder Flamme, ging nicht nach oben, sondern erst wenigstens einen Meter geradeaus, dann beschrieb sie einen Bogen und fuhr nach oben in einen Schlot, der sich in der Decke öffnete, und in diesem Schlote wurde durch Vibration der Lust das entsetzliche Pfeifen erzeugt.

Weiter beleuchtete die Flamme die Wände, überall waren Nischen angebracht, und in jeder kauerte in natürlicher Stellung solch eine Mumie......

Doch was kümmerten sich die drei jetzt um die Leichen der alten Mexikaner, die vor einigen Jahrhunderten gelebt hatten! Etwas anderes war es, was ihren entsetzten Blick fesselte.

Zu dem Postament der riesenhaften Figur führten Stufen hinauf, unten vor den Stufen stand ein steinernes Ruhebett, so sah es wenigstens aus, es glich ganz einem unserer Chaiselongues, nur daß es eben von Stein war, und auf diesem Ruhebett lag langausgestreckt die Gestalt eines Mannes, wie ein Trapper gekleidet, nur nicht so zerlumpt, wie ein Jäger.

Nur einen Moment wurde Scott so vom Entsetzen beherrscht, dann stürzte er auf das Steinbettzu, und ein Blick in die Züge des wie schlafend Daliegenden genügte, um ihm alles zu sagen, in diesem Zustande waren die sonst so beweglichen Züge keiner willkürlichen Veränderung fähig...

»Nobody, um Gottes willen, was ist mit dir?!«

Vergebens, hier half kein Rütteln, die geschlossenen Augen wollten sich nicht öffnen.

Eine zitternde Hand schob sich unter das Jagdhemd und legte sich fest auf die Herzgegend.

»Tot!!!«

»Alfred, mein Alfred!!« erklang es jammernd aus dem Munde des alten Mannes. Wenn er die Züge nicht erkannt hatte, so sagte ihm sein Herz, daß er den Liebling seiner Jugend wiedergefunden hatte, hier im fernen Mexiko — um an seiner Leiche trauern zu dürfen.

Es waren Männer — Männer, welche dem Tode in den verschiedensten Gestalten ins Auge geschaut, Freunde und Verwandte auf dem Schlachtfelde und in anderer Weise hatten sterben sehen. Sie kannten an der Leiche dessen, den sie geliebt, keinen verzweiflungsvollen Jammer. Vor allen Dingen wollten diese Männer jetzt wissen, wie und wodurch jener seinen Tod gefunden hatte.

Die Untersuchung begann. Sie brachte nur ein Rätsel nach dem anderen.

Von einer Ermordung konnte keine Rede sein. Eine Beraubung lag, wie Scott sich sofort überzeugte, nicht vor. Auch die geheime Ledertasche kannte Scott, und sie war vorhanden.

Wo war die Benzinlaterne, welche Nobody stets bei sich führte? Sie lag neben dem Steinbett am Boden.

Aber nun die Leiche selbst! Das war das allergrößte Rätsel!

Er lag da, als ob er schliefe. Nichts von Todesstarre, noch weniger etwas von Verwesung.

Scheu sahen sich die beiden an. Im Augenblick hatten beide den gleichen Gedanken.

»Wann erfuhrst du zuerst seinen Tod?« flüsterte der Alte.

»Du meinst, wann ich zuerst den Kristall wegen Nobodys Verschwinden zu Rate zog?«

»Ja, und als sich der Kristall dann stets vor deinen geistigen Augen verdunkelte. Wann war das?«

»Genau...« Scott rechnete im stillen nach, »genau vor siebzehn Wochen.«

»Und zweifelst du noch, daß dir dieses Verdunkeln des Kristalls deines Freundes Tod anzeigen wollte, und nicht, daß er sich nur gefangen in einem dunklen Raume befände?«

Tief ließ der Befragte das Haupt sinken.

»Nein, jetzt kann ich nicht mehr daran zweifeln,« flüsterte er tonlos.

»Also schon vier Monate läge er dann hier tot.«

»Es kann nicht anders sein.«

»Ja, aber ist das eine Leiche von vier Monaten?«

»Als wäre er soeben erst verschieden,« flüsterte Scott mit starren Augen, und mit ebensolchen Augen blickte sich auch der Alte in dem weiten Raume um, und beide gewahrten überall die Mumien.

»Hier wurden die Leichen von den Priestern präpariert.«

»Schon wer diesen Raum betrat, den verließ das Leben, um sich im Tode nicht mehr zu verändern, bis ihn die Zeit zur Mumie austrocknete.«

Es läßt sich wohl denken, wie lebhaft der junge Kanadier an all jene anderen präparierten Leichen dachte, die er schon geschaut, seitdem ihn das Schicksal mit Nobody zusammengeführt hatte.

»Nur die Priester wußten sich davor zu schützen.«

»Wovor?«

»Daß sie beim Betreten dieses Heiligtums nicht ebenfalls in den Todesschlaf fielen.«

»Was mag die Todesursache gewesen sein?«

»Giftige Gase.«

»Merkst du etwas davon?«

»Der Unglückliche hat jedenfalls diese Statue untersuchen wollen, ist die Stufen hinaufgestiegen, da mag sich irgendein Mechanismus auslösen und...«

»Was ist das dort?«

Das Auge hatte sich nach und nach an das Zwielicht gewöhnt. So gewahrten die beiden, welche sich mit solch starren, scheuen Blicken umsahen, um eine Lösung dieses Rätsels zu finden, jetzt erst den altarähnlichen Stein, der sich zu Häupten des Lagers befand.

Er glich ungefähr einem Taufbecken, darauf befand sich eine viereckige, geschliffene Tafel aus schwarzem Basalt, und auf dieser lagen eine Menge kleiner, schwarzer Würfel, von denen jeder auf der einen Seite in goldener Gravierung Linien zeigte, Schnörkel und Arabesken darstellend.

»Eine kabbalistische Tafel,« flüsterten die beiden gleichzeitig, und mit nur noch scheueren Augen betrachteten sie das neue Geheimnis.

Beide waren eben eingedrungen in das mystische Zauberwesen der alten, guten Zeit; der eine, weil er selbst ein lebendiger Beweis war, daß es Dinge gibt zwischen Himmel und Erde, von denen sich unsere Schulweisheit nichts träumen läßt — der andere wohl nur als wissenschaftlicher Forscher; jedenfalls aber war auch ihm recht gut bekannt, was man unter einer kabbalistischen Tafel versteht; am einfachsten läßt es sich mit ›Zaubertafel‹ übersetzen, und die kabbalistische Zaubertafel der modernen Technik ist das Vexierschloß, bei welchem Buchstaben ein gewisses Wort bilden müssen, ehe man das Schloß öffnen kann.

»Nobody hat die Ordnung der Figuren gestört,« flüsterte Scott, »dadurch ist er in einen Schlaf gefallen, der etwa dem magnetischen oder dem hypnotischen ähnelt.«

»Meinst du, daß es so etwas wirklich gibt?« fragte der Alte zweifelnd.

Dann aber faßte er den Inhalt der Worte seines jungen Freundes von einer ganz anderen Seite auf.

»So meinst du, daß er gar nicht tot ist?« fuhr er hoffnungsfreudig empor.

»Habe ich dir nicht gesagt, daß ich niemals an Nobodys Tod glauben konnte? Ich habe zur Probe wiederholt von meinem Kristall verlangt, daß er mir eine tote Person zeigen soll, und stets erschien mir diese in einem Sarge, was auch der Fall war, wenn ich gar nicht wußte, daß die betreffende Person, an die ich dachte, schon tot war. Wollte ich aber Nobody sehen, so senkte sich vor meinen geistigen Augen stets der schwarze Vorhang herab, geradeso, als wenn sich eine Person, die ich sehen wollte, in einem finsteren Zimmer befand...«

»Ich weiß, ich weiß, wir haben ja oft genug darüber gesprochen!« fiel der Alte ihm aufgeregt ins Wort. »Also er lebt! Mein Alfred lebt noch! So käme es nur darauf an, die Figuren der kabbalistischen Tafel wieder zu ordnen?«

»Das ist meine feste Ueberzengung,« versicherte Scott allen Ernstes.

Sie gingen an eine nähere Untersuchung der kabbalistischen Tafel. Daß hier eine fremde, unkundige Hand eingegriffen hatte, das war Tatsache. Die kleinen Würfel, gleichfalls aus schwarzem Basalt hergestellt, lagen bunt durcheinander, übereinander, die goldene Gravierung nicht immer nach oben.

Scott zählte ihrer vierundsechzig, welche, nebeneinandergelegt, die Tafel gerade bedeckten. Wie viele Kombinationen lassen sich mit vierundsechzig Würfeln D. N. VIII. machen? Viele, viele Millionen! Und die Arabesken deuteten durch nichts an, daß sich irgendeine Figur herstellen ließe, etwa ein Tierbild oder sonst etwas.

Da war guter Rat teuer. Um die vielen Millionen Kombinationen durchzuprobieren, dazu hätten auch viele Menschenleben gehört, ganz abgesehen davon, daß man sich auch immer wiederholen konnte.

Ganz planlos ordnete Scott erst einmal die Würfel, so daß sie die ganze Tafel bedeckten und die goldene Gravierung immer nach oben zu liegen kam.

»Wir müssen einmal die Kristallkugel...«

Vater Rübezahl hatte es geflüstert, gerade als Scott den letzten Würfel einschalt. Er wurde durch einen Ruf des Indianers unterbrochen.

»Er lebt! Er atmet!«

Daß man jetzt die kabbalistische Tafel eine Tafel sein ließ, ist selbstverständlich.

Bogenspanner hatte sich überhaupt nicht mit der Zaubertafel beschäftigt, sondern nur mit dem Regungslosen, hatte noch einmal den Herzschlag geprüft, ohne von einem solchen etwas zu merken, hatte das Jagdhemd völlig geöffnet und das Ohr auf die Brust gelegt, schließlich hatte er auch von seinem Kopfe ein langes Haar gerissen und es über den halbgeöffneten Mund des regungslos Daliegenden gehalten.

»Er lebt! Er atmet!«

Wirklich, das Haar vor den Lippen bewegte sich in regelmäßigen Zwischenpausen auf und nieder, gerade als wenn es durch ein Atmen in Bewegung gesetzt würde.

Scott hatte einen Taschenspiegel bei sich, er hielt ihn dicht vor die blassen Lippen, nur drei Sekunden — der Spiegel hatte sich beschlagen!

Der schlaffe, kalte Körper wurde in Behandlung genommen. Scott war der einzige, der etwas von künstlicher Atmung wußte, und er tat sein möglichstes. Vater Rübezahl knetete den Körper, während der Indianer es für das beste Mittel, jemanden vom Tode wieder zum Leben zu bringen, hielt, daß er ihm die Nase kitzelte, was er mit einer einem Pfeile entnommenen Feder gründlich tat.

»Die Brust beginnt sich wieder von allein zu heben und zu senken!« konstatierte Scott.

»Seine Haut wird wieder warm!« jauchzte Vater Rübezahl.

»Ha — ha — hazzzziehhhh!!!«

Aber nicht der Indianer, sondern der Tote hatte geniest; Nobody hatte die Augen aufgeschlagen — ein starrer Blick traf den ihn kitzelnden Indianer, im nächsten Augenblick flog dieser, von einem eisernen Griff gepackt, zur Seite — und da stand Nobody aufrecht neben dem Lager, schon den Revolver aus der Tasche gerissen, bereit, den Kampf mit den vermeintlichen Feinden aufzunehmen, und er kam diesen auch gleich zuvor.

»Die Hände hoch!!!« donnerte es. »Eins — zwei...«


Illustration

»Nobody! — Alfred!«

Der erhobene Revolver sank herab, desto starrer wurden die Augen, die im ganzen Raume herumwanderten, um wieder nach den drei Männern zurückzukehren.

»Ja — träume — oder wache ich denn? — Das ist doch — Edward Scott — wie kommt der denn hierher? — — Und das — das ist — doch — — Onkel Franz? Nur ohne Bart — und so alt, wie er jetzt sein könnte, wenn er noch lebte. So ein kurioser Traum!«

»Nein, Alfred, du träumst nicht, ich bin es wirklich, dein Onkel Franz!!«

Der Alte hatte es gerufen, und weinend und schluchzend lag er an Nobodys Brust.

Scott fühlte, daß er bei der Erklärung, die jetzt folgen mußte, überflüssig war, er entfernte sich, ging tiefer in die Halle hinein.

Untersuchungen stellte er dabei nicht an, seine Gedanken waren damit beschäftigt, daß er durch Zufall gleich beim ersten Male die richtige Figur gebildet hatte, die den Scheintoten aus seinem viermonatlichen Schlafe hatte wieder erwachen lassen. Denn daß dem so war, darüber existierte bei Scott nicht der geringste Zweifel.

Er hatte nicht lange Zeit, über dieses Wunder nachzugrübeln, oder die Zeit war ihm dabei außerordentlich schnell vergangen.

»Edward, komm her, du mußt dabeisein, wenn das Rätsel erklärt wird,« erklang Nobodys Stimme.

Scott kehrte zurück. Wenn er aber geglaubt, doch noch Zeuge einer rührenden Familienszene zu werden, so hatte er sich gründlich geirrrt. Vater Rübezahl war wieder der alte Trapper, wie er ihn während des zweitägigen Marsches zur Genüge kennengelernt hatte, und Nobody war eben Nobody. Keine Spur davon, daß der Neffe hier den für tot gehaltenen Onkel wiedergefunden hatte und umgekehrt. Die beiden hatten zu dem freudigen Wiedersehen und zu einer Auseinandersetzung überraschend kurze Zeit gebraucht.

»Das hier ist ein Onkel von mir. Er nennt sich ja wohl Vater Rübezahl — bleibe du bei diesem Namen. Ja, nun habe ich aber auch schon etwas anderes gehört, was mir sehr merkwürdig vorkommt. Bitte, Edward, erzähle mir doch einmal ausführlich, wie das mit meinem Verschwinden gewesen ist.«

Scott erzählte. Wir haben alles schon gehört, als er sich dem Alten erklärte. Es kam kaum noch etwas Neues hinzu.

»Hm, sehr merkwürdig!« brummte Nobody, der den Erzähler mit keinem Worte unterbrochen hatte. »Nun, Edward, deine prophetische Veranlagung kenne ich ja, und ich zweifle nicht im geringsten daran. Nur in einem bist du vollkommen im Irrtum. Was für ein Datum haben wir heute?«

»Den 19. August.«

»Stimmt! Und welche Zeit ist es? Ah, meine Uhr ist stehen geblieben. Das ist auch nicht zu verwundern, ich habe vorhin einen sehr schweren Sturz getan...«

»Vorhin?!« stieß Scott ganz unwirsch hervor.

»Jawohl, vorhin. Nun, welche Zeit ist es?«

»Zwanzig Minuten nach ein Uhr.«

»Dann habe ich hier nur zwölf Minuten bewußtlos gelegen. Ich bin im Befragen der Uhr sehr pedantisch, das muß ein Detektiv auch sein, und so vergewisserte ich mich, daß es, als ich diesen Götzen hier entdeckte, sechs Minuten nach eins war. Zwei Minuten will ich dazurechnen, dann fiel ich dort die Treppe herab — also bin ich zwölf Minuten bewußtlos gewesen.«

»Es — ist — nicht — möglich!!«

»Na, Edward, denkst du wirklich, daß ich vier ganze Monate hier als Toter gelegen habe?! Ich bin vorhin erst hier hereingekommen, mich wundert nur, daß wir uns nicht zwischen den Ruinen begegnet sind. Und mit der kabbalistischen Tafel habe ich gar nichts zu tun gehabt, die Würfel lagen vorhin ganz unordentlich durcheinander, ich habe sie gar nicht angerührt.«

Es läßt sich denken, wie bei dieser Erklärung der Geisterseher aus allen seinen Himmeln gestürzt war.

Da legte ihm Nobody die Hand auf die Schulter, und es war ein tiefernstes Gesicht, in welches Scott blickte, und ebenso feierlich erklang es:

»Nein, Edward, fasse meine Worte nicht etwa als spottende auf. Im Gegenteil, deine prophetische Sehergabe hat sich wieder einmal auf wunderbare Weise bestätigt. Nur du selbst hast dich in einem Irrtume befunden. Nicht Gegenwärtiges, sondern Zukünftiges hast du im Geist und im Kristall geschaut. Bis vor einer Viertelstunde befand ich mich frisch und munter, und seit ich Buenos Aires verließ, hat mich keine nennenswerte Gefahr bedroht. Vor einer Viertelstunde trat ich hier ein, sah diesen Götzen, aus seinem Munde mußte der eigentümliche Ton kommen, ich wollte es ergründen, stieg die Stufen hinauf — da traf mich ein starker, kalter Hauch, augenblicklich schwanden mir die Sinne, ich stürzte die Stufe hinab, konnte mich nur noch einmal aufraffen, um mich hier auf diese Steinbank zu legen — dann fühlte ich deutlich, wie mich die Kälte des Todes ergriff...«

»Und du wärst auch in den ewigen Todesschlaf hinübergeschlummert, hätte uns Gott nicht noch rechtzeitig zu dir geführt, um dich aus dem Anfänge des Todesschlafes wieder aufzurütteln«, ergänzte Vater Rübezahl erschüttert.

»So ist es. Ich zweifle nicht mehr daran. Ohne euch wäre mein Tod beschlossen gewesen. Aber in Gottes unerforschlichem Ratschlüsse war es bestimmt; schon vor vier Monaten mußtest du, Edward, deine Vorbereitungen dazu treffen, um mich heute zur bestimmten Minute hier zu finden. O, es ist wunderbar!!«

Nobody hatte nicht minder erschüttert gesprochen als vorhin sein Onkel.

Hiermit aber war das Geheimnisvolle, so weit man es sich nicht erklären kann, für diese Männer auch erledigt. Nur Einzelheiten waren noch zu besprechen.

»Der Hund führte uns direkt hierher«, sagte Vater Rübezahl, »er verfolgte deine Spur. Welches Interesse konnte er an dir haben?«

»Das kann nach dem Hunde ich am besten erklären,« entgegnete Scott. »Kennst du diesen Rucksack, Alfred?«

»Jawohl, das ist einer aus meiner heimatlichen Rüstkammer.«

»Ich wählte ihn, als ich Vorbereitungen zu meiner Reise nach Mexiko traf. Von Proteus' wunderbar feiner Spürnase habe ich schon Beweise genug bekommen, er hatte den Geruch des Rucksackes nun schon in der Nase, und als er hier deine Spur witterte, wußte er sofort, daß du zu uns gehörtest.

»Aber, Alfred, wie kommt es, daß du so lange nichts von dir hast hören lassen?«

Das war nicht Nobodys Schuld. Von Buenos Aires aus hatte er das versprochene Telegramm abgesandt, welches seiner Frau meldete, daß er sich zunächst nach der Stadt Mexiko begebe. Diese Depesche hatte eben ihr Ziel nicht erreicht, das erstemal, daß ein von Nobody aufgegebenes Telegramm verlorengegangen war. Viel leichter begreiflich bei der Liederlichkeit und Unsicherheit der mexikanischen Postverhältnisse war es, daß seine Frau auch nicht den eingeschriebenen Brief erhalten hatte, den er ihr von Mexiko aus geschickt hatte, worin er ihr sein nächstes Vorhaben ausführlich schilderte.

»Was ist nun dieses dein Vorhaben? Wie kommst du hierher? Was für eine Bewandtnis hat es mit diesem Götzen?«

Nobody erzählte mit kurzen Worten, vielleicht kürzer, als wir es hier wiedergeben könnten, auch ohne dessen Erwähnung zu tun, wie er in den Besitz der Knotenschrift gekommen war, noch weniger, wie und wo er diese entziffert hatte.

Er hatte eben durch einen Zufall erfahren, daß sich unter dem Altar des Gottes Vitzliputzli im alten Tenochtitlatan etwas befinden sollte, was des Aufhebens wert sei.

Wo das alte Tenochtitlatan gelegen, das hatte er, als er sich einmal selbst in Mexiko befand, bald herausgebracht. Nur dürfe er, hatten ihm verschiedene Sachverständige gesagt, an die er sich gewandt, nicht erwarten, dort irgend noch etwas zu finden, was man mitnehmen könne. Höchstens zum Andenken einen Baustein, aber sonst auch nichts weiter. Einmal hätten die Azteken, ehe sie von den beutelustigen Spaniern besiegt wurden, nach altem Muster alle Schätze und Heiligtümer spurlos verschwinden lassen, und dann seien die Ruinen von Tenochtitlatan im Laufe von Jahrhunderten von zahllosen Forschern durchsucht worden, da gab es nichts mehr zu entdecken, und wenn es dort einen Stein gegeben, auf den eine Hieroglyphe oder sonst etwas eingegraben gewesen war, den hatte in neuester Zeit sich ein reisender Engländer als Andenken mitgenommen.

Nun, Nobody dachte anders. Die Hauptsache war für ihn, zu erfahren, daß in Tenochtitlatan wirklich Vitzliputzlis Haupttempel gestanden habe, wo ihm seinerzeit auch Menschen geschlachtet wurden, in manchem Jahre erwiesenermaßen deren 20000, und nicht nur Kriegsgefangene; sein Tempel sei die große Pyramide mit den Terrassen gewesen, die eigentliche Tempelhalle läge auf der zweiten Terrasse auf der östlichen Seite, auch das Postament sei noch vorhanden, auf dem die Figur des schrecklichen Gottes gestanden, denn dieses letzte Überbleibsel konnte man nicht entfernen, einfach aus dem Grunde, weil das Postament mit dem Felsen verwachsen war.

Nobody machte sich auf den Weg, allein, überschritt das Löwengebirge. Bemerkt sei noch, daß er auch vor den vielen Schlangen gewarnt worden war, welche sich seit einigen Jahren dort bemerkbar machten, und daß man ihm sagte, die Ruinen würden in letzter Zeit auch gar nicht mehr besucht.

Erst vor einer Stunde hatte Nobody dieses Tal betreten. Aber er hörte nichts von einem singenden Tone. So kam für ihn die erste, kleinere Pyramide gar nicht in Betracht, er wandte seine Aufmerksamkeit sofort der zweiten zu, hatte schnell die verdeckte Treppe gefunden, ebenso die Halle mit dem Postament.

Dieses war also mit dem Boden aus ein und demselben Felsen? Ja, so sah es auch gerade aus. Nicht die geringste Fuge war zu entdecken. Aber nach dem Inhalt der Knotenschrift sollte sich ›das, was dem Nahatluak gehört‹, unterhalb dieses Postamentes befinden, und Nobody konnte nicht glauben, daß dazu nötig sei, erst Sprengungen auszuführen, denn die Azteken hatten das Pulver noch nicht erfunden.

Nein, hier mußte wohl ein Mechanismus vorhanden sein. Wir können hier nicht beschreiben, wie Nobody diesen, der sich an dem Steine selbst befand, entdeckte, es gehörten eben dieses Detektivs Fähigkeiten dazu, um dies in so kurzer Zeit, in nur wenigen Minuten fertig zu bringen, und er wunderte sich dabei ebenso sehr darüber, wie sinnreich dieser Mechanismus angebracht worden war, wie auch, daß die Knotenschrift gar nichts von dem Mechanismus gesagt hatte. Setzte das nicht fast voraus, daß davon noch anderen Menschen bekannt war? Oder das konnte auch so viel heißen als: nur der ist würdig, das Geheimnis zu finden, welcher scharfsinnig genug ist, auch diesen Mechanismus zu entdecken, der den Weg zu dem Geheimnis freigibt.

Kurz und gut, ein Druck auf eine vorstehende Ecke genügte, und der Stein von etwa hundert Zentnern Gewicht konnte mit kinderleichter Mühe gedreht werden, er gab eine Öffnung frei.

In diesem Augenblicke, da sich der Stein drehte, erscholl jener singende Ton, der von einer riesigen G-Saite zu kommen schien, und zwar war es, als ob er aus dem Loche herauskäme - und der Leser sei darauf aufmerksam gemacht, daß dies der Zeitpunkt war, da sich die drei Jäger dem Tale näherten, und Bogenspanner war der erste, welcher ebenfalls den Ton vernahm. Hätten sie eine Viertelstunde später das Tal betreten, so hätten sie ganz plötzlich diesen Ton über sich gehört, doch ebenfalls von der ersten Pyramide kommend.

Was für ein seltsamer Ton war das, der ihm da aus der Öffnung entgegendrang? Offenbar hatte ihn erst das Auslösen des Mechanismus erzeugt, aber das gab noch keine Erklärung.

Nobody ging äußerst vorsichtig zu Werke. Zunächst ließ er seine brennende Bezinlaterne hinab, dann drang er Schritt für Schritt vor, hielt sich bei jeder Mumie auf, dann verfehlte er den rechten Gang, untersuchte auch mit Absicht die anderen Gänge — und so kam es, daß die drei Männer unterdessen die erste Pyramide erklettern konnten, während Nobody hier unten vordrang.

Schließlich erreichte er auch diesen Saal, in dem der eherne Götze stand. Hier beging Nobody eine große Unvorsichtigkeit, die jeder Mensch einmal begehen kann, und Nobody war doch auch nur ein Mensch.

Der singende Ton kam offenbar aus dem Munde des Gottes. Das mußte Nobody ergründen. Er stieg also die Stufen hinauf, erklomm die Knie des nach aztekischer Art kauernden Götzen, mußte an Vorsprüngen der Erzfigur noch etwas höher klimmen, dabei hatte er die brennende Benzinlampe mitgenommen, jetzt war er so weit, er reckte sich, hielt die Lampe in Kopfhöhe, um in den Mund hineinzusehen und zugleich hineinzuleuchten — mehr wußte er eigentlich nicht, höchstens noch, daß ihn ein starker Luftstrom getroffen hatte.

Dieser raubte ihm augenblicklich die Besinnung. Er stürzte von der Figur herab, schlug heftig mit dem Kopfe auf; nur dadurch kam er noch einmal zu sich, hatte noch so viel Kraft, sich auf die Steinbank zu werfen, wo er abermals das Bewußtsein verlor, um erst unter den Händen seiner Freunde wieder zu erwachen.

Während dieses Vorgangs hatte er wohl ein schreckliches Pfeifen gehört, aber daß er mit der Laterne das ausströmende Gas in Brand gesetzt hatte, daß jetzt dem Munde des Götzen eine lange Flamme entfuhr, das wußte er gar nicht, das hatte er gar nicht bemerkt. — —

Wie gesagt, Nobody hatte zu dieser Erzählung weniger Worte gebraucht, als wir benötigten.

»Das ist ein giftiges Gas, und schon einfaches Wasserstoffgas genügte, um einem augenblicklich die Besinnung zu rauben. Mir kam es vor, als stände mein Herz plötzlich still. Wärt ihr nicht gekommen, hättet ihr meinem Blute durch künstliche Atmung nicht schnell frischen Sauerstoff zugeführt, ich wäre auf jeden Fall verloren gewesen, wäre so ganz sanft in den Tod hinübergeschlummert.«

Woher kam das Gas? Was für einen Zweck hatte das alles?

»Eins nach dem andern,« sagte Nobody, und seine durchdringenden Blicke hatten schon seit längerer Zeit auf dem Indianer geruht, dessen Arme so verschieden entwickelt und aus dessen Brust und Gesicht die Tätowierungen wieder ausgestochen oder durch andere Linien entstellt worden waren.

»Ist das dein Begleiter, Edward?«

»Nein, der meine,« entgegnete der Alte statt Scotts. »Bogenspanner ist mein treuer Freund.«

»So?« meinte Nobody mit einiger Verwunderung. »Ich dachte, weil doch auch Scott ein Kanadier ist, er hätte ihn mitgebracht. Wie kommt denn der hierher? Das ist doch ein Schwarzfuß.«

Die Schwarzfuß-Indianer bewohnen den höchsten Norden Kanadas, ein Volk von Pelzjägern. Scott, ein leidenschaftlicher Jäger, hatte selbst lange Zeit unter ihnen zugebracht — aber auch nicht die leiseste Ahnung war in ihm aufgestiegen, daß er einen roten Landsmann vor sich haben könne, am wenigsten hatte ihn die Tätowierung, die er sonst sehr wohl kannte, darauf gebracht.

Das Auge dieses Detektivs dagegen hatte sofort den Schwarzfuß-Indianer erkannt, und wie Bogenspanner nun dieses Wort hörte, da prallte er, was Scott auch nicht für möglich gehalten hätte, mit einem entsetzten ›Wah!!‹ zurück, durch welchen Ausruf er sich nun allerdings als einen Indianer der höheren Region Amerikas verriet. Aber auch zum allerersten Male war er hierdurch aus seiner Rolle gefallen.

»Was hat die Rothaut? Warum verleugnet sie so ängstlich ihre Nationalität?«

»Bogenspanner hat allerdings einen Grund, nicht erkannt werden zu wollen,« sagte Vater Rübezahl hastig. »Aber er ist seit vier Jahren mein Freund, Alfred, der treueste Mensch, ich garantiere für ihn, ich erzähle dir seine Geschichte ein andermal, er wird von einem Unglück verfolgt, dringe jetzt nicht weiter in den Bedauernswerten, Alfred.«

Fast flehend hatte es zuletzt aus dem Munde des Alten geklungen, und da trat Nobody vor den Indianer hin, der vor Schreck förmlich an allen Gliedern zitterte, und legte ihm in seiner Weise die Hand auf die Schulter.

»Wenn dich mein Onkel seinen Freund nennt, so genügt mir das, und wenn du ein Geheimnis hast, so bin ich der letzte, der sich darum kümmert. Es soll nur jemand oben an dem Ausgange Wache halten, denn wenn etwa durch das Pfeifen dieses Gottes ein Mensch herbeigelockt würde, der Interesse daran hat, das Postament wieder über das Loch zu rücken, so könnten wir in einer Mausefalle sitzen, und als diesen Wächter hatte ich dich ausersehen. Wem gehört der Hund?«

»Mir,« sagte Scott.

»Gehorcht er auch diesem Indianer?«

»Er hat sich während der zwei Tage schon sehr an ihn gewöhnt.«

»Wenn Bogenspanner ihn mitnimmt, und er heißt ihn zurück zu seinem Herrn zu laufen — wird er gehorchen?«

»Ganz sicher wird Proteus zu mir zurückrennen.«

»So komm! Ich werde dich begleiten und dir deinen Platz anweisen. Warte auf mich, ich bleibe nicht lange.«

Nobody faßte den Hund am Halsband, der Indianer, dessen Schreck schnell nachgelassen hatte, folgte ihm durch die Gänge.

Tief atmete Nobody auf, als ihn wieder das Tageslicht begrüßte. Der Indianer, dessen Falkenblick Nobody gleich am glänzenden Auge erkannte, sollte sich hinter den grünen Pflanzenvorhang stellen und von hier aus die Umgegend beobachten, und sobald ein Mensch auftauchte oder sich sonst irgend etwas Verdächtiges bemerkbar machte, den Hund mit entsprechenden Worten freigeben, daß dieser als meldender Bote alsbald zurücklief.

Nobody begab sich zu seinen Gefährten zurück. Gleich beim Betreten des Tunnels stutzte er. Klang das Pfeifen jetzt nicht viel schwächer als vorhin? Und je weiter er ging, desto mehr kam er zu der Überzeugung, daß dem wirklich so war, die Stärke des Tons nahm nicht zu, wie es doch hätte sein müssen, sondern immer mehr ab, und als er jenen Saal wieder betrat, war das Pfeifen kaum noch hörbar, und aus dem Munde des Götzen kam nur noch eine ganz kleine Flamme, welche sofort nach oben in den Schacht ging, bis sie ganz verlöschte.

Die Zurückgebliebenen hatten daran nichts verschuldet. Die Erklärung hierfür war eine ganz natürliche, nach der man nicht lange zu suchen brauchte.

Auch diese Pyramide bestand aus massivem Felsen, war also aus dem Urgestein herausgemeißelt worden. Vulkanischen Ursprungs, ohne noch vulkanisch tätig zu sein, strömte irgendwo im Gebirge ein Gas aus, wahrscheinlich Wasserstoff, wie es solcher Gasquellen ja genug gibt, es gelangte durch eine natürliche oder künstliche Leitung hierher, wahrscheinlich war es hierherum von jeher ausgetreten, die alten Mexikaner hatten verstanden, es durch den Mund dieses ehernen Götzen zu leiten — jedenfalls eine technische Kunstleistung allerersten Ranges! Schädlich konnte das an sich giftige Gas den unten im Raume befindlichen Menschen nicht werden, es war so leicht, daß es sofort zur Decke emporstieg, wo ihm der natürliche oder künstlich angelegte Schacht einen willkommenen Ausweg bot, und wenn es brannte, schlug die Flamme erst recht ganz harmlos in den Schacht, der also oben in der kleineren Pyramide ausmündete, unterhalb welcher man sich hier überhaupt wohl schon befand.

Nun entfloß der vielleicht sehr weit entfernten Quelle aber nicht genug Gas, um ständig eine Flamme unterhalten zu können. Das Gas sammelte sich offenbar in einer unterirdischen Höhlung erst im Laufe der Zeit an — wie lange es bedurfte, um für eine Viertelstunde eine Flamme zu unterhalten, das hätte man erst ausprobieren müssen, da konnte man aber unter Umständen viele Jahre warten — und Nobody fand denn auch richtig im Ohre des Götzen einen Schieber, welcher offenbar ein Ventil öffnete und schloß, und dieser Schieber stand durch einen Mechanismus auch schon mit jenem Postamente in der Tempelhalle der ersten, größeren Pyramide in Verbindung.

Es läßt sich denken, was für einen Hokuspokus die Priester der alten Mexikaner mit solchen mechanischen Spielereien treiben konnten und sicher getrieben hatten, dieser Effekt, wenn der Gott brummend zu singen begann, wenn ihm dann gar unter schrecklichem Geheul die meterlange Flamme aus dem Munde fuhr, und auch die draußen harrende Menge, die keinen Zutritt zum Allerheiligsten bekommen hatte, konnte ihren Wunderglauben sättigen, auch sie hörte ja das markerschütternde Pfeifen und sah doch wenigstens die hohe Flamme aus der Pyramide schlagen, was besonders bei Nacht einen schauerlichen Eindruck machen mußte.

Nun aber eine andere Frage: Konnte dieses Pfeifen nicht ein Signal gewesen sein, welches die gläubigen Mexikaner zum Altar rief, auf dem einst Menschen geschlachtet wurden, und konnte dieses Signal nicht noch jetzt wirksam sein, etwa auf eine geheime Verabredung, die unter den noch heute existierenden Azteken zirkulierte? Konnte da nicht irgendeine alte Sage in Betracht kommen?

Trotz seines zwanzigjährigen Aufenthaltes in Mexiko konnte der Onkel ihm nichts über die Nachkommen der alten Azteken berichten, da wußte Nobody viel mehr; denn während der langen Reise hatte er sich wie gewöhnlich über alles orientiert, was er in dem Lande, welches er betrat, finden würde, aus Büchern, aus Gesprächen, er hatte in der Stadt Mexiko Gelehrte und andere sachverständige Personen aufgesucht, hatte echte Azteken ausgehorcht, einige auch in der Hypnose.

Nein, diese Nachkömmlinge des alten Herrschergeschlechtes von Mexiko waren die friedfertigsten Menschen, das lag in ihrer Natur, die gingen mit keinen Plänen mehr um, das Aztekenreich in ihrer alten Herrlichkeit wieder auferstehen zu lassen, sie waren sämtlich die aufrichtigsten Christen geworden, die von ihren ehemaligen Göttern nichts mehr wissen wollten, nicht einmal mehr deren Namen kannten, von Vitzliputzli ungefähr so sprachen, wie wir von Thor und Odin, und auch von einem Geheimnis des alten Tempels von Tenochtitlatan war keinem einzigen etwas bekannt gewesen.

Trotzdem, Nobody war vorsichtig, er hatte am Eingänge zu diesen Katakomben eine Wache ausgestellt, falls das Singen und Pfeifen dennoch Leute herbeirufen sollte, welche an Vitzliputzlis Macht noch glaubten, nur auf seinen Ruf gewartet hatten.

Die Untersuchung der unterirdischen Tempel-Hallen und der Katakomben ward fortgesetzt. Mumien in Menge und eine steinerne Kiste mit jenen verknoteten Riemen — nichts weiter. Doch war das etwa nicht genug? Nobody sah schon im Geiste die mexikanischen Mumien und den vierköpfigen und achtarmigen Gott im britischen Museum stehen, darunter seinen Namen als den des Entdeckers und Schenkers, und sein Herz schwoll vor seligem Stolz. Was bedeuten alle Schätze der Erde gegen so etwas — das heißt, für den, der etwas davon versteht! Mancher Forschungsreisende hätte schon für eine einzige dieser Mumien die Hälfte seines Lebens dahingegeben! Nun aber erst die Knotenschrift!! Gleich bei einer oberflächlichen Entzifferung der ersten Schnur, wie er es nun gelernt hatte, fand Nobody, daß hier über die Religionsgebräuche der alten Mexikaner berichtet wurde, wovon man bisher so gut wie gar nichts gewußt hatte, und hier wurden die geheimsten Zeremonien beschrieben. Fürwahr, das war ein Fund von unermeßlichem Wert oder doch von unermeßlicher Wichtigkeit.

Inzwischen hatte Nobody auch Zeit, sich mit Scott zu unterhalten. Wie war es diesem in Ägypten ergangen? Was hatte er ausgerichtet?

Niedergeschlagen konnte der junge Kanadier nur von einem negativen Resultate berichten. Die Hauptsache war, daß er jenes wahnsinnige Weib nicht mehr vorgefunden hatte. Sie war einige Tage vor seiner Ankunft aus dem Lager der Beni Schammar verschwunden, mußte sich in der Wüste oder im Gebirge verirrt haben, die Beduinen hatten während dieser Tage vergebens nach ihr gesucht.

»Ich selbst fand eine Spur, welche nach Kairo führte...«

»Nun sage mir erst einmal offen, Edward,« unterbrach Nobody den Erzähler, »hast du denn noch wirkliche Neigung zu deiner...«

Auch Nobody wurde unterbrochen. Die beiden befanden sich ziemlich weit entfernt von dem Tempelraume in einem Gange und leuchteten mit der Lampe die zahllosen Mumien ab, Vater Rübezahl befand sich in einiger Entfernung hinter ihnen, als plötzlich Proteus an seinem Herrn emporsprang.

Nobody hatte die Sprünge des Tieres trotz deren Lautlosigkeit bereits gehört.

»Hallo, Bogenspanner schickt seinen Boten mit der Meldung, daß die Luft nicht rein ist! Vorwärts, schnell nach dem Ausgange, wir alle zusammen!«

Sie eilten durch die Gänge, in fünf Minuten waren sie oben neben dem Indianer, der mit ausgestreckter Hand durch das grüne Gewebe der Schlingpflanzen deutete.

Der Richtung folgend, erblickten sie von Osten her, wo wieder Berge das Tal begrenzten, vier Gestalten kommen. Noch hatten sie die eigentlichen Ruinen nicht erreicht, aber schon war zu erkennen, daß sie graue Gewänder trugen, die sie vom Kopf bis zu den Füßen einhüllten. Mehr war mit bloßen Augen vorläufig nicht zu unterscheiden, höchstens noch, daß sie einen sehr schnellen Gang angeschlagen hatten, eine kleine Figur, die mit den größeren nicht gleichen Schritt halten konnte, mußte traben.

»Sie haben Kapuzen über den Köpfen, das sind offenbar Nonnen!« sagte Scott, der schon sein Taschenfernrohr vorm Auge hatte.

»Nein, dann können es höchstens Mönche sein, Männer sind es bestimmt!« korrigierte Nobody seinen Freund, noch ehe er das Fernrohr benutzte.

Sie kamen näher. Jetzt unterschied das Fernrohr, daß es tatsächlich bartlose Männergesichter waren. Nobody hatte es gleich am Gang, an den ganzen Bewegungen erkannt.

»Ja, das ist eine gleichartige Klostertracht. Weißt du, Franz, ob sich hier in der Nähe ein Kloster befindet?«

Nein, darüber konnte der Alte keine Auskunft geben, hätte es vielleicht nicht tun können, wenn sich ein Kloster innerhalb seines Jagdreviers befunden; dieses war zu groß, und wo kein Wild anzutreffen war, da kam der Jäger auch gar nicht hin.

»Von Kopf bis zu Füßen alles grau — um die Hüften einen Strick — natürlich — statt Sandalen feste, hohe Stiefel — wegen der Schlangen auch sehr nötig — jeder hat in der Hand einen langen Stock, der oben in eine Gabel ausläuft, das ist das auffallende Abzeichen. Was für mexikanische Mönche sind das? Welchem Orden mögen sie angehören?«

Niemand wußte, so wenig wie Nobody, eine Antwort.

»Nun, wir werden ja sehen. Die sind auf keiner Wanderung begriffen, ich vermute stark, daß diese guten Mönchlein in der Nähe hausen und durch das Pfeifen hierhergelockt worden sind, ihre Eile muß auch etwas Besonderes bedeuten, und ich bin entschlossen, ihnen unten entgegenzutreten. Für alle Fälle aber wollen wir erst hier oben wieder Ordnung schaffen.«

Das ›Ordnungschaffen‹ bestand darin, daß Nobody den Mechanismus spielen ließ, welcher das Postament wieder über die Öffnung setzte.

»So. Jetzt begebe ich mich hinunter. Wirklich, die marschieren direkt auf diese Pyramide zu. Ich werde es so einrichten, daß die Begegnung im Bereiche eurer Schußwaffen stattfindet.«

Jetzt verschwanden die vier Mönche zwischen den ersten Häusern. Nobody, ganz wie ein Trapper gekleidet, untersuchte sein Gewehr, daß er auf dem Steinbett noch am Lederriemen über der Schulter hängen gehabt, und stieg die Treppe hinab.

Er brauchte nur einige Schritte zu gehen, so befand er sich hinter einem Hause, von welchem aus er sowohl die nach der Pyramide führenden Straßen überblicken konnte, wie man ihn auch von oben sah.

Richtig, da kamen sie schon, immer noch im Eilschritt!

Ihr Äußeres ist schon beschrieben worden. Hinzuzufügen ist nur noch, daß der eine, der älteste, welcher voranging, trotz seines tiefbraunen Gesichtes offenbar ein Germane war, zwei andere, bedeutend jünger, wahrscheinlich Spanier, der vierte unverkennbar ein Indier. Von klösterlicher Enthaltsamkeit war allen vieren nichts anzumerken, sie machten vielmehr einen recht wohlgenährten Eindruck, wenn dieser auch weit von Fettsucht war. Kräftige Gestalten, die wohl auch mit Hacke und Axt arbeiteten und mit dem Gewehr vielleicht ebensogut umzugehen wußten wie mit dem Rosenkranz, wenn man auch keine Waffen bei ihnen sah.

»Hallo! Endlich einmal andere lebende Wesen als nur Schlangen!«

Der Schreck war groß, als sie plötzlich den hinter seiner Mauer hervortretenden Trapper erblickten, ihre Füße wurzelten am Boden, und dann fiel es Nobody sofort auf, daß sie unter sich fragende, scheue Blicke wechselten.

Am schnellsten hatte sich wieder der Älteste gefaßt, und wieder war es etwas eigentümlich, daß er gleich mit ausgestreckter Hand auf den Fremden zuging. Doch das mochte ja bei diesem Mönchsorden üblich sein, jeden Menschen, dem sie begegneten, mit einem Handschlag zu begrüßen, nur durften sie dann in keine Stadt kommen.

»Friede sei mit dir, mein Bruder,« erklang es auf spanisch.

»Und mit euch allen,« entgegnete Nobody, die dargebotene, arbeitsharte Hand ergreifend.

Seit Nobody von dem sich in Todesqualen windenden Weibe in die geheimen Erkennungszeichen der ›Udlindschis‹ eingeweiht worden war, hatte er sich angewöhnt, an jeder Hand, die er in die seine bekam, den Versuch zu machen.

So legte er auch jetzt seinen Mittelfinger auf den Puls des anderen Handgelenks und drückte etwas, ganz gewohnheitsmäßig. Ebenso aber beobachtete er auch ganz gewohnheitsmäßig aufs schärfste die Züge des fremden Mannes, der ihm zum ersten Male begegnete.

Da — was war das? Weshalb zuckte der Mönch so zusammen? Warum nahmen seine Züge solch einen Ausdruck ungeheurer Spannung an? Und da kroch auch sein Finger an Nobodys Handgelenk herauf und drückte den Puls!

Nobody beherrschte jeden aufsteigenden Jubelgedanken, sein Entschluß war kurz gefaßt. Nicht umsonst hafteten jetzt die Augen so forschend und ängstlich auf ihm.

Er krümmte den Mittelfinger und schob ihn unter des anderen Handfläche — und da zog der Mönch schnell seine Hand zurück, aber nur, um die Arme über der Brust zu kreuzen und eine tiefe Verbeugung zu machen.

»Herr, du Abgesandter unseres Meisters, welcher der Herr der Erde ist — deine Diener sind hier, um deine Befehle bedingungslos auszuführen.«

So erklang es aufs ehrerbietigste, und auch die anderen drei verneigten sich mit sklavischer Unterwürfigkeit in derselben Weise.

Also Anhänger jener Sekte — Udlindschis, wie wir sie vorläufig mit dem abessinischen Ausdruck noch immer nennen wollen! Und Nobody war durch sein geheimes Erkennungszeichen in ihren Augen der Abgesandte ihres ›Meisters‹ geworden, den sie als ihren Gott anbeteten!

Wie aber sollte sich Nobody diesen ›Udlindschis‹ gegenüber nun verhalten, wobei es das allerwenigste war, daß er noch nicht einmal den Namen der gesamten Sekte kannte?

Wir wollen ein Beispiel heranziehen, um zu zeigen, in welcher Lage sich Nobody befand, wie er sich nämlich sofort zu helfen wußte.

Gesetzt den Fall, ein deutscher Offizier, etwa ein Marineoffizier, der zum ersten Male nach Afrika kommt, wird bei einem Jagdausfluge von seinen Begleitern abgeschnitten, er verirrt sich, gelangt zu einer Abteilung der Schutztruppe, die sich in einem Lager gegen Feinde verschanzt hat. Sie wurde von einem, von mehreren Offizieren geführt, diese sind sämtlich weggeschossen worden, jetzt hat ein Sergeant das Kommando.

Sobald der Marineoffizier dorthinkommt, wird und muß er das Kommando ergreifen. Zwar kennt er gar nichts von den afrikanischen Verhältnissen, kann sich nicht mit dem Feinde, nicht einmal mit seinen eigenen eingeborenen Soldaten verständigen, alles und jedes ist ihm fremd — aber immerhin, es ist ganz undenkbar, daß sich der Offizier etwa unter das Kommando des Sergeanten stellt. Wenn er diesem auch alles überläßt, der Unteroffizier ist und bleibt sein Untergebener. Und dürfte solch ein Sergeant seinen kenntnislosen Vorgesetzten etwa fragen: ›Na, hören Sie, wissen Sie denn das nicht, daß Sie egal so dumm fragen?‹

Nein, so etwas gibt es nicht, und Nobody war sich bewußt, sich hier in einer ebensolchen Lage zu befinden, nämlich in einer für ihn ganz ungefährlichen, er konnte sich überhaupt gar nicht verraten, und hier herrschte noch viel mehr als nur militärische Disziplin, der ›Herr der Erde‹ hatte sich seine Sklaven noch ganz anders dressiert!

Wolle sich der geneigte Leser, wenn Nobody auffallende Fragen stellt und immer willige Antworten ohne jedes Mißtrauen erhält, nur an jenes Beispiel mit dem in einen ihm fremden Weltteil versprengten Offizier erinnern, und er wird alles begreiflich finden.

»Wie heißt du?«

»Genannt werde ich Pater Hilarion, doch mein eigentlicher Name ist Christian Swalund.«

»Was für ein Landsmann bist du?«

»Ein geborener Däne, Herr.«

»Und die anderen?«

»Das sind die Brüder Joseph, Anselmus und Tobias.«

»Ist das dort nicht ein Indier?«

»Jawohl, Herr, Bruder Tobias ist ein Indier, der Meister hat ihn bekehrt und mir untergeordnet.«

Daß jener Mephistopheles auch ›bekehrt‹ hatte, war für Nobody wiederum etwas ganz Neues. Freilich fragte es sich, zu welchem Glauben bekehrt.

»Seit wie lange stehst du in den Diensten des Meisters?«

»Seit vierzehn Jahren.«

»Du bist der Vorsteher eines Klosters?«

»Nur der Pater einer Ansiedlung von Eremiten.«

»Wo ist diese Ansiedlung?«

»Am Saltillo.«

»Was ist das?«

»Ein kleiner Salzsee.«

»Wie weit von hier?«

»Wir haben nur eine Stunde bis hierher gebraucht.«

»So hörtet ihr bis dorthin das Pfeifen?«

Diese Frage war gar nicht allzusehr gewagt, und Nobody hatte denn auch das Richtige getroffen.

»Gewiß, Herr, wir hörten es, und ich eilte mit den anwesenden Eremiten sofort herbei. Nur Bruder Laurentius blieb zurück.«

Jetzt mußte Nobody erst als der neue Offizier auftreten, welcher seine Leute prüft, ob sie ihre Instruktionen auch ordentlich kennen.

»Was solltet ihr tun, wenn ihr das heulende Pfeifen hörtet?«

»Sofort hierhereilen.«

»Zu welchem Zweck?«

»Das wissen wir nicht, Herr.«

Auch mit dieser Antwort mußte sich der Instrukteur als mit einer richtigen begnügen. Aber er konnte die Fragen auch noch anders stellen.

»Wohin solltet ihr sofort eilen?«

»Hierher nach den Ruinen von Tenochtitlatan, bis an den Fuß der Terrassenpyramide.«

»Solltet ihr hier jemanden erwarten?«

»Nicht erwarten, sondern wir sollten hier schon einen Mann vorfinden.«

»Wen?«

»Einen Peroxin.«

Ja, wenn Nobody nur erst die Geheimsprache dieser Sekte gelernt hätte! Doch er konnte als gewissenhafter Instrukteur ja immer fragen, ob seine Leute ihre Lektionen auch richtig gelernt hatten.

»Was ist das, ein Peroxin?«

Nicht das geringste Mißtrauen ob solcher Fragen!

»Ein bevollmächtigter Abgesandter des Meisters.«

»Richtig, und das bin ich!« sagte Nobody mit aller Seelenruhe.

»Wißt ihr,« fuhr er dann im Examen fort, »woher das Pfeifen stammt?«

»Nein.«

»Du hast gar keine Vermutung?«

»Nein, gar keine.«

Das war sehr wichtig für Nobody.

»Bist du schon ins Innere der Pyramide gekommen?«

»Noch nie, Herr. Es ist uns direkt verboten worden, die Grenzen dieses Tales zu überschreiten.«

»Wer hat das verboten?«

»Ein Talaxin.«

»Was ist das?«

»Ebenfalls ein Abgesandter des Meisters.«

»Noch über dem Peroxin stehend?«

Der Pater machte wohl ein etwas überraschtes Gesicht, aber durchaus kein mißtrauisches.

»Antworte!« sagte da Nobody auch noch scharf. »Wie verhält sich ein Talaxin zu einem Peroxin?«

»Nun, ein Talaxin hat als Abgesandter doch nur eine ganz beschränkte Macht, während der Peroxin der direkte Abgesandte des Meisters ist, er vertritt den Meister in eigener Person.«

»Richtig,« bestätigte der Examinierende gnädig. »Und wodurch legitimiert sich ein Peroxin als solcher?«

»Durch den Ring des Meisters.«

Aha! Jetzt kam etwas ganz Neues! Bisher hatte der Pater nur auf guten Glauben hin, weil er den geheimen Händedruck erhalten hatte und weil er eben erwartete, hier einen ›Peroxin‹ zu finden, den Trapper auch für einen solchen gehalten — der Sergeant hatte von dem fremden Offizier weiter keine Legitimationspapiere gefordert, der Händedruck war gewissermaßen eine Uniform.

»Wie sieht dieser Ring aus?«

»Er ist ganz aus einem roten Rubin geschnitten und trägt den Stein der Erde.«

Nobody hatte bereits die Hand in der Tasche gehabt, zog sie hervor, und kaum blitzte von dem blutigen Streifen, der sich um seinen Finger schlang, das wundersame Farbenspiel, hier in der Sonne jeder Beschreibung spottend, als sich alle vier Mönche auf die Knie warfen und mit der Stirn den Boden berührten.

»Steht auf!« befahl Nobody ebenso herrisch wie hastig; denn solch eine Anbeterei war ihm ein Greuel, niemals hätte er die Rolle eines Gottes spielen können.

Die Mönche erhoben sich wieder. Was für eine kolossale Wirkung der Anblick des Ringes auf sie erzeugt hatte, war noch in ihren Gesichtern zu lesen.

»Seit wann haust du am Saltillo?«

»Seit zwei Jahren.«

»Und diese anderen?«

»Ebenso lange.«

»Wo bist du früher gewesen?«

»Ich war auf Island stationiert.«

Aha, wiederum Island! Nobody hatte also nicht umsonst Isländisch studiert.

»Auf wessen Befehl bist du hierhergegangen?«

»Jener Talaxin selbst hat mich herbegleitet.«

»Wie hieß dieser Talaxin?«

»Er hat die Nummer sechzehn.«

Daß in dieser Sekte die Mitglieder alle Nummern besaßen, hatte Nobody schon früher bemerkt. Namen führten sie nur außerhalb ihrer Sekte, der Welt gegenüber, und den eigentlichen Namen jenes Mannes zu erfahren, das hatte gar keinen Zweck, das war doch nur ein angenommener.

»Und wann sind die anderen Mönche hier angekommen?«

»Fast gleichzeitig mit mir, sie wurden von einem anderen Talaxin begleitet.«

»Und was solltet ihr dort tun?«

»Unsere Hauptaufgabe war, darauf zu warten, bis wir ein heulendes Pfeifen vernehmen würden.«

»Und in diesem Falle?«

»Sollten wir sofort hierhereilen, nach dieser Pyramide, die uns zuvor gezeigt worden war.«

»Habt ihr dieses Pfeifen schon einmal vernommen?«

»Zwei Jahre haben wir gewartet, heute erklang es das erstemal, und wir brachen augenblicklich auf.«

»Und was dann, wenn ihr hier eintraft?«

»Wir würden hier einen Mann finden, der sich uns als Peroxin zu erkennen gibt, dem sollen wir uns zur weiteren Verfügung stellen, seine Befehle befolgen.«

»Was für Befehle wird er euch geben?«

»Das wissen wir nicht, Herr. Wir haben dir nur zu gehorchen,« war die demütige Antwort.

Nobody hatte den Kreis der Fragen geschlossen, war auf demselben Punkte wieder angelangt. Mehr wußte der Mann einfach nicht anzugeben.

Nobodys Entschluß war gefaßt.

»Wartet hier auf mich. Ich will erst meine Begleiter holen, wir kommen mit nach eurer Einsiedelei.«

Er begab sich hinauf zu seinen Gefährten. Seinem Onkel brauchte er nur einige Worte zu sagen, so zog sich dieser zurück, und Nobody konnte dem jungen Kanadier in Kürze Mitteilung von allem machen. Vater Rübezahl hätte ja doch von alledem gar nichts verstanden, so brauchte er auch nicht erst etwas zu erfahren.

»Was aber hatte der sogenannte Meister denn hier vor?« fragte Scott.

»Das weiß ich vorläufig noch nicht, und ich bezweifle auch, daß ich es zu wissen bekomme. Vielleicht ist die Sache einfacher, als wir denken. Vielleicht hat Monsieur Sinclaire die Pyramide bei Gelegenheit ausräumen wollen, um die Mumien seiner Galerie von Leichnamen einzuverleiben, die Männer sollten ihn dabei als Handlanger dienen, nur wußte er den Zeitpunkt noch nicht, und um die Arbeiter immer bei der Hand zu haben, hat er sie einstweilen hier als Einsiedler etabliert.«

»Weshalb aber ist die eine Mumie mit der Knotenschrift, die hierauf Bezug hat, in dem See des Koloradotales versenkt worden, weshalb suchten sich Mitglieder der Sekte erst in den Besitz dieses Sees zu bringen?« fragte Scott, der während der Durchforschung der Katakomben von Nobody näher eingeweiht worden war.

Nobody gab gar keine Antwort, er zuckte nur die Achseln und wandte sich an seinen Onkel mit der Frage, ob auch er ihn nach der Ansiedlung der Mönche begleiten wolle, wozu der Alte sofort bereit war, der sich doch überhaupt nicht so schnell abermals von seinen wiedergefundenen Neffen trennen wollte.

Die wartenden Mönche zeigten nicht die geringste Verwunderung, daß der ›Peroxin‹ auch Begleiter bei sich hatte. Natürlich waren es Mitglieder der Sekte, sie wurden ebenso ehrerbietig begrüßt, nur nicht mehr mit einem klösterlichen »Friede sei mit euch«, wie diese Leute überhaupt nur die Kleidung von Mönchen trugen, sonst nichts weiter mit solchen gemein hatten, sich jedenfalls keinen Bet- und Bußübungen hingaben, wohl aber, wenn es sein mußte, sich für fromme Einsiedler ausgaben. Das alles mußte Nobody erst nach und nach herausbringen.

Nur eine Viertelstunde, dann hatten sie die Ruinen hinter sich, das Gebirge stieg wieder jäh empor, zeigte aber gerade an dieser Stelle einen tiefeingeschnittenen Paß.

Da sah Nobody seitlich am Wege, den schon die alten Mexikaner benutzt hatten, zwei umfangreiche Körbe liegen.

»Herr, seht Euch vor,« sagte in diesem Augenblick Pater Hilarion, »wir haben vorhin erst eine Menge Schlangen ausgesetzt!«

Da schwirrte auch schon des Indianers Pfeil vom Bogen in ein Gebüsch hinein, aus diesem kam zur Hälfte der Leib einer Schlange zum Vorschein, die sich in Todeskämpfen wälzte oder doch angenagelt worden war.

Diesmal machten die Mönche doch sehr betroffene Gesichter.

»Warum tötet dein Begleiter die Schlange, die wir erst fangen und hierherbringen müssen?«

Der Fehler war nicht mehr gutzumachen, Nobody mußte weiter den fremden Offizier spielen, der erst in alles eingeweiht sein wollte.

Er erfuhr etwas ganz Neues: jenseits des schmalen Gebirgszuges begannen die Llanos, die Steppen, in der es ebenfalls genug Schlangen gab, und die ›Mönche‹ waren hier eigentlich nur dazu angestellt, um das Land in meilenweitem Umkreise von Schlangen zu säubern.

Das ist an sich ja eine sehr lobenswerte Beschäftigung, nur schade, daß das giftige Gewürm nicht getötet wurde, sondern die Mönche brachten die Schlangen ihrer Instruktion gemäß in dieses Ruinental und setzten sie hier aus.

Was für einen Zweck hatte das? Nun, einfach den, um eben andere Menschen wie Forschungsreisende und dergleichen Neugierige abzuhalten, die Ruinen zu besuchen, und das Tal war seit einigen Jahren ja auch schon genügend in Verruf gekommen, von Giftschlangen verseucht zu sein.

Daher auch die gabelförmigen Stöcke, mit denen die Schlangen gefangen wurden. Der Lehrmeister darin war Bruder Tobias, ein Indier, der alle Kniffe und Griffe in seiner Heimat gelernt hatte. Ja, sogar eine künstliche Schlangenzucht wurde unterhalten!

Nach einer Schätzung des Paters hatten die frommen Mönche in den zwei Jahren mindestens tausend Giftschlangen in das Tal importiert, die zwischen den Ruinen ganz vorzüglich gediehen.

Nobody konnte ob solch einer Raffiniertheit, um von einer Gegend, über die man sonst nicht gebietet, andere Menschen fernzuhalten, bei denen kein künstlicher Geisterspuk anschlagen will, nur staunen.

Der Indier besaß auch ein Mittel gegen den Biß giftiger Schlangen, kleine, flache, blutrote Steinchen, die man an die gebissene Stelle legt, wo sie sich augenblicklich festsaugen — ein Geheimmittel der indischen Priester. Nobody bekam auch einige in die Hand, doch es war für ihn nichts Neues mehr, er selbst hatte immer einige bei sich. Er konnte solche sogar selbst herstellen. Übrigens erreicht man dasselbe, wenn man die Wunde erst tüchtig aussaugt und dann doppeltchlorsaures Kali hineinreibt. Doppeltchlorsaures Kali ist das wirksamste Neutralisationsmittel des Schlangengiftes — auch wieder so etwas, was unsere Gelehrten erst in neuester Zeit entdeckt haben, und die Indier haben es schon seit Jahrtausenden gewußt. Der Stein selbst, den sie mit doppeltchlorsaurem Kali tränken, das sie ebenfalls schon seit Ur-Alterszeiten her auf die primitivste Weise herzustellen wissen, ist eine Art von Meerschaum. Roher Meerschaum saugt nun allerdings sowieso unter lebhaftem Zischen begierig Wasser ein, unbekannt ist nur noch, wie die Brahmanen ihn so außerordentlich porös zu machen wissen, daß er sich gleich an der Wunde festsaugt — oder es ist eben eine besondere Art von Meerschaum, der vielleicht nur in Indien vorkommt, sein Gewinnungsort wird geheimgehalten.

»Aber merkwürdig ist es,« setzte der Pater seiner Erklärung hinzu, »daß in den zwei Jahren noch kein einziger von uns sechs von einer Giftschlange gebissen worden ist.«

»Sechs seid ihr? Du sprachst vorhin doch nur von fünf.«

»Ja, der kleine Wolf gehört noch zu uns.«

»Wer ist das, der kleine Wolf?«

Nobody erfuhr es. Die fünf ›Mönche‹ waren noch nicht lange hier angesiedelt worden, als ein Mann, ein Mexikaner, zu ihnen gekommen war, der sich als höhergestelltes Mitglied der Sekte zu erkennen gegeben hatte. Vor sich im Sattel, mehr auf dem Arme, hatte er ein etwa zweijähriges Kind gehabt, einen Jungen. Der Mann wollte ihn gefunden haben. Mitnehmen könne er ihn jetzt nicht, die Schlangenfänger sollten sich des Kindes annehmen, bis es wieder abgeholt würde. Das war aber bis heute noch nicht geschehen.

Das war ja wieder eine ganz seltsame Geschichte, die Nobody da zu hören bekam!

»Gefunden hatte er ihn?«

»Er hat ihn einem Wolfe abgejagt, der den Knaben schon im Rachen hatte, und deshalb nannten wir ihn Wolf. Ein wunderhübscher Junge!«

»Wann war das?«

»Am Tage zuvor war es gewesen, mehr sagte der Talaxin nicht, und fragen dürfen wir doch nicht. Er hatte es auch sehr eilig, ritt gleich wieder fort.«

»Und hat sich unterdessen niemand wieder wegen des Knaben erkundigt?«

»Nein. In diesen zwei Jahren hat sich überhaupt noch niemand wieder um uns gekümmert, kein Talaxin hat uns wieder ausgesucht.«

Hierfür wußte Nobody eine Erklärung, die er natürlich für sich behielt. Die Leitung des Meisters fehlte! Um so bewundernswerter war es, daß die Schlangenfänger die ganzen zwei Jahre hier geduldig ausgeharrt hatten, immer nur auf das heulende Pfeifen wartend. Doch das waren ja gar keine Menschen mehr, das waren ja nur noch willenlose Maschinen, in der Hand ihres Hypnotiseurs.

»Er ist unser Liebling, der kleine Wolf,« fuhr der Pater fort, mit einer Rührung in der Stimme, welche zeigte, daß sein Herz doch noch einer selbstverständlichen Regung fähig war, »es würde mir schwerfallen, mich wieder von ihm zu trennen. Es wäre auch gar nicht nötig, er verwildert nicht etwa bei uns. Ich kann ihn, wenn er so weit ist, Lesen und Schreiben lehren und noch manches andere, ich mache ihm auch seine Kleidchen und Stieselchen... doch wir sind am Ziele.«

Der Engpaß mündete aus den zurücktretenden Bergen, Nobody sah den Spiegel eines langgestreckten Sees vor sich schimmern, und die Frage, woher die Einsiedler denn das Zeug zu den Kleidern nahmen, konnte Nobody vorläufig unterdrücken.

So ganz einsam schien diese Gegend gar nicht zu sein. Zunächst erblickte er auf dem See zwei Segel, und auf dem anderen Ufer erkannte sein scharfes Auge die weißen Häuser und Wirtschaftsgebäude einer umfangreichen Plantage, auf der Prärie weideten große Rinderherden.

Außerdem wurde seine Aufmerksamkeit durch etwas anderes gefesselt.

Die Bergwände senkten sich jäh nach dem See hinab, die Wanderer schritten auf einem schmalen Grat an dem Abhang entlang; ein Plateau zeigte durch sein Aussehen, daß sich hier Menschen aufhielten und häusliche Arbeiten verrichteten, und da tauchte auch schon, jedenfalls aus einer Höhle kommend, ein kleiner Knabe auf.

Er hatte die Schritte vernommen, wollte den Heimkehrenden entgegeneilen, beim Anblick der Fremden stutzte er, fürchtete sich etwas, beherrschte sich trotzig, setzte seinen Weg fort, umschlang jubelnd des Paters Knie und blickte von diesem Schutze aus nun neugierig auf die fremden Männer.

Es war ein bildhübscher Knabe, auffallend war das fast blütenweiße Gesicht, dem keine Sonne etwas anhaben zu können schien, geschmückt mit den Rosen der Gesundheit — eben ein Gesicht wie Milch und Blut, umrahmt von lockigem, sehr hellblondem Haar, und im Gegensatz zu diesem hellen Haar wiederum waren die großen schwarzen Augen.

Und Nobody stand wie vom Donner gerührt da!

— — — — —

Hiermit wollen wir das Kapitel schließen. Wir können auch nicht schildern, was für Anstrengungen, was für Reisen Nobody dieses Kindes wegen getan hat. Das Resultat und die Erklärung werden in einem anderen Kapitel gegeben werden. Vorläufig nämlich wäre es dem Leser noch ganz unverständlich.

In diesem Moment aber, da Nobody den blondlockigen Knaben erblickte, erkannte er einmal voll und ganz das Walten des unbegreiflichen Schicksals, welches gewollt hatte, daß er in jenem See des Koloradotales die eiserne Kiste mit der Mumie und der Knotenschrift fand, da erkannte er, weswegen er hier seinem Onkel und dem aus seinem Stamme gestoßenen Schwarzfuß-Indianer begegnen mußte, weshalb das heulende Pfeifen die vier Einsiedler herbeirief. Da erkannte er, daß in der endlosen Kette des Schicksals kein einziges Glied fehlen darf!

Und kein anderer als Nobody hätte hierher kommen dürfen, denn kein anderer als dieser Detektiv wäre fähig gewesen, das hier vorliegende Rätsel überhaupt zu erkennen, und deshalb eben hatte ihn das Schicksal hierhergeführt!


VI. Die Geheimnisse des Serails.

Ein eigentümlicher Trompetenton ließ das buntfarbige Leben, welches sich in Konstantinopel ständig um die mohammedanisch gewordene Sophienkirche bewegt, wie mit einem Zauberschlage erstarren.

Ein geschlossener Zug von Menschen war es, der die allgemeine Aufmerksamkeit fesselte.

Voran gingen einige Männer, gleichmäßig mit alttürkischen Gewändern kostümiert, in den Händen lange Bambusstäbe, mit denen sie zögernde Passanten von dem Fahrdamm wegtrieben. Dann folgte der Trompeter, der seinem silbernen Instrumente einen solch drohenden Ton zu entlocken wußte. Hierauf kamen einige Reihen Türken, die sich sämtlich durch Fettleibigkeit auszeichneten, und zu diesem Körperbau wollte gar nicht recht passen, daß ihre Gürtel mit Säbeln, Dolchen und Pistolen gespickt waren. Ihnen nach watschelte ein älterer Mann, dessen Kleidung von Gold- und Silberstickereien förmlich starrte. Jedenfalls war er der Erste in diesem Zuge, ihm galt auch die allgemeine Ehrerbietung der türkischen Straßenpassanten, er war sicherlich der Offizier der bewaffneten Bande, und dennoch zierte ihn keine Waffe, sondern nur eine mächtige Peitsche stak in seinem Gürtel. Er ging vor einer kostbaren Sänfte, die von sechs herkulischen Negern getragen wurde, und dieser folgten wiederum zwei Reihen jener dicken, bis an die Zähne bewaffneten Muselmänner.

»Der Kislar-Aga, Allah segne ihn!« murmelten die mohammedanischen Straßenpassanten, neigten ihr Haupt, küßten ihre Fingerspitzen und führten diese schnell und gewohnheitsmäßig nach Stirn und Brust.


Illustration

Die christlichen Europäer, reich oder arm, hielten keine Ehrfurchtsbezeugung für nötig.

»Wieder eine,« sagten sie, und dann setzten sie ihren Weg fort, zum Teil mit Hast, um die verlorenen Sekunden wieder einzuholen, noch ehe der Zug passiert war. Nur die allgemeine Stockung hatte auch sie einmal stutzen lassen. Beim Anblick des goldstrotzenden Peitschenmannes und der Sänfte aber ließen sie sich nicht mehr im Geschäft oder Vergnügen aufhalten.

Dann gab es aber auch Fremde, Reisende, die Konstantinopel besichtigten, nur einer genügte, welcher an eine religiöse Zeremonie der Mohammedaner dachte und es für besser hielt, seinen Hut abzunehmen, so etwa, wie man auf dem Lande dem Leichenzuge Ehrerbietung erweisen soll, wie auch jeder Protestant in einer katholischen Gegend dem Hostienträger — und auch alle anderen Fremden, für die die Sophienmoschee einer der Hauptanziehungspunkte Konstantinopels ist, ahmten ihm nach, auch sie entblößten den Kopf.

Etwas abseits von der sich stauenden Menge standen zwei Männer. Der eine war sehr klein und sehr dick und ganz sicher ein reisender Engländer oder Amerikaner, er hätte gar keine Bartkoteletten und einen schwarz und weiß karierten Anzug mit Kniestrümpfen zu tragen brauchen, der andere mit dem rumänischen Gesicht war ebenso ganz sicher ein ›Dragoman‹, ein Reiseführer, der aus seinen Sprach- und Ortskenntnissen Kapital zu schlagen weiß.

Auch der kleine Dicke schwenkte seinen niedrigen Zylinder aus weißem Strohgeflecht mit Nackenschleier und verbeugte sich wiederholt, so weit das sein Schmerbauch zuließ.

»Gu—guten Tag, guten Tag, ehrt mich sehr, ehrt mich sehr, Cerberus Mo—jan ist mein Name,« komplimentierte er, und dann wandte er sich an seinen Begleiter.

»Wa—was ist denn da—das?«

»Das war der Kislar-Aga, der Hauptmann der Eunuchen oder richtiger der Hauptmann der Mädchen, er hat ein neues Weib in Empfang genommen, das wahrscheinlich auf dem Seewege gekommen und für den Harem des Sultans bestimmt ist.«

»A—a—ach nee. Da ist wohl eine von den Frauen des Sultans gestorben?«

»Weshalb?«

»Nu wei—weil der Sultan doch nur sieben Frauen haben darf.«

»Ja, nur sieben legitime Frauen. Aber sonst — um Gottes willen! Da kommen vor allen Dingen die sechzig Odalisken in Betracht, welche zu den besonderen Diensten des Sultans bestimmt sind, aber auch mit den Kadinen, das sind die rechtmäßigen Frauen, die Gunst des Gebieters teilen, und dann sind im Serail noch fünfhundert andere Haussklavinnen, die dem Sultan natürlich ebenfalls zur Verfügung stehen. Jetzt kommt wieder eine hinzu.«

»Da—das ist also die fünfhundertundeinste.«

»O, so genau ist das nicht zu bestimmen. Der Vorschrift nach, der auch der Sultan unterworfen ist, sollen ja nur fünfhundert Sklavinnen zur Bedienung der Kadinen und des Sultans selbst im Serail sein, aber das wird nicht eingehalten. Da sind vielleicht tausend drin. Genau weiß das niemand, nur die Serailbewohner, und die verraten nichts. Eingehalten wird die vorgeschriebene Zahl auf keinen Fall. Alle Beamten bemühen sich doch, den Harem des Sultans mit den schönsten Weibern zu füllen. Wenn in der fernsten asiatischen Provinz ein hoher Beamter so ein hervorragend schönes Mädchen sieht, so bestimmt er es sofort für den Harem des Sultans, schickt es nach Konstantinopel, und dem Mädchen wie den Eltern kann ja gar keine höhere Ehre geschehen. Jeden Donnerstag nachmittag bringen alle Väter, die eine besonders bezaubernde Tochter haben, diese nach dem Markte von Buschki-Bekr, weil in der dortigen Kirche die oberen Beamten des Serails ihr Gebet verrichten, in der Hoffnung, daß einer von ihnen mit Wohlgefallen auf die Tochter blickt und sie für würdig hält, den Sklavinnen oder gar den Odalisken einverleibt zu werden. Dann nur ein Wink, und mit stolzer Freude folgt ihm die Auserlesene, um nie wieder hinter den Mauern des Serails zum Vorschein zu kommen.«

»A—ach nee! Tau—tausend Frauen! Ha—hat's der aber gut! We—wenn der Sultan also so mal spazieren geht, und er sieht so ein recht hübsches Mädel, da braucht er bloß zu winken — he, du da, kokomm mal mit — und da geht sie gleich mit?«

»Selbstverständlich.«

»We—wenn sie aber nu nich will?«

»Die will schon. Wie gesagt, das ist doch die höchste Ehre.

»Soooo? Gegesetzt aber nun den Fall, ich hätte vor zwanzig Jahren gegeheiratet; gegesetzt den Fall, ich wäre Vavater von einer erwachsenen Totochter: daß die sehr schön wäre, ist bei meiner Vavaterschaft gaganz selbstverständlich; und ich gegehe hier mit meiner Totochter in Kokonstantinopopopel spazieren, und der Sultan kommt gegegangen oder gegegeritten, und er sieht meine Totochter, und nun winkt er mit dem Fifinger — he, du da, kokokomm mal mit — i drrr Deiwel, i drrr Deiwel!! — dedenken Sie etwa, ich lalalasse mir das gegegefallen? Da gigibt's aber gleich einen Tritt in den Baubaubaubauch!«

Der Dragoman führte diesen Fremden schon seit einigen Tagen in der türkischen Hauptstadt herum, er kannte ihn schon, verzog bei der Stotterei, die sich Mr. Cerberus Mojan seit neuester Zeit — wahrscheinlich nur aus Liebhaberei angewöhnt hatte, keine Miene mehr; dieser Armenier mit dem listigen Spitzbubengesichte lachte überhaupt nur, wenn er Geld bekam, und weinte nur, wenn er Geld verlor.

»O nein, so jedes Weib kann freilich nicht im Serail verschwinden. Ich sprach vorhin ja nur von mohammedanischen Weibern. Allerdings sind ja auch genug Europäerinnen im Serail, ist doch auch der jetzige Sultan der Sohn einer Österreicherin, aber Gewalt darf jetzt nicht mehr angewendet werden. Wird ein schönes, weißes Mädchen für würdig befunden, in den Harem zu kommen, so wird ihr eben der Antrag gestellt, sie muß sogar schriftlich auf ihre Freiheit verzichten. Oder aber... ja, es kommen noch gewaltsame Entführungen vor. Ich kenne solch einen Fall.«

»Wawas für einen Fafall?«

»Es war eine junge Französin, ein Stubenmädchen in einem französischen Hotel. Die war auch eines Tages verschwunden. Nun war aber ihr Vater schon seit langen Jahren Portier in diesem Hotel, der kannte also alle die Verhältnisse, hatte schon verdächtige Gestalten bemerkt, die seiner Tochter nachstellten, er ging zum Konsul, den einen Türken hatte er festgenommen, der gestand, das Mädchen für einen Beamten entführt zu haben, der sie ins Serail geliefert hatte - und da gibt es ja nun nichts, das Mädchen kam wieder heraus, es wurde höflichst um Entschuldigung gebeten, man habe geglaubt, es sei eine mohammedanische Griechin gewesen, sie wäre sowieso in den nächsten Tagen wieder freigelassen worden, und das Mädchen oder der Vater erhielt 300 Francs Reugeld. Darauf hatte es der Mann ja auch nur abgesehen, der Gauner, der hatte die Entführung erst ruhig geschehen lassen, wobei er sich schmunzelnd die Hände rieb.«

»Wewenn aber nun niemand rereklamiert?«

»Ja, geehrter Herr, wo kein Kläger ist, da ist auch kein Richter! Man sieht sich auch die betreffenden Europäerinnen an, die man hinter den Mauern des Serails verschwinden läßt, d.h., man vergewissert sich, daß sie ohne Anhang sind, daß kein Hahn bei und nach ihrem Verschwinden mehr kräht, und wer dann einmal hinter den Mauern ist, der kann auch sicher sein, niemals wieder herauszukommen.«

Dieses Gespräch hatte begonnen, als der Zug erst in Sicht gewesen war, jetzt kam er vorbei, jetzt konnte Mojan die Gestalten richtig unterscheiden.

»Das ist eine zukünftige Odaliske,« erklärte der Dragoman weiter, »sonst würde sie nicht mit solch einem Gepränge und persönlich vom Kislar-Aga abgeholt. Sicher ist es eine Tscherkessin.«

»Weweshalb glauben Sie das?«

»Die Tscherkessinnen sind doch die schönsten Frauen der Erde, sie hauptsächlich bevölkern das Serail wie alle Harems der türkischen Großen.«

»Die schönsten Weiweiber der Erde?« begann der kleine, dicke Sünder jetzt zu spannen. »Wiwirklich? Hahabe noch keine gegesehen.«

»O, da sind Weiber darunter!« sagte der Armenier mit Zungenschnalzen. »Besonders aus dem Tale von Tiflis — o, diese Weiber spotten jeder Beschreibung!«

»Wawas ist denn das für ein Kerl, der wie ein Affe in goldnen Pumphosen aussieht?«

»Das ist eben der Kislar-Aga, der Hauptmann der Mädchen.«

»Wawarum hat der denn so eine lalange Lelederpeitsche?«

»Mit der hält er Ordnung unter den Weibern.«

»Er hauhaut sie doch nicht etwa?«

»Wie es im Serail zugeht, weiß kein Mensch, der nicht ein für allemal zum Hausstand gehört, aber der Mann wird die Peitsche wohl sehr nötig haben; denn Gott weiß, wie es zwischen diesen zahllosen Weibern, die alle eng zusammen leben, manchmal zugehen mag.«

»Kakann man sich das nicht einmal ansehen?«

»Nein, das ist nicht möglich, da kommt niemand hinein.«

»Warum denn nicht, wenn ich bezahle, und mir kommt es auf ein paar Huhuhuhundert... «

»Nicht für alles Geld der Welt! Das Innere des Serails wäre ja in der Tat die größte Sehenswürdigkeit von Konstantinopel, aber selbst wenn der Sultan von fremden Fürsten besucht wird, die doch gewiß die Gastfreundschaft im weitesten Maße genießen, denen sonst alles offen steht, wo sie sich nur amüsieren können — aber auch dem fürstlichen Besuch, ob nun König oder Kaiser, ob Christ, ob Mohammedaner — die Pforten des Serails bleiben ihm unwiderruflich verschlossen.«

»Kakann man nicht hinüberklettern?«

»Hören Sie, das würde Ihnen schlecht bekommen. Hinter der ersten Mauer liegen Janitscharen, welche nur darauf lauern, jemanden aufspießen zu können. Aber Sie würden nicht einmal an die erste Mauer herankommen, auch diese ist schon von außen von Janitscharen bewacht. Nein, von Männern sind im Serail nur Eunuchen angestellt.«

»Wawas, also auch Männer gibt's in dem Harem?« fing Mojan jetzt zu staunen an.

»Jawohl, eben Eunuchen.«

»Eu — eunuchen, was ist denn das?«

Wußte es der weitgereiste und ziemlich gebildete Amerikaner wirklich nicht? Vielleicht verstellte er sich nur, er wollte den Einheimischen durch vorgebliche Unwissenheit nur aushorchen, es konnte aber auch sein, daß er es tatsächlich nicht wußte. Denn die Bildung des ehemaligen Schmierölhändlers war in gewissem Grade außerordentlich einseitig, ein Fall, den man bei allen Engländern und Amerikanern findet, die ihre ganze Geisteskraft nur auf ihren eigentlichen Beruf, auf die Existenzfragen konzentrieren. Findet man doch in England zum Beispiel genug Ingenieure, achtzehnjährige Jungen, welche Gehälter beziehen wie bei uns Bankdirektoren, und mit Recht, sie leisten in ihrem Fache Außerordentliches, solch ein Bürschchen macht im Handumdrehen differentiale Berechnungen, vor denen es einen alten Mathematik-Professor schaudert — aber was die Hauptstadt von Ungarn ist, das weiß er nicht. Sein Beruf — weiter existiert nichts für ihn.

Der konstantinopolitanische Fremdenführer aber hielt es für selbstverständlich, daß jeder Mensch wisse, was für eine Bewandtnis es mit einem Eunuchen hat. Er erklärte nur die Funktion der kaiserlichen Eunuchen, die im Serail angestellt sind.

»Nun, das sind eben die männlichen Diener und Arbeiter im Serail. Jede Kadine hat schon ein ganzes Heer von Eunuchen für sich allein, dann die vielen Beamten im Serail, der erste Imam und seine Sekretäre, der Großalmosenier, der Hekim-Baschi, der Basch-Kiatibi mit seinen zahllosen Untersekretären — die müssen doch alle männliche Bedienung haben, denn die Weiber gehören nur dem Sultan. An zweitausend Eunuchen reichen nicht, die im Serail wohnen, und das ist doch auch ein ganzes Stadtteil für sich. O, die Eunuchen sind sogar gesucht wie Goldkörner.«

Mojan machte ein überaus pfiffiges Gesicht. Sicherlich hatte er soeben wieder eine geniale Idee gefaßt, er vergaß sogar ganz sein Stottern.

»Gesucht?!« frohlockte er. »Kann denn jeder Eunuche werden?«

»Gewiß, warum denn nicht? Wenn sich nur recht viel meldeten, die gewillt sind, sich der Zeremonie zu unterziehen.«

»Was für einer Zeremonie?«

»Nun eben der, durch welche man Eunuche wird.«

Der Dragoman glaubte, hiermit genügend angedeutet zu haben, um was es sich handelte. Der Dragoman hatte manchmal auch Damen zu führen, und da mußte er sehr vorsichtig sein.

»Also jeder kann Eunuche werden?«

»Wenn er gesund und kräftig ist, gewiß.«

»Aber Christen werden nicht angenommen?«

»Ach, da wird gar nicht danach gefragt.«

»Und da kommt man wirklich zu den Weibern hinein?«

»Natürlich. Die Eunuchen verkehren mit den Odalisken und Sklavinnen wie Brüder und Schwestern.«

Jetzt kam der geniale Gedanke offenbar zum Durchbruch, Mojans Gesicht verklärte sich vor Seligkeit.

»Sie — da werde ich Eunuche! Weiß Gott, ich tu's! Wo meldet man sich denn da an? - Na, was haben Sie denn da zu lachen, Sie Stinkvieh, mistiges?!« setzte er noch hinzu, den Dragoman anschnauzend.

Die beiden standen noch immer allein in einer Außennische der Kirche, in ziemlicher Entfernung von ihnen flutete der Menschenstrom vorüber. Auf der anderen Seite der Straße hatte sich wieder ein Menschenknäule gebildet, dessen Ursache der neugierige Armenier seine Aufmerksamkeit widmete. Er hatte den letzten Fragen des Amerikaners nur wenig Interesse geschenkt, er hatte den verrückten Yankee in den letzten Tagen ja schon zur Genüge kennen gelernt, er ging immer auf alles ein, war auch schon daran gewöhnt, bei Gelegenheit so eklig angehaucht zu werden, und eben deshalb ging er immer auf alles ein. Aber diesen letzten Vorwurf durfte er nicht auf sich sitzen lassen.

»Ich habe nicht gelacht.«

»Was, Sie stinkiger Wiedehopf hätten nicht gelacht?! Die Mauern haben ja hier gedröhnt!«

»Ein Vorbeigehender hat gelacht.«

»Was?! Hier dicht neben mir war's! Sie sind's gewesen. Sie Borstenvieh elendigliches. Na, was gibt's denn da zu lachen? Denken Sie, ich könnte keinen Eunuchen vorstellen?! Und ich tu's! Wo meldet man sich denn da an?«

Wir verlassen die beiden vorläufig und folgen der Sänfte, und wir wollen dabei Augen besitzen, um den Begleiter des Zuges zu sehen, den kein anderer Mensch sehen konnte.

Der geneigte Leser bedarf weiter keiner Erklärung. Es war Nobody, der einmal sein Tarngewand angelegt hatte.

Seitdem die Sänfte aus einem Boote, das an einer Brücke am Goldenen Horn angelegt, ausgeladen worden war, hatte er sich immer neben ihr gehalten und war so noch mit keinem der Straßenpassanten in Kollision geraten.

Nur als er zu einer Überraschung vorhin seinen alten Freund in der Nische hatte stehen sehen, hier in Konstantinopel, hatte er einmal seinen Posten verlassen, hatte die letzten Worte der Unterhaltung vernommen — der dicke Cerberus Mojan wollte Eunuche werden! — da hatte er sich eines lauten Lachens nicht erwehren können, und dann war er schnell nach seinem sicheren Platze neben der Sänfte zurückgekehrt.

Enthielt diese denn eine Person? In den silbergestickten Vorhängen war noch kein Schlitz entstanden, durch den Nobody hätte spähen können.

Nun, Nobody ließ sich nicht so von ungefähr auf dieses Abenteuer ein, welches ihn in das Allerheiligste des heiligen Serails führen sollte. Nobody hatte gewußt, daß heute eine neue Odaliske dem Harem des Sultans einverleibt werden sollte, er hatte gewußt, wie und wann und wo sie an Land gebracht werden würde, und er war zur Stelle gewesen, schon in seinem unsichtbar machenden Kostüm, um diese Gelegenheit zu benutzen, mit dem Zuge in das Serail zu schlüpfen. Bemerkt sei aber, daß die Mission, die er sich selbst gestellt, oder mit der ein anderer ihn betraut hatte, nicht etwa mit dieser neuen Sklavin zusammenhing. Von dieser wußte er nur, daß es eine Tscherkessin war, absolut nichts weiter, wie ja, wie schon erwähnt, zu erwarten gewesen. Für diese hegte er auch gar kein Interesse. Etwas anderes führte ihn in den Harem des Sultans. Dies hier war also nur eine Gelegenheit, um gleich bis ins Innerste der geheimen Gemächer zu dringen, was sonst selbst einem unsichtbaren Geiste gar nicht so leicht gelungen wäre. Mindestens hätte er dann erst lange spionieren müssen, bis sich ihm eines der kleinen Türchen weit genug öffnete, um mit hineinschlüpfen zu können.

Von der Sophienkirche, richtiger Sophienmoschee, führt eine breite Straße direkt auf das Haupttor des Serails zu, genannt Babi-Humajun, d.i. hohe Pforte.

Dreizehn Meter hoch ist die Mauer, welche ein Areal von 700000 Quadratmetern umspannt. Oben ist sie, ganz wie bei uns, wenn der Eigentümer eines ummauerten Grundstücks mehr praktisch als schönheitsliebend ist, mit Glasscherben gespickt. Ob das die Muselmänner von uns oder wir erst von den Muselmännern abgesehen haben, mag dahingestellt sein. Jedenfalls weiß jeder biedere Leser, der als Junge Äpfel gemaust hat, wie unangenehm solche Glasscherben auf einer Mauer sind. Das sollte überhaupt gar nicht erlaubt sein, man kann sich dabei nur die Finger zerschneiden und sogar die Hosen zerreißen.

Außen an dieser ersten Mauer sind in gewissen Zwischenräumen Schilderhäuser angebracht, vor denen Soldaten promenieren, die sich von Zeit zu Zeit eine Zigarette drehen oder ihren kurzen Tschibuk frisch stopfen, und wenn sie keinen Tabak haben, so betteln sie deswegen einen Vorübergehenden an.

Die Schilderhäuser gleichen ganz den unsrigen, nicht aber die Soldaten, was mit der Bettelei auch schon zur Genüge angedeutet ist, ganz abgesehen von der Raucherei.

Wir in Deutschland haben noch Janitscharenmusik, aber in der ganzen Türkei gibt's keine Janitscharen mehr, auch nicht ohne Musik. Als sich diese wilde, verwegene Bande, der nach alter Tradition statt einer Fahne ein großer Kochtopf mit Rührlöffel vorangetragen wurde, im Jahre 1826 weigerte, sich nach europäischem Muster organisieren zu lassen, als sie deswegen Revolution machte, sogar das Serail stürmen wollte, da rief der damalige Sultan alle Gläubigen unter der grünen Fahne Mohammeds zusammen, und nach furchtbar blutigen Kämpfen hatte er endlich seine sämtlichen Soldaten niedergemacht, erschossen, verbrannt, gehenkt. In einer einzigen Kaserne allein wurden 8000 Janitscharen verbrannt, ohne sie erst zu fragen, ob sie es wünschten oder nicht, d.h., ohne erst wegen einer Kapitulation anzufragen.

Seitdem hat die Türkei regelrechte Soldaten, Askeri Muhamedije, bei denen nur der rote Fetz etwas auffallend ist. Die rothosigen Franzosen sind einem deutschen Auge noch viel auffallender.

Und doch gibt es noch Janitscharen, ganz echte, vom alten Schlage. Alles, was mit dem Serail zusammenhängt, muß alttürkisch sein, alles ganz echt. Die an der Außenmauer postierten Soldaten, eine Truppe für sich, und zwar eine Ehrentruppe, eine Elitegarde, haben noch die lange Luntenflinte, die auf einen Gabelstock gelegt wird, haben noch im Gürtel einen kurzen, krummen Säbel und ein langes, gerades Messer ohne Scheide, und haben statt des Revolvers eine solide Pistole mit Pulverhorn und Kugelsack.

Es sind gar gefährliche Kerls! Wenn sie den neugierigen Fremden um eine Zigarette anbetteln,und man gibt sie ihnen nicht - rrrrrtsch! - spucken sie einem ins Gesicht. Und wie können diese Türken spucken! Man kann gleich ersaufen!

Doch wirklich, es ist nicht zu spaßen mit diesen letzten Janitscharen! Man soll lieber gar nicht hingehen und die Mauer anstarren! Ihre Vollmacht geht gar weit, noch weiter die ihrer Offiziere, und es sind eben Türken und Mohammedaner, die etwas Heiliges zu bewachen haben, was schon mit einem Blick zu beleidigen ist, und die Luntenflinten gehören nicht zu denjenigen, welche egal nicht losgehen, auch in solchen Luntenflinten und Räderpistolen hat sich der Fortschritt der modernen Technik bewiesen. -

Neben dem Haupttore befand sich die Wache, sie wurde herausgerufen und präsentierte vor dem Zuge, den der Kislar-Aga anführte, indem die Mündungen der Flinten nach unten gehalten wurden.

Das auf Rädern gehende Riesentor öffnete sich nicht weiter, als um den Zug eben durchzulassen, und schloß sich hinter dem letzten Mann wieder — Nobody befand sich innerhalb der ersten Ringmauer, vielleicht außer dem Sultan der erste Mann, der jemals nur dieses erste Tor passiert hatte!

Aber europäische Frauen sind doch schon oft genug im Serail gewesen! In die eigentlichen Geheimnisse des Haremslebens freilich sind auch sie nicht gedrungen, sie kommen doch nie weiter als in die Empfangszimmer der Haremsweiber. Immerhin, sie können etwas erzählen, und nur ihnen verdanken wir die Beschreibungen des Serails.

Nobody erkannte auf den ersten Blick, daß die meisten dieser Beschreibungen falsch sind, und es kann sich ja auch jeder selbst überzeugen, wie sehr sich die verschiedenen Schilderungen des Serails widersprechen, wenn er sie miteinander vergleicht.

Da heißt es in der einen, zwischen der ersten und der zweiten Ringmauer befände sich ein herrlicher Park, geschmückt mit Monumenten, Springbrunnen und Kaskaden; nach einer zweiten Beschreibung ist dieser Platz zwischen der ersten und zweiten Ringmauer nur mit weißem Sand bestreut; eine dritte Schriftstellerin will hier wiederum eine waldige Wildnis gesehen haben.

Es ist nicht gesagt, daß die Damen gar nicht im Serail gewesen sind und nur so aus der Phantasie herausschreiben. Da haben sie nur die einzelnen Ringplätze miteinander verwechselt, was recht wohl möglich ist, denn man muß nur bedenken, in welcher Aufregung man sich befindet, wenn man diesen wichtigen Schritt tut, wenn man in das intimste Familienleben des Sultans eingeführt wird, und was für Zeremonien da für solch eine fremde Dame dabei sind, welche ihr vollends die klare Beobachtungsgabe rauben! Die, welche eine Wildnis gesehen haben will, hat recht, doch auch die, welche von einem Parke spricht, ist nicht zu verurteilen.

Nobodys ungetrübtes Auge erkannte auf den ersten Blick einen total verwilderten Park, und ein starker Johannisbrotbaum, dessen Stamm eine Steinbank zur Seite gedrängt hatte, sagte ihm sofort, daß dieser Park schon seit mindestens fünfzig Jahren der Natur überlassen worden war. Gleich linkerhand sah er das marmorne Becken eines einstigen Springbrunnens, aber auch hier hatte die Vegetation zerstörend eingewirkt, auf eine Weise, daß Nobody gleich nochmals fünfzig Jahre zugab.

»Weshalb ist dieser Park, der doch mit Leichtigkeit in Ordnung gehalten werden kann, seit mindestens hundert Jahren der Verwilderung preisgegeben worden?«

Das war Nobodys erste Frage, die er sich beim Betreten des Serails stellte. Noch keine der europäischen Damen, die hier Zutritt gefunden, hat dieses ›Weshalb‹ nur mit einem Worte berührt. Nobody aber witterte hier sofort ein Geheimnis, und — er würde wohl auch recht haben!

Das zweite, was unserem Detektiv Nobody auffiel, war ein starker, verzinkter Eisendraht, welcher in einer Entfernung von etwa drei Metern von der Mauer nicht sehr hoch über den Boden entlanglief, und zwar im Zickzack, und um ihn in dieser Gestalt festzuhalten, war jede einzelne Zacke, allerdings jede wohl einen Meter von der anderen entfernt, an einem in den Boden gerammten Eisenpflock befestigt, und nur auf dem Wege, den man passieren mußte, war der Draht zu Boden gelegt worden, so daß man nicht erst darüberzusteigen brauchte, aber auch hier waren die Ecken noch im Pflaster befestigt, so daß die Zickzackform durch nichts gestört werden konnte.

Die meisten Besucher hätten diesem Drahte gar keine Beachtung geschenkt. Eben eine Umzäunung, nichts weiter. Nobody aber hatte gleich ein energisches ›Wozu das?‹ bei der Hand.

»Weshalb ist der Draht auch über den Weg gelegt worden? An einen Blitzableiter darf man gar nicht denken. Weshalb ist die Zickzackform gewählt worden, und weshalb ist man so ängstlich darauf bedacht, daß die Zickzacklinie nicht unterbrochen wird, daß die Ecken möglichst scharf hervortreten? Das hat unbedingt etwas Besonderes zu bedeuten! Nun, ich werde es zu erfahren wissen.«

Auch hinter dem Tore befand sich ein Wachtgebäude, von dem aus Soldaten zur Bewachung der Innenseite der Ringmauer auf Posten gesandt wurden, ebenfalls Janitscharen nach altem Muster, aber auch der ungeübte Blick mußte gleich erkennen, daß diese inneren Soldaten ganz andere waren als die draußen, überhaupt ganz andere Menschen — alle besaßen Anlage zur Korpulenz und hatten eine Fistelstimme, Nobody hörte ein Kommando, welches wie beim Kinderspiel klang.

Wir können es ganz ruhig aussprechen. Wir haben ja eine Oper, bei der das Wort auf dem Theaterprogramm zu lesen ist. Diese Soldaten hier drin waren schon Verschnittene, während das bei denen außerhalb der Mauer noch nicht der Fall war. Jene Janitscharen, welche die Außenwache haben, heißen Sulaki und haben mit dem Serail eigentlich gar nichts zu tun. Die inneren Wächter führen den Namen Peiki, und diese gehören als kaiserliche Eunuchen schon mit zum Hofhalt, also zum Serail, dürfen dieses nicht anders als in geschlossenem Trupp verlassen, und auch das nur ausnahmsweise, wenn der Dienst ruft, so wie in diesem Falle, wo sie eine neue Odaliske abholen und in das Serail geleiten mußten.

Die Posten nun, welche diese innere Wache zu stellen hatten, promenierten auf dem schmalen Wege, den die Mauer und der Zickzackdraht begrenzte, hin und her, sie unterschieden sich von ihren draußen befindlichen Kollegen außer durch Körperbeschaffenheit und Stimme noch dadurch, daß sie statt mit einer Luntenflinte mit einer mächtigen Hellebarde bewaffnet waren, die gerade die beste Form hatte, um einen Menschen, der von der Mauer herabsprang, aufzuspießen.

Vierundachtzig kurze Doppelschritte, jeden zu einem Meter, zählte Nobody bis zu der nächsten Ringmauer. Das war hier also eine Wildnis, umfangreich genug, daß ein Rinaldo Rinaldini darin sein Handwerk ausüben konnte!

Auch diese zweite Ringmauer wurde von solchen verschnittenen Janitscharen bewacht, aber, wie gleich vorausgeschickt werden soll, nur auf dieser einen Seite. Und ebenfalls zog sich hier solch ein Eisendraht in ununterbrochenem Zickzack an der Mauer entlang, auf dem Wege war er nicht abgebrochen, sondern nur auf den Boden gelegt, und der Raum zwischen diesem Draht und der Mauer war für die patrouillierenden Wachtposten bestimmt.

»Wozu nur dieser Zickzackdraht?« fragte sich Nobody immer wieder. »Das muß eine religiöse Bedeutung haben, obgleich mir doch gar nichts bekannt ist, daß im Mohammedanismus die Zickzacklinie eine Rolle spielt, so etwa wie bei uns das Dreieck als Symbol der Dreieinigkeit.«

Orta-Kapussi, das Tor der Gerechtigkeit, öffnete sich vor dem Zuge. Dieser Zwischenraum bis zur nächsten Mauer war nur schmal, und dieser hier war wirklich nur mit weißem Sande bedeckt, künstlich bestreut, und mit schrecklicher Deutlichkeit ward jedem Auge gezeigt, wozu dieser Hofraum diente.

Gleich links und rechts war je ein Holzgerüst aufgeschlagen, ganz einfach, eine Stiege führte hinauf, und oben war ein Block, gerade so hoch, daß ein kniender Mensch bequem seinen Kopf darauflegen konnte — und ringsum war der sonst weiße Sand rot gefärbt!

»Links für die Entführte, rechts für den Entführer, oder umgekehrt,« kombinierte sich gleich Nobody, ganz kaltblütig, »aber auch Einzelhinrichtungen finden statt, dort zeigt der Sand eine ganz frische rote Färbung. Na, mich sollen sie nicht draufkriegen. «

Aber auch noch einen anderen Zweck hatte dieser mit feinem Sand bestreute Hof. Nicht umsonst war der Sand so sauber geharkt. Nobody drehte sich noch einmal um und gewahrte, daß sich auf der zweiten Mauer in gar nicht so großen Zwischenräumen kleine Häuschen befanden, und an jeder Oeffnung sah er ein schnurrbärtiges Gesicht — und mit einem Sprunge befanden sich Nobodys Füße in den Spuren seines Vorgängers, die dieser in dem feinen Sande zurückließ.

Das dritte und letzte Haupttor heißt Babi-Snadet, d.i. Pforte der Glückseligkeit.

Noch während sich dieses auf den kleinen Rädern bewegte, ward Nobody Zeuge, wie die Überwachung gehandhabt wurde, wenn nur eine oder einige wenige Personen aus- und eingingen.

Neben jedem Tor befanden sich noch zwei kleine Pförtchen, mit kastenähnlichcn Verschlügen, deren Zweck sich Nobody erst nicht recht hatte erklären können.

Jetzt, da er die Vorrichtung in Tätigkeit sah, war es ganz einfach. Ein Eunuche, einen großen Tragkorb auf dem Rücken, wollte hindurch. Für ihn ward das große Tor nicht geöffnet, er durfte es nicht einmal jetzt benutzen, da es schon offen war.

Zunächst wies der Mann einen geschriebenen Paß vor, der sorgsam geprüft wurde. Dann mußte er seinen Korb abnehmen, sich völlig entkleiden, und so sich splitterfasernackt in eine Abteilung des vierteiligen Kastens stellen. Dieser begann sich zu drehen, auf diese Weise wurde der Mann durch die Mauer bugsiert — eine ähnliche Vorrichtung, wie man sie auch bei uns findet, an Orten, wo starkes Gedränge stattfindet und jeder auf den Besitz eines Billetts oder sonst etwas hin kontrolliert werden soll.

Dann wurde der Korb hinausgedreht, nachdem dieser mit einer lächerlichen Gründlichkeit daraufhin untersucht worden war, daß sich nichts darin befand, und ebenso gründlich hatte man natürlich auch die Kleidung visitiert, die der Eunuche draußen wieder anlegen durfte.

Dabei war der Kastenverschlag nur so groß, daß der Mann eben hineingegangen war. Fürwahr, da wurde es selbst einem unsichtbaren Geiste, der aber nicht zugleich wesenlos war, unmöglich gemacht, hier unbemerkt durchzuschlüpfen — und dann wären in dem Sande Fußstapfen entstanden, was die Wächter auf der Mauer sofort bemerkt hätten.

Da aber geschah etwas, was dem Zwecke all dieser Vorsichtsmaßregeln Hohn zu sprechen schien.

Ein kleiner, dicker Türke kam gelaufen, mit allerhand Flittertand herausgeputzt, doch nicht kostbar, auch sonst einen recht schmutzigen, heruntergekommenen Eindruck machend.

Er wollte das offene Tor benutzen, um hinauszueilen, ein Soldat hielt ihn zurück, doch es war sichtbar, wie er dabei nur eine ganz sanfte Gewalt anwendete.

»Bleibe hier, Mufti, du hast dort draußen nichts zu suchen. Ich bitte dich, bleibe hier.«

Aber der kleine Dicke riß sich los, er rannte durch das Tor — doch nur, um sich gleich an den Boden zu werfen, mit Händen und Füßen zu scharren und wie ein Hahn zu krähen.

»Ja, ja, Mufti, ich weiß schon, du bist ein Hahn. Geh doch hinein zu deinen Hühnern, die warten auf dich.«

Mehr hörte Nobody nicht, das Tor schloß sich wieder, er hatte auch schon genug gesehen, um sich alles erklären zu können.

Schon in einer früheren Erzählung, wie Nobody das wahnsinnige Weib an dem Brunnen der Libyschen Wüste fand, ward auch der Irrsinnigen in der Türkei gedacht. Moslem heißt der Heilige; der Muschlin, der Irrsinnige, steht an Heiligkeit noch über ihm; in ihm offenbart sich der Geist des rätselhaften Gottes am wunderbarsten und augenscheinlichsten. In der Türkei läßt man den Wahnsinnigen frei herumlaufen, man bringt ihm die größte Ehrfurcht entgegen, und nur wenn er gefährlich wird oder die Straßenpassanten gar zu sehr belästigt, sperrt man ihn ein, doch nicht in ein Irrenhaus, in dem es Zwangsjacke und kalte Dusche gibt, sondern man füttert ihn in einer komfortablen Polsterzelle sanft zu Tode.

Das galt also selbst hier im Serail. Natürlich, ist doch das Serail die Hochburg des mohammedanischen Papstes. Da war einmal ein Eunuche wahnsinnig geworden, man ließ ihn frei herumlaufen, so lange er keinen Schaden anrichtete. Ganz hinaus kam er natürlich nicht.

So befand sich jetzt Nobody hinter der letzten Ringmauer, welche das Allerheiligste umschloß, von dem wir so viel wie gar nichts wissen.

Eine Schilderung des Gesamteindrucks ist nicht möglich. Wolle der Leser vor allen Dingen niemals an ein einzelnes Haus denken, und sei dies auch noch so groß. Das Serail ist ja nicht etwa nur der Harem des Sultans, sondern Serail heißt seine Residenz, in der er wohnt, von der aus er regiert, es ist eine ganze Stadt für sich, mit zahllosen Palästen — zahllos insofern, als sie eben noch von keinem Fremden gezählt worden sind — mit eigenen Moscheen, mit Bädern, von deren Umfang und Einrichtung sich derjenige, der überhaupt noch kein türkisches Bad gesehen hat, gar keine Vorstellung machen kann, dann mit den eigentlichen Haremshäusern, mit Marställen, mit Wohnungen für Beamte, Diener, Handwerker und Gott weiß was — eine Stadt auf einem halben Quadratkilometer, deren Einwohnerzahl man auf 10—12000 schätzt, und all diese Gebäude, wenigstens die vornehmeren, zerstreut inmitten eines prachtvollen Parkes liegend.

Nobody befand sich am Ziele seiner Wünsche. Eunuchen, Haremswächter, laufen genug in Konstantinopel herum, aber Nobody hatte keinen einzelnen gesehen, der sich durch Goldborten als kaiserlichen Seraildiener kennzeichnete, nur in geschlossenen Trupps waren sie marschiert, und einen einzelnen mußte er doch unter vier Augen vornehmen, um ihn auszufragen, um ihn zu hypnotisieren.

Ging es draußen so streng zu, so hier um so freier. In jenem großen Hause dort waren gewiß Weiber untergebracht, aber kein Wächter war an der Tür sichtbar, durch welche Weiblein und Männlein unbelästigt ein- und ausliefen.

Schweigend bewegte sich der Zug mit der Sänfte auf ein riesiges Gebäude zu, welches mit seinen düsteren, fensterlosen Mauern unheimlich von den architektonisch schönen Palästen und von der ganzen, grünen, in reichem Blumenschmuck prangenden Umgebung abstach. Dieser mächtige, viereckige, fensterlose Steinkasten, das war so ein richtiges Gefängnis für tausend Haremsweiber, wie es sich die Phantasie nur ausmalen kann.

Vor dem großen Tore, ebenfalls unbewacht, hielt der Zug, schien sich auflösen zu wollen. Die Sänfte wurde abgesetzt, vor allen Dingen begab sich der Kislar-Aga zunächst in das Haus.

Was ging Nobody die neue Sklavin an? Mit der hatte er nichts zu schaffen. Aber der Kislar-Aga begab sich jetzt jedenfalls an einen Ort, der den Dienern sonst verschlossen war, er suchte wahrscheinlich einen Vorgesetzten auf, dem er Meldung zu erstatten hatte, Nobody bekam vielleicht vertrauliche Gespräche zu hören, die ihn tiefer in die Geheimnisse des Serails einweihten — kurz, Nobody folgte dem Kislar-Aga.

Es ging eine Treppe hinauf, die durch Öllampen erhellt war. Begegnende Diener erwiesen ihrem Hauptmann keine ehrerbietige Begrüßung, aber sichtlich war die ängstliche Scheu, mit der sie ihm auswichen.

Auf dem ersten Korridor näherten sich ihm zwei herkulische, schwarze Eunuchen mit vertierten Gesichtern, welche im Gegensatz zu den anderen Dienern Dolche und Pistolen im Gürtel trugen und ebenfalls noch eine lange Peitsche.

Der eine von ihnen überreichte dem zurückkehrenden Gebieter ein großes Schlüsselbund und eine mit Gold ausgelegte Pistole, welche von dem Kislar-Aga flüchtig untersucht wurde, worauf er mit den beiden Fingerzeichen wechselte. Taubstumm!

Nur einige Schritte weiter, da schloß der Kislar-Aga eine Tür auf, und da auch die beiden Eunuchen mit eintraten, war es für Nobody ein leichtes, ebenfalls mit hineinzuschlüpfen.

Es war ein enges Gemach, ohne jedes Möbel, aber die Wände mit Polsterung bedeckt, jedenfalls dazu bestimmt, keinen Laut von dem hinausgelangen zu lassen, was hier gesprochen wurde — oder aber auch, um jeden Schmerzensschrei zu ersticken. Denn wozu waren dort, wo der dicke Teppich einen viereckigen Ausschnitt zeigte, die Ringe in die Wand eingelassen, gerade in solcher Höhe, daß man einen Menschen mit Händen und Füßen daranschließen konnte?

Vorläufig kauerte sich der Kislar-Aga, nachdem er die innen ebenfalls gepolsterte Tür wieder abgeschlossen hatte, auf den Teppich nieder, zog unter seinem Kaftan eine beschriebene Rolle hervor und begann zu lesen. Leider war die Stellung eine solche nahe an der Wand, daß Nobody unmöglich wagen durfte, in die Rolle zu blicken. Jede zufällige Handbewegung des Lesenden hätte ihn verraten können. Die beiden Eunuchen blieben unterdessen neben der Türe stehen.

Es dauerte nicht lange, so wurde gegen die Tür geklopft. Der Kislar-Aga erhob sich, steckte die Rolle wieder ein und zog dafür Pistole und Peitsche aus dem Gürtel. Aber auf das Klopfen hin ward nicht die Tür geöffnet, sondern einer der Eunuchen schlug unten an der Wand ein viereckiges Stück des Polsters, welches aus vielen Teilen bestand, herab, und in der Wand zeigte sich eine Öffnung.

Da hörte Nobody auch schon den taktmäßigen Schritt von acht Männern, denselben Takt, den die Träger der Sänfte auf der Terrasse eingehalten hatten, und da zeigte sich auch schon vor der Öffnung dieselbe Silberstickerei jener Sänfte. Sie ward draußen niedergesetzt, der Vorhang ging hoch, und Nobody sah ein starkes Gitterwerk.

Also die Sänfte war eine Art von Käfig gewesen, oder vielmehr ein richtiger Käfig!

Jetzt ging auch das Gitterwerk vor der Oeffnung in die Höhe, und die drei Männer, jeder in der rechten Hand die Peitsche, in der linken die schußbereite Pistole, waren bereit, das gefährliche Raubtier zu empfangen, das im nächsten Augenblick sich auf sie stürzen konnte.

»Komm heraus, Suleima!«

Nicht auf türkisch, sondern auf arabisch hatte es der Kislar-Aga gesagt.

Der Kopf des Raubtiers, welches Suleima hieß, erschien — ein Frauenkopf. Aber das war keine Tscherkessin, das war das tiefschwarze Gesicht einer Vollblutnegerin, nur dadurch von den Schwestern ihrer Rasse eigenartig verschieden, daß das Haar nicht wollig, sondern lang und schlicht war.

Gebückt folgte die ganze Gestalt des Weibes nach, in einen blauen Schal gehüllt, und... Nobody stand einige Augenblicke zur Statue erstarrt da!

Wenn er es beim Anblick der Gesichtszüge und des schlichten Haares dieser Negerin nicht für möglich gehalten hatte, hier im Serail eine alte Bekannte wiederzufinden, oder vielmehr gleichzeitig mit ihr seinen ersten Einzug zu halten, so mußte er es jetzt glauben, da sie in ihrer ganzen Größe dastand, und diese Negerin konnte auch als Gefangene und Sklavin ihre angeborene Majestät nicht verleugnen!

Wahrhaftig, sie war es! Nobody fühlte sich plötzlich in ein fremdes Land versetzt. Doch er mußte seine Sinne wachhalten.

Das Polster war von selbst vor die Oeffnung wieder zurückgefallen.

»Ich gehorche dir nur, weil ich hoffe, endlich zu erfahren, wo ich mich eigentlich befinde,« sagte die tiefe, wohllautende Frauenstimme.

Ebensogut hätte sie sagen können: ich bin die Herrin, du bist mein Sklave, du hast mir zu gehorchen und alles zu beantworten, was ich dich frage! — Denn so hatte es geklungen, oder vielmehr so stand sie da, in ihrer Haltung lag der königliche Stolz.

Auf den dicken Kislar-Aga, dessen unumschränkte Macht Nobody erst noch richtig kennen lernen sollte, machte das freilich nicht den geringsten Eindruck. Dennoch kam er ihr entgegen, freilich ohne sie aus den Augen zu lassen, wie auch die beiden Wächter die Pistole immer schußbereit hielten.

»In Konstantinopel.«

»Wo da? Ich bin eine Gefangene, ich weiß es. Ich habe mich meiner Feinde nicht genügend zu erwehren gewußt, deshalb unterlag ich, so ist es meine Schuld, daß ich jetzt Gefangene bin, und deshalb füge ich mich. Und auch in meinem Lande verkauft man die im Kampfe Gefangenen als Sklaven, die erbeuteten Frauen und Mädchen als Sklavinnen. Und ich weiß, daß ich jetzt eine Sklavin bin — ich füge mich, denn ich habe es selbst verschuldet.«

Donnerwetter, dachte Nobody, die hat Logik im Leibe! Das ist sogar eine Art von höher entwickelter Moral! Das hätte ich meiner alten Freundin gar nicht zugetraut!

Auch der Kislar-Aga machte bei diesem Entgegenkommen ein sehr zufriedenes Gesicht, seine Waffe und Peitsche senkten sich schon etwas.

»Ich freue mich, daß du so vernünftig bist,« sagte er.

»Aber,« fuhr sie fort, »in meiner Heimat ist es Sitte, daß man dem Sklaven wenigstens sagt, wer sein Herr ist. Wessen Sklavin bin ich?«

Gleich wurde das fette, grausame Gesicht des Verschnittenen wieder hart und hochmütig.

»Die meine!«

»Und wer bist du?«

»Ich — bin — der — Kislar-Aga!!« kam es so protzig wie möglich heraus.

»Kislar-Aga, was ist das? Ist das nicht nur ein Titel, kein Name?«

»Ich bin der Gebieter über alle Weiber der Erde, und alle Weiber der Erde, ob Frauen oder Jungfrauen, gehören dem Padischah, welcher ist der Beherrscher aller wahrhaft Gläubigen.«

Blitzte es da nicht in den schönen, edlen Zügen, die mit denen einer Negerin nichts anderes gemein hatten, als nur die schwarze Farbe, wie freudig auf?

»Du bist ein Diener des Sultans der Türkei, den ihr Padischah nennt?«

»Du sagst es, und ich bin seine rechte Hand.«

»Ich befinde mich im Harem des Sultans?«

»Nein.«

»Wo sonst?«

»Erst im Vorraum zum Harem.«

»Ich bin aber für den Harem des Padischah bestimmt?«

»Höre mich an, Mädchen,« begann jetzt der Kislar-Aga in anderem Tone, etwas geschäftsmäßig. »Du bist von Piraten gefangen worden, in irgendeinem Räuberneste am Meere wurdest du an einen Händler verkauft, der verkaufte dich weiter, bis du zuletzt Eigentum von Papapopulos wurdest, der mir für den Harem meines Gebieters bisher immer die schönste Ware geliefert hat. Er bot dich mir an. Was du zuerst gekostet hast, weiß ich nicht, auch nicht, wieviel Papapopulos für dich gezahlt hat, ich weiß nur, daß ich ihm für dich zweiundfünfzig Beutel[*] gegeben habe, und das ist eine enorme Summe für ein Weib, bekommt man doch die Tscherkessin, Georgierin und Frankin — verflucht sollen alle Franken sein, Allah lasse den ungläubigen Hunden Steine wachsen im Bauche — für vierzig Beutel. Aber du gefielst mir, als ich dich im Bade beobachtete, du bist schlank und voll und fest, du hast auch ein recht hübsches Gesicht, und vor allen Dingen bist du eine Seltenheit, indem du als Negerin langes Haar hast, und Seltenheiten liebt mein Gebieter. So kaufte ich dich, auf die Gefahr hin, siebenundvierzig Beutel aus meiner Tasche bezahlen zu müssen, denn noch weiß ich nicht, ob du auch würdig bist, als Odaliske aufgenommen zu werden, welche bekanntlich alle Jungfrauen sein müssen, weil unter ihnen die Walide-Sultana für ihren Sohn, den Padischah, die Beischläferinnen auswählt. Findet dich aber der Hekim Baschi, der dich untersuchen wird, nicht als Jungfrau, so kannst du nur einfache Arbeiterin werden, und für eine solche ist mir nicht mehr als fünf Beutel auszugeben erlaubt, so daß ich also siebenundvierzig Beutel zuzulegen habe. Ein Glück war es nur, daß ich ein Gespräch belauschte, worin Papapopulos einem anderen erzählte, daß du gegen die Piraten wie eine Teufelin gekämpft hast, wobei du auch eine Wunde an der rechten Brust und am linken Schenkel davongetragen hast, was auch erst richtig heilen muß, ehe ich weiß, ob ich ein Geschäft gemacht habe oder nicht — und weiter, daß du auch schon einmal gleich deine beiden Wächter ermordet hast, um zu entfliehen. Wäre das nicht gewesen, so hätte ich dich gar nicht für zweiundfünfzig Beutel bekommen, denn Papapopulos forderte zuerst hundert und wollte nicht unter vierundsiebzig herabgehen, bis ich ihm eben bewies, daß ich sein Gespräch belauscht habe, daß du solch eine widerspenstige und gefährliche Teufelin bist, und eine solche ist natürlich viel billiger als ein sanftes, demütiges Wesen. — Hast du mich nun verstanden?«

[* Ein Beutel achtzig Mark.]/p>

Immer dunkler war das an sich schon pechschwarze Gesicht der Negerin geworden — das Blut stieg ihr in die Wangen ob der Worte, die sie da zu hören bekam, ob des Gedankens, so wie eine Ware behandelt zu werden.

Doch sie beherrschte sich.

»Nein, ich habe dich nicht verstanden. Was meinst du mit alledem?«

»Daß du gegenwärtig noch mein unbeschränktes Eigentum bist, und ich — ich werde bestimmen, ob du vor die Augen des Padischah kommst oder nicht.«

Stolz richtete sie sich auf.

»Du? Du?!« stieß sie verächtlich hervor. »Du elender Verschnittener, der du deinem Herrn wie ein Hund zu Füßen kriechst?«

Der elende Verschnittene nahm diese Worte durchaus nicht übel, er ließ nur einmal seine Peitsche durch die Luft pfeifen.

»Du sollst bald anders von mir sprechen.«

»Ich verlange, augenblicklich vor den Sultan geführt zu werden!!« begehrte sie jetzt auf.

Dafür brach der Eunuche in ein schrilles Gelächter aus, und eines anderen war er mit seiner Fistelstimme ja auch nicht fähig.

»O Mädchen, Mädchen, wüßtest du, was für eine Närrin du bist, wenn du hier solche Forderungen stellst! Du hast ja gar keine Ahnung, was das Serail zu bedeuten hat, und wie es darin zugeht!«

»Und du ahnst nicht, mit wem du sprichst. Weißt du, wer ich bin?«

»Du bist ein hübsches Mädchen, das mich zweiundfünfzig Beutel gekostet hat.«

Die Negerin richtete sich zu ihrer ganzen, stolzen Höhe empor.

»Ich verlange sofort den Padischah zu sprechen! Auch ich bin eine Fürstin.«

Auf der anderen Seite nicht der geringste Eindruck.

»Du bist ein hübsches Mädchen und hast mich zweiundfünfzig Beutel gekostet,« erklang es zum zweiten Male.

»Ich bin Theodora, die Fadinah von Godscham!!«

Mit ihrer ganzen Majestät, welcher diese Abessinierin fähig war, hatte sie es gerufen — und da zeigte sich bei dem Kislar-Aga doch wenigstens eine Spur von Neugier. Aber was für eine Neugier das nun war!

»Godscham, was ist das?«

»Ein Fürstentum in Abessinien.«

»Abessinien, was ist das?«

O weh, dachte Nobody gleich, wenn der so fragt, dann schlägt bei dem auch so etwas nicht an!

»Ein Kaiserreich, so groß wie das Land, über welches dein Padischah gebietet, und noch viel größer.«

»Kenne ich nicht. Und du willst da drin eine Fürstin sein?«

»Die Schwester des Negus Menelik bin ich, des Kaisers dieses Landes!«

»So. Hast du da auch viel Geld?«

»Ich bin reich, unermeßlich reich!«

»So,« echote der Eunuche wiederum. »Und da hast du den Piraten kein Lösegeld geboten? Das hast du den Piraten nicht selbst gesagt, damit dich dein kaiserlicher Bruder einlöse? Hast es nicht Papapopulos, nicht den anderen Agenten gesagt? Da läßt du dich erst für zweiundfünfzig Beutel in das Serail verkaufen, aus dem es kein Wiederherauskommen gibt? Nun reime mir das zusammen.«

»Warum ich kein Geld bot? Weil ich bis zur letzten Minute versuchen wollte, mich aus eigener Kraft zu befreien, und ich befand mich auf jenem Schiffe unter einem anderen Namen, ich hatte einen Grund, mich nicht als die Fadinah von Godscham erkennen zu geben, erst jetzt, da es sein muß...«

»Spare deine Worte,« wurde sie verächtlich unterbrochen. »Und ich sage dir zum dritten und letzten Male: Du bist ein schönes Weib, welches mich zweiundfünfzig Beutel gekostet hat. Das heißt mit anderen Worten: was du gewesen bist, ist mir ganz gleichgültig, und auch in Wirklichkeit bist du jetzt nichts anderes als meine Sklavin, mit der ich meinem Gebieter eine Freude zu bereiten hoffe. Gelingt mir dies nicht, so habe ich an dir mindestens siebenundvierzig, im schlimmsten Falle, nämlich wenn du etwa Selbstmord begehst oder auch nur krank wirst, zweiundfünfzig Beutel in Gold verloren. Und nun frage ich dich: willst du gefügig sein? Willst du wie ein braves, artiges Kind sein, welches dann dem guten Doktor Hekim Baschi, wenn er es verlangt, die Zunge zeigt?«

»Nein!!!« stieß die Abessinierin hervor, und da plötzlich begann in den großen, schwarzen Augen etwas zu funkeln, was an den beutegierigen Panther ihrer Heimat erinnerte.

Auch der Kislar-Aga sah dieses Funkeln, und er hob die Pistole gegen sie.

»So werde ich dir erst einmal zeigen, wer und was ich eigentlich bin, und wie es im Serail zugeht, wie man hier widerspenstige Weiber zu zähmen weiß.«

Nur ein Wink mit der Peitsche in der linken Hand, und die beiden Eunuchen zogen Ketten hervor, welche sie an den Ringen befestigten.

»Fürs erste wird dir eine Lektion mit der Peitsche guttun. Entblöße selbst deinen Rücken, sonst müssen es fremde Männerhände tun, welche nicht zart anzufassen gewohnt sind.«

Nobody staunte. Nämlich darüber, wie der Kislar-Aga so etwas wagen durfte. Denn daß es ihm Ernst war, die Negerin durchpeitschen zu lassen, im Grunde genommen ganz ohne Ursache, nur um sie seine Macht fühlen zu lassen, das sah ihm Nobody gleich an.

Gesetzt aber nun den Fall, diese Negerin kam dann doch noch vor die Augen des Sultans, er fand Wohlgefallen an ihr. Diese Negerin konnte noch das Lieblingsweib des Sultans werden, eine große Macht auf ihn ausüben, führt im Serail doch überhaupt nicht der Mann, sondern das Weib das Regiment, nämlich die Sultan-Mutter. Würde es nicht das erste der Gemißhandelten sein, sich an dem Kislar-Aga furchtbar zu rächen?

Daß nun der Kislar-Aga trotzdem sofort zu einer Züchtigung schritt, das zeigte deutlich, wie erhaben dieser Mann hier über Haß und alle Intrigen war, seine Stellung hier als Hauptmann der Mädchen war aus irgendeinem Grunde eben unerschütterlich, und dieses brutale Selbstvertrauen war es, worüber Nobody staunen mußte.

Und er sah die Katastrophe schon kommen! Dieses Weib ließ sich doch nicht peitschen, und der Kislar-Aga setzte seinen Willen durch.

»Entkleide dich.«

»Nein!«

»Sage ja!«

»Nein!«

»Sage das Wörtchen ja, und es soll dir kein Haar auf deinem Haupte gekrümmt werden. Nur trotzig darfst du dich nicht zeigen. Sage ja!«

Da war Nobody an ihrer Seite. Nur einen Augenblick hatte er zu dem Entschlüsse gebraucht, und dennoch war dieser reiflich überlegt. Er wußte genau, was er tat.

»Sage ja!« hauchte er ihr ins Ohr.

Auch das Flüstern ist eine Kunst, die ausgebildet werden kann. Ein anderer Mensch hätte dicht daneben stehen können, er hätte nicht das Leiseste vernommen, während es die Negerin ganz deutlich hören mußte.

Und sie hatte es gehört! Was mochte sie denken? Wahrscheinlich, daß sich hinter ihr ein Vorhang befand, hinter dem jemand verborgen stand.

Wohl zuckte sie leicht zusammen, doch sie hatte sich außerordentlich in der Gewalt. Sie wandte den Kopf auch nicht um eine Linie seitwärts.

»Sage ja. als Zeichen, daß du ein gehorsames Mädchen sein willst!« wiederholte der Hauptmann.

»Sage ja!« hauchte auch die Stimme des unsichtbaren Mannes weiter. »Füge dich in alles! Es sind ja gar keine Männer, sie können dich durch nichts entehren. Der Retter ist dir nahe, ich befreie dich, nur mußt du dich erst fügen!«

»Und nun zum letzten Male: sage ja!«

Nobody sah ihr ins Gesicht, und er erkannte, welch furchtbarer Kampf jetzt im Innern dieses Weibes vor sich ging, und er wußte, warum.

Wer war es denn, der ihr das zuflüsterte? Konnte das nicht ein abgekartetes Spiel sein, welches hier stets getrieben wurde, um eine neue Sklavin kirre und gefügig zu machen? Hinter ihr stand eben jemand, extra dazu angestellt, um ihr etwas von Befreiung zuzuflüstern.

Unbedingt mußte ihr Nobody ein Zeichen geben, daß der Unsichtbare irgend etwas wußte, was hier im Serail unmöglich bekannt sein konnte.

»Theodora, Fadinah von Godscham, der Besieger der Udlindschis ist dir nahe — sage ja!«

»Ja!!!«

Wie ein Jauchzen hatte es geklungen. Der Kislar-Aga schöpfte kein Mißtrauen, wie sollte er auch! Es war eben die Folge der Sinnesänderung, und er war schon mit dem Erfolge seiner Drohungen zufrieden. Die beiden Eunuchen hörten auf seinen Wink auf, mit ihren Ketten zu klirren.

»Du willst artig sein?«

»Ja.«

»Willst mir gehorchen?«

»Ja.«

»So knie nieder!«

Nur noch einmal ein wildes Aufflammen der Augen — sie beherrschte sich, sie kniete nieder.

»Küsse meine Hand.«

Jetzt war es vorbei, sofort küßte sie ohne Zögern die ihr hingehaltene Hand, und dieser Hauptmann der Mädchen hatte die Weiber doch zur Genüge studiert, er erkannte sofort, daß hier jeder Widerstand wirklich gebrochen war, diese Demut war ungekünstelt, hier war eben eine Sinnesänderung eingetreten.

»So ist es recht, so bist du brav,« lobte er, ihren Kopf tätschelnd, »und wenn du so bist, dann sollst du es auch gut haben, und warte nur, wenn dich der Padischah erst sieht, was aus dir noch alles werden kann, und dann wirst du mit Liebe auch des Kislar-Aga gedenken. Jetzt wirst du von Frauen gebadet werden, dann kommst du vor den Hekim Baschi.«

— — — — —

Eine Stunde später schritt der Kislar-Aga durch einen Korridor der zweiten Etage, blieb vor einer Tür stehen, nahm das Schlüsselbund vom Gürtel und schloß sie auf.

Er hatte die Klinke der halbgeöffneten Tür noch in der Hand, als er stutzte, sich zurückbeugte und hinter die Tür blickte.

War es ihm doch gerade gewesen, als habe jemand die Tür noch weiter nach außen gezogen. Nein, niemand war zu sehen, es war nur Einbildung gewesen.

»Ich werde alt,« murmelte der Eunuche, »immer häufiger werden die Visionen, die mich plagen; schwarze Punkte tanzen vor meinen Augen, und aus den Punkten werden manchmal Ratten und Mäuse. Ich muß wieder Medizin nehmen, die mir Allah geschenkt hat.«

Das schmale, langgestreckte Zimmer, dessen Fenster nach dem inneren Hofe führte, war äußerst kostbar nach orientalischer Art möbliert. Der Kislar-Aga hatte die Tür hinter sich wieder geschlossen, schob auch noch den mächtigen Riegel vor, dann traf er Vorbereitungen zum Gebet.

Der abgenutzte Teppich wurde ausgebreitet, der Türke entledigte sich seiner roten, spitzen Pantoffeln und kniete nach den üblichen Verbeugungen, wobei er die Hände hinter die Ohren legte, nieder.

Es war die sechsundsechzigste Sure aus dem Koran, die er betete — jene Sure, in welcher der fromme Mohammedaner den Ungläubigen, also besonders den Christen, nach dem Grundsätze eines Dichters, der da sagt: ›Ich denk', ein gutes Fluchen, ist auch kein schlecht Gebet‹, verflucht, und zwar hauptsächlich deshalb, weil er den vom Propheten verurteilten Wein trinkt. Alle Strafen des Himmels werden auf den weinsaufenden Christen herabgewünscht.

»... und das Wasser des Teufels soll seinen Magen in einen feurigen Höllenpfuhl verwandeln, Amen!« schloß der Kislar-Aga sein Gebet, stand auf, zog seine Schuhe wieder an und rollte den Teppich zusammen.

Ein kleines Wandschränkchen war sein nächstes Ziel. Schon hatte er den Schlüssel in der Hand, als es noch einmal über ihn kam. Er legte die Finger zusammen, verklärt blickte er zur Decke empor, und inbrünstig erklang es:

»Allah, ich danke dir, daß du dem wahrhaft Gläubigen die Medizin gabst, die ihn davor bewahrt, daß er von dem höllischen Weine der Franken versucht wird.«

Nun schloß er auf und entnahm dem Schranke zwei große Medizinflaschen. Beide hatten Etiketten. Die eine verkündete, daß die eine Medizin in der Münchener Hofbrauerei hergestellt wurde; der Name der zweiten Medizin lautete: Echter Getreide-Doppel-Kümmel.

Diese zweite Medizinflasche war schon zur Hälfte geleert, die erste mußte zuvor entkorkt werden. Der Hauptmann der Mädchen bediente sich hierzu eines merkwürdigen Instrumentes, eines starken Drahtes, der schlangenartig gewunden war und oben einen Griff hatte. Der türkische Name dieses seltsamen Instrumentes ist Skugala, was auf deutsch etwa Korken- oder Propfenzieher bedeuten würde. Der Türke bohrte den Draht in den Kork hinein, klemmte die Medizinflasche in eigentümlicher Weise zwischen die Beine und konnte auf diese Art mit Leichtigkeit den Pfropfen aus dem Flaschenhalse ziehen.

Ein Glas brauchte der gläubige Mohammedaner zum Einnehmen der Medizin nicht, auch keinen Löffel, es schien überhaupt gar nicht so genau darauf anzukommen, wieviel er von der Medizin zu sich nahm. Er trank gleich aus der Pulle. Nur war es wohl zur günstigen Wirkung der beiden Medizinen nötig, daß sich dieselben mischten. Die Mischung geschah erst im Magen.

Doch Spaß beiseite. Der Prophet Mohammed hat vergessen, seinen Anhängern den Genuß von Bier und Schnaps zu verbieten, einfach aus dem Grunde, weil zu Mohammeds Zeiten Bier und Schnaps noch nicht erfunden waren, und von diesem ›glücklichen‹ Umstand machen die Mohammedaner den ausgiebigsten Gebrauch. Man verlasse bei den heute üblichen Orientfahrten nur einmal das Hotel und die breite Heerstraße, welche der Reiseführer weist, man suche in Konstantinopel und Kairo die Spelunken auf, wie da gekümmelt wird! Tatsächlich, neben dem einheimischen Mastika wird Kümmel bevorzugt, den die Bessersituierten sogar aus Deutschland beziehen. Und die türkischen und arabischen Studenten leisten heute schon etwas im Biervertilgen, woran jeder deutsche Burschenschafter seine Freude haben muß. Der strenggläubige Mohammedaner muß schon auf einer sehr hohen moralischen Stufe stehen, welcher diese ›Vergeßlichkeit‹ des Propheten nicht zu seinem Vorteile ausnützt. Und die Weiber in den Harems vertilgen in Masse hohle und dennoch gefüllte Bonbons, welche sie schon hier auf Erden ins siebente Paradies versetzen, und diese Füllung besteht ebenfalls meistenteils aus flüssigem Kümmel, alias gezuckertem Kornschnaps.

Kein Wort ist so unbedeutend oder trivial, daß es für den ernsten Mann nicht wert ist, seiner Entstehung auf den Grund zu gehen. Woher kommt das Wort ›Kümmeltürke‹? Sollte das nicht wirklich durch die Liebe des Türken für den süßen Getreideschnaps entstanden sein? Eine andere Erklärung hierfür hat der Schreiber dieses noch nicht erlangen können.

Also daher bei dem biederen Kislar-Aga vor den Augen öfters die schwarzen Punkte, die sich manchmal schon in Ratten und Mäuse verwandelten. Der Kerl nahm zur Bekämpfung der Ratten und Mäuse so viel Medizin ein, daß er bereits Anfälle von Delirium tremens bekam. Eine rote Nase braucht man deswegen nicht immer zu haben.

Doch Allah und sein Prophet lassen sich auf die Dauer nicht verhohnibeln. Diesmal sollte der Kislar-Aga zur Strafe eine Vision haben, die ihm noch etwas ganz anderes zeigte als nur schwarze Punkte und Ratten und Mäuse.

Eben hatte der dicke Eunuche, die Kümmelflasche am Munde, sich hintenübergeneigt und gulkste — da plötzlich sahen seine vergnüglich blinzelnden Augen über sich einen menschlichen Kopf, zwei flammende Augen, die sich ihm wie Feuer bis ins Herz brannten... mehr wußte er nicht von sich, die Besinnung verließ ihn.

Schnell nahm ihm Nobody, der nur seinen Kopf enthüllt hatte, die Pulle vom Munde, denn der Hypnotisierte hätte sie sonst, jetzt nun einmal beim Schlucken, gleich ausgegulkst. Dann jener Kunstgriff in den Nacken, und er konnte den Mann, dessen Augen nicht einmal mehr verdreht waren, in seine aufrechte Stellung zurückbringen, und so blieb er stehen, ein willenloser und doch selbstständig denkender Automat.

»Wie heißt du?«

»Omar ben Namu.«

»Omar ben Namu, du wirst mir gehorchen!«

»Ich gehorche.«

»Mir auf alle meine Fragen der Wahrheit gemäß antworten.«

»Der Wahrheit gemäß.«

»Voriges Jahr, als das Ramadanfest gefeiert wurde, bot dir Papapopulos eine Frankin zum Kaufe an, du bezahltest für sie sechzehn Beutel. Erinnerst du dich?«

Nein, es schien nicht so, wenigstens blieb die Antwort aus, und selbst in der Hypnose sah man es dem fetten Gesicht an, wie der Eunuche überlegte.

»Bedenke,« kam Nobody dem Gedächtnis zu Hilfe, »es war gerade am Ramadan, während welcher Zeit ihr eigentlich keine gewinnbringenden Geschäfte verrichten dürft, am wenigsten einen Sklaven kaufen. Du aber kehrtest dich nicht daran, du kauftest das dir angebotene Weib, in der ersten oder zweiten Woche des heiligen Monats. Fünfundzwanzig Beutel forderte Papapopulos, bis auf sechzehn handeltest du herab. Es war eine Frankin mit...«

Zu einer Beschreibung des Weibes kam Nobody nicht, das Geld war bei dem Kislar-Aga der beste Gedächtnissporn.

»Ich entsinne mich.«

»Wie hieß sie?«

»Fatme.«

»Den Namen hast du ihr jedenfalls erst gegeben.«

»Ja. Fatme Nummer Neun.«

»Wie aber hieß sie als Frankin?«

»Das weiß ich nicht.«

»Hast du den Namen Madame oder Mademoiselle Eugenie Lefort gehört?«

»Nein.«

»Hast du etwas über das frühere Schicksal dieses Weibes vernommen?«

»Nein.«

Nobody glaubte ihm seine Unkenntnis hierüber. Hatte der Kislar-Aga doch auch von dem Namen und dem Range jener Negerin gar keine Ahnung gehabt, sich gar nicht darum gekümmert. Das Serail ist eine Welt für sich, bei deren Betreten jedes Weib, jeder Mensch einen neuen Namen erhält und ein neues Leben beginnt. Was hinter ihm liegt, ist alles gestorben.

»Erinnerst du dich, wie dieses Weib damals ausgesehen hat?«

»Ja, ganz deutlich.«

»Nun, wie sah sie aus?«

»Ihre Haut war weiß und ihr Haar schwarz, sie war sehr hübsch, klein und zierlich und geschmeidig wie eine Schlange; nur hatte sie am Halse auf der rechten Seite eine häßliche Narbe, die man aber durch ein hohes Nackenband verdecken konnte.«

Nobody konnte sich über das Gedächtnis dieses Eunuchen nur wundern. Freilich brauchte der es ja auch mit nichts anderem zu belasten als nur mit seinen Weibern.

Und die Beschreibung stimmte, sie war es, derentwegen Nobody in das Serail gedrungen war.

»Wo befindet sie sich jetzt?«

»Ich weiß es nicht.«

»Was, das weißt du nicht?!«

»Nein, das kann ich nicht wissen.«

»Weshalb nicht?«

»Ich kaufte sie als Odaliske.«

»Nun, und? Erzähle ausführlicher, ich befehle es dir!«

»Die Sultan-Walide fand kein Wohlgefallen an ihr und sie besonders wegen der Narbe nicht würdig, ihrem Sohne zugeführt zu werden, den Allah segnen möge. Auch wollte die Sultanin gerade damals nichts von den Franken wissen, denen Allah Steine wachsen lasse im Bauche.«

Auch in der Hypnose mußte der biedere Kümmeltürke noch solche Zusätze machen.

»So hast du sie aus dem Range der Odalisken entfernt?«

»Ja.«

»Wohin ist sie da gekommen?«

»Zu den Sklavinnen.«

»Welchen Namen führt sie da?«

»Fatme.«

»Jedes Mädchen behält den Namen, der ihr einmal gegeben worden ist, auch wenn sie von den Odalisken zu den Sklavinnen kommt und umgekehrt?«

»Ja.«

»Aber die Nummer ändert sich wohl?«

»Ja.«

»Welche Nummer hat diese Fatme als Sklavin?«

»Das weiß ich nicht.«

Daß der Eunuche auch mit dem vorzüglichsten Gedächtnisse nicht alle Namen und Nummern der tausend und einiger Weiber wissen konnte, das glaubte Nobody, das wäre zu viel verlangt gewesen.

»Lebt sie denn überhaupt noch?«

»Das weiß ich nicht.«


Illustration

»Wer ist der Vorsteher über die Sklavinnen?«

»Der erste Kislar.«

Wenn der Kislar-Aga also der Erste über sämtliche Weiber des Serails war, gewissermaßen der Oberstleutnant, so war jener Kislar als Oberst über die Sklavinnen sein erster Untergebener, und an diesen hatte sich Nobody jetzt zu wenden, von dem Kislar-Aga selbst konnte er hierüber nichts mehr erfahren.

Es sei nur erwähnt, wie auch schon im vorigen Kapitel angedeutet, daß Nobody für diese Sache fast ein ganzes Jahr geopfert hatte, bis ihn die Spur, die er verfolgte, zuletzt nach Konstantinopel und ins Serail geführt, und da kam es ihm nun nicht mehr darauf an, auch noch andere in die Hypnose zu nehmen; jetzt, da er gleich am Ziele sein mußte, verlor er seine Geduld erst recht nicht.

Zunächst aber wollte Nobody von dem Kislar-Aga, der doch in alle Geheimnisse des Serails eingeweiht sein mußte, noch etwas anderes erfahren.

»Zwischen der ersten und zweiten Ringmauer, welche das ganze Serail einschließen, befindet sich doch ein verwilderter Park, der auf beiden Seiten mit einem im Zickzack laufenden Draht eingezäunt ist, ohne daß es eine wirkliche Umzäunung ist. Was hat dieser Draht zu bedeuten?«

Auch in der Hypnose, in der ihm unbedingter Gehorsam auferlegt worden, war der Eunuche bei dieser Frage eines Zögerns fähig.

»Antworte, ich befehle es dir! Was für eine Bewandtnis hat es mit diesem Zickzack-Draht? Wozu dient er?«

»Das ist — das ist — ein — ein — Tfakassi.«

So sehr Nobody die türkische Sprache auch beherrschte, dieses Wort war ihm doch fremd.

»Was ist das, ein Tfakassi?«

»Das ist — ein — ein — Abführmittel!«

»Ein Zaubermittel,« kam Nobody dem Stockenden zu Hilfe.

Der Hypnotisierte hätte wohl gern eine Bewegung der erschrockenen Abwehr gemacht, wenn er dazu fähig gewesen wäre. So legte er die Abwehr nur in den Ton.

»Allah stehe mir bei! Tfakassi ist ein Abführmittel!«

Ein Abführmittel? Richtig, jetzt entsann sich Nobody doch, dieses Wort schon einmal gehört zu haben, in einer türkischen Apotheke, und es ist tatsächlich ein kräftiges Abführmittel.

Davon konnte hier natürlich keine Rede sein. Übrigens brauchen auch wir das Wort ›abführen‹ doch noch in einem ganz anderen Sinne als nur in medizinischem, sogar in verschiedener Weise — der Polizist führt den Gefangenen ab, der Student führt seinen Gegner ab — und Nobody brauchte seinen Scharfsinn nicht besonders anzustrengen, um gleich herauszufinden, was hier vorlag.

Das Kind durfte nur nicht beim richtigen Namen genannt werden. Mohammed verbot den Gläubigen im besonderen siebenerlei: Das Weintrinken, Glücksspiele, den Genuß von Schweinefleisch und ersticktem Vieh, Wucher, Wahrsagerei und Zauberei; bei letzterem ist noch ausdrücklich hinzugefügt, daß auch das Anwenden von Formeln und Mitteln gegen vermeintliche Zauberei verrucht sei.

Schon aus diesem Verbot ersieht man, wie sehr der Türke zum Glauben an Zauberei, Gespenster usw. geneigt ist, was ja auch schon in der träumerischen Natur des Türken liegt, der engverwandt ist mit dem phantasievollen Araber, dem Schöpfer von Tausendundeiner Nacht und anderer Märchen, bei denen Zauberer immer die Hauptrolle spielen.

Natürlich hat dieses Verbot gar nichts genützt. Man hat dem Kinde eben nur einen anderen Namen gegeben. Außerdem hat man zur Astrologie zurückgegriffen, die zu verbieten der Prophet vergessen hat, die Wahrsagekunst aus den Sternen steht im Orient in höchster Blüte, im Serail ist ein besonderer Astrolog angestellt, der im Grunde genommen nichts weiter ist als ein ›guter‹ Zauberer, welcher die Einflüsse der Bösen unschädlich zu machen weiß und natürlich noch allerhand Hokuspokus treibt.

»Dient der Draht als Tfakassi dazu, um Geister auf ein Gebiet zu beschränken, daß sie dieses nicht verlassen können? Antworte der Wahrheit gemäß, ich befehle es dir!«

»Ja, so ist es,« erklang es jetzt ängstlich.

Nobody hatte also unterdessen das richtige von ganz allein herausgefunden. Es war auch gar nicht so schwer. Die Zickzacklinie hatte ihn darauf gebracht. Auch bei uns in der guten, alten Zeit malte der Hausvater auf die Türschwelle ein Dreieck, die Spitze nach innen gekehrt, die breite Seite nach außen. Da konnte kein böser Geist ins Haus kommen, das heilige Zeichen wirkte wie ein Schloß. Und jener ganze Draht bestand doch aus solchen Dreiecken, wenn man sich auch bei jedem eine Linie hinzudenken mußte. Jedenfalls war das hier in der Türkei wirksam, und da man nicht einmal das Wort Zauberei in den Mund nehmen darf, war das Ding Abführmittel genannt worden — gar kein so schlechter Ersatz — die Geister wurden durch die Zickzacklinie abgeführt.

»Was für Geister sind das, welche in den verwilderten Park gebannt werden sollen?«

»Es ist nur einer.«

»Und welcher Art ist dieser?«

Wieder mußte Nobody an den unbedingten Gehorsam erinnern, auch in diesem willenlosen Zustande hatte der Eunuche Angst, das Geheimnis zu verraten, bis Nobody es endlich aus ihm herausbrachte.

Wir wollen es hier nur mit wenigen Worten wiedergeben, wozu Nobody zahlloser Fragen bedurfte.

Sultan Achmed Köprili, d.i. der Zornige, der vor zwei Jahrhunderten regierte, hatte in diesem Parke, damals noch wohlgepflegt, der Sultan-Walide, also seiner eigenen Mutter, bei einem heftigen Wortwechsel das Messer in das Herz gestoßen. Mit einem Fluche gegen den Muttermörder war sie verschieden. Seitdem spukte der Geist dieser Sultan-Walide in dem verwilderten Parke.

Das war der Inhalt einer halben Stunde, in der zwischen Fragen und Antworten keine Pause eintrat.

Nobody hatte doch etwas ganz Überraschendes zu hören bekommen. Ehe er sich nach der Türkei begeben, hatte er unter anderem auch nochmals die Geschichte dieses Landes gelesen. Auch des Sultans Achmed Köprili konnte er sich noch recht wohl besinnen. Aber da hatte nichts davon gestanden, daß dieser seine Mutter ermordete, was der Chronist sicher nicht vergessen hätte, wenn es ihm bekannt gewesen, denn hierbei ist zu bedenken, welches Ansehen die Sultanmutter in diesem Lande genießt, sie ist ja eigentlich die Hauptperson im ganzen Reiche; in der Türkei herrscht Weiberregiment, ebenso wie in China, und nicht in der Pforte, d.h. im Ministerrate, sondern im Harem wird die türkische Politik gemacht!

Von diesem Morde konnte aber auch im ganzen Volke nichts bekannt sein, ebensowenig wie überhaupt etwas von dem Spuke und seinem Gegenmittel, dem Zickzackdrahte, und hieraus ließ sich wiederum erkennen, wie aus dem Serail absolut nichts herausdrang, was hinter diesen Mauern passierte.

Hierüber mußte Nobody sich noch einmal vergewissern.

»Ist denn das allgemein bekannt, daß Achmed Köprili seine Mutter ermordete?«

»O nein.«

»Aber hier im Serail ist es bekannt?«

»Ja — nein — ich weiß nicht.«

»Es ist wohl bekannt, aber niemand wagt darüber zu sprechen.«

»So ist es.«

»Von wem hast du es denn erfahren?«

»Von Hamid Scheitan.«

»Wer ist das?«

»Das war der Kislar-Aga, als ich nur ein Kislar über die Sklavinnen war.«

Natürlich, so war das eben unter Vertrauten von Mund zu Mund weitergegangen, zwei Jahrhunderte lang.

»Wie konnte das dem Volke verheimlicht werden?«

Der Eunuche verstand diese Frage gar nicht.

»Mußte die Leiche nicht öffentlich ausgestellt werden?«

»Statt der Walide wurde die Leiche einer alten Sklavin aufgebahrt, die eben verstorben war, und der Walide sehr ähnlich sah.«

»Und was geschah mit der Leiche der Ermordeten?«

»Der Sultan hat sie selbst verscharrt.«

»In dem Parke?«

»Ja.«

Aha, jetzt bekam die Sache ein ganz anderes Aussehen! Jeder rechtmäßige Moslem, der es sich nur irgendwie leisten kann, bestimmt, daß seine Leiche nach Skutari gebracht wird, Konstantinopel gegenüber auf asiatischer Seite, auf daß er die letzte Ruhe im Lande seiner Väter findet. Und die Sultan-Walide war nun gar in völlig ungeweihter Erde ohne Sang und Klang eingescharrt worden! Da freilich konnte man es ihr nicht verdenken, wenn sie als Geist ihr Grab verließ!

»Ist es im Volke bekannt, daß die Walide in dem alten Parke spukt?«

»Nein.«

»Aber hier im Serail weiß man davon?«

»Ja — nein — ich weiß nicht.«

Wieder dasselbe. Es durfte nicht darüber gesprochen werden.

»Wie äußert sich der Spuk?«

»Die Walide irrt umher.«

»Warum wird sie so gefürchtet? Was für einen Fluch hat sie ausgesprochen?«

»Das weiß ich nicht.«

»Hat man denn von dem Spuke schon einmal etwas wahrgenommen?«

»Oft genug.«

»Was denn?«

»Ein Stöhnen und Ächzen.«

Einem Spuke, welcher ächzt und stöhnt, stand Nobody viel sympathischer gegenüber. Er ahnte schon, daß er als Detektiv, der schon so manchem Geiste das Handwerk gelegt hatte, hier etwas zu tun bekommen würde. Nur wollte er es noch nicht recht glauben.

»Hast du selbst den Spuk schon stöhnen und ächzen hören?«

»Oft genug, auch gesehen habe ich ihn.«

»Was hast du gesehen?«

»Wie der Kiosk erleuchtet war.«

»Welcher Kiosk?«

»In dem Achmed Köprili die Walide ermordete.«

»Wann hast du diesen Kiosk erleuchtet gesehen?«

»Gestern nacht, vorgestern — er ist fast jede Nacht hell erleuchtet.«

Jetzt wurde die Sache also doch handgreiflich. Nur noch ein Rätsel bestand für Nobody.

»Ist denn diesem Spuke noch niemand auf den Grund gegangen?«

»Ja, der Basch-Kiatibi.«

»Wer ist das?«

»Der in den Sternen zu lesen weiß.«

»Also der Astrolog. Was hat er getan?«

»Er hat dem Geiste Tfakassi eingegeben.«

Nobody mußte lächeln. Abführmittel hatte der Zauberer dem Spuke eingegeben! Doch Nobody wußte sofort, daß dies nichts weiter als eine Umschreibung war. Der Astrolog hatte eben verbotene Zauberformeln und deren Hokuspokus angewendet, um den Geist zu bannen.

»Ist es ihm denn gelungen, das Serail von dem Spuke zu befreien?«

»Nein, gar nicht.«

»Sonst hat niemand den Versuch gemacht, dem Geiste zu Leibe zu gehen?«

Wieder ein langes Zögern, der Hypnotiseur mußte seinen Befehl erneuern.

»Erst vor drei Wochen.«

»Wer?«

»Der Padischah selbst.«

»Ah, der Padischah selbst! Wie hat er es angefangen?«

»Er hat eines Nachts, als der Kiosk hell erleuchtet und das Stöhnen laut zu hören war, den Tfakassi überschritten und ist in den Park gegen den Kiosk vorgedrungen.«

»Allein?«

»Ganz allein.«

»Nun, und was bekam der Padischah zu sehen?«

»Das weiß nur der Padischah allein und Allah und sein Prophet. Er war dann acht Tage lang krank und hat sich eingeschlossen, die Walide machte ihm die heftigsten Vorwürfe.«

»So hat er etwas Seltsames erlebt?«

»Ich habe ihn gesehen, als er zurückkam. Der furchtlose Held zitterte an allen Gliedern und sah selbst aus wie ein Gespenst.«

Immer interessanter wurde die Sache doch für Nobody. Der Eunuche hatte seinen Gebieter einen Helden genannt. Nobody hatte von dem damaligen Sultan, Abdul Medschid, schon genug gehört, um dem nicht widersprechen zu können. Wenn Abdul Medschid selbst dem Geiste zu Leibe rückte, so war das etwas ganz anderes, als wenn der Hofzauberer ihn bannen wollte.

Jetzt lag eine andere Frage sehr nahe, wenigstens für den scharfsinnigen und in dergleichen Dingen bewanderten Nobody.

»Hat denn Allah dem ruchlosen Achmed, der seine Mutter ermordet hat, keine Strafe zudiktiert?«

»Gewiß doch.«

»Welche?«

»Auch seine Seele hat im Paradiese keine Aufnahme gefunden, nicht einmal für immer in der Hölle, er muß sie zeitweilig verlassen, um immer von neuem das Entsetzen zu empfinden, das einen befällt, wenn man zum ersten Male die Hölle betritt.«

»Also auch er muß als Geist umherwandeln?«

»Manchmal.«

»Wann?«

»Jedesmal, wenn Neumond ist.«

»Wo zeigt er sich da?«

»Hier im Serail.«

»In einem Hause?«

»Hier in diesem, in welchem er gestorben ist.«

»Er ist zu sehen?«

»In jeder Neumondnacht.«

»Was tut er da?«

»Er schleicht als weißer Geist durch die Korridore und löscht die Lichter aus.«

Also auch das eigentliche Serail hatte seinen eigenen Spuk! Und die Lichter löschte er aus? Das ließ tief blicken!

»Richtet er sonst Unheil an?«

»Nein, gar keinen.«

»Geht er auch in andere Gemächer?«

»In keines, in dem sich ein Gläubiger befindet, der am Abend sein vorgeschriebenes Gebet gesprochen hat.«

»Hast du selbst ihn denn schon gesehen?«

»Oft genug.«

»Wie sieht er aus?«

»Es ist Achmed Köprili, so gekleidet und bewaffnet, wie er es damals war, als er die Walide ermordete, nur daß er eben wie ein Geist aussieht.«

»Hat man auch diesen Geist zu bannen gesucht?«

»Man hat das Zimmer, in dem er gestorben ist, vermauert und ebenfalls mit einem Tfakassi umgeben, Aber bei dem nützt nichts, er tritt durch die Wand.«

»Hast du das selbst einmal gesehen?«

»Zweimal.«

»Daß der Geist durch die Wand trat?«

»Ja, und ich sah auch, wie er durch die Wand wieder in das Zimmer zurückschwebte.«

Nobody machte einmal ein interessantes Experiment. Er überzeugte sich, daß es doch noch eine größere seelische Macht gibt als die Hypnose: nämlich die Einbildungskraft. Der Hypnotisierte mußte unbedingt die Wahrheit sprechen, aber er blieb bei seiner Behauptung, daß er mit eigenen Augen gesehen habe, wie der Geist durch die Wand getreten sei.

Nobody ließ sich genau die Lage jenes Sterbezimmers beschreiben, dann stellte er die Frage, ob der Kislar-Aga jetzt eine Pflicht zu erledigen habe. Ja, um vier Uhr müsse er bei der Walide sein, um ihr Bericht über die Odalisken zu erstatten.

Es war ein Viertel auf vier, Nobody wollte das Verhör abbrechen. Er hatte auch schon genug erfahren, jetzt mußte er sich eben nach anderen hypnotischen Objekten umsehen.

Noch zögerte er, die Formel auszusprechen, die den Hypnotisierten erinnerungslos erwachen ließ.

Nobody fuhr einmal mit der Hand nach seiner Kehle. Suchend blickte sein Auge in dem Zimmer umher. Es blieb auf einem Wasserhahn haften, der über einem marmornen Waschbecken angebracht war.

Er ging hin und probierte, der Hahn spendete wirklich Wasser.

Seine zweite Untersuchung galt dem Wandschranke, dem der durstige Eunuche die beiden Flaschen entnommen hatte. In dem unteren Teile des Schrankes gewahrte Nobody noch eine ganze Batterie von solchen Medizinflaschen, sämtlich direkt aus München bezogen. Nicht alle waren verkorkt, die Hälfte davon, deren Inhalt eine helle Färbung zeigte, hatte Patentverschluß, und Nobody zog helle Medizin der dunklen vor.

Sechs Patentverschlüsse öffnete Nobody, sechs Flaschen setzte er an die Lippen, sie aber immer nur bis zur Hälfte leerend — und dann füllte er sie am Wasserhahn wieder nach und setzte die verschlossenen Flaschen fein säuberlich in den Schrank zurück.

Die Kehle war ihm schon lange genug trocken gewesen, und nachdem dies beseitigt worden, machte sich ein anderer Appetit bemerkbar. Auch Nobody nahm Medizin ein, jene süße aus der vierkantigen Flasche, und gar nicht so teelöffelweise, es war gar nicht mehr so viel drin in der Flasche, als er ihr Inneres unter dem Wasserhahn wieder so weit ergänzte, wie sein darangelegter Finger markiert hatte.

Dann noch einige vorbereitende Worte für das erinnerungslose Erwachen, und Nobody beugte den Körper und Kopf des Hypnotisierten zurück und setzte ihm, nachdem er sich selbst die Tarnkappe übergestülpt hatte, den Flaschenhals vor den Mund, daß es gleich wieder zu laufen begann.

»Erwache!!!«

Gulk gulk gulk gulk gulk - der ganze Inhalt der Flasche lief in den Schlund hinein, während der Eunuche immer mit weit aufgerissenen Augen zur Decke emporblickte. Dann, als kein Tropfen mehr herauskam, ließ er die Flasche fallen, und er selbst fiel auf die Knie nieder.

»Das war keine Ratte, das war keine Maus — Allschallah, ich habe das Antlitz des Propheten gesehen!!«

Doch lange währte die Ekstase nicht. Er stand wieder auf, leckte mit der Zunge, schüttelte den Kopf, hob die Flasche auf und brachte sie nochmals vor den Mund. Ein Tröpfchen war doch noch drin, und wieder ein mißtrauisches Kopfschütteln.

»Hm. Schmeckt jetzt ganz anders. Viel dünner. Da hat der Franke Wasser hineingetan. Allah lasse ihm Steine wachsen im Bauche.«

Er verschloß seinen Medizinschrank und verließ das Zimmer. Draußen rasselte das Schlüsselbund.

Nobody hatte sich einschließen lassen, mit Absicht. Ein Blick auf das Türschloß hatte ihn belehrt, daß ihm dieses keinen Widerstand bieten könne, und er wollte hier, im Heiligtume dessen, der Macht besaß über alle Eunuchen und Weiber, vielleicht über den Sultan selbst, erst einmal nähere Umschau halten. Besonders eine Art von Schreibpult, vor das man sich aber beim Schreiben kauern mußte, reizte seine Neugier.

Allein seine Erwartungen wurden getäuscht. Wohl fand er Geschriebenes, doch nichts, was ihn interessiert hätte.

So benutzte er sein Universaltaschenmesser, um die Tür zu öffnen, und er befand sich wieder auf dem Korridor.

— — — — —

Wir wollen unserem Helden nicht auf der Wanderung durch das ganze Serail mit seinen verschiedenen Gebäuden folgen. Es kann dem Leser nicht mit der Beschreibung gedient sein, wie Nobody die Haremsweiber in ihren Boudoirs auf Polstern herumlungern sah, rauchend und Konfekt naschend und sich putzend. Hierüber gibt es andere Bücher, welche sich die Schilderung des Haremlebens zur Spezialität machen — natürlich alles freie Erfindung.

Wir aber wollen solche Szenen nur schildern, wenn sie wirklich für uns in Betracht kommen, weil Nobody handelnd mit eingreift.

Sein eigentliches Ziel erreichte er heute noch nicht, kam ihm aber doch bedeutend näher, indem er bei günstiger Gelegenheit einen der Unterkislars oder Hauptleute, welche über Diener und Sklavinnen gesetzt waren, in die Hypnose nahm und gleich von diesem erfuhr, daß die Fatme Nummer Neun, welche vor einem Jahre aus den Reihen der Odalisken entfernt worden war, noch lebe und als gewöhnliche Arbeitssklavin den Namen Fatme Zenide führte. Auch wo er sie bei ihrer Arbeit aufzusuchen hatte, erfuhr er, doch war heute keine Zeit mehr dazu.

Überhaupt hatte der unsichtbare, aber nicht wesenlose Geist oft mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen, mußte immer auf günstige Gelegenheiten warten, so doch z.B. schon, wenn er eine Tür öffnen, nur einen Vorhang zurückschlagen wollte. Es gab aber auch noch andere Hindernisse. So setzte ihm ein schmaler Gang, der mit feinem Sand bedeckt, glatt geharkt war, eine unübersteigbare Schranke entgegen, die ihn von einem anderen Gebäude trennte, dem er gern einen Besuch abgestattet hätte. Denn hier war einmal ein nach außen führendes Fenster, an diesem saß eine alte Frau, welche nicht wanken und weichen wollte, und der unsichtbare Geist durfte doch nicht wagen, in dem geharkten Sande sichtbare Spuren zu hinterlassen.

Doch war das Hauptgebiet Nobodys, auf dem er zu bleiben hatte, jedenfalls dieses mächtige, vierstöckige Gebäude, mit Keller und Obergeschoß, ein wahres Labyrinth von Korridoren, mit wirklich unzählbaren Gemächern, denn ein Hausmeister, der alles kennen mußte und der von dem unsichtbaren Geiste ebenfalls unter Hypnose genommen wurde, konnte wirklich nicht genau angeben, wieviele Zimmer es eigentlich seien, und das fand Nobody bei seiner Durchwanderung dann später begreiflich, denn da gab es noch so viel Türme und Türmchen und Erker und Nischen und Winkel und geheime Kabinetts, von denen man nicht wußte, ob man sie als besondere Zimmer aufzählen oder sie noch zum Korridor rechnen sollte, und als Nobody in den Keller gedrungen war, fand er immer noch tieferführende Treppen, und dieser kolossale Steinkasten umschloß einen Hof, so groß, daß man darin noch eine ganze Villenkolonie hätte aufbauen können.

Hier war des Sultans eigentliche Residenz, hier wohnten auch seine Mabeindschi, d.h., alle die hohen und unteren Beamten, auf deren Schultern die Staatslast ruhte, doch natürlich nur die Verschnittenen, die das eben sein müssen — es gibt noch andere Beamte genug, vor allen Dingen die allerhöchsten Würdenträger, die aber nicht ins Serail kommen dürfen — hier waren auch die sieben Kadinen oder eigentlichen Frauen untergebracht, wenn sie nicht die Erlaubnis erhalten hatten, den eigenen im Serail liegenden Palast zu beziehen, dann aber mußte jede einzelne auch hier ihren ganzen Hofstaat haben, hier wohnten ständig die sämtlichen Odalisken, jede mit zwei Zimmern und den nötigen Sklaven und Sklavinnen zur Bedienung, und so hauste hier denn auch das hauptsächlichste Heer dieser dienstbaren männlichen und weiblichen Geister — und auch jene weiße Sklavin, auf deren Ermittelung es dem Detektiven ankam.

Wir glauben, daß diese Beschreibung des Serails, welche wir in kurzem Auszuge Nobodys Tagebuch entnehmen, dem ernsten Leser willkommener ist als die Beschreibung eines Gemachs, in dem ein paar Haremsweiber unnütze Dinge treiben. Und auch solch eine Szene wird kommen, nur muß es angebracht sein. Jedenfalls hat der Leser doch nun ein Bild vom ganzen Serail gewonnen.

Zunächst stattete der unsichtbare Geist der im Kellergeschoß liegenden Küche einen Besuch ab, oder vielmehr einer der vielen Küchen, und die schlechteste hatte sich Nobody nicht ausgesucht, und die Türken kochen auch nicht schlecht, besonders in Ragouts und Pasteten leisten sie etwas, was man ihnen in Paris nicht nachmachen kann, und Nobodys Spürnase wußte die besten Töpfe auf dem Feuer zu finden und ihnen in unauffälliger Weise zu entnehmen, was sein Magen brauchte.

Hierauf begab sich Nobody in die vierte Etage hinauf, in der sich das ›Spukzimmer‹ — wie wir es gleich nennen wollen — befand, in welchem Achmed Köprili vor zweihundert Jahren seinen Geist ausgehaucht hatte.

Wir haben die Schilderung des hypnotisierten Kislar-Aga ja nicht ausführlich vernommen. So hatte Nobody auch gefragt, welches Todes denn der Sultan gestorben sei. Der Teufel habe ihn ganz plötzlich geholt. Jedenfalls ein Schlaganfall. Denn wie konnte der Sultan sonst in der vierten Etage verschieden sein, da sich die Gemächer der Sultane, wenn sie sich hier aufhielten, seit Menschengedenken in der ersten Etage befunden hatten?

Doch was heißt seit Menschengedenken? Nobody glaubte schon herausgefunden zu haben, daß über die Vorgänge im Serail keine Chronik geführt wurde, und zwei Jahrhunderte ist eine lange Spanne Zeit, da kann vieles vergessen werden oder sich verändern, was von Generation zu Generation mündlich überliefert wird.

Jetzt diente die vierte Etage ausschließlich als Warenmagazin. Was hatte der Kaiser der Türkei hier oben zu suchen gehabt? Nun, es konnte ja sein, daß Sultan Achmed Köprili seinen Haushalt manchmal persönlich inspizierte, in einer der schmalen Kammern, in denen Vorräte aller Art aufgespeichert waren, darunter auch ungeheure Quantitäten von Stoffen und Geweben, wie sich Nobody hier und da mit Hilfe seines Universaltaschenmessers überzeugte, hatte ihn der Schlag getroffen. Sein Körper war hinausgetragen worden, sein Geist war hier geblieben und sollte von hier aus in Neumondnächten Rundreisen durch dieses Gebäude machen.

Nobody hatte sich die Lage des betreffenden Zimmers genau beschreiben lassen, bald hatte er es gefunden. Deutlich war an der Wand zu sehen, daß hier eine Tür vermauert worden war, und dasselbe sollte mit den nach dem Hofe führenden Fenstern geschehen sein.

Doch was sollte Nobody jetzt hier? Er hatte sich erst nur einmal orientieren wollen, um die Ortsverhältnisse kennen zu lernen. Neumond war erst in vier Tagen, so lange hatte er noch Zeit, und hoffentlich stellte sich dann der Geist des seligen oder unseligen Sultans auch pünktlich ein, mit all seinem Spuk, den sich Nobody ebenfalls genau hatte beschreiben lassen.

Der Geist der ermordeten Walide sollte ja nicht an den Mondwechsel gebunden sein, die spukte jede Nacht in dem verwilderten Parke herum, der hätte Nobody gleich heute zu Leibe gehen können. Aber er hatte schon eine schlaflose Nacht hinter sich, dann einen aufregenden, arbeitsvollen Vormittag, und der Parkgeist würde ihm wohl nicht gleich davonlaufen.

So zog er es vor, sich nach einem Nachtlager umzusehen. Draußen wurde es dunkel, nur durch einen nach dem Hof gehenden Korridor drang in den Hauptgang noch etwas Licht herein, gleich mußte es hier stockfinster werden, und Nobody durfte nicht wagen seine Benzinlampe zu benutzen — er hätte dem Geiste des Sultans Konkurrenz machen können, woran ihm nichts gelegen war.

Sein Dietrich öffnete das Vorhängeschloß der nächsten Tür. Schwarz gähnte es ihm entgegen. Der Raum hatte kein Fenster. Mit Licht und Ventilation war es in diesem Gebäude überhaupt schlecht bestellt. Es gab sogar Wohnräume ohne Fenster. Deshalb braucht der Mensch allerdings noch nicht zu ersticken, durch jede Mauer kommt immer noch genug Luft hindurch, nur mit Papier darf sie nicht tapeziert sein, und das war hier nirgends der Fall, die Wandverhüllung bildeten immer Teppiche, die aus Maschen bestehen.

Nachdem er die Tür hinter sich zugezogen hatte, durfte er sorglos seine Benzinlaterne mit magnetelektrischer Zündung aufflammen lassen. Sie beleuchtete ein ganzes Lager von männlichen Kostümen, berechnet für einen Maskenball, dessen Besucher die Vorschrift hatten, als Türken aller Zeiten zu erscheinen. Denn Nobody erkannte auf den ersten Blick, daß diese Kostüme nicht aus ein und derselben Zeit stammten. Auch die Mode der türkischen Kleidung war ständig Wandlungen unterworfen, für das Auge des Kenners sah ein Türke aus Harum al Raschids Zeiten ganz anders aus als ein heutiger — von den heutigen Jungtürken im schwarzen Gehrock ganz abgesehen — und auch für den Unkundigen zeigte sich das besonders an den verschieden geformten Stiefeln, Schuhen und Pantoffeln.

Das war ganz offenbar eine Sammlung von historischen Kleidungsstücken! Nur herrschte keine Ordnung, alles lag bunt durcheinander, auf der einen Seite bis an die Decke aufgetürmt, an der hinteren Wand bis zur Hälfte der Höhe, und der rote Pantoffel mit der Schnabelspitze vertrug sich mit dem grünen Turban des Hadschi, der in Mekka am Grabe des Propheten gebetet hat.

Nobody wählte als Lager die hintere Seite, kletterte den Stapel hinauf, breitete einige zusammengeknaulte Kleidungsstücke aus, wickelte andere als Kopfkissen zusammen, wollte dieses gegen die Wand legen — und griff dabei in ein Loch, welches an der Wand durch ein Stück Tuch zufällig verdeckt war.

Wie Nobody in seinem Tagebuch wiederholt von sich selbst sagt, hatte jedes Loch für ihn eine ganz besondere Anziehungskraft. Es war jedenfalls nur eine kleine Ventilationsöffnung, aber er hätte unmöglich schlafen können, hätte er nicht zuvor dieses Loch untersucht, wenigstens den Arm hineingesteckt, und wenn der Kopf bis zu den Schultern hineinging, so auch diesen. Es ist ja auch schon zur Genüge erörtert worden, welche Vorliebe dieser Felsenmaulwurf, wie er sich selbst nannte, für Löcher und alles, was hohl war, besaß, diese Leidenschaft hatte er schon als Knabe gehabt, und dann später führte ihn das Schicksal auch immer dahin, wo es irgend etwas Hohles zu untersuchen gab, sei es ein natürlicher Felsen mit Höhlen oder ein Gebäude mit Tunnels, sei es über oder unter der Erde, sogar bis auf den Meeresgrund ging es deswegen hinab.

Nobody hatte also nichts Eiligeres zu tun, als das verdeckende Tuch wegzunehmen. Das Loch war gar nicht so klein, Nobody konnte sogar — o welche Wonne! — seinen ganzen Kopf hineinstecken!

Ehe er dies aber tat, leuchtete er erst einmal mit einem Blendstrahl hinein.

»Drei Meter tief, dann hört es auf. Ja, wozu ist dieses Loch aber da? Irgendeinen Zweck muß doch jedes Loch haben! Ei der Deiwel, da muß ich doch einmal hinein, das muß ich untersuchen, ich muß wissen, wozu dieses Loch in der Wand ist!«

Jetzt also steckte er schleunigst, um das Versäumte nachzuholen, seinen Kopf in die Mündung des runden Kanals. Wo aber Nobodys Kopf hineinpaßte, da gingen auch seine Schultern hinein, obgleich der athletisch gebaute Nobody Schultern besaß, deren sich vielleicht Atlas nicht geschämt hätte, der nach der griechischen Mythologie bekanntlich die ganze Erde auf seinen Schultern trug. Aber derselbe athletisch gebaute Nobody konnte ja, wenn er wollte, sich auch als dekolletierte Dame präsentieren, und zwar, wenn es gewünscht wurde, als reizende Chansonette, denn dieselbe Beweglichkeit wie seine Gesichtszüge besaß sein ganzer Körper, und so konnte er auch seine Schultern herunterrutschen lassen, wie der Elefant seine Nase, bei ihm Rüssel genannt, bewegen kann.

Nobody klappte also seine wohlproportionierte Gestalt zum Lineal zusammen und schob sich hinein in seine Sehnsucht, in das Loch. Es soll ja nicht gerade gesagt werden, daß sein Kopf nur so eben in die Oeffnung hineingegangen wäre — nein, das wäre etwas zu viel behauptet. Jedenfalls aber machte ihm das kein anderer nach, höchstens ein indischer Gaukler, mehr Schlange denn Mensch, der sich von zarten Kindesbeinen an für diese Kriecherei speziell ausgebildet hatte.

Wie er eigentlich vorwärts kam, auf welche Weise er sich bewegte, das kann nicht beschrieben werden. Mehr Regenwurm als Schlange. Er zog sich zusammen, zog sich wieder auseinander, und dann war er wieder ein Stückchen vorwärts gekommen. Als er erst die Füße mit hinein hatte, ging es bedeutend leichter, da wirkten die Zehen als schiebende Hebel.

Hierbei sei noch einmal des Tarngewandes Erwähnung getan, damit der Leser nicht fürchtet, dasselbe könne während dieser Rutschpartie in Trümmer gehen.

Nobody wußte von dem Wesen dieses unsichtbar machenden Gewebes jetzt so viel wie zuerst — gar nichts. Aber seine äußerlichen Eigenschaften hatte er inzwischen näher geprüft, besonders seine Haltbarkeit, und dabei hatte er wiederum Erstaunliches entdeckt.

Das spinnenartige Gewebe konnte natürlich mit Leichtigkeit mit der Schere, mit dem Messer zerschnitten, auch mit der Hand zerrissen werden — vorausgesetzt, daß man mit dem Zerreißen an einer Kante anfing. Sonst, wenn man damit in der Mitte anfangen wollte, war es unzerreißbar wie ein zusammengelegter Papierbogen, und auch in seiner sonstigen Festigkeit ähnelte es ganz dem besten Papier, wie es nur die Japaner herzustellen wissen.

Der Leser wird hierin keinen Widerspruch finden. Bekanntlich kann zusammengepreßtes Papier nur mit dem Diamanten bearbeitet werden, oder mit Schleifsteinen, welche in der Sekunde die denkbar größte Anzahl Umdrehungen machen.

So diamantenhart war auch dieses unsichtbare, schmiegsame Spinnengewebe. Nobody hatte es am Schleifstein ausprobiert. Er konnte sein ganzes Leben lang auf dem Bauche rutschen, da nützte sich nichts ab, so wenig wie unten die geschlossenen Hosenbeine, die also gleich die Stelle von Strümpfen vertraten.

Nobody hatte natürlich die Arme ausgestreckt, und jetzt fühlten seine Hände eine Kante, einen Absatz in dem Mauerwerk, an den er sich klammern und so sich schnellstens vorwärtsziehen konnte.

Seine erste Ansicht, der Schacht sei hinten geschlossen, war ein Irrtum gewesen. Das hatte er im Scheine des Blendlichtes nicht unterscheiden können.

Dieser Schacht lief vielmehr in einen zweiten hinein, der von der Seite kam, niedriger und auch höher, so daß sich Nobody, als er erst einmal drin war, hinknien konnte.

Und war das dort rechts nicht ein Lichtschein? Wahrhaftig, ein Licht! Und das konnte jetzt überhaupt nur künstliches sein, das heißt, das Licht einer Lampe.

Also wohnte doch auch hier oben in der Spuketage jemand? Ja, und war denn hier nicht rechts gleich nebenan das Sterbezimmer des Sultans?

Es läßt sich denken, von welcher Erregung Nobody befallen wurde. Da verlöschte das Licht wieder, die schwärzeste Finsternis starrte ihm entgegen. Doch er kroch weiter und betastete nach kurzer Zeit den Rand des Schachtes, der nur in der Außenmauer angebracht sein konnte.

Als er den Kopf hinaussteckte, hatte er das bestimmte Gefühl, in ein geräumiges Zimmer zu blicken. Außerdem war der Sinn für Entfernungen und Ortsverhältnisse bei diesem Detektiven, der keine Treppe hinaufsteigen konnte, ohne die Stufen zu zählen, dermaßen entwickelt, daß er mit mathematischer Genauigkeit hätte bestimmen können, wie hier nichts anderes als jenes vermauerte Spukzimmer beginnen konnte. Er hatte eben selbst während dieses Rutschens und Kriechens immer die Entfernung berechnen können, die ihn von dem Spukzimmer noch trennte.

Was für ein Licht war das gewesen? Es sollte nicht wiederkommen, und Nobody durfte nicht wagen, seine Blendlaterne in Tätigkeit zu setzen, um das Dunkel zu lüften. Es konnte sich doch jemand darin befinden, denn irgendein Mensch mußte vorhin das Licht doch erst erzeugt haben.

Wohl eine Viertelstunde verging. Nichts regte sich. Da plötzlich wurde der Raum von einem fahlen Lichte erfüllt, und dieses blieb andauernd.

Nobody, frei von allem Gespensterglauben, steckte vergebens den Kopf weiter aus der Öffnung heraus, um sich nach der Quelle dieses eigentümlichen Lichtes, das einen Schein ins Grünliche hatte, umzusehen. Er konnte die Quelle nicht erblicken. Das weißgrüne Licht war da, erfüllte den ganzen Raum, ohne scheinbar von irgendwo auszugehen.

Da es nun einmal so war, hielt sich Nobody auch nicht mit Kalkulationen auf, sondern er benutzte die Beleuchtung, um sich gründlich in dem Raume umzusehen.

Es war ein schmales, langgestrecktes Zimmer, und dort war ja auch die vermauerte Tür! Ebenso konnte man noch erkennen, daß hier einst zwei Fenster gewesen, jetzt ebenfalls vermauert.

Eine türkische Bibliothek! Türkisch oder überhaupt orientalisch insofern, als in den Wandregalen keine Bücher standen, sondern Rollen lagen, aus Pergament oder Seidenstoff, jede mit einer grünen Schnur zusammengebunden, daranhängend ein Pergamentstreifen, auf welchem der Titel stand.

Gleich links vor Nobodys Nase hing solch ein Streifen, mit arabischen Schriftzeichen bedeckt, und Nobody übersetzte:

»Brief Mohammeds des Propheten an die aufrührerischen Assassinen, geschrieben im Jahre vier der Hidschra.«

Oho!!! Wenn das wirklich das Original war, woran Nobody nicht zweifelte, wieviel würde wohl das britische Museum dafür zahlen? Und so ein reicher englischer Bibliophile oder schon mehr Bibliomanist, kein Bücherfreund, sondern schon mehr Bücherwahnsinniger, hätte nun gar für so etwas gleich sein halbes Vermögen geopfert.

Auch rechts von ihm war solch ein Pergamentstreifen sichtbar.

»Die Wanderungen Haluns des Weisen durch Palästina im Jahre 593—589 vor der Hidschra.«

Eine heilige Ehrfurcht erfüllte Nobody.

Hidschra heißt die Flucht — und im besonderen wird darunter verstanden die Flucht Mohammeds aus Mekka vor seinen Feinden, am 15. Juli 622 nach Christi Geburt. Mit diesem Tage beginnen die Mohammedaner ihre Zeitrechnung.

So war Halun der Weise also ein Zeitgenosse von Jesus Christus gewesen, hatte sich in Palästina gerade während dessen Wirkens- und Leidensperiode aufgehalten, und daß diese den Hauptinhalt des Manuskriptes bildete, das war doch ganz selbstverständlich; für Juden und Römer war damals die Hauptsache doch die politische Rolle, welche Christus spielte oder die man ihn doch spielen lassen wollte, und nun hier ein arabischer Historiker, den man den Weisen nannte, also ein ganz anderer Geschichtsschreiber als ein jüdischer Fischer oder Teppichweber, alles mit unparteiischen Augen betrachtet — die Bedeutung und der Wert dieses Manuskriptes waren ja gar nicht zu taxieren!

Der Kislar-Aga hatte nichts von einer Bibliothek gesagt. Wußte er nichts davon? Allerdings sind zwei Jahrhunderte eine lange Zeit, und der Eunuche hatte kein Interesse für so etwas. Aber vergessen konnte dieser Manuskriptenschatz unmöglich sein. Er lag nur brach, niemand wagte sich in diesen Raum, weil es darin spukte. Man hatte, als das Sterbezimmer zugemauert wurde, sich nicht einmal Zeit gelassen, die Manuskripte erst herauszunehmen.

Sonst enthielt das Gemach nichts weiter als einige Polster. Besonders auf und neben dem einen lagen einige Rollen zum Teil geöffnet. Auf diesem Polster beim Lesen von Pergamenten war Sultan Achmed Köprili jedenfalls vom Schlage getroffen worden.

Wenn Nobody nur gewußt hätte, woher dieses eigentümliche, geisterhafte Licht kam! Er mußte doch einmal weiter...

Da plötzlich verlöschte das Licht abermals, und da bekam Nobody etwas zu hören und zu sehen, was doch etwas zu viel auch für seine Nerven war!

Völlig finster war es noch nicht, das schien nur so im Gegensatz zu vorhin. Ein schwacher Dämmerschein herrschte noch immer, so konnte Nobody z.B. noch die Umrisse der Wandregale erkennen, wozu allerdings seine Luchsaugen gehörten.

Da mit einem Male zitterte durch den Raum ein Seufzer, ein ächzendes Stöhnen folgte, und aus der gegenüberliegenden Wand, aus den Regalen heraus trat eine weißleuchtende Gestalt.


Illustration

Nobody gesteht ganz offen, daß sich vor Entsetzen seine Haare gesträubt haben. Doch lange währte dies nicht. Nobody dachte über Gespenster und dergleichen sehr vernünftig. Er war schon manchem Geiste begegnet, aber noch immer hatte er alles auf natürliche Weise zu erklären gewußt, meistenteils handgreiflich. An Geister konnte Nobody also nicht glauben. Aber er war bereit, daran zu glauben, wenn er davon überzeugt wurde. Doch wenn dies wirklich einmal geschah, dann war er noch lange nicht willig, einem Geiste das Feld zu räumen.

»Die Erde gehört dem lebendigen Menschen, Geister haben darauf nichts zu suchen, und wenn sie es tun, so begeben sie sich auf ein fremdes Gebiet, sie begehen Landfriedensbruch, und dann muß der Mensch gegen sie kämpfen, und wer siegen will, der muß zuerst den Charakter und die Kampfweise seines Feindes studieren. Ruhig Blut, Alfred — Prügel hast du schon als Junge oft genug bekommen, aber ausgerissen bist du niemals — ausreißen gibt's nicht!«

Mit dieser Betrachtung, die sich mancher hinter die Ohren schreiben sollte, hatte Nobody schnell seine völlige Ruhe wiedergefunden. Er betrachtete die Erscheinung mit demselben Interesse wie einen originellen Menschen, der ihm zum ersten Male inden Weg lief. War es ein Geist — gut, dann wurde das Wesen dieses Geistes gründlich studiert.

Ja, und ein Mensch aus Fleisch und Blut war das nicht! Dort in der Wand war keine Öffnung entstanden, die Regale hatten sich nicht beiseite geschoben oder so etwas Ähnliches, das hatte Nobody nun ganz deutlich beobachtet! Die Erscheinung war ›ganz einfach‹ direkt aus der Wand oder aus den mit Rollen vollgepropften Regalen herausgetreten.

Auch sonst hatte die Erscheinung nichts Menschliches, nichts Irdisches an sich. Doch erst sei ihr Äußeres beschrieben.

Es war ein Mann, ein hochgewachsener Türke mittleren Alters, mit schönen, edlen, aber finsteren Zügen, zwischen den Augen eine tiefe Falte des Zorns, quer über das Gesicht eine furchtbare Narbe, der langherabhängende Schnurrbart unter der Adlernase dem Ganzen noch mehr den Ausdruck von trotziger, vor nichts zurückschreckender Kühnheit gebend.

Prächtig gekleidet, trug er im Gürtel nur einen krummen Dolch, der von Diamanten starrte. Doch hierzu gehörte das Auge dieses Detektivs, um das alles beurteilen zu können.

Es war eben alles ganz geisterhaft. Gewiß, der Dolch war mit Diamanten besetzt, aber diese leuchteten nicht. Das Kostüm war aus bunten Stoffen zusammengesetzt, aber alles strahlte ein grünlichweißes Licht aus, so daß es zuerst farblos erschien. Wie das gemeint ist, kann man sich wohl leicht vorstellen.

Geisterhaft war nun erst recht das Gesicht, fahl wie der Tod, und noch mehr galt das von den Augen, welche wie feurige Kohlen funkelten und dennoch glanzlos ins Leere stierten.

Ebenso schwer sind die Bewegungen zu beschreiben. Das war kein Gehen, das war auch nicht gerade ein Schweben, sondern das war... jedenfalls waren es nicht die Bewegungen eines Menschen von Fleisch und Blut, so etwas konnte sich auch kein lebendiger Mensch einüben, und hätte er in den Beinen auch die Elastizität einer Primaballerina gehabt. Gegen diesen Geist wäre sie ein Holzstock gewesen.

Und daß es wirklich nur ein Phantom war, konnte Nobody sogleich ganz deutlich beobachten. In der Mitte des Gemaches stand ein Diwan, und die Erscheinung ging, ohne einen der diamantenbesetzten Schnabelschuhe zu heben, durch denselben hindurch, wie ein Sonnenstrahl im dunklen Zimmer durch eine Glasscheibe geht.

So schwebte die leuchtende Gestalt, immer seufzend und stöhnend, in dem Gemache auf und ab, blieb auch einmal vor einem Regale stehen und griff nach einer Pergamentrolle, um sie herauszunehmen.

Hierbei aber zeigte sich deutlich, daß dies tatsächlich ein wesenloser Geist war, mit dem sich Nobody in seiner Unsichtbarkeit nicht vergleichen konnte.

Es blieb immer nur bei dem Versuche, die Rolle herausnehmen zu wollen. Die Hände faßten nichts, sie drangen in die Substanz hinein, sie bestanden eben aus keiner Materie.

Jetzt schwebte der seufzende Geist nach dem in der Mitte stehenden Diwan zurück, um sich daraufzulegen. Damit hatte es seine Schwierigkeiten. Er rutschte gewissermaßen immer durch, sein ätherischer Leib durchdrang das Polster.

Schließlich aber war es ihm doch gelungen, sich so daraufzulegen, wie sich auch ein Mensch von Fleisch und Blut daraufgelegt hätte, und so lag er langausgestreckt darauf, den einen Ellbogen auf das Polster gestemmt, das beturbante Haupt in die Hand gestützt und... blickte mit seinen glanzlosen Augen starr gerade dorthin, wo Nobodys Kopf aus der Öffnung schaute.

Wieder gesteht Nobody ganz offen, daß es ihm eiskalt den Rücken hinabgerieselt sei, als diese geisterhaften Augen ihn so unverwandt anstarrten. Und nun dieses entsetzliche Ächzen dazu!

Doch wiederum währte das nicht lange. Da bekam Nobody eine Idee, würdig eines Forschers, dessen Wißbegier überhaupt vor nichts zurückschreckt - wie z.B. Goethe seinen Faust charakterisiert, der den hinter dem Ofen hervorkriechenden Teufel mit der größten Freude als längstersehnten Besuch begrüßt, und wie in unserem Zeitalter die furchtlosesten Helden doch wohl die Forschungsreisenden sind, die sich aus Liebe zur Wissenschaft in Gefahren begeben, denen jeder vernünftige Mensch doch eigentlich aus dem Wege geht.

»Ob der Geist mich unter der Tarnkappe wohl sehen kann?«

Das war die Frage, welche Nobody aufwarf, welche er unbedingt lösen mußte, und hätte es seine Seligkeit gekostet, und sofort begann er, aus der Öffnung zu schlüpfen und geräuschlos an dem nächsten Regal hinabzuklettern.

Dabei ist zu bedenken, daß Nobody auf dem Punkte stand, daran zu glauben, daß es verstorbene Seelen gibt, welche auf der Erde noch umherwandeln müssen, zeitweilig sichtbar werden.

Was sollte er auch anders denken? Für diese Erscheinung gab es gar keine andere Erklärung! Da konnte man nicht eine versteckte Laterna magica oder dergleichen vermuten. Vor allen Dingen nämlich gehörten der Ätherleib und die Stimme zusammen, das Seufzen und Stöhnen kam direkt aus dem etwas geöffneten Munde des Geistes, das konnte Nobody ganz, ganz deutlich unterscheiden!

Und trotzdem verließ Nobody sein Versteck, er ging dem Geiste zu Leibe!

Nein, die starren Augen konnten ihn nicht sehen. Denn Nobody wendete sich seitwärts, aber die Geisteraugen folgten nicht seinen Bewegungen, sie blieben auf die Öffnung an der Wand gerichtet.

Nobody näherte sich ihm von hinten. Was war das? Eben eine weißliche Lichtgestalt. Er griff hinein, griff durch sie hindurch — genierte den Geist gar nicht, ebensowenig, wenn Nobody dasselbe Experiment von vorn machte.

»Nun brate mir aber einer 'nen Storch!«

Was nun, wenn sich Nobody für das menschliche Auge sichtbar machte, ob ihn dann das Geisterauge sah?

Schon war Nobody entschlossen, sich des Tarngewandes zu entledigen, als plötzlich mit einem Zuck die Lichterscheinung verschwunden war, völlige Finsternis herrschte in dem Raume, daß man auch nicht mehr die Hand vorm Auge sehen konnte.

Und Nobody? Der stand in der Finsternis, und wir wollen diese durchdringen können, um den eigentümlichen Ausdruck zu erkennen, der sich in seinem Antlitz widerspiegelte, und dann verwandelte sich der Ausdruck des spannenden Staunens in ein spöttisches Lächeln, und dann schien es, als hätte er gar zu gern laut aufgelacht. Aber er beherrschte sich.

»Aha, also das ist des Pudels Kern!!«

Er sagte es nicht, flüsterte es nicht — davor hütete er sich. Er dachte es nur.

Ja, er hatte sich diese Geistererscheinung im letzten Augenblick doch noch auf natürliche Weise zu erklären gewußt, das Verschwinden des Spuks hatte ihn die Wahrheit erkennen lassen! Und sein innerliches Lachen verwandelte sich in Scham über sich selbst, daß er bald an Gespenster geglaubt hätte! Doch auch dies währte bei ihm nicht lange an.

»Auf Wiedersehen, mein lieber Geist, du ruhelose Seele des Sultans Achmed Köprili — und hoffentlich nicht erst draußen auf dem Korridor, wenn du bei Neumond durch die Wand trittst, sondern schon hier drinnen, wo du ja zu jeder Zeit herumspuken darfst!«

An eine weitere Untersuchung des Zimmers ging Nobody jetzt nicht, so nötig diese auch war. Er hatte seinen guten Grund dazu, solch eine eingehende Untersuchung bis später aufzuschieben, da mußte er sich erst noch über verschiedenes andere orientieren. Er trat sofort den Rückweg an, schlüpfte in sein Loch, so geräuschlos, wie er gekommen, und fünf Minuten später lag er weichgebettet in der Kleiderkammer und schlief den Schlaf des Gerechten, ohne daß Geister ihn im Traume geängstigt hätten.


VII. Von Abenteuer zu Abenteuer.

Im Serail ist ununterbrochen ›große Wäsche‹. Die Waschanstalt befindet sich im Kellergeschoß. Waschanstalt? Man denke nicht etwa an eine Dampfwäscherei, so etwas gibt's im Serail, wo alles nach alter Urgroßväterweise zugehen muß, nicht. Die Wäscherei wird hier nicht anders gehandhabt als in der arabischen Wüste, wo die Beduinenfrau in der Oase ein Feuerchen anzündet und den kleinen Waschkessel darübersetzt.

Hundert Weiber waren es mindestens, welche in dem weiten Kellerraume beschäftigt waren, und jede einzelne besaß auf dem offenen Herde ihr eigenes Holzkohlenfeuerchen, ihr eigenes kupfernes Kesselchen, in das tat sie die wenigen Stücke Zeug, die ihr zugeteilt worden waren, füllte es mit kaltem Wasser, setzte es auf das Feuerchen, wartete eine halbe Stunde, bis das Wasser kochte, dabei beschäftigungslos danebenstehend, dann wurde kaltes Wasser zugegossen, die Wäsche mit Seife eingeschmiert und langsam mit den Händen gerieben, in demselben Kesselchen ausgespült, und dann nahm dieselbe Frau dasselbe Kesselchen auf den Kopf und ging hinaus auf den Platz, wo sie selbst die wenigen Stücke zum Trocknen aufhing — alles nach dem Grundsätze: nur immer so unpraktisch wie möglich, es kann ja nicht genug kosten!

Wirklich, eine einzige Schaukelmaschine, von einem Kinde in Bewegung gesetzt, hätte am Tage dasselbe geleistet, wozu man hier hundert Frauen brauchte. Aber eine Arbeitseinteilung kennt der Türke eben nicht, und die Leidenschaft, der er sich am liebsten hingibt, ist die Faulheit, was sich auch hier bestätigte.

Die Weiber, wegen der hier herrschenden Hitze nur eine Art von Unterrock tragend, den Oberkörper entblößt — wenn sie die Wäsche zum Aushängen hinaustrugen, kleideten sie sich jedesmal erst an und fünf Minuten später beim Betreten des Waschraumes wieder aus — hatten nicht zu klagen. Die sie beaufsichtigenden Eunuchen hatten genug damit zu tun, sich ihre Zigaretten zu drehen, und der Feuerstein wollte in dem mit Dampf gefüllten Raume immer keine Funken geben, da hatte man eine Heidenarbeit damit, und wenn sich zwei junge Sklavinnen, wenn sie aller halben Stunden mit ihrem Kesselchen hinausspazierten, vorher jedesmal gegenseitig und umständlich frisierten, so wurde ihnen deswegen kein Wort gesagt.

Gerade deshalb aber fehlte alles Leben, aller Trieb. Matt und müde schlichen auch die jüngsten Frauenzimmer umher, mechanisch ihre Arbeit verrichtend; was heute nicht fertig wird, braucht morgen auch noch nicht fertig zu sein. Eine biedere deutsche Waschfrau hätte es hier keine Stunde ausgehalten. Hier wurde ja nicht einmal geschwatzt!

Es mußte schon etwas sehr Wichtiges sein, was einmal eine Zunge in Bewegung setzte.

Eine schwarze Sklavin, deren Brüste bis hinein in den Waschkessel hingen, ließ die faulen Arme sinken und blickte lange Zeit in eine Ecke des Gewölbes.

»Hast du es gesehen?« fragte die Negerin ihre blütenweiße Nachbarin, jedenfalls eine Georgierin, ein junges, herrlich gebautes Weib, aber mit einem von Pockennarben entstellten Gesicht.

»Was denn?«

»Dort in der Ecke.«

»Ich habe gar nicht hingesehen.«

»Mir war es gerade, als ob dort etwas Weißes in der Luft schwebte.«

»Es wird die Sonne gewesen sein.«

Hiermit war die Angelegenheit erledigt, es wurde weitergewaschen.

Die vernommenen Worte waren für Nobody eine Warnung gewesen, vorsichtiger zu sein. In jener Ecke stehend hatte er eine Photographie in der Hand gehabt, und um diese betrachten zu können, mußte er sie ja unter dem Tarngewande hervorziehen.

Schon seit einer Stunde befand er sich hier, seit die Arbeit am Morgen hier begonnen hatte.

Und er sah sie nicht, derentwegen er in das Serail gedrungen war.

Sie sollte Wäscherin sein. Das war ja nicht etwa der einzige Waschraum, es gab deren noch viele, viele andere, diese hundert Weiber hätten doch nicht genügt, die Wäsche von zehn- bis zwölftausend Personen zu besorgen, welche täglich mindestens einmal ihre Unterkleider wechseln müssen, täglich auch ein frisches Obergewand anlegen — aber der hypnotisierte Unterkislar hatte ihm gesagt, daß Fatme Zenide unter ihm stände, in derjenigen Küche, in der die Wäsche der sechzig Odalisken erledigt würde, und diese war hier, eine zweite Waschküche für die Odalisken gab es nicht, und dort stand auch jener Kislar, die Peitsche zwecklos im Gürtel — nur die gesuchte Fatme Zenide konnte Nobody nicht finden.

Er besaß eine Photographie von der Gesuchten, vor zwei Jahren in Paris angefertigt. Sie zeigte ihm das Brustbild einer jungen Dame, vollbusig und jedenfalls dennoch zierlich gebaut, das konnte Nobody an der schmalen Taille, die gar nicht besonders fest geschnürt zu sein schien, beurteilen, auch an den zum Teil noch sichtbaren Hüften, vor allen Dingen an der erhobenen, einen Fächer haltenden Hand — und es war ein gar reizendes, pikantes Gesicht, in dem die Augen vor Lebenslust funkelten.

Nobody hatte auch Beschreibungen von dieser Person erhalten, und so wußte er, daß sie einen sehr weißen Teint und schwarzes Haar besessen hatte.

Weiße Sklavinnen mit schwarzem oder doch dunklem Haar gab es hier sechs. Sie gingen aus und ein, es wurden ihrer nicht weniger und nicht mehr, die Gesuchte befand sich nicht unter ihnen, und Nobody war doch wirklich imstande, nach einer vor zwei Jahren angefertigten Photographie eine Person wiederzuerkennen, da hatte er nicht nötig, erst immer nach der Narbe am Halse zu spähen.

Falls sich Teint und Haar innerhalb der zwei Jahren doch sehr verändert hätten, hielt Nobody unter den Sklavinnen weitere Umschau, er vergrößerte sein Beobachtungsfeld. Noch achtzehn Weiber waren es, die in Betracht kommen konnten, weil sie hellere Haut und dunkles, wenn auch braunes Haar besaßen, und jetzt achtete Nobody auch auf den Schnitt, der am Halse eine Mandel entfernt hatte.

Nein, die Gesuchte befand sich nicht unter ihnen.

Wurde sie gerade heute abend anderswo beschäftigt? Nach allem, was Nobody über den Betrieb im Serail wußte, hielt er so etwas für ausgeschlossen. Aber krank konnte sie geworden sein, gestorben, und darüber wurde hier kein Wort verloren, die indolenten Waschfrauen merkten die Abwesenheit einer Kollegin nicht.

Wieder einmal merkte Nobody es recht empfindlich, daß ein unsichtbarer Geist es doch gar nicht so leicht hat, wenn er nicht auch Allwissenheit besitzt.

Um auszukundschaften, wo sich Fatme Zenide befand, mußte er erst wieder einen Eunuchen hypnotisieren, dazu mußte er ihn aber doch erst an einem abgelegenen Orte unter vier Augen haben, und wenn das alles geglückt war, dann hatte er vielleicht den falschen erwischt, der ihm nur sagen konnte: ›Da mußt du den und den fragen.‹

O, da ist ein Klopfgeist, der das Alphabet herunterpocht, noch gut daran! Die Menschen dürfen freilich nicht vor ihm ausreißen.

»Fatme Zenide!« rief da die Fistelstimme eines Eunuchen.

Natürlich horchte Nobody nicht schlecht auf. Er hatte den Rufer zufällig gesehen, dieser winkte auch mit dem Finger, zu ihm mußte sie doch kommen, und da löste sich aus den Reihen der Waschweiber, die vor einer Bank standen, auch eine ab.

O weh, die ganzen Hypnotisierereien waren umsonst gewesen! Hier hatte von allem Anfang an ein Irrtum vorgelegen! Die Eunuchen hatten mit der Fatme Zenide immer eine ganz andere gemeint.

Denn das alte, dürre Weiblein mit den eisgrauen Haaren, das auf den Vorgesetzten zuhumpelte, das hatte nichts zu tun mit der lebenslustigen Französin, die eben erst ihr achtundzwanzigstes Jahr überschritten. Nur daß das alte Weiblein eine blaßhäutige Frankin war, das war aber auch die einzige Gemeinschaft, die es mit der photographierten Dame hatte. Nobody hatte der Alten vorhin auch gar keine Beachtung geschenkt, sie gehörte also nicht mit zu den zwei Dutzeud Weibern, die er in den engeren Kreis seiner Beobachtung gezogen.

Sie kam auf ihrem Wege zu dem Eunuchen dicht an dem unsichtbaren Geiste vorüber, und... Nobody riß seine unsichtbaren Augen vor Überraschung weit auf.

An dem spindeldürren Halse die Narbe von einem tiefen Schnitt! Auf der rechten Seite! Und es war unverkennbar ein Operationsschnitt, der eine der Mandeln entfernt hatte, über deren Zweck unsere Ärzte absolut nichts wissen, da der Mensch ganz gut auch ohne die sogenannten Mandeln, die so leicht schwellen, fertig werden kann.

Ja, war es denn nur möglich? Nein, es war nicht möglich! Und bei Nobody lag über das Alter der betreffenden Person kein Irrtum vor, er hatte eine genaue Beschreibung erhalten, er wußte doch überhaupt genau, daß nur eine junge Frau in Betracht kommen konnte, die in der Liebe gesündigt hatte, weswegen Nobody ein ernstes Wort mit ihr sprechen wollte, und er besaß doch auch ihre Photographie.

Hinter einer Säule gedeckt, zog er dieselbe schnell noch einmal hervor.

Und doch, ja!! Sie war es! Das waren dieselben Züge! Jetzt ließ sich Nobody nicht mehr durch die skelettartige Gestalt, durch das weiße Haar und durch das blöde Auge täuschen!

O Gott, o Gott, was war aus dem schönen, jugendfrischen Weibe innerhalb dieses einen Jahres im Serail geworden! Eine ausgedörrte Greisin, die kaum noch humpeln konnte! Daß ihr Gesicht noch keine Runzeln zeigte, hatte nichts zu sagen.

Was mochte das arme Weib in dem einen Jahre durchgemacht haben, um so umgewandelt zu werden? An eine üble Behandlung konnte Nobody nicht glauben. Die Kislars führen die Peitsche fast ganz umsonst im Gürtel, die Türken behandeln ihre Sklaven überhaupt sehr gut, müssen es tun, nicht nur ihre Religion, sondern auch das Gesetz, das ja erst nach dem Koran entstanden ist, schreibt es ihnen bei strengen Strafen vor. Daß der Kislar-Aga die neue Sklavin peitschen wollte, es auch getan hätte, das war etwas ganz anderes. Ein Widerstand muß freilich erst gebrochen werden.

Krankheit? Nobody hatte einen Grund, auch hieran nicht recht glauben zu können. Macht denn eine körperliche Krankheit ein funkensprühendes Auge gleich so blöde? Nein, hier war die Schönheit und die Kraft des Körpers durch eine seelische Krankheit, durch einen Seelenschmerz untergraben worden! Nun kannte aber Nobody diese Frau, wenigstens den Beschreibungen nach, ihr Grundcharakter war der bodenloseste Leichtsinn gewesen, heute hatte sie einen Mann glühend geliebt, hatte ohne ihn nicht leben können, und morgen war er über einem anderen wieder vergessen worden, sie hatte ein Kind verloren, ohne daß dies den geringsten Eindruck auf sie gemacht hätte — und sieht es denn solch einem Charakter ähnlich, daß er in einem türkischen Harem innerhalb eines Jahres gleich weiße Haare bekommt und vollständig zusammenbricht?

Das humpelnde Weib hatte den Eunuchen erreicht.

»Hast du noch Rum, Fatme Zenide?« quäkte dieser.

Aber der Eunuche wollte keinen Schnaps von ihr haben, sondern er fragte sie, ob sie noch Rheumatismus habe, der auf türkisch und arabisch Rum heißt, oder in deutschen Buchstaben wohl richtiger Rhum geschrieben.

»Ach ja, sehr,« seufzte die junge Alte und hob, nach ihren nackten Füßen blickend, ihren Rock etwas hoch, daß Nobody ihre spindeldürren Waden sah.

»Ich habe bemerkt, wie dir das Gehen schwer fällt, habe mit dem Kislar gesprochen. Gehe in die Kawansi, laß dich vom Hakim einreiben und bleibe nur ruhig liegen, bis du wieder laufen kannst.«

Man sieht, diese Skavinnen hatten wie die Sklaven nicht über schlechte Behandlung zu klagen. Allerdings ist dabei zu bedenken, daß sie als gekaufte Ware ein Kapital repräsentieren; dieses Weib hier hatte sogar 1280 Mark gekostet, aber einmal geht am Hofe des ungeheuer reichen Sultans — nicht zu verwechseln ist damit die Armut und die ewige Geldverlegenheit des ganzen Reiches! — alles aus einem so großen Topfe, daß es auf solche Lappalien gar nicht ankommt, und dann hatte in der Fistelstimme des Eunuchen wirkliches Mitleid gelegen, das Herz war ihm nicht mit ausgeschnitten worden.

Ohne einen Dank zu haben, wandte sich Fatme Zenide, humpelte seufzend zurück, warf ihre Wäsche in den Kessel der Nachbarin, ohne daß diese dagegen protestiert hätte, mehr zu beeilen brauchte sie sich deswegen ja auch nicht, goß ihren Kupferkessel aus, hing ihn an einen Nagel, kleidete sich an und verließ die Waschküche.

Nobody folgte ihr. Die Kawansis, in denen die hier arbeitenden Sklavinnen schliefen, lagen im dritten Stock. Bis dahin brauchte Nobody nicht in die Richtung der Frau einzugreifen, er ließ sie die Seitentreppen hinaufhumpeln.

Weiber und Eunuchen begegneten ihr, auch solche, die durch Dolche und Pistolen oder gar durch die Peitsche als Kislars ausgezeichnet waren — niemand kümmerte sich um die Arbeitssklavin, obgleich die um diese Zeit hier nichts zu suchen hatte. Überall ebendieselbe Teilnahmlosigkeit, die sich schon auf allen Gesichtern ausprägte.

Erst als sie das dritte Stockwerk schon erreicht hatte, wurde sie doch einmal von einem grimmig blickenden Peitschenträger angehalten. Auch der Kislar-Aga zeigte sich in der Ferne, der Anblick des Gefürchteten mochte den Untergebenen an seine Pflicht mahnen.

»Wohin?«

»Nach meiner Kawansi!«

»Wozu?«

»Ich habe Rheumatismus in den Füßen, ich soll mich hinlegen.«

»Wer hat dir das erlaubt?«

»Mein Kislar.«

»Wo arbeitest du?«

»In der fünften Wäscherei.«

»Gut.«

Die Frau konnte ihren Weg fortsetzen. Also auch hier gar keine weiteren Umstände, der Kislar hatte sich auch nichts notiert, würde sich wohl schwerlich erkundigen, ob die Angaben richtig waren.

Für Nobody war es sehr wichtig, alles dies zu beobachten, und diese faule Wirtschaft kam ihm sehr gelegen.

Aber wie nun das Weib vernehmen? In den Schlafraum durfte sie nicht erst gelangen, dort war nichts mehr zu machen, das wußte Nobody, der sich bereits auch in diesen Kawansis umgesehen hatte.

Die Gelegenheit sollte noch kommen. Die Sklavin hatte nach ihrem Saale in dem riesigen Gebäude einen gar weiten Weg, und sie hatte gleich die nächste Treppe erstiegen, so mußte sie jetzt durch zahllose Korridore.

Zunächst belauschte Nobody noch ein Gespräch. Zwei junge Männer kamen den Korridor entlang, Rollen unter den Armen, hinter dem Ohre das an der Spitze gespaltene Rohr — Schreiber des Serails.

»Weißt du, wie alt die ist?« fragte hinter Nobodys Rücken, als beide schon passiert waren, die eine Fistelstimme.

»Eine alte Hexe.«

»Vor einem Jahre noch war die zur Odaliske bestimmt.«

»Unsinn!«

»Allah lasse meine Zunge vertrocknen, wenn ich nicht die Wahrheit spreche. Aber die ist telekail.«

Der andere lachte mit seiner schrillen Stimme aus vollem Halse.

»Ja, die Frankinnen werden fast alle telekail,« erklang es noch einmal, »und wenn es auch Odalisken sind.«.

»Das glaube ich wohl, darin sind die Odalisken doch auch nicht anders als die Arbeiterinnen.«

»Und wenn so eine junge Frankin telekail wird, dann wird es mit ihr schnell alle. Es gibt ja Ausnahmen, aber gewöhnlich ist es doch so, und wenn sich die ersten Spuren vom Telekail zeigen, sollten die Frankinnen stets eingesperrt werden, denn dann können sie gefährlich werden wie die jungen...«

Die Stimmen verloren sich.

Was war das, telekail? Nobody kannte die Bedeutung dieses türkisch klingenden Wortes nicht. Nach dem Gehörten freilich ging ihm eine Ahnung auf. Nur mochte er es gar nicht recht glauben. Oder die Weiber hier im Serail unterlagen öfters einer Krankheit, einer seelischen, die zwar auch draußen in der Welt mit seinem pulsierenden Leben vorkommt, aber doch nur zu den seltenen Ausnahmen gehört. Oder doch nicht gar so selten? Diese Wirkung wenigstens, gleich so alt zu werden, hatte Nobody überhaupt noch nie wahrgenommen.

Doch er mußte jetzt an anderes denken. Die Gelegenheit war günstig, der Gang machte zwei scharfe Ecken, kein Mensch war zu sehen, kein Schritt zu hören, und jene schmale Holztür war von Nobody gestern schon einmal geöffnet worden, er wußte, wohin sie führte, und das paßte alles gerade für ihn.

Die noch vor einem Jahre so temperamentvolle Französin war jetzt das Phlegma selbst geworden, nur noch zum Seufzen öffnete sich ihr Mund. Aber als sie plötzlich ein menschliches Gesicht vor sich sah, frei in der Luft schwebend, da prallte sie mit tödlichem Entsetzen zurück, sie wollte...

Zu spät, die flammenden Augen hatten ihre Schuldigkeit getan, der Schreckensschrei blieb ihr in der Kehle stecken, sie war zur Statue erstarrt, bis Nobadys Nackengriff wieder Leben in sie brachte, aber nur, um eine wandelnde Maschine aus ihr zu machen.

»Folge mir! Ich werde dich an der Hand fuhren.«

Er öffnete die schmale Tür und zog sie herein, führte sie die Holztreppe hinauf, welche in das vierte Stockwerk mündete.

Hier oben war kein Mensch. Das wußte Nobody. Hier oben spukte es, und wenn auch nur aus einer Voratskammer ein einziger Scheuerlappen geholt werden mußte, so wurde gleich eine ganze Kompagnie Eunuchen hinaufgeschickt, die sich gegenseitig festhielten. So entgegenkommend, so zartfühlend waren ihre Vorgesetzten, und ein einzelner wäre gar nicht hinaufgegangen, eher hätte er sich totpeitschen lassen, selbst wenn er gar nicht wußte, daß es der Geist eines früheren Sultans war, der hier sein Wesen trieb, nur in den Neumondnächten. Das Wort »Spuk« genügt, um jedem Türken das Herz durch die Pumphose bis in den Pantoffel rutschen zu lassen.

Nobody begab sich mit seiner Begleiterin in jene Kleiderkammer, in der er genächtigt hatte. Hier heraus hatte niemand etwas zu holen, das war eine Sammlung von alten, jetzt ganz unmodernen Kostümen, nicht mehr in Ordnung gehalten, vergessen, und wenn wirklich jemand vorbeiging, und er hörte hier drin Stimmen sprechen, und er wagte es, diese Tür zu öffnen, gleich hier dicht neben dem vermauerten Spukzimmer, dann wollte Nobody... selbst Eunuche werden und nicht wieder aus dem Serail herauskommen!

»Setze dich!«

Er hatte sie so gestellt, daß sie auf den Kleiderbündeln gleich einen bequemen Sitz fand, und er fühlte, daß sie gehorchte. Licht zündete er nicht an, so brauchte er sich auch nicht erst sichtbar zu machen.

»Wie heißt du?«

»Fatme Zenide.«

»Wie hast du früher geheißen?«

Keine Antwort, und Nobody konnte sich denken, weshalb keine kam.

Bedauernswertes Weib! Aber ungerecht war das Schicksal nicht gegen sie gewesen; das Schicksal ist überhaupt nie ungerecht, wenn wir blinden Menschlein es auch nicht immer erkennen, nicht erkennen mögen. Die hatte hier eine Schuld zu büßen.

»Als du vor anderthalb Jahren nach Konstantinopel kamst, in Begleitung des Monsieur Auviger, Ernest Auviger, da hießest du noch Eu — Euge....na?«

»Eugenie Lefort!!« erklang es mit unterdrücktem Jauchzen, und Nobody hatte sich jetzt des Französischen bedient.

Sie war es! Die nächste Frage entsprang Nobodys Wißbegier.

»Was bedeutet das Wort telekail auf französisch?«

»Liebeswahnsinn.«

»Hm. Wörtlich übersetzt würde Liebeswahnsinn auf türkisch anders lauten.«

»Telekail — männertoll.«

Also doch! Nobody hätte es nicht geglaubt, daß unbefriedigte Leidenschaft so das Äußere verändern könne. Er hatte auch schon in verschiedenen Nonnenklöstern Umschau gehalten, aber so etwas hatte er denn doch noch nicht gefunden, und hier schien es etwas ganz Gewöhnliches zu sein, besonders bei Frankinnen, die sich von den phlegmatischen Orientalinnen ganz bedeutend unterscheiden. Was spricht man immer von den feurigen Südländerinnen? Ja, lebhaft sind sie wohl, aufgeregt, funkelnd, brillierend — aber die kalte Norwegerin ist im Liebestaumel viel leidenschaftlicher als die innen kochende Spanierin. Das hat schon der alte Casanova gewußt, das weiß noch heute jeder Matrose.

Und in den Nonnenklöstern gibt es keine Eunuchen. Das ist wohl verständlich genug gesagt, um einen Unterschied zwischen Kloster und Serail anzudeuten.

»Möchtest du das Serail wieder verlassen?«

»Ja, ach ja!« erklang es mit zitternder Sehnsucht, in der auch schon Hoffnung lag.

Mehr wollte Nobody von der Frau im hypnotischen Zustande nicht erfahren. Was er sonst zu fragen hatte, das mußte sie ihm bei klarem Bewußtsein beantworten, darauf kam es ihm an.

Er suggerierte ihr das Verbot ein, zu sagen, daß sie auf dem Korridor plötzlich ein frei in der Luft schwebendes Gesicht gesehen habe, machte daraus einen ganzen Mann, einen Eunuchen, der sie angesprochen habe, in geheimnisvoller Weise, dem sie in diese Kammer gefolgt sei, wo er ihr eine wichtige Mitteilung machen wolle.

Wie Nobody dies fertig brachte, soll hier nicht geschildert sein. Es war eine Kleinigkeit. Die Hypnotik bringt ja noch ganz andere Sachen fertig. Zur Vorsicht ließ er sie nur in dem Glauben, sie befinde sich in einer Kammer der dritten Etage.

»Erwache!!«

Es wäre interessant gewesen, zu beobachten, wie sie sich jetzt benahm, was für ein Gesicht sie machte.

»Was willst du mir mitteilen?«

Es hatte gewirkt, das bewies diese geflüsterte Frage. Sie befand sich in dem Glauben, einem Eunuchen gefolgt zu sein.

»Madam Eugenie Lefort, geschiedene Madam Saccardi, früher Mademoiselle Coquellin.«

Heftig zuckte ihre Hand aus der seinen zurück.

»Wer bist du?! Diese Stimme — du bist kein Eunuche!!«

Also so hatte die hypnotische Suggestion gewirkt, daß sie sogar die Fistelstimme eines Eunuchen gehört zu haben glaubte. Etwas seltsam war nur, daß sie nicht zuerst davon überrascht war, mit ihren früheren Namen angeredet zu werden, sondern darüber, jetzt eine tiefe Mannesstimme zu vernehmen, die ihr freilich im Serail völlig fremd geworden sein mußte. Immerhin, es war auffallend.

»Nein, ich bin kein Eunuche.«

»Dann — dann — kannst du hier im Serail nur der Padischah selbst sein!«

»Leider bin ich der Padischah nicht. Sonst gäbe es keine Sklavinnen mehr.«

»Wer bist du sonst? Ich habe dich vorhin nicht genau angesehen, ich war zu erregt, ich — ich — ich —«

»Ich habe mich als Eunuche verkleidet ins Serail geschlichen, um Ihnen, Madame Lefort, eine Mitteilung zu machen.«

»Unmöglich! Das ist noch keinem Manne gelungen! Oder du bist ein Eunuche.«

»Mein Hiersein ist der beste Beweis, daß es doch möglich ist, und schon meine Stimme muß Ihnen sagen, daß ich kein Eunuche bin.«

Schwer ging ihr Atem.

»Was haben Sie mir mitzuteilen?« flüsterte sie dann.

»Madame Lefort, sind Sie willens, das Serail zu verlassen?«

»Ja, ach ja,« seufzte sie, genau so wie vorhin in der Hypnose, nur daß jetzt schon ein unterdrücktes Jauchzen dazwischenklang.

»Ich kann Sie hinausbringen.«

»Herr, das ist furchtbar schwer — das ist noch keinem gelungen, und alle, alle, die es probiert, haben das Wagnis mit ihrem Haupte eingebüßt.«

Nobody wunderte sich, wie lebhaft dieses gebrechliche Weib mit den blöden Augen noch werden konnte. Er hätte sie jetzt gern einmal gesehen.

»Seien Sie versichert, daß ich es imstande bin. Ehe ich es aber tue, muß ich einige Fragen an Sie stellen.«

»O, befreien Sie mich — befreien Sie mich aus diesem fürchterlichen Serail — geben Sie mich der Welt zurück, und zeit meines Lebens will ich Ihnen auf meinen Knien danken!« rief sie mit einer Leidenschaft, deren Nobody dieses scheinbar so gebrochene Weib noch weniger für fähig gehalten hätte.

»Erst muß ich mich vergewissern, ob Sie auch würdig sind, wieder in der Außenwelt, welche völlige Freiheit gewährt, zu leben.«

»Was soll das heißen? Ich habe nichts verbrochen.«

»Vielleicht nichts, was Sie vor einem irdischen Richter bringen kann. Aber, Madam, Sie haben dennoch viel gesündigt.«

»Nicht daß ich wüßte.«

»Ich werde Ihrem Gedächtnis zu Hilfe kommen.«

»Tun Sie es.«

»Wenn ich Ihnen die Wahrheit sage, müssen Sie mir dieselbe auch zugeben.«

»Gewiß werde ich das.«

»Nun denn: Es ist jetzt sieben Jahre her, Sie hießen damals Madame Siccardi, waren erst einundzwanzig Jahre alt, aber bereits geschieden. Ihr Gatte, ein Finanzier aus Mailand, der Sie aus Liebe geheiratet, hatte Ihnen als Abfindungssumme eine halbe Million Francs bar ausgezahlt. Ihr Gatte war alt gewesen, ein Sonderling, und Sie waren lebenslustig, hatten extravagante Neigungen...«

»Sie selbst haben gesagt, daß Siceardi alt war, und ich sage Ihnen noch mehr, er war ein schwacher Greis, und ich war ihm ver...«

»Bitte, verteidigen Sie sich nicht, das haben Sie in diesem Falle ja auch gar nicht nötig. Ich wollte nur Ihrer Erinnerung zu Hilfe kommen. Also es stimmt alles?«

»Es stimmt.«

»Gut. Ob Sie in diesem Falle schuldig waren oder nicht, ist mir ganz gleichgültig. Mich interessiert etwas anderes. Sie gingen auf Reisen, Sie liebten den Sport, besonders die Jagd — Sie schlossen sich einer Gesellschaft von französischen Herren und Damen an, welche sich nach Kanada begab, um dort in den wildreichen Gebieten der Jagdlust zu frönen. Stimmt das?«

»O, und ob ich mich entsinne!« erklang es in stiller Seligkeit. »Was für eine herrliche Reise das war, mit dieser vornehmen Gesellschaft, in der auch das freieste Wort erlaubt war! Ach, wie ich mich damals köstlich amüsiert habe!«

»Ich hatte gehofft, die Erinnerung an jene Zeiten würde eine andere Sehnsucht in Ihnen erwecken,« sagte Nobody bitter.

»Welche?« fragte sie naiv.

Die junge Frau, dem Aussehen nach eine Greisin, schien noch eine Kinderseele zu besitzen, die nur von Kummer furchtbar niedergedrückt war, und diese Erkenntnis war es, welche Nobody, der im Grunde genommen ein so gefühlvolles Herz besaß, schnell wieder besänftigte.

»Nun, lassen Sie mich weitererzählen. Die unternehmungslustige Gesellschaft, mit allem wohlausgerüstet, daß auch die verwöhnteste Dame nichts zu vermissen brauchte, drang tief in das Innere Kanadas vor, bis in die wilden Tundren, die zu jener Jahreszeit aber ein liebliches, mit Blumen geschmücktes Bild boten. Man quartierte sich in einem Wigwamlager von Schwarzfußindianern ein, welche bei den Jagdausflügen, die man von hier aus machen wollte, als Führer dienen sollten. — Was haben Sie?«

In der Finsternis war ein schluchzender Laut erschollen. Weinte sie? Das wäre Nobody sehr lieb gewesen, aber es war nicht der Fall, gerade das Gegenteil.

»Ach, wieder solch eine Erinnerung — ach, diese herrliche Zeit, die ich damals erlebte!!«

Es hatte eher jauchzend geklungen, nur der Schmerz mischte sich bei, daß dies alles jetzt vorüber war.

»Ja, da erlebten Sie wieder solch ein Abenteuer, wie sie es ja liebten. Sie arrangierten es selbst. Nach sechs Wochen verließ die Gesellschaft das Indianerlager wieder, die Jagdleidenschaft war gestillt — nur Sie blieben.«

»Ja, mich erfüllte eine andere Leidenschaft, für einen jungen Indianer, er hieß — hieß — hieß...«

»Können Sie sich wirklich nicht einmal mehr seines Namens erinnern?«

»Wa — Wa.....«

»Wanitoba.«

»Richtig, Wanitoba! Todespfeil, wegen seiner unübertrefflichen Kunst im Bogenschießen so genannt. Ach, es war ein so hübscher Junge!«

Wunderbar! Nobody konnte sich die seufzende Greisin mit den blöden Augen gar nicht mehr vorstellen. Er sah im Geiste neben sich ganz deutlich eine junge, pikante, leichtfertige Französin sitzen. Was nur hatte diese rätselhafte Umwandlung plötzlich bewirkt?

»Wanitoba war sehr vernünftig. Selbst dieser Indianer, der noch keine Stadt gesehen hatte, fühlte instinktartig heraus, daß es nicht gut sei, sich mit solch einem Weibe einzulassen, das könne nur Unglück bringen, oder, wie er sich ausdrückte, das könne Manitou nicht gutheißen...«

»O, es war mir ein leichtes, ihm den Kopf zu verdrehen,« erklang es vergnügt.

»Aber Sie geben doch zu, daß er Ihren Liebeswerbungen erst Widerstand entgegengesetzt hat?«

»Ja, das hat er.«

»Gut, das wollte ich nur hören, und Sie haben ja schon selbst gesagt, daß Sie ihm den Kopf verdreht haben, also sind Sie es gewesen, die ihn verführt hat.«

»Wir sind sogar unters Büffelfell gekrochen,« erklang es wiederum im heitersten Tone, »was dort gleichbedeutend mit einer richtigen Heirat ist!«

»Jawohl, es war eine ganz richtige Trauung. Aber die eheliche Treue haben Sie ihrem Gatten nicht gehalten, Sie hatten ihn sogar bald genug überdrüssig, nur zwei Wochen dauerte das Eheglück, dann wandten Sie Ihre Neigung einem anderen zu.«

»Ich wollte nur einmal sehen, ob ein Indianer auch eifersüchtig werden kann.«

»So! Sie scheinen solche Menschenstudien mit Experimenten zu lieben.«

»Das habe ich immer,« lautete die mit der größten Offenheit gegebene Antwort. »In Mailand, als ich noch Siccardos Gattin war, habe ich einmal einen armen Gerichtsschreiber...«

»Schon gut, schon gut, ich interessiere mich nur für den einen Fall. Es war sogar Wanitobas leiblicher Bruder, den Sie verführten.«

»Ich wollte sehen, ob es auch unter Indianern vorkommt, daß ein Bruder den andern mit so etwas betrügt.«

»Und Sie brachten es wahrhaftig fertig! Ja, da geschah sogar etwas, was den Indianern eigentlich ganz unbekannt ist: Latenu entführte eine verheiratete Squaw, die Frau seines Bruders. Wie Sie ihn dazu bewogen haben, mit Ihnen davonzufliehen, ins Ungewisse hinein, das ist mir noch heute ein Rätsel! Sie müssen eine bezaubernde Hexe gewesen sein!«

»Ja, das war ich!« war die mit freudigem Stolze gegebene Antwort.

»Sie brauchen darauf nicht so stolz zu sein. Sie haben Jammer genug angerichtet. Wanitoba warf sich aufs Pferd, setzte dem treulosen Bruder und der noch treuloseren Frau nach, holte sie ein, als ein Erlahmen seines Pferdes ihm die Rache doch noch entgehen lassen wollte. Wissen Sie, was nun geschah?«

Jetzt kam doch einiger Eindruck. Nobody hörte, daß sie die Hände vors Gesicht schlug.

»O, es war gräßlich!« stöhnte sie. »Er erschoß seinen Bruder, ich sah ihn blutend vom Pferde stürzen — und ich kann kein Blut sehen.«

Dieser Nachsatz hatte natürlich alles wieder verdorben. Nobody kehrte sich nicht daran, nun wußte er schon, mit was für einem Charakter er es zu tun hatte, und Nobody nahm die Menschen immer, wie sie nun einmal sind.

»Ja, Wanitoba hatte seinen eigenen Bruder getötet, war zum Brudermörder geworden — Ihretwegen!«

»Das hatte ich nicht gewollt.«

»Wanitoba auch nicht,« kam es jetzt mit beißender, mit fürchterlicher Ironie aus Nobodys Munde.

»Was? Nicht? Er wollte nur das Pferd treffen?«

»Auch nicht. Sie wollte er töten!!!«

»Mich?!«

»Natürlich! Wanitoba hatte schon längst erkannt, daß er sich in einem Hexenbanne befand, sein Bruder war unschuldig, die verfluchte Zauberin mußte sterben! Er hatte nur ein Gewehr bei sich, in dessen Handhabung er nicht so gewandt war — hätte er Pfeil und Bogen bei sich gehabt, ein Pfeil hätte mit unfehlbarer Sicherheit Ihr Herz durchbohrt! Und die Brüder wären versöhnt zurückgeritten.«

»Welch ein Glück, daß er Pfeil und Bogen vergessen hatte!«

Nobody dachte sich sein Bestes zu diesem Ausrufe.

»Der Brudermörder wollte sich dem Richtsprüche unterwerfen. Doch nein! Erst die Rache! Wissen Sie, daß, während Sie in ganz Amerika herumabenteuerten, Wanitoba immer dicht auf Ihrer Spur war?«

»Wahrhaftig?!« erklang es zum Tode erschrocken.

»Wären Sie nicht immer so schnell gereist, sich nirgends aufhaltend, Sie wären der Rache nicht entgangen. Und der Schwarzfuß hat da etwas geleistet, was noch kein anderer Indianer geleistet hat! Wie die Rothaut, unbeleckt von aller Kultur, zum ersten Male sich unter zivilisierten Menschen bewegend, überall durchgekommen ist, dabei immer Ihre Spur findend — es ist mir ein Rätsel! Ich würde es nicht glauben, wenn ich nicht Beweise der Wahrheit hätte. Erst in Mexiko verlor er Ihre Spur, um sie nicht wiederzufinden.«

»Welch ein Glück, daß ich immer so schnell reiste! Und gerade in Mexiko hatte ich einen längeren Aufenthalt! O Gott, wenn er mich da gefunden hätte!«

Welch Unglück, daß er dich nicht gefunden hat, um dich wäre es nicht schade gewesen, dachte Nobody, und laut fuhr er fort:

»Ja, in einem kleinen Städtchen Mexikos wurden Sie eines Kindes entbunden.«

»Richtig, eines Knaben. Woher wissen Sie das alles nur?«

»Der Vater war Wanitoba.«

»Gewiß, und dennoch hatte das Kind ganz helle Haare, obgleich wir doch beide dunkel waren, der Vater sogar ein rothäutiger Indianer war. Und die Haut des Kindes war blütenweiß.«

»Dabei ist nichts Wunderbares, solche Naturspiele kommen oft genug vor. Sie übergaben das Kind einem Farmer, dem Sie als einmalige Abfindungssumme für Pflege und Erziehung, überhaupt für die Adoption, tausend Dollar zahlten.«

»Ich entsinne mich auf alles. Longworth hieß der Mann und sein Gut die Katzenfarm.«

»Es war nicht eben viel, was Sie für die Erziehung Ihres Kindes zahlten.«

»Wie man es nimmt. Meine Kasse ging stark auf die Neige, und für den kleinen Farmer bedeuteten die tausend Dollar ein Kapital, mit dem er sich eine ganze Herde Rinder kaufen wollte.«

»Sobald Sie nur das Bett verlassen konnten, reisten Sie weiter, und niemals wieder haben Sie sich um Ihr Kind gekümmert.«

»Gott — ich konnte es doch nicht mit mir herumschleppen — und schreiben — es konnte ja doch noch nicht lesen — und an den Farmer? — den hatte ich ja bezahlt — ich wußte doch auch nicht so genau seine Adresse — und eine Geldsendung hätte verloren gehen können — und ich hatte selbst um meine Existenz zu ringen — und — und — ich versichere Sie, daß ich mich auch gar nicht zur Mutter eigne.«

»Madam, diese Versicherung brauchen Sie mir nicht erst zu geben, das habe ich nämlich nun schon herausgehört.«

»Ich heiratete dann noch einmal, den Monsieur Lefort, aber ich habe mich gehütet, noch ein Kind zu bekommen. Ich hatte von dem einen gerade genug. Es war entsetzlich, ich schaudere, wenn ich daran zurückdenke.«

Nobody wippte mit der Fußspitze auf den Boden, daß es in dem engen Raume schallte. Es war seine einzige Aufwallung, seine sonore Stimme blieb ruhig und kühl.

»Dieses Kind lebt noch.«

»Wirklich?« erklang es im gleichmütigsten Tone.

Dann plötzlich erinnerte sie sich wieder, was ihr der geheimnisvolle Eunuche vorhin gesagt hatte, weswegen er doch hierhergekommen war.

»Ach, mein lieber, lieber Herr,« flehte sie, »befreien Sie mich doch aus diesem schrecklichen Serail, ich weiß ja, ich habe ein sehr, sehr liederliches Leben geführt, von nun an aber will ich immer...«

»Sparen Sie Ihre Gelübde! Nur ein einziges Versprechen muß ich Ihnen abnehmen.«

»Welches?«

»Daß Sie den jetzt fünfjährigen Wolf — so heißt der Knabe — adoptieren und...«

»Aber selbstverständlich!! Ich will ihn ganz zu mir nehmen, ihm die liebevollste Mutter sein!«

»Nein, o nein! Lieber nicht! Des Knaben nehme ich mich fernerhin an. Sie sollen ihn nur als Ihren Universalerben einsetzen, mich als seinen Vormund anerkennen, und zwar bekommt er sofort die Hälfte der Zinsen eines eventuell vorhandenen Vermögens, über deren Verwendung ich zu bestimmen habe, über die andere Hälfte der Zinsen können Sie verfügen — doch nicht über das Kapital. Sie stellen sich sofort und freiwillig unter Kuratel. Und falls Wolf vor seiner Mündigkeit stirbt, bin ich der Universalerbe.«

»Ach, mein lieber Herr, Sie befinden sich wohl in einem großen Irrtum. Ich bin nicht reich.«

»Nein, bettelarm sind Sie. Sie hatten mit dem Monsieur Lefort eine sehr reiche Partie gemacht, aber dessen Geld haben Sie ja auch wieder schnellstens verpulvert. Sie kamen nach Konstantinopel, um sich aufs neue in gewinnbringende Abenteuer einzulassen. Ein Abenteuer haben Sie ja auch erlebt, nur kein gewinnbringendes — Sie wanderten ins Serail. Es könnte aber doch sein, daß Sie noch einmal zu Geld kommen. Sind Sie mit meinen Bedingungen einverstanden, unter denen ich Sie befreien werde?«

Er wiederholte alles noch einmal, klar und präzis.

»Wir machen hierüber keinen schriftlichen Kontrakt. Auch ein solcher kann umgangen und gebrochen werden. Für mich gilt allein das Wort. Geben Sie mir Ihren Handschlag.«

Sie gab ihm nicht nur die Hand, sondern jauchzend fiel sie ihm gleich um den Hals und küßte ihn ab.

Nobody konnte sich unmöglich noch das greisenhafte Weib mit dem schneeweißen Haar vorstellen. Ihre Hand, die nur gewaschen hatte, war warm und weich — nur etwas dürr, wie der ganze Körper. Aber nun diese Leidenschaftlichkeit! Sie saß bereits auf seinem Schoß und wollte ihn mit Küssen ersticken, schlang ihre Glieder um die seinen — Nobody mußte sich ihrer mit Gewalt erwehren.

»Lassen Sie uns besprechen, wie die Flucht zu ermöglichen ist.«

Das ernüchterte sie sofort.

»Wissen Sie das noch nicht?« erklang es kleinlaut.

»Ich habe verschiedene Pläne. Ich denke, Sie sind eine sehr gute Schauspielerin.«

»Ich bin sogar an mehreren Bühnen aufgetreten.«

»Desto besser. Dann wird es Ihnen ein leichtes sein, auch die Rolle einer Wahnsinnigen zu spielen.«

Ein Ruf der Enttäuschung erscholl.

»O, so stellen Sie sich das vor? Sie denken, weil ein Muschlin von den Türken hochgeehrt wird und er allerhand Freiheiten genießt, auch hier frei herumlaufen darf, daß er auf diese Weise einmal durchschlüpfen könnte? Herr, was meinen Sie wohl, wieviele Männer und Frauen das schon probiert, sich wahnsinnig gestellt haben! Noch keinem ist es gelungen, noch jedem ist der künstliche Wahnsinn mit der Peitsche ausgetrieben worden!«

»Wieso? Einer intelligenten, phantasievollen Person mit nur etwas Schauspielertalent ist es doch nicht allzu schwer, mit überzeugender Wahrheit den Wahnsinnigen zu spielen. Betreffs des Wahnsinns gibt es noch keine Diagnose, da wird auch jeder Spezialarzt getäuscht.«

»Aber nicht hier! Der Wahnsinnige kommt vor den Basch-Kiatibi, und der erkennt auf den ersten Blick, ob der Wahnsinn echt oder simuliert ist.«

»Das entscheidet der Astrolog, nicht der Arzt?«

»Ich sehe, daß Sie mit den türkischen Verhältnissen noch ganz unbekannt sind, so gut Sie auch Türkisch sprechen,« erklang es niedergeschlagen. »Und da wollen Sie mich von hier entführen? O, Herr, wo denken Sie hin! Wahnsinn ist bei den Türken keine Krankheit, sondern Zauberei, etwas Göttliches oder wie man es sonst nennen mag. Kurz, die Person, bei der sich Irrsinn bemerkbar macht, kommt zur Untersuchung vor den Sterndeuter, der zugleich selbst ein Zauberer ist, obgleich er es eigentlich gar nicht sein darf. Und unser Basch-Kiatibi hat dafür einen Blick! — Ich habe einen Fall erlebt. Ich hatte eine Freundin. Auch sie stellte sich, um Gelegenheit zur Flucht zu bekommen, wahnsinnig. Sie wollte am Verfolgungswahn leiden: und sie simulierte in einer Weise, daß ich selbst sie für irrsinnig hielt, obgleich sie mir doch ihr Vorhaben offenbart hatte. Sie wurde vor den Basch-Kiatibi gebracht. Nur einen einzigen Blick ins Auge: ›Simulantin! Die Peitsche!‹ Meine Freundin war ein furchtbar energischer Charakter; sie gab ihre Simulation nicht zu, als Wahnsinnige starb sie lachend unter der Peitsche. Sie wäre ja sowieso getötet worden, nicht minder qualvoll; die Simulation des Wahnsinns, der heilig gehalten wird, gilt als religiöses Verbrechen, der Frevler wird nicht nur, wie bei einem einfachen Fluchtversuch, und sei dieser auch noch so intrigant ausgeführt, wenn es auch über Leichen hinweggegangen war, geköpft, sondern er wird langsam zu Tode gefoltert. Der Padischah selbst machte damals den Basch-Kiatibi die heftigsten Vorwürfe, er habe eine heilige Muschlin totpeitschen lassen — aber der Sterndeuter hatte ganz recht, es war doch nur eine Simulation, ich wußte es, nur ich. Und solch einer Gefahr soll ich mich aussetzen? Es ist überhaupt eine Unmöglichkeit!«

»Wenn ich aber nun mit dem Basch-Kiatibi ein Wörtchen spreche?«

»Sie kennen ihn?«

»Er ist sogar mein guter Freund.«

Dem war natürlich nicht so. Nobody hatte den Astrologen im Serail noch gar nicht gesehen. Aber er hielt diese Angabe für das Beste, um bei der Frau jedes Bedenken zu zerstreuen, und diese begriff denn auch, daß dies etwas ganz anderes war, dann mußte mit Hilfe des Wahnsinns auch eine Flucht gelingen, zumal wenn auch hierbei der als Zauberer allmächtige Astrolog mit im Bunde war, und wiederum hatte Nobody genug damit zu tun, sich der zärtlichen Liebkosungen des schon jetzt rasend werdenden Weibes zu erwehren.

Sie selbst wurde daran erinnert, daß sie nicht mehr die frühere war, daß sie noch in die Waschküche des Serails gehörte.

»Ach, meine Füße, meine Füße!« jammerte sie plötzlich. »Ach, was für Schmerzen ich habe!«

»Und wenn Sie mit mir fliehen wollen, müssen Sie gar gesunde, schnelle Füße haben. Machen Sie von der Erlaubnis, die Ihnen der Kislar gab, ausgiebigen Gebrauch, begeben Sie sich in Ihre Kawansi und in die Behandlung des Arztes, legen Sie sich hin. Das ist nichts weiter als Rheumatismus in den Sohlen, erzeugt in der immer nassen Waschküche, da hilft allein trockene Wärme.«

Am liebsten hätte sie ja das Serail sofort verlassen. Nobody wußte ihr Geduld einzureden, sobald es so weit sei, würde er sich ihr nähern, in den nächsten Tagen, vielleicht morgen schon, nur müsse er erst noch einmal mit dem Basch-Kiatibi alles besprechen.

Dann ließ er den Blendstrahl seiner Laterne aufflammen und in ihr Gesicht fallen, mit einem Blick war sie hypnotisiert.

Vorsichtig lauschte er, ehe er die Tür öffnete und sie hinausbugsierte.

Wirklich, es war ein altes, dürres Weib mit weißen Haaren! Aber die Augen waren plötzlich ganz andere geworden, der blöde, starre Ausdruck fehlte, selbst jetzt in der Hypnose, die schwarzen Augen funkelten wie glühende Kohlen.

»Hm, diese Umwandlung dürfte auffallen,« dachte Nobody. »Na, es ist eben ein rheumatisches Fieber.«

Er führte sie wieder die kleine Seitentreppe hinab, lauschte, schob sie schnell hinaus, ein »Erwache!« — und sie glaubte nicht anders, als sie sei hier in irgendeiner Kammer der dritten Etage gewesen, wo sie das alles erlebt hatte, und die Erinnerung war eine vollkommene.

Sie setzte ihren Weg nach der Kawansi fort. Nobody hatte sie erst unsichtbar begleiten wollen, wurde aber durch den Anblick einer Person daran gehindert.

Durch einen Kreuzgang kam schnellen Schrittes ein Mann daher, welcher sich in diesem Serail, wo überall die alte, echte türkische Sitte gewahrt wurde, besonders auch in der Kleidung, seltsam genug ausnahm.

Er trug nämlich eine moderne Uniform nach europäischem Muster, und zwar, den breiten, roten Streifen an den Beinkleidern nach zu urteilen, die eines Generals, mit schwerem Schleppsäbel, auf der Brust einen funkelnden Ordensstern: der Fes war das einzige Orientalische an ihm — und dann vielleicht noch das brünette Gesicht, edel und kühn, zu der hohen, kräftigen Mannesgestalt passend.

»Sultan Abdul Medschid!« fuhr es durch Nobodys Kopf.

»Der Padischah!« flüsterte das Weib erschrocken und warf sich sofort auf die Knie nieder, mit der Stirn den Boden berührend, obgleich der Sultan gar nicht an ihr vorüberkam, er war gleich im nächsten Korridor verschwunden.


Illustration

Und der unsichtbare Geist hinter ihm her! Vergebens hatte Nobody gestern und auch schon heute versucht, Eintritt in die Zimmerfluchten der ersten Etage zu gewinnen, welche der Sultan, wenn er sich hier aufhielt, mit seiner Mutter und mit einer oder mehreren Kadinen, die dann aus ihren Palästen hierherbefohlen wurden, bewohnte.

Es hatte nie glücken wollen, keine Tür war so weit geöffnet worden, daß Nobody mit hineinschlüpfen konnte, und er hätte doch so gern den Beherrscher aller Gläubigen, über dessen Charakter damals die sich widersprechendsten Gerüchte zirkulierten, einmal in seiner intimsten Häuslichkeit beobachtet.

Jetzt wissen wir, wer und was Sultan Abdul Medschid gewesen ist. Er war ein offener, ritterlicher Charakter, ein Soldat vom Scheitel bis zur Sohle, und dabei ein gar kluger Kopf, der sich alle praktischen Neuerungen zunutze machte. Wenn es nach ihm gegangen wäre, er hätte die ganze Türkei modernisiert, z.B. auch die Haremswirtschaft abgeschafft.

Trotzdem aber teilte er mit seinen Türken alle Schwächen. Bei einer Krankheit vertraute er sich lieber seinem Sterndeuter als einem Arzte an, das sagt schon genug. Er war ein kluger, aber kein aufgeklärter Kopf. Vor allen Dingen konnte er sich nie von dem bösen Einflüsse befreien, den seine Mutter auf ihn ausübte, eine Mohammedanerin vom strengsten... nicht Glauben, sondern Aberglauben, obgleich sie ursprünglich eine Christin gewesen war.

Die stärkste Triebfeder zu Abduls Handlungen war immer das Bewußtsein, ein europäischer Fürst zu sein, daß von ihm in den Zeitungen aller Kulturvölker der Erde berichtet wurde, und er wollte sich in den Augen seiner fürstlichen Brüder, der Regenten Europas, wie in denen der ganzen Welt, welche Zeitungen lesen, nicht lächerlich machen. Sobald er aber einen ernstlichen Anlauf nahm, in neue Bahnen zu lenken — etwa wie der jetzige Vizekönig von Ägypten, der auch nur eine einzige Frau hat, keinen Harem unterhält, und das ist ja auch nicht etwa religiöse Vorschrift, sondern nur Tradition, der Prophet hat die Vielweiberei nur erlaubt, weil der alte Mohammed selbst sehr fürs schönere Geschlecht eingenommen war — da wußte ihm die Sultan-Walide stets einen Riegel vorzuschieben.

An der Organisation der Armee nach europäischem Muster konnte sie ja nichts mehr ändern, das war bereits von einem Vorgänger ein für allemal dnrchgeführt worden. Aber nur mit Mühe und Not hatte Sultan Abdul der Mutter, die erst recht im Serail unumschränkte Herrscherin ist, die Erlaubnis abgerungen, daß er auch hier die Uniform tragen durfte, nicht im türkischen Schlafrock mit den Babuschen herumlaufen mußte.

Hierdurch ist der Charakter des damaligen Beherrschers aller Gläubigen wohl zur Genüge gekennzeichnet. —

Wie konnte der Padischah wagen, so allein durch die Korridore zu schreiten, ohne die übliche Wache von Eunuchen? Auch wieder eine Neuerung von ihm. Oder da war wohl die Frau Mama nicht zu Hause.

Gleichgültig, Nobody blieb ihm auf den Fersen. Jetzt kam es darauf an, jetzt konnte sich ihm eine Gelegenheit bieten, mit in die intimsten Gemächer zu schlüpfen.

Die Korridore wurden belebter, links und rechts warfen sich Beamte, Diener und Weiber vor dem Vorübergehenden nieder und küßten den Boden; der Sultan erwiderte die Ehrfurchtsbezeugungen mit militärischem Gruße, hatte fast immer die Hand am Fes.

So eilte er leichtfüßig auch zwei Treppen hinab, wieder durch einen langen, teppichbelegten Gang, hier aber mit einem ganz anderen Teppich belegt, und dann trat zum ersten Male die Erscheinung auf, daß eine große Tür, welche den Korridor abschloß, von zwei bis an die Zähne bewaffneten Eunuchen bewacht wurde.

Auch hier war Nobody gestern und heute schon gewesen, es waren Männer und Weiber aus- und eingegangen, aber in der größeren Tür war noch eine kleine eingelassen, und immer war diese von einem Eunuchen nur so weit geöffnet worden, daß die betreffende Person eben durchschlüpfen, der unsichtbare Geist unmöglich mit hinein konnte, wollte er sich nicht als handgreiflicher Spuk verraten.

Seine Hoffnung erfüllte sich. Vor dem Padischah wurden beide Flügeltüren so weit aufgerissen, wie sie sich in den Angeln drehten, und als sie sich wieder schlossen, befand sich auch Nobody hinter ihnen, im Allerheiligsten des heiligen Serails.

Auch in die Schwelle dieser Tür war ein goldener Draht in Zickzacklinie eingelegt, ein ›Tfakassi‹.

Schwere Teppiche, Portieren, Polster und Kissen, Mangel an Licht und Luft, statt dessen dicke Wachskerzen, Moschus und Patschuli — das war der erste Eindruck, den Nobody empfing, den wurde er auch nicht wieder los. Eine nähere Beschreibung dieser kaiserlichen Wohnräume gibt er gar nicht in seinem Tagebuche.

Etwas anderes fesselte gleich seine Aufmerksamkeit. Eine kleine, in brennendes Rot gekleidete Gestalt trat dem Padischah entgegen. Es war ein Zwerg, sonst nicht mißgestaltet, nicht mehr jung, blind. Das erkannte man auf den ersten Blick, wenn man ihm ins Gesicht sah. Er war des Augenlichtes auf mechanische Weise beraubt worden, d.h., die Augen waren ihm ausgestochen, obgleich hiermit nicht gesagt werden soll, daß dies mit Absicht geschehen war, es konnte auch ein Unglück gewesen sein — so ungefähr wie die berühmte Hulda, die Heldin in Mojans niedergeschriebenem Roman, die sich beim Essen ›aus Versehen‹ mit einer zweizackigen Gabel beide Augen ausstach.

»Rott — allein!« sagte der Padischah.

Der Zwerg verbeugte sich mit auf der Brust verschränkten Armen, wandte sich um und... und nun geschah etwas Seltsames! Der Blinde führte den Sehenden! Wirklich, so war es!

Hier gab es keine Türen mehr, die einzelnen Gemächer wurden durch langherabhängende, faltenschlagende Portieren voneinander getrennt, manchmal wurde die Wand überhaupt nur von einem Teppich gebildet, der als Tür einen Schlitz hatte, und nun lief der blinde Zwerg immer voraus und schlug vor dem Padischah die Portiere zurück, wartete, bis dieser hindurchgegangen war, überholte ihn wieder und öffnete ihm den nächsten Durchgang, und die Passagen hatten nicht etwa immer genau dieselbe Lage, auch hier war alles so winklig gebaut wie das ganze Haus, die größten Säle wechselten mit den kleinsten Boudoirs, dann kamen wieder scharfe Ecken, und nie brauchte die Hand des Zwerges erst zu tasten, wie ein Wiesel eilte er stets auf die nächste Portiere zu und hatte mit sicherem Griff eine Falte gefaßt.

Nobody begann zu zweifeln, daß der Kleine wirklich blind war. Er bekam das runzlige Gesicht noch einmal in nächster Nähe zu sehen, und er mußte seinen Zweifel wieder fallen lassen. Von Augapfel war gar nichts mehr vorhanden.

Dann gab es nur eine Erklärung: Der Zwerg war hier aufgewachsen, hatte ein ganzes Menschenalter hier verbracht, sich mit nichts anderem beschäftigt, als nur immer die Portieren auf- und zugemacht, und das besorgte er allein, er ganz allein, kein anderer Mensch faßte hier auch nur eine der Portieren an, und das Gedächtnis und das Gefühl des Blinden war so fein geworden, daß er jedesmal genau wußte, wie die Falten jeder einzelnen Portiere lagen, wenigstens dort, wo er sie zuletzt angefaßt hatte, mit sicherem Griffe faßte er dort wieder zu, und Nobody zweifelte nicht, daß der Blinde sofort gemerkt hätte, wenn eine der Portieren von einer fremden Hand zurückgeschlagen worden war.

Und Nobody sollte erfahren, daß sich die Sinne dieses roten Wiesels in noch etwas anderem konzentrierten, als nur im Gefühl der Hand.

Plötzlich, als der Padischah einen größeren Saal durchschritt, blieb der vor ihm herlaufende Zwerg stehen, wandte sich um und breitete beide Arme aus, als wolle er seinen Gebieter am Weitergehen hindern. Dessen Fuß stockte denn auch.

»Was willst du, Balu?«

»Du sagtest doch, du wärest allein,« krähte die dünne Stimme des Kleinen; besondere Titel bei der Anrede kennen die Türken für gewöhnlich nicht, während sie sich bei anderen Gelegenheiten in Titeln und Schmeicheleien erschöpfen.

»Das bin ich auch.«

»Nein, du bist nicht allein!«

»Gewiß bin ich allein!«

»Ich höre einen zweiten Schritt, es folgt dir jemand.«

Der Sultan schaute sich fragend um, und nicht etwa verwundert, sondern sein sonst so energisches, kühnes Gesicht drückte offenkundige Scheu, Furcht aus, was zu der Generalsuniform mit dem Schleppsäbel nun freilich gar nicht stehen wollte.

Europäische Möbel wie Tische und Stühle fehlten hier gänzlich, dagegen waren zahlreiche Wandspiegel vorhanden, und in endlosen Wiederholungen sah der gespenstergläubige Sultan nur sein eigenes Bild, wie er sich mit solch ängstlichem Gesicht so scheu umblickte, nach einem Geist, der ihm folgen könne.

Doch schnell war die Anwandlung von Furcht vorbei. Er lächelte ungekünstelt.

»Du irrst, Balu, ich bin allein! Dein Ohr hat sich diesmal getäuscht.«

Der Zwerg schüttelte nur den Kopf, dann nahm er seine Führung wieder auf.

Nobody war gewarnt! Auf den dicken Teppichen hörte er nicht einmal den Schritt des stark-auftretenden Sultans — der Blinde hatte doch etwas erlauscht! Aber ganz gewiß mußte er sich seiner Sache doch nicht gewesen sein, er glaubte der Versicherung des Sultans, allein zu sein, denn nach wie vor schlug er die Portieren so weit wie möglich zurück, mit einer mechanischen, gewohnheitsmäßigen Bewegung — zum Glück für Nobody! — was er wohl nicht getan hätte, wenn er an einen heimlichen Verfolger geglaubt.

Und Nobody begann jetzt auf den Zehenspitzen zu schleichen, sorgsam darauf achtend, daß sein Fuß auch nicht in zwei verschnürte Fransen des Teppichs geriet, weil da beim Zerreißen ein leichtes Geräusch entstehen konnte, auch hielt er mit einem Vorgänger jetzt immer gleichen Schritt.

»Würdest du auch so weit und höflich öffnen, Balu, wenn nun ein Geist hinter mir wäre?« fragte der Sultan scherzend, als der Zwerg wieder eine Portiere so weit zurückriß.

»Wie könnte ich, o, Padischah, ihn aufhalten?« lautete die Antwort. »Ein Geist geht durch einen Teppich ebenso leicht, wie durch meinen vorgestreckten Arm. Doch das Tfakassi vor der Tür schützt uns ja vor dem Besuch von Geistern.«

»Es gibt überhaupt gar keine Geister!« sagte der Sultan jetzt streng. »Allah duldet keine Spukgeister, und der Prophet verbietet uns, an solche zu glauben. Ich werde die törichte Zickzacklinie demnächst von der Schwelle entfernen lassen.«

Aber mit der Strenge schien es dem Sprecher ebensowenig Ernst zu sein, wie vorhin mit der scherzenden Frage, es klang alles gar zu erkünstelt, und schon wieder warf der General mit dem Schleppsäbel einen furchtsamen Blick hinter sich. Nein, der wischte das ›Geisterabführmittel‹ nicht von der Schwelle weg, das hätte doch auch die Frau Mama gar nicht geduldet! Alles desto besser für Nobody.

Der Sultan blieb vor einem Wandspiegel stehen, zupfte an seiner Uniform, brachte eine kleine Bürste zum Vorschein, nahm den Fes ab, bürstete sich Haupthaar und Bart. Sein selbstgefälliges Gesicht zeigte, daß er zufrieden war mit seiner äußeren Erscheinung.

Dann ging er, den steifen Fes wie einen Helm im Arm, schnellen, militärischen Schrittes auf die nächste Portiere zu, an welcher der blinde Zwerg, dessen Auge im Gehör lag, wartend stand, schon einen Zipfel in der Hand, den Teppich aber erst in dem Augenblick zurückschlagend, da der Sultan ihn mit lautlosem Schritte erreicht hatte.

Nobody hatte eine Ungeschicklichkeit begangen. Er hatte den sich im Spiegel musternden Sultan beobachtet, dann hatte dieser plötzlich einen so schnellen Schritt angeschlagen, Nobody war ihm nicht gleich auf den Fersen gefolgt — es war ihm diesmal nicht gelungen, mit jenem hineinzuschlüpfen.

Es hatte wenig zu sagen. Der Zwerg eilte gleich wieder zurück, verließ das Gemach. So konnte Nobody dicht an der Portiere stehen bleiben und lauschen. Eine Spalte, durch die er hätte spähen können, zeigte sich allerdings nirgends, aber er hatte vorhin, als die Portiere weit zurückgeschlagen wurde, einen genügenden Einblick in das kleine Boudoir erhalten.

Auf einigen übereinandergelegten Kissen hatte ein orientalisch gekleidetes Weib gesessen, eine Negerin — keine andere als Theodora, die Fadinah von Godscham!

So fand also doch schon eine Begegnung mit dem Sultan statt, selbstverständlich arrangiert von der Sultan-Walide! Denn es ist doch nicht so, daß der Sultan so nach Belieben unter den Frauen oder vielmehr Jungfrauen auswählen darf, die Walide tut das, sie führt dem Sohne die Weiber zu, er muß sich damit zufrieden geben, obgleich seine Wünsche berücksichtigt werden mögen. Keine Ausnahme aber soll es in der Nacht des Beiram-Festes geben, in welcher Allah besonders gnädig gestimmt ist, da führt die Mutter dem Sohne eine besonders ausgesuchte Jungfrau zu, und das ganze türkische Volk betet in dieser Nacht, daß es ein Sohn werden möchte, weil der in dieser Nacht Erzeugte ein echter Prinz wird, vielleicht dazu bestimmt, dereinst die Geschicke des Reiches zu lenken. Denn einen Kronprinzen gibt es in der Türkei nicht, der Sultan wählt unter den in der Beiram-Nacht erzeugten Söhnen seinen Nachfolger aus.

Man kann sich denken, was für Intrigen wegen dieser Thronfolge, da jeder Prinz eine andere Mutter hat, unter den Weibern vorkommen mögen, was für eine Rolle deshalb das Gift im Serail spielt!

Daß sich auch die Sultan-Walide oder sonst noch jemand in dem Boudoir befinde, glaubte Nobody nicht. Wie alles im Serail, ist auch solch eine erste Begegnung an strenge Zeremonien gebunden.

Jetzt klappte es drinnen. Offenbar hatte der Sultan die Hacken zusammengeschlagen.

»Pardon, Mademoiselle Prinzeß, ich bitte tausendmal um Entschuldigung, aber ich mußte wirklich der Meldung nachkommen. Bitte, behalten Sie doch Platz — ich bitte sehr darum. Jetzt stehe ich wieder ganz zu Ihrer Verfügung. Ihre Erzählung interessiert mich außerordentlich. Bitte, fahren Sie fort!«

Also der Sultan war schon einmal hier gewesen, er hatte sich nur einmal entfernt, war geholt worden, bis zur dritten Etage hatte er sich hinaufbegeben.

Nobody hatte sich die erste Begegnung zwischen dem Sultan und einer Sklavin, welche die Walide für ihn bestimmt hatte, anders vorgestellt. Aber es war eben der Sultan Abdul Medschid, welcher durchaus modern sein wollte. Er wußte, daß er eine Prinzessin vor sich habe, wenn auch eine schwarze, er hatte bemerkt, daß sie Französisch sprach, also eine ganz andere Sklavin, als sonst im Serail üblich, und hiernach kam er ihr entgegen, als Kavalier, sogar der Negerin.

Auf Nobody machte das einen großen Eindruck, das gefiel ihm an dem Beherrscher aller Gläubigen. Ob die Frau Mama mit so etwas einverstanden, das war eine andere Frage.

Doch die Abessinierin fuhr in ihrer Erzählung nicht fort.

»Weshalb traten Sie die Reise eigentlich inkognito an?« kam ihr der Sultan zu Hilfe.

»Ich — ich — wollte England besuchen.«

»Und wollten als abessinische Prinzessin nicht erkannt sein, um nicht belästigt zu werden. Ich verstehe, ich verstehe. Ja, wir gekrönten Häupter haben manchmal große Unannehmlichkeiten. Hatten Prinzeß vor, ganz Europa zu besichtigen?«.

War das eine Unterhaltung, welche der ersten Begegnung zwischen einem Haremsweib und ihrem Gebieter entsprach, der nur ihr Fleisch und ihre Glieder gekauft hatte?

Die Abessinierin mußte das Unnatürliche der ganzen Sache herausfinden. Der Sultan wollte durch solch ein Gespräch ihre Gedanken nur von der Hauptsache ablenken.

»Majestät,« begann Theodora jetzt mit ganz anderer, mit gepreßter Stimme, »ich bitte Sie flehentlichst darum — geben Sie mir Klarheit über meine Zukunft!«

»O, Sie befinden sich doch in einer ganz angenehmen Lage. Apropos, als die Piraten das italienische Kauffahrteischiff, auf dem Sie sich als Passagier befanden, angriffen...«

»Weichen Sie mir doch nicht aus!! Sie haben es schon immer und immer getan, jetzt kann ich es nicht mehr aushalten, ich muß wissen, woran ich bin! Wird man mir die Freiheit wiedergeben?«

»Sie werden Ihre Freiheit hier gar nicht vermissen...«

»Majestät, nun zum letzten Male — wenn Sie ein Mann sind, so geben Sie mir Antwort: werde ich aus dem Serail wieder entlassen?«

Nobody hatte langsam, ganz langsam den Vorhang etwas zurückgeschlagen. Er sah den Sultan stehen, das Haupt tief gesenkt, mit der Säbelscheide Figuren auf den Teppich malend, nervös an seinem lang herabhängenden Schnurrbart kauend.

Endlich schlug er die Augen auf, und wahrhaft schmerzlich erklang es:

»O, Prinzeß, warum haben Sie nicht dem ersten Sklavenhändler, nicht gleich den arabischen Piraten gesagt, wer Sie sind! Dies alles wäre Ihnen erspart geblieben, Sie wären gar nicht nach Konstantinopel gekommen, die Piraten hätten Sie sofort, in der Hoffnung auf ein enormes Lösegeld...«

Wiederum wurde er unterbrochen. Theodora, welche Nobody durch die schmale Spalte nicht sehen konnte, wollte kein ›Wenn‹ und ›Aber‹ hören, war auch nicht mit solch einem schmerzlichen Beileid zufrieden.

»Majestät, wenn Sie ein Fürst sind, der würdig ist, die schwere Waffe an der Seite zu tragen, so antworten Sie mir mit einem offenen Ja oder Nein — wird man mich aus dem Serail als freier Mensch wieder entlassen?«

Da raffte sich Sultan Abdul Medschid aus seiner niedergeschlagenen Stellung empor, sein offener, männlicher Charakter siegte über die Verlegenheit.

»Nein!!«

»Gut! — Gut!!« kam es dann abgerissen hervor. »Ich — ich — danke Ihnen — für Ihre Offenheit.«

»Ja, wenn Sie aus einem Fürstenhause stammten...«

»Ich bin eine abessinische Fürstin, eine selbständige, nur dem Negus tributpflichtig.«

»Eine europäische meine ich.«

»So zählen Sie das abessinische Kaiserreich nicht für voll?«

»Ganz offen: nein. Das sind politische Ansichten, für welche ich nicht verant...«

»Gut! Gut!!«

»Oder wenn Sie auch nur die Tochter irgendeines europäischen oder amerikanischen Untertanen wären, der Sie reklamierte! So aber...«

»Majestät, lassen Sie Ihr Wenn und Ihr Aber! Jetzt weiß ich, woran ich bin — gut!«

»Oder wenn Sie die Braut eines Europäers wären — wenn nur irgend jemand in Europa oder überhaupt in einem zivilisierten Staate für Ihr Verschwinden ein besonderes Interesse hätte...«

Ein eigentümlicher Laut unterbrach ihn. Theodora hatte ihn ausgestoßen.

»Dann würde mir sofort die Freiheit gegeben?«

»Nicht sofort — der Betreffende müßte Sie natürlich erst reklamieren.«

»Nun denn: ich bin verlobt!«

Auf den Sultan machte dieses Geständnis sehr wenig Eindruck.

»Mit wem?«

»Mit einem Edelmann, mit einem zukünftigen Fürsten.«

»Mit einem Abessinier?«

»Mit einem Engländer.«

Jetzt machte der Sultan doch ein sehr verblüfftes Gesicht, dann malte sich etwas wie Hoffnungsfreudigkeit darin, zuletzt wurde es ein ungläubiges.

Nicht minder überrascht war Nobody. Wie, diese Abessinierin wollte mit einem englischen Fürsten verlobt sein? Dann war doch jedenfalls Politik dabei, und da hätte Nobody doch auch etwas davon wissen müssen.

»Was für ein englischer Fürst ist das?«

»Sir Alfred Willcox, Baronet von Kent,« lautete die mit Stolz gegebene Antwort.

Oho!! Es läßt sich denken, wie Nobody bei diesen Worten aufhorchte. Was, er sollte mit der Abessinierin verlobt sein? Davon wußte er ja noch gar nichts! Und zu einer Verlobung gehören doch gewöhnlich zwei.

»Ich kenne diesen Sir Willcox nicht. In England gibt es gar zu viele Barone. Und ein zukünftiger Fürst soll er sein?«

»Der zukünftige Herzog von Kent.«

»Mir ebenfalls unbekannt. Nun, wenn Sie die Braut eines so hochstehenden Edelmannes sind, dann ist ja die größte Hoffnung vorhanden, daß Sie auch aus dem Serail wieder herauskommen. Das hätten Sie übrigens gleich sagen sollen, dann wurden Sie auch ganz anders behandelt. Nur ist mir vieles noch nicht klar. Sie müssen reklamiert werden. Ist denn dem Baron bekannt, daß Sie sich auf der Reise nach England befanden? Mir scheint dem nämlich nicht so.«

»Nein, Sir Alfred Willcox weiß auch nichts davon.«

»Sie wollten Ihren Bräutigam mit Ihrer Ankunft überraschen?«

»Ja.«

»Mademoiselle Prinzeß, da haben Sie wiederum einen großen Fehler begangen. Gesetzt den Fall, dieser englische Baron erfährt jetzt, daß Sie...«

»Sparen Sie Ihre Worte,« wurde der Sultan mit stolzer Stimme unterbrochen. »Ist Ihnen vielleicht der Name Nobody bekannt?«

»Ja, von diesem berühmten Detektiven habe ich schon genug gelesen und gehört. Ich hatte erst vor einigen Tagen die Absicht, ihn hierherkommen zu lassen, ich hätte einen Auftrag für ihn.«

»Hahahaha,« lachte es verächtlich, und der Sultan machte ein etwas dummes Gesicht.

»Was belieben Mademoiselle Prinzeß deshalb zu lachen?«

»Sie wollten Nobody hierherkommen lassen?«

»Ja, in einer ganz besonderen Angelegenheit. Weshalb nicht? Er ist doch ein Privatdetektiv. Und ich hätte ihn sehr gut bezahlt.«

»Hahahaha!«

Der moderne Sultan verlor seine angeborene Höflichkeit Damen gegenüber noch nicht.

»Aber ich bitte Sie, Mademoiselle Prinzeß, was finden Sie dabei so lächerlich?«

»Haben Sie schon von einem Champion der englischen Königin gehört?«

»Daß die englische Majestät stets einen Champion besitzt, der bei Gelegenheit ihre Ehre verteidigen muß, weiß ich. Wir haben hier eine ganz ähnliche Einrichtung — einen Suleidan, der sich in der Schlacht stets neben dem Sultan aufhält, um ihn zu beschützen.«

»Nun denn: dieser Sir Alfred Willcox ist der Champion der englischen Königin, und er ist zugleich Privatdetektiv, welcher als solcher den Namen Nobody führt — und ich — ich — bin — dieses Nobodys — Sabana!!!«

Mit möglichstem Stolze, triumphierend hatte sie es gerufen.

Aha, jetzt wußte Nobody, mit welchem Rechte sie ihn ihren Bräutigam nannte. Da war sie aber nun freilich mit ihrem Rechte im Irrtum.

Und der Sultan machte allerdings ein höchst überraschtes Gesicht.

»Wie? Sie sind — Sie sind...«

»Dieser berühmte Detektiv ist mein Saban!«

»Ihr Bräutigam?«

»Noch mehr, mein Saban, sage ich, und ich bin seine Sabana.«

»Was ist das, Saban?«

»Mein — mein Gemahl. Ich bin Fürstin, durch eine Heirat mit mir kann er aber noch nicht abessinischer Fürst werden.«

»Also Prinzgemahl.«

»Ja, Prinzgemahl.«

»Und Sie sind mit diesem Nobody schon verheiratet? Ich denke, nur verlobt?«

»Noch nicht verheiratet und mehr als verlobt. Es ist dies in meiner Heimat ein besonderes Verhältnis. Ein gegenseitiges Versprechen, welches unter keinen Umständen rückgängig gemacht werden kann. Nur der Tod kann dazwischentreten. Saban und Sabana sind schon Frau und Mann, ohne direkt verheiratet zu sein.«

Der Sultan brauchte nicht weiter zu fragen. Genau dasselbe Verhältnis gibt es in seinem Lande, in der Türkei — und ja fast auch in England, wo ein Heiratsversprechen etwas ganz anderes ist als in Deutschland und anderen Ländern, wo der Bruch eines Heiratsversprechens aufs schwerste bestraft wird, einen Menschen pekuniär gleich ruinieren kann.

»Ja, da bekomme ich etwas ganz Erstaunliches zu hören,« sagte Abdul Medschid, und Nobody dachte dasselbe. »Sie kennen also diesen berühmten Detektiv?«

»Ob ich ihn kenne? Wenn er mein Saban ist?«

»Wo haben Sie ihn kennen gelernt?«

»In Abessinien.«

»Er suchte Sie dort auf?«

»Er kam in einem Aufträge des Negus nach Abessinien.«

»In was für einem Aufträge?«

»Das, Majestät, muß ein Geheimnis bleiben. Kurz — wir verlobten uns.«

Nu nee, dachte Nobody.

»Ja, da ist allerdings Hoffnung vorhanden, daß Sie ohne Umstände das Serail wieder verlassen können, besonders wenn dieser Detektiv auch einen so hohen Rang einnimmt wie den eines Champions der englischen Königin. Sie müssen ihm schreiben...«

»Hoffnung vorhanden?« unterbrach ihn das Weib spottend. »Schreiben soll ich ihm? Was soll ich ihm denn schreiben?«

»Nun, wie Sie auf der Reise in die Hände von Piraten gefallen sind, Ihr ganzes Schicksal, wie man Sie aus Versehen in das Serail gebracht hat, was aber nur Ihre eigene Schuld ist, weil Sie sich nicht rechtzeitig zu erkennen gaben.«

»Das alles soll ich ihm schreiben? Glauben Sie denn, das alles weiß mein Saban nicht bereits?«

»Woher weiß er es?«

»Weil er allwissend ist.«

Das hatte sie so ganz einfach herausgesagt, als sei das doch etwas ganz Bekanntes, ganz Selbstverständliches. Jetzt konnte aber auch der Sultan mit Recht ein spöttisches Gesicht machen.

»Allwissend ist er?«

»Gewiß.«

Da legte der Papst der Mohammedaner sein spöttisches Gesicht in ernste Falten.

»Allwissend ist nur Allah,« sagte er feierlich.

»... und Nobody,« ergänzte das schwarze Weib prompt.

»Freveln Sie nicht. Wenn Sie auch eine Christin sind, so glauben Sie doch an denselben Allah, den Sie nur anders nennen. Nur dieser eine Gott ist allwissend.«

»... und Nobody, mein Saban.«

»Kein Mensch ist allwissend.«

»Nobody ist auch kein Mensch.«

»Was sonst?«

»Nobody ist ein Geist.«

»Mademoiselle Prinzeß,« erklärte der mohammedanische Papst in belehrendem Tone, »Allah — oder nennen wir ihn mit Ihrem Namen Gott — Gott hat zwar Geister geschaffen, aber er duldet nicht, daß sie die Menschen belästigen, sich auch nur sichtbar machen, und so können wir sagen, daß Geister für uns überhaupt gar nicht existieren.«

Der Sultan sprach, wie sein Glaube es ihm vorschrieb, nicht nach seiner Überzeugung.

»Wohl ist Nobody ein Mensch aus Fleisch und Blut, aber er versteht, sich in einen Geist zu verwandeln, sich nämlich unsichtbar zu machen.«

»Das möchte ich einmal sehen, das muß er mir vormachen,« scherzte der Sultan.

Jetzt aber wurde die Negerin durch den Scherz nur gereizt. Es hatte auch schon immer in ihrer Stimme gelegen.

»Glauben Sie denn etwa, Nobody, mein Saban, wird warten, bis es Ihnen gefällt, mich freizulassen?!« stieß sie aufgeregt und höhnisch hervor. »Diese Eunuchen und ihre jämmerlichen Soldaten wären gerade die rechten, mich hier festzuhalten, hahahaha!«

Jetzt wurde aber auch der Stolz des Sultans verletzt.

»Vorhin sprachen Sie ganz anders, da konnten Sie recht schön bitten, daß ich Sie freiließe.«

»Bitten? Ich bitten?! Ich hätte um meine Freiheit gebeten?! Sie haben wohl schon am frühen Morgen das Gebot des sogenannten Propheten übertreten und zu viel Wein getrunken?«

»Mäßigen Sie sich Prinzeß, Sie sprechen mit dem Sultan des türkischen Reiches!«

»Und Sie sprechen mit der Fadinah von Godscham, und die ist nicht so verschuldet wie Eine Majestät! Ich habe Sie vorhin nur gebeten, mir Klarheit über meine Lage zu geben, und das ist etwas ganz anderes, ich wollte auch nur Ihren Charakter prüfen.«

Der Sultan hatte sich sehr im Zaume, und er steckte seinen Pflock, den er schon gezogen, weit, sehr weit zurück.

»Und ich hoffe, daß Sie mit meinem Charakter zufrieden sind, Mademoiselle Prinzeß,« lächelte er.

»Ja, ich hatte mir den türkischen Sultan in seinem Harem anders vorgestellt,« lenkte auch sie wieder ein.

»Ich habe Ihnen auch die Untersuchung durch den Hekim erspart.«

»Ich weiß es, und ich bin Ihnen dankbar dafür. Doch es wäre auch gar nicht so weit gekommen. Aber nun wieder zur Hauptsache: wollen Sie mich gutwillig aus dem Serail lassen?«

»Prinzeß, Sie ziehen jetzt ein ganz anderes Register, welches mir sehr wenig...«

»Wollen Sie mir das Tor des Serails öffnen?«

»So ohne weiteres geht das nicht. Da muß ich erst — erst — da müßten erst einige Gesetze der Serailordnung geändert...«

»Da müßten Sie erst Ihre Mutter um Erlaubnis bitten, und die Walide würde Sie natürlich ob solch eines ihr wahnsinnig vorkommenden Wunsches auslachen. O, ich weiß recht wohl, wie es hier zugeht, und wer in der Türkei das eigentliche Regiment führt. Ich aber sage Ihnen: Ich brauche Ihre Erlaubnis so wenig wie die Ihrer Mutter, denn Nobody wird kommen als mein Saban, um seine Sabana zu holen — über Sie aber wird er kommen wie ein Löwe und eine furchtbare Abrechnung halten, daß man mich hier auch nur einen einzigen Tag gefangengehalten hat!«

Bei der Erwähnung seines Abhängigkeitsverhältnisses zur Walide war der Sultan dunkelrot geworden. Doch er beherrschte sich noch immer, er legte nur in seine Stimme etwas Spott.

»So wird Ihr Saban Sie also aus dem Serail entführen?«

»Sicher.«

»Er soll es versuchen. Ich bin gespannt darauf, wie er das fertigbringen will.«

»Sie zweifeln daran, daß er es fertig bringen wird? O, wenn Sie diesen Nobody so kennten, wie ich! Sie glauben, Ihre eisernen Tore könnten ihn abhalten, hier einzudringen, oder gar etwa Ihre Soldaten mit Spießen und alten Luntenflinten, die in meiner Heimat schon längst ins alte Eisen geworfen sind? Ich habe gesehen, wie dieser Nobody, mein Saban, eine Eisenstange, so dick wie mein Arm, wie ein Schilfrohr gebogen hat, und ich habe gesehen, wie er einen Felsblock, viele, viele hundert Zentner schwer, meilenweit getragen hat, und ich habe gesehen, wie er fünfzig Feinden mit einem einzigen Schwertstreiche die Köpfe abgehauen hat!«

Die renommiert ja nicht schlecht mit mir, sagte sich Nobody, habe noch gar nicht gewußt, daß ich solch ein fürchterlicher Held bin. Doch weil du so meine Partei ergreifst, werde auch ich dich nicht im Stiche lassen — obgleich ich noch nicht dein Saban bin!

Der Sultan lächelte amüsiert.

»Daß dieser Detektiv ein außerordentlicher Mensch ist, glaube ich, ich habe schon zuviel von einwandsfreien Zeugen von ihm erzählen hören. Aber — wenn er es fertigbringt, hier in das Serail zu dringen, dann — dann...«

»Dann?«

»Sollen Sie sofort frei sein.«

»Auf Ihr Wort, Majestät?«

»Auf mein kaiserliches Wort.«

»Wenn es aber nun die Sultan-Walide...«

»Prinzeß, beleidigen Sie mich nicht! Ich komme Ihnen immer wieder entgegen! Beim Barte des Propheten!!«

Wenn Nobody jetzt hervorgetreten wäre, in sichtbarer Gestalt, so wäre die Abessinierin sofort frei gewesen. Diesen Schwur mußte der Moslem halten; wie er seinen Leichtsinn der gestrengen Frau Mama gegenüber rechtfertigte, das war seine Sache. Natürlich dachte Nobody nicht daran, sein absolutes Inkognito zu lüften, dieser Ausgang wäre dem abenteuerlichen Manne überhaupt viel zu nüchtern gewesen.

»So bin ich schon frei!« rief die Negerin triumphierend.

»Wieso?«

»Nobody befindet sich bereits im Serail.«

O weh! Diese Ausplauderei hätte Nobody der Fadinah nicht zugetraut! Doch schließlich schadete es nichts. Der spöttisch lächelnde Sultan glaubte es nicht und sollte sich auch nicht überzeugen lassen.

»Wo denn da?«

»Vielleicht im Augenblick hier in diesem Gemach.«

»Ach so, wohl in unsichtbarer Gestalt?«

»Gewiß, Nobody versteht sich unsichtbar zu machen, er ist ja eben ein Niemand, der überall und nirgendwo ist.«

Noch spöttisch lächelnd, blickte sich der Sultan in dem Raume um. Vielleicht lag in den Augen ein klein wenig Scheu. Doch schnell ging das vorbei. Nein, der Sultan mochte an Geister glauben, aber nicht daran, daß sich ein Mensch unsichtbar machen könne. Dazu war er denn doch zu ›aufgeklärt‹.

»Ich sehe ihn nicht.«

»Eben weil er in unsichtbarer Gestalt hier ist.«

»Haben Sie ihn denn gesehen?«

»Nein.«

»Woher wissen Sie dann, daß er sich hier befindet?«

»Er hat mir zugeflüstert, daß er mich befreien würde«.«

»Sollte das nicht eine innere Stimme, eine Stimme der Hoffnung gewesen sein?«

»Nobody befindet sich im Serail, er wird mich befreien und Rache für die seiner Sabana widerfahrenen Schmach nehmen!!« rief das Weib im Tone der tiefsten Überzeugung.

Irgendwo erscholl ein leises Händeklatschen. Der Sultan klappte wieder die Hacken zusammen, verbeugte sich mit militärischer Kürze, aber immer noch als Kavalier, auch der Negerin gegenüber.

»Mademoiselle Prinzeß, ich muß Sie leider verlassen. Es war mir sehr angenehm. Und wenn sich Nobody wirklich hier befindet, und Sie können sich mit ihm verständigen, so sagen Sie ihm, daß er sich sichtbar machen soll, und ich werde ihn als meinen Gast begrüßen, mit königlichen Ehren — und Sie sind natürlich frei — und dasselbe gilt, wenn es ihm auch nur gelingt, in sichtbarer Gestalt in das Serail zu dringen — und er hat keinen Grund, Rache zu nehmen, denn Sie werden hier behandelt werden, wie es sich für eine Fürstin geziemt. Auf Wiedersehen, Mademoiselle Prinzeß.«

Mit einer schnellen Wendung schritt der Sultan der Portiere zu, und Nobody war mit einem lautlosen Schritt schnell seitwärts getreten. Seine Entdeckung hatte an einem Haar gehangen.

Während des Lauschens hatte er die Vorsicht nicht außer acht gelassen, immer in einen Wandspiegel zu spähen, falls sich ihm jemand von hinten nähere, was ja auf dem weichen Teppiche gar nicht zu hören gewesen wäre. Und diese Vorsicht war sein Glück. Plötzlich sah er im Spiegel den roten Zwerg wie ein Wiesel angeschossen kommen, um vor seinem Gebieter die Portieren zurückzuschlagen, und hätte Nobody dies nicht rechtzeitig bemerkt, so hätten ihn die Hände des Kleinen berührt.

Gern hätte Nobody ja gewußt, wohin sich jetzt die Abessinierin begab, um deren ständigen Aufenthalt zu erfahren, doch mehr über das Familienleben des Sultans zu wissen, war ihm augenblicklich wichtiger, so folgte er diesem, der wieder von dem Zwerg durch die Portieren bugsiert wurde.

Auch ein Korridor wurde passiert; die bisher dunklen Portieren verwandelten sich in hellgelbe, mit den Teppichen, Kissen und allem übereinstimmend, jetzt klatschte der Sultan in die Hände, der Zwerg blieb zurück, Nobody war mit hindurchgeschlüpft, und er sah in dem Gemach eine Frau, welche nach der Ehrfurchtsbezeugung des Padischahs keine andere sein konnte, als die Sultan-Walide.

Die Mutter Abdul Medschids war, wie schon früher erwähnt, eine Österreicherin. Die Wahrheit läßt sich nicht mehr kontrollieren, aber es wird behauptet, daß sie in Triest einst Kellnerin in einer Matrosenspelunke gemeinster Art gewesen war. Sicher ist, daß auch sie während einer Seereise von türkischen Piraten gefangen und in das Serail verkauft wurde, nicht als Odaliske, unter denen für den Sultan die Kadinen gewählt werden, sondern für wenige Beutel als gewöhnliche Arbeitssklavin.

Der damalige Sultan, Mahmud Ali, erblickte sie einmal, er setzte bei der Walide durch, daß Arsinoe, welchen Namen die weiße Sklavin erhalten hatte, unter die Odalisken aufgenommen wurde, die einstige Kellnerin wurde sein Lieblingsweib, die mächtigste Person im ganzen türkischen Reiche, die eigentliche Herrscherin, welche damals auch einen großen Teil des übrigen Europas regierte, nicht minder Afrikas, die Rußland Gesetze vorschreiben konnte, um deren Gunst auch von der Türkei unabhängige Könige und Kaiser buhlten.

Natürlich mußte die einstige Kellnerin doch ein wunderbar schönes Weib gewesen sein, daß der junge Sultan die Sklavin, die er zufällig einmal erblickte, zu seiner Favoritin gemacht hatte!

Nobody staunte! Sie war noch gar nicht so alt! Mitte der vierzig und fünfzig, noch im Vollbesitze all ihrer Kräfte — aber ein geradezu widerliches Weib, das niemals auch nur eine Spur von Schönheit gehabt haben konnte, vielmehr stets so abstoßend häßlich gewesen sein mußte.

Aber etwas anderes erkannte Nobody sofort. Dieses Weib besaß Geist, dieses Weib war zur Intrige geschaffen, dieses Weib setzte durch, was es wollte, diese bösen Augen mußten auf jeden Menschen, der nicht gegen solch einen Einfluß gefeit war, einen dämonischen Zauber ausüben.

Diese einstige Kellnerin und elende Proletarierin hatte alles, was sie erreichte, nicht körperlichen Vorzügen zu verdanken, sondern nur ihrer inneren Kraft — wenn nicht ihrem Geiste, so doch ihrer Schlauheit, ihrer Ränkesucht, die niemals zu Fall kam, ihrer Energie — und das war etwas, was Nobody stets bewunderte, selbst wenn es zum Bösen ausschlug.

Noch etwas anderes imponierte ihm. Daß sie auf sich hielt, zeigte ihre wunderbar gepflegte Hand, desgleichen der Fuß, von dem sie beim Sitzen den Pantoffel verloren hatte. Dieser Fuß war groß, sogar plump, aber die Nägel daran gefeilt und poliert, und ebenso war sie sorgsam frisiert.

Dennoch gab sie gar nichts auf ihr Äußeres. Kein einziger Schmuck, keine Silberspange, und ihr dunkles Gewand war geradezu von ausgesucht grobem Stoffe. Und diese Versagung alles Schmuckes und allen sonstigen Luxus' war bei der Walide nicht etwa Vorschrift. Die vorige Sultanmutter war ein wandelnder Juwelierladen gewesen, ihre Kleider hatten besonders für sie in Indien gewebt werden müssen. Ebensowenig konnte von Geiz die Rede sein. Nobody war schon in Haremsgemächern gewesen und hatte die mit Juwelen überladenen Odalisken gesehen, und auch sonst ging ihnen nichts ab, allein die Küche forderte täglich enorme Summen.

Nein, dieses Weib wußte, daß es häßlich war, es wollte gerade durch Einfachheit abstechen und imponieren.

»Nun?«

»Ich habe sie gesehen und gesprochen.«

»Wie gefällt sie dir?«

»Gar nicht.«

»Weshalb nicht?«

»Du weißt, ich habe gegen Afrikanerinnen stets einen Widerwillen besessen.«

»Davon ist mir nichts bekannt.«

»Weil du mir noch keine Afrikanerin zugeführt hast!«

»So werde ich mit dieser den Anfang machen. In der nächsten Beiramnacht werde ich sie dir zuführen, hoffentlich wird es ein Sohn, und wenn nicht diesmal, so das nächstemal, und dieser Sohn soll der zukünftige Beherrscher aller Gläubigen sein.«

Sie hätte noch ein ›Basta‹ hinzusetzen können. Hiermit war die Sache für sie erledigt, der Sultan hatte keinen eigenen Willen.

Wohl mochte dieser sonst ein gehorsamer Sohn sein, mehr ein Waschlappen — diesmal setzte er Widerstand entgegen, doch erst, nachdem er sich erholt hatte; denn anfangs war er wie niedergeschmettert gewesen.

»Mutter, es ist eine Schwarze!«

»Was tut das?«

»Soll der Sultan als Lieblingsweib eine Negerin haben?«

»Weshalb nicht?«

»Die Neger und Negerinnen werden in Europa maßlos verachtet.«

»Du hast wohl von Amerika gehört. In Europa ist dies gar nicht so der Fall.«

»Dann würde der zukünftige Sultan der Türkei ein — ein —- Mulatte.«

»Wir sind Türken, welche selbst afrikanisches Blut in den Adern haben. Wir kennen keine Abneigung gegen die schwarze Rasse. Und du kennst meine Ansicht. Unsere Tage in Europa sind gezählt, auch in Kleinasien werden wir uns dereinst nicht halten können, Afrika wird unsere neue Heimat werden. Und so will ich, die Walide Arsinoe, damit beginnen, das Sultangeschlecht, alle Moslems mit afrikanischem Blute aufzufrischen, und gerade diese Abessinierin ist wie geschaffen dazu, sie ist gesund, stark und schön, und auch damit, daß sie die Fürstin von Godscham ist, rechne ich schon, das wird eine politische Verbindung, die uns reichen Segen bringen soll. — Mein lieber Sohn, du wirst deiner klugen Mutter folgen.«

Ja, sie war klug! Kein anderer Türke hätte etwas davon wissen wollen, daß seine Tage in Europa gezählt seien. Sie sprach es offen aus. Und irrte sie sich, so gereichte ihr das nur zur Ehre. Daß die christenfeindlichen Türken nicht schon längst nach Asien hinübergejagt worden sind, daran ist ja nur die fluchwürdige Schwachheit der europäischen Mächte schuld, erzeugt durch Uneinigkeit, Mißgunst und Eifersucht. Aber die unbestechliche Weltgeschichte wird uns deshalb dereinst eine Zensur geben, die wir nicht in Ehren der Nachwelt zur Unterschrift vorlegen können! Wie groß stehen in diesem Falle gegen uns Europäer die Amerikaner da: Amerika den Amerikanern!

Die Walide hatte wohl bestimmt, aber niemals unfreundlich gesprochen. Das zeigten besonders ihre letzten Worte, in denen wirklich mütterliche Zärtlichkeit gelegen hatte.

Und der Sohn war klug genug, ihr jetzt nicht zu widersprechen. Er mochte schon nachgrübeln, wie er den Willen der Mutter umgehen könne — er fürchtete sich bereits wieder davor, sich mit der pechschwarzen Lieblingsfrau in den Augen der anderen europäischen Fürsten und ganz Europas lächerlich zu machen — aber er behielt seine Pläne für sich, nicht wissend, daß es wohl das Beste für ihn war, wenn er dem Willen seiner klugen Mutter bedingungslos gehorchte.

»Nun etwas anderes,« nahm sie wieder das Wort. »Wozu hast du die Arbeiter hinauf ins Magazin geschickt?«

Er wurde nicht nur verlegen, sondern schrak gleich zusammen.

»Woher weißt du...?«

»Ich weiß es. Sie sollen die vermauerte Tür der Bibliothek aufbrechen. Ist es nicht so?«

»Ja,« gestand der Sultan jetzt offen, und Nobody spitzte die Ohren. Es konnte sich nur um das Spukzimmer handeln.

»Wozu?«

»Seit ich weiß, daß es eine Urkunden-Bibliothek ist und ich den Plan dazu gefunden habe, das Verzeichnis, läßt es mir keine Ruhe mehr.«

Der Sultan zog aus der Brusttasche des Waffenrocks zwei vergilbte Pergamente hervor, faltete sie auseinander, hielt sie vergleichend zusammen. Auch Nobody blickte hinein. In der einen Zeichnung erkannte er sofort einen Plan der vierten Etage, die vielen langen Kammern oder sehr langgestreckten Gemächer ließen das erkennen, und der sich schnell orientierende Nobody las, daß die Kammer, in die er sich manchmal zurückzog, das Vermerk ›Kostümsammlung‹ trug, das danebenliegende, jetzt vermauerte Gemach als ›Bibliothek‹ verzeichnet war.

Also auch dem Sultan war bisher noch gar nicht bekannt gewesen, daß das Spukzimmer eine Bibliothek enthielt.

Auch das zweite Pergament war ein Plan, und dennoch zugleich ein Katalog über die in dieser Bibliothek enthaltenen Manuskriptrollen, nämlich ein nach orientalischer Weise angelegtes Verzeichnis.

Die Zeichnung gab in Linien das ganze Bibliothekzimmer wieder, besonders deutlich die Regale, alles wie aus der Vogelperspektive, die Pergamentrollen waren durch Striche angedeutet, jeder Strich hatte eine Nummer, welche dann darunter den Titel der betreffenden Rolle angab. Praktisch ist ein solcher, uns ganz unbekannter Katalog auf alle Fälle, man weiß zu jeder Zeit, wo sich das betreffende Werk auch befinden muß.

»Wehe, daß du diese beiden Pergamente in der alten Truhe finden mußtest!«

»Weshalb bedauerst du es, Mutter?«

»Du hättest niemals gewußt, daß sich hinter der vermauerten Tür die verschwundenen Manuskripte befinden.«

»Ein Glück vielmehr, daß ich es jetzt weiß und auch dieses Verzeichnis gefunden habe! Hier Nummer 177 — es ist die Chronik, aus vier langen Rollen bestehend, welche alle Heldentaten meiner Ahnen erzählt, eigenhändig geführt von Osman dem Großen an, Ertoghruls Sohn, bis zu Achmed Köprili! Und ich sollte diese Chronik unseres Heldenvolkes hinter einer Mauer verschimmeln lassen? Nein, weiter will ich sie führen!«

Mit plötzlich hervorbrechender Begeisterung hatte es Abdul Medschid gerufen, und mit zärtlicher Bewunderung betrachteten ihn die sonst so böse blickenden Augen der Mutter. Diese Bewunderung galt noch etwas anderem als nur dieser patriotischen Gesinnung des Sohnes.

»Und du willst diese Chronik jetzt holen?«

»Gewiß, deshalb lasse ich ja jetzt schon die vermauerte Tür aufbrechen.«

»Es ist das Sterbezimmer deines Ahnen, des Sultans Achmed Köprili.«

»Ja, und ohne Zweifel hat ihn der Schlag getroffen, als er grade beim Niederschreiben seiner Erinnerungen war.«

»Betrachtest du es nicht als eine Entweihung, das Zimmer, welches der Nachfolger Achmeds aus gutem Grunde vermauern ließ, zu erbrechen, um daraus Manuskripte zu entnehmen?«

»Im Gegenteil, meine Ahnen im Paradies werden sich freuen, daß ich gewillt bin, diese Chronik fortzusetzen.«

»Deine Ahnen — im — Paradies,« wiederholte die Walide bedächtig. »Achmed Köprili wird — soll nicht ins Paradies gekommen sein.«

»Ich weiß, was du meinst, Mutter.«

»Es ist das Spukzimmer, welches die Bibliothek enthält.«

»Was tut es?«

»Hast du ihn noch nicht gesehen?« fragte die Walide bedeutungsvoll, die Betonung auf das ›ihn‹ legend.

Der Sultan konnte nicht verhindern, daß ein leichtes Schaudern durch seinen Körper lief.

»Zweimal,« flüsterte er, »das eine Mal warst du ja bei mir, und wir sahen die weiße Gestalt, wie sie durch den Gang schwebte, das treue Ebenbild Achmed Köprilis, wie wir es in einem Medaillon besitzen.«

»Und du willst es wirklich wagen, in das Spukzimmer einzudringen?«

»Ich tu's! Es ist das Erbe meiner Ahnen, das ich mir holen will; der unselige Achmed Köprili hat kein Recht, es mir vorzuenthalten, und wenn er es mir nicht geben will — auch mit seinem Geiste nehme ich den Kampf auf!«

Mit immer leuchtenderen Blicken betrachtete die Mutter den Sprechenden, der sich stolz aufgerichtet hatte. Sie erhob sich von ihrem Kissen.

»Gut, so gehe ich mit dir. Zwar hat sich der Geist bisher immer ganz harmlos gezeigt, aber auch noch niemand ist in das Sterbezimmer gedrungen, und allein sollst du dich der Gefahr nicht aussetzen.«

Abwehrend strecke der Sohn ihr die Hand entgegen.

»Nein, Mutter, nein!! Oder soll es heißen, daß Sultan Abdul Medschid nicht wagte, allein das Spukzimmer zu betreten, daß er sich von einem Weibe, von seiner Mutter begleiten ließ?!«

Mit einer für Nobody überraschenden, sogar verdächtigen Bereitwilligkeit stand die Walide von ihrem Vorhaben ab, den Sohn zu begleiten.

»Nun, es sind ja auch die Arbeiter dabei, die Anwesenheit so vieler Menschen wird dich vor einem bösen Einflüsse des Geistes schützen.«

»Die Sklaven?« stieß der Sultan verächtlich hervor. »Kannst du wirklich glauben, Mutter, ich, Abdul Medschid, werde die Sklaven auch nur in das tiefste Geheimnis des Serails blicken lassen?! Sie dürfen die Mauer nur bis zur Hälfte der Stärke abtragen, so daß ich selbst sie dann mit Leichtigkeit durchstoßen kann, und sobald die Sklaven so weit sind, müssen sie sich entfernen. Nein, kein anderer als der Fuß des Sultans soll dies Gemach betreten, in dem ein Sultan verschieden ist, und auch kein fremder Blick soll hineindringen!«

Da ging die Walide auf ihn zu und schloß ihn mit stolzer Zärtlichkeit in seine Arme.

»O, mein Sohn, du bist nur mit Soliman Bajazid vergleichbar, welcher auf Befehl der Propheten gegen das große Heer der Geister ins Feld zog, welches damals die Menschen aller Orten ängstigte, und der sie in furchtlosem, siegreichem Kampfe für immer von dieser Erde verbannte, so daß nach Allahs unerforschlichem Willen nur noch ab und zu ein unseliger Geist zwischen den Menschen sein Wesen treiben darf. Hier Abdul Medschid, du furchtloser Held des Glaubens, nimm diesen Talisman, er wird dich vor jedem Geiste beschützen.«

Sie brachte unter ihrem Gewand, vom Busen, einen kleinen Gegenstand zum Vorschein, der an einem goldenen Kettchen hing — Nobody hielt es für ein Petschaft — und legte es dem Sohn um den Hals.

Diese mütterliche Fürsorge war dem Sultan nicht recht angenehm. Es mochte ihm zum Bewußtsein kommen, daß ein ›furchtloser Held‹ doch eigentlich keinen Talisman nötig hat, auch nicht, wenn es zum Kampfe gegen Geister geht. Er wollte abwehren, doch war der Grund, den er gegen das Tragen eines Talismanes einzuwenden hatte, auch nicht gerade männlich.

»Laß nur, Mutter. Der Geist spukt ja nur in der Neumondnacht, und es steht noch eine Mondsichel am Himmel, es ist ja auch heller Tag.«

Doch die besorgte Mutter ließ sich nicht abwehren.

»Wenn auch. Niemand weiß, was sich in dem Sterbezimmer zugetragen hat, und wenn Achmed Köprilis Geist sich nur in der Neumondnacht auf dem Gange zeigt, wo soll er sich sonst anders aufhalten als in seinem Sterbezimmer? Nimm den Talisman, er hat auch deinen erhabenen Vater wiederholt vor Geistern und dem Einflusse böser Zauberer beschützt, wie ich dir später einmal erzählen werde.«

Der Sultan küßte der Walide ehrfurchtsvoll die Hand und schritt der Portiere zu, an der schon das kleine Händchen des roten Zwerges sichtbar ward. Doch vor der Portiere blieb Achmed noch einmal stehen, wandte sich um.

»Was hast du noch, mein Sohn?«

»Glaubst du, Mutter,« erklang es zögernd, »daß sich ein Mensch unsichtbar machen kann?«

»Nein, das kann kein Mensch, auch der größte Zauberer nicht, das duldet Allah nicht. Nicht einmal der Prophet durfte sich auf der Hidschra unsichtbar machen.«

Die Walide hatte das mit einer Bestimmtheit gesagt, als wäre sie selbst mit dabeigewesen, wie der alte Mohammed vergebens versuchte, sich bei seiner Flucht aus Mekka unsichtbar zu machen. Übrigens gelang ihm das ja auch, er machte sich wirklich unsichtbar, nur in anderem Sinne gemeint, nach englischer Weise, wie man zu sagen pflegt.

»Wir sprachen doch neulich von jenem Detektiven, der sich Nobody nennt.«

»Ja, ich beabsichtigte, ihn eben wegen dieses Geisterspukes einmal hierherkommen zu lassen.«

»Die Abessinierin behauptet, dieser Nobody sei ihr Verlobter, der sie von hier wieder entführen würde.«

Der Sultan erzählte, die Walide selbst forderte ihn dazu auf. Nur, daß er sich so kurz wie möglich faßte und auch nichts von seinem Schwur erwähnte, daß sie frei sein sollte, wenn es Nobody wirklich gelänge, in das Serail zu dringen. Er schien gar nicht mehr daran zu denken, das Unsichtbarmachen war auch bei der Erzählung die Hauptsache.

»Ich weiß,« meinte die Walide dann nach kurzer Überlegung, »über diesen Detektiv gehen die seltsamsten Gerüchte, man dichtet ihm sogar übernatürliche Kräfte an, und hiermit will uns die Abessinierin Furcht einflößen. Nein, kein von einem Weibe geborener Mensch kann sich unsichtbar machen, und ich zweifle überhaupt stark, daß die Abessinierin mit diesem Nobody wirklich verlobt ist, sie hat ihn vielleicht einmal kennen gelernt und will uns nun drohen; und selbst wenn es der Fall wäre — kein Geist und noch weniger dieser Detektiv Nobody soll an meinem Entschlusse etwas ändern können, daß ich dir die Abessinierin in der Beiramnacht zuführe, und Allah wird gnädig sein, daß sie die Mutter des zukünftigen Sultans wird.«

Nochmals küßte der Sultan der Walide die Hand, aber weit weniger mit zärtlicher Ehrfurcht als vorhin, und er entfernte sich, Nobody hinter ihm her.

Der Verdacht, den Nobody gefaßt hatte, war schon angedeutet worden.

Sollte die Walide den geliebten Sohn, dessen Machtstellung sie durch ihre Klugheit erst gefestigt, dem sie in Europa neuen Kredit eröffnet hatte, nnd der als Regent gerade jetzt unsichtbar war, so ohne weiteres solch einer Gefahr entgegengehen lassen, die doch immerhin damit verbunden ist, wenn man einem Gespenst gegenübertritt? Da hat schon mancher sein Leben verloren, oder er ist dabei wahnsinnig, stumm oder sonst gelähmt worden. So wissen wenigstens alle Gespenstergeschichten zu erzählen, und die Walide hatte sich doch mit eigenen Augen von der Existenz des Spukgeistes überzeugt. Sollte sie Abdul da nicht mindestens in die Gefahr begleiten, wie sie es zuerst gewollt hatte?

Nun sah aber, Nobodys Urteil nach, diese Frau mit den energischen Zügeu und Augen gar nicht danach aus, als ob sie an Gespenster glaube. Lag da die Vermutung nicht sehr nahe, daß die Walidein die ganze Spukerei der vierten Etage eingeweiht war, sie vielleicht selbst inszenierte?

Nobody konnte sich ja auch täuschen, aber — wie gesagt — die Vermutung lag doch sehr nahe, der Verdacht war nun einmal da.

Sultan Abdul Medschid aber, als ein wahrhaft Geistergläubiger, war einfach zu bewundern, daß er Anstalten dazu traf, in das Spukzimmer einzudringen, noch dazu ganz allein.

Freilich war erst abzuwarten, ob er es auch wirklich tat. Dem Spuk im verwilderten Parke sollte er ja auch schon zu Leibe gegangen sein, wovon er acht Tage lang krank geworden war. Merkwürdig nur, daß Mutter und Sohn dieses Vorfalls mit keinem Worte Erwähnung getan hatten.

Auf einsamen Hintertreppen wurde die vierte Etage erreicht. Hier ging es desto lebhafter zu. Ein Dutzend Arbeiter waren tatsächlich damit beschäftigt, die Mauerfüllung aus der ehemaligen Türe wieder zu entfernen, doch nicht vollständig, sondern nur die erste Hälfte der doppelten Schicht gebrannter Steine, was die türkischen Maurer, als solche besonders im Serail angestellt, äußerst geschickt zu machen wußten, freilich auch langsam genug. Die zwölf Hämmerchen leisteten nicht mehr als die Spitzhacke eines deutschen Maurers, wobei er keinen Tropfen seines kostbaren Schweißes zu verlieren braucht und aller zehn Minuten eine fünfminutenlange Prise nehmen kann.

Die vorgeschriebene Arbeit war soeben vollendet; der Sultan überzeugte sich davon und schickte die Sklaven weg. In enggeschlossenem Trupp marschierten sie ab, der Kislar mit der Peitsche vorsichtig in der Mitte, um gegen den Spuk durch eine Menschenmauer geschützt zu sein.

Der Sultan war allein — außer Nobody der erste Mensch, der hier oben allein war, und unter seiner Tarnkappe konnte man Nobody ja eigentlich nicht zu den Menschen zählen.

Wie er sich umblickte, konnte man ihm ansehen, daß ihm doch nicht geheuer zu Mute war; der freundliche Sonnenstrahl, der durch einen Seitengang hereinfiel, konnte das Gruseln nicht bannen, noch weniger der stempelähnliche Talisman auf der Heldenbrust.

Immerhin, es war schon genug, daß der geistergläubige Türke die Sklaven weggeschickt hatte und allein zurückgeblieben war. Und jetzt betete er die Sure, in welcher Allah durch des Prophten Mund dem Gläubigen versichert, daß es gar keine Geister gibt, weswegen man auch nicht an solche glauben soll, und als er hiermit fertig war, nahm er die am Boden schon in Bereitschaft liegende Brechstange und — bruch! — gleich durch die andre Hälfte der Mauer hindurch!

Der Padischah zog die Eisenstange wieder heraus, bückte sich und legte das Auge an das entstandene Guckloch.

Nobody erwartete mit Bestimmtheit, daß er gleich zurückprallen würde, wahrscheinlich gleich mit gesträubtem Haar davonstürmen, weil er jetzt doch bestimmt in dem finsteren Raume die weiße Geistergestalt des Sultans Achmed Köprili sah, wahrscheinlich auf dem Diwan liegend.

Nein, eben nicht!! Der Maurer in Generalsuniform griff von neuem zur Brechstange und begann das Guckloch zur Öffnung zu erweitern, was dem kräftigen Manne ohne Mühe gelang, der morsche Ton brach wie Glas.

Dann aber hatte er ganz, ganz bestimmt auch keinen Geist gesehen, sonst hätte er doch nicht mit solch einer Gemütsruhe weitergearbeitet. Er spähte auch nicht nochmals hinein, sondern er ruhte nicht eher, als bis er fast die ganze Tür freigelegt hatte, so daß man, ohne sich zu bücken, hineingehen konnte.

Daß sich wirklich kein Geist darin befand, davon hatte sich unterdessen auch Nobody überzeugt. In dem Raume war es, von hier außen gesehen, stockfinster, das auf dem Korridor herrschende Licht, auch schon sehr spärlich, erst von einem weit entfernten Seitengange kommend, dessen Fenster nach dem Hofe ging, reichte nicht aus, den fensterlosen Raum auch nur etwas zu erhellen.

Jetzt nahm der Sultan eine gleichfalls für ihn bereitstehende Laterne, zündete sie an und trat ein, ihm nach Nobody, weniger zögernd als sein Vorgänger, aber sicher ebenso gespannt, was sich dem Auge bieten würde.

Gar nichts! Für Nobody wenigstens nichts Neues. Da stand noch der Diwan, daneben am Boden lagen noch die Pergamentrollen und da...

Und da erscholl ein Stöhnen, und hätte Nobody nicht einen schnellen Sprung seitwärts gemacht, so wäre der Padischah gegen ihn geprallt.

Es war dasselbe Seufzen und Stöhnen und Ächzen wie gestern, nur daß nichts zu sehen war, und trotzdem hätte man dem Türken nicht verübeln können, wenn er sich jetzt umdrehte und dort hinausfuhr, wo er sich selbst ein Loch geschaffen hatte, und daß er es nicht tat, gereichte ihm zur hohen Ehre.


Illustration

Wahrhaftig, der Sultan blieb, er wollte sich mit dem Geiste seines unseligen Urgroßvaters einlassen! Beschwörend streckte er die Hand aus.

»Im Namen Allahs und des Propheten — Achmed Köprili, wenn du...«

»Öööööhhh — huuuuuuhhh,« röchelte es irgendwo in dem finstern Raume, der nur immer dort erleuchtet wurde, wo das Blendlicht der Laterne gerade hinfiel.

Nobody sah förmlich, wie sich das Haar auf dem Haupte des Sultans sträubte, und dennoch blieb er! Er versuchte noch einmal, Gewißheit zu erhalten.

»Achmed Köprili — im Namen Allahs und des Propheten beschwöre ich dich...«

»Ööööööhhh — huuuuuuhhh!«

Und bei diesem ›Öh‹ und ›Huh‹ blieb es. Aber auch der Sultan blieb. Er hatte doch Courage im Leibe. Freilich kann man dies auch von einer anderen Seite betrachten. Wer von der Existenz von Geistern völlig überzeugt ist, wird sich vor einer übernatürlichen Erscheinung viel weniger entsetzen als einer, der an gar nichts glaubt, und plötzlich steht ein Geist vor ihm — und wenn dieser Geist auch nur ein Junge mit Besenstiel und übergehängtem Bettuch ist. Schopenhauer sagt gleich ganz offen: um sich nicht vor Geistern zu fürchten, muß man an Geister glauben.

Kurz, obgleich sich ihm das Haar sträubte und die Zähne etwas klapperten - der wackre Türke furcht' sich nit! Er hatte vielmehr sein Ziel im Auge, den Zweck, weswegen er hierhergekommen — er ließ den Schein der Laterne über die Regale schweifen und ging auf eins derselben zu, schon die Hand ausgestreckt, um sich die betreffenden vier Pergamentrollen anzueignen.

Ganz richtig, dort mußten sie liegen, auch Nobody hatte den Plan noch ganz gut im Kopfe, da war auch noch die Nummer angegeben — 1761. II. III. IV. — nur schade, daß die vier Pergamentrollen nicht mehr dort lagen. Die waren eben schon weg.

»Ööööööhhh — huuuuuhhh,« röchelte die Stimme eines Sterbenden.

Wirklich, dieser Türke hatte Mut! Er kümmerte sich nicht um das gräuliche Ächzen, er sah sich weiter um. Sollten es die am Boden liegenden Pergamentrollen sein?

Er bückte sich. Jetzt wurde das Stöhnen drohend. Gleichgültig, der Sultan hob die eine auf und...

Da mit einem Male lag auf dem Diwan die helleuchtende Gestalt eines Mannes, eines Geistes, so, wie Nobody ihn schon gestern beobachtet hatte, langausgestreckt, den Ellenbogen aufgestemmt und den Kopf in der Hand, und aus diesem geöffneten Geistermunde kam das gräßliche Ächzen und Stöhnen, und jetzt streckte er drohend den Arm gegen den Sultan aus...

Das hätte nun freilich nicht kommen dürfen! Auf so etwas war der Beherrscher aller Gläubigen denn doch nicht geeicht! Wie ein Blitz schoß er zum Loche hinaus. Dabei war ihm der lange Säbel zwischen die Beine gekommen, er stolperte nicht, sondern er behielt den Säbel zwischen den Beinen, und so galoppierte er wie auf einem Steckenpferde den Korridor entlang. Erst ein Poltern auf der Treppe verriet, daß ihn das Steckenpferd aus dem Sattel geworfen hatte. Aber die Papierrolle hatte er doch mitgenommen.

Nobody war mit dem Geiste allein und konnte mit ihm anfangen, was er wollte. Nun, Nobody glaubte natürlich nicht mehr an einen Geist, an die wandernde Seele eines vor zweihundert Jahren gestorbenen Menschen. Es war ja auch schon gesagt worden, daß er das Wesen dieser Erscheinung bereits erkannt hatte. Es war eben ein Lichtbild. Doch wie dieses zustande kam, in solch unübertrefflicher Vollkommenheit, nicht an die Wand geworfen, sondern frei und scharf abgegrenzt in der Lust, sich ganz natürlich bewegend, das war ihm ein vollkommenes Rätsel, das mußte er erst noch ergründen.

Somit ist also dem Leser der Glaube an einen übernatürlichen Spuk zerstört. Aber etwas anderes kann ihm dafür geboten werden: Nobody war zur Überzeugung gekommen, daß hier im Serail dennoch ein Wesen spuke, nur kein Geist, sondern ein Mensch — ein Mensch, eine Person, von deren Aufenthalt im Serail niemand etwas wußte! Und diesem Geheimnis, dieser rätselhaften Person, die sich unbekannt in dem alttürkischen Serail aufhielt und mit den modernsten Hilfsmitteln ausgerüstet sein mußte, auf die Spur zu kommen, das war unserem Detektiven bei weitem interessanter, als wenn es sich um einen richtigen Geist aus dem Jenseits gehandelt hätte.

Doch nennen wir das Lichtbild noch immer einen Geist.

Jetzt erhob sich der Geist, so natürlich, wie ein Mensch es getan hätte, nur alles viel Ätherischer, und schwebte der Tür zu, auf den Korridor hinaus.

Was hatte er denn heute draußen zu suchen? Es war doch noch gar nicht Neumond? Nun, man hatte eben seinen Bann zerstört, der Maurer hatte ihm ein Loch gemacht, und den Frevlern zur Strafe beschränkte sich der Spuk nun nicht mehr bloß auf die Neumondnacht, zu jeder Zeit und sogar bei Tage würde er jetzt das Sterbezimmer verlassen, um die Bewohner des Serails zu schrecken.

Nobody folgte ihm auf den Korridor hinaus. Der Geist schwebte diesen entlang. Der Korridor war dunkel genug, um die leuchtende Lichtgestalt noch deutlich erkennen zu lassen.

Da wurde Nobodys Ohr von einem seltsamen Laute getroffen, besonders zu dieser Geistererscheinung stand er in seltsamem Kontraste.

»Kikerikikiiihhh!« schmetterte es machtvoll auf dem Korridor.

Der Hahn mußte sich in einem Seitengange befinden, zu sehen war er nicht. Jedem Geiste soll das Hahnkrähen widerwärtig sein, gewöhnlich verschwindet er dann. Diesen Geist hier störte es nicht, er schwebte weiter. Oder merkte auch er, daß es nur ein Mensch war, der das Krähen eines Hahnes nachahmts? Dann aber mußte der Geist ein so feines Ohr haben wie Nobody. Das Krähen war vortrefflich nachgeahmt, gar nicht zu unterscheiden von dem wirklichen Triumphgeschrei des bespornten Vogels.

»Kikerikikiiihhh!!! Gackgackgackgackgackgack — ein Ei — gluckgluckgluck — zwei Ei — gackgackgackgackgackgack — drei Ei — Kikerikikiiihhh schneddredeng deng deng deng gluckgluckgluck

gackgackgackgack ei ei ei ei ei ei ei ei ei - das waren wenigstens eine halbe Mandel Eier. Wenn ich sie nur selber aussaufen könnte!«

Jetzt kam der eierlegende Hahn aus dem hellerleuchteten Seitengange zum Vorschein.

Die kleine, dicke Gestalt mit roter Pumphose und blauem Jäckchen, mit Flittertand besetzt — Nobody erkannte sie sofort wieder: Mufti, der wahnsinnige Eunuche, der sich für einen Hahn hielt — also für einen Hahn, der nicht nur krähen, sondern auch gackern und Eier legen konnte.

Der Wahnsinnige sah den Geist. Wohl duckte er sich sofort zusammen, doch an Flucht dachte er nicht.

»Wawawas ist denn dadadas? Das ist doch ein Geigeigeist?!«

Und da sah auch Nobody einen wirklichen Geist, d. H., eine übernatürliche Erscheinung!

Jetzt erst sah er das Gesicht des kleinen Dicken deutlich. Gewiß, das waren die Züge des Wahnsinnigen, dem er gestern früh begegnet — und dennoch waren sie es nicht — das waren andere, als die er gestern gesehen — nur eine große Ähnlichkeit, so ähnlich wie die kleine dicke Gestalt - Himmel, das war doch kein anderer als Cerberus Mojan?!

Gewiß, Nobody ließ sich doch gleich hängen, wenn das nicht sein alter Freund Cerberus Mojan war!!

Cerberus Mojan im Serail!

Doch hatte er nicht die Absicht geäußert, sich als Eunuche im Serail anwerben zu lassen?

Blitzähnlich schoß durch Nobodys Kopf eine Erklärung.

Dem Wahnsinnigen war es gelungen, das Freie zu erreichen — Mojan war ihm begegnet — irgendwie waren die Rollen vertauscht worden — die Ähnlichkeit war überhaupt eine große, Mojan brauchtesich bloß rasieren zu lassen — kurz und gut, Cerberus Mojan war wirklich ins Serail gedrungen, spielte die Rolle des wahnsinnigen Mufti, war vielleicht mit Gewalt zurückgebracht worden...

Wie gesagt, nur wie ein Blitz schoß das durch Nobodys Kopf. Es war eine Vermutung, die Erklärung konnte ihm nur Mojan selbst geben.

Vorläufig beschränkte sich Nobody auf eine Beobachtung.

Bemerkt sei vorher noch, daß dieser Mojan, der sich von dem Dragoman in Konstantinopel über Dinge hatte unterrichten lassen, die eigentlich schon jedes Schulkind wissen mußte, der z.B. gefragt hatte, was denn ein Backschisch sei, was denn auf türkisch ja und nein heiße - daß dieser selbe Cerberus Mojan jetzt plötzlich besser Türkisch sprach als vielleicht der in Konstantinopel geborene armenische Fremdenführer!

Doch wir können das Türkische hier nicht wiedergeben. Wohin sollte denn das führen! So lassen wir ihn also Deutsch sprechen.

Er stotterte noch wie vor. Hatte auch jener Wahnsinnige gestottert? Das war unserem Cerberus ganz schnuppe. Hatte der Wahnsinnige früher nicht gestottert, so stotterte er eben jetzt, nach seiner Rückkehr ins Serail, er hatte es draußen gelernt.

Nur darin war Mojan vorsichtig, daß er seine Stimme möglichst hochschraubte.

Und nun wurde Nobody Zeuge einer Szene, die sich in ihrer ganzen humorvollen Drastik leider nicht wiedergeben läßt, nur angedeutet werden kann.

Also Mojan hatte die Lichterscheinung erblickt. Für ihn mußte das ein wirklicher Geigeigeist sein. Wie sollte er es sich sonst erklären? Aber was machte sich Mr. Cerberus Mojan aus Geigeigeistern und Gegegespenstern!

Nur im ersten Augenblick hatte er sich geduckt. Gleich richtete er sich wieder auf.

»Kikerikikiiihhhü! - Putputputputput! - Bst Sie! - He, du da! - Kokokomm mal her!«

Der Geist drehte ihm den Rücken, entfernte sich von ihm. Mojan ihm nach. Der Geist blieb stehen, Mojan auch, richtete sich auf den Zehenspitzen empor und hob die Hand.

»Höhören Sie, wewewer sind Sie denn eigentlich?«

Er hatte dem Geist von hinten auf die Schulter klopfen wollen, klopfte natürlich ins Leere. Nachdenklich betrachtete er seine Hand.

»Lululuft!«

Wie er aber nun dabei kopfschüttelnd seine Hand betrachtete — Nobody wäre am liebsten laut herausgeplatzt.

Der Geist setzte seinen Weg fort, der kleine Dicke schnell an seine Seite. Mit so einem recht vertraulichen Schmunzeln blickte er zu dem hochgewachsenen Türken empor.

»Hahaben Sie vielleicht eine Nähmaschine zu Hause? Kaukaufen Sie mir ein Fäfäßchen Schmieröl ab. — Na da mamachen Sie doch! 's ist heuheute meimein erstes Gegeschäft.«

Der Geist blieb stehen, wandte sich, schwebte zurück. Schnell wollte Mojan hinten die weitgebauschte Pumphose fassen, die sich scharf abzeichnete, griff ins Leere, oder vielmehr gleich in den Leib des Türken hinein — griff noch einmal zu, um den Geist hinten bei der Pumphose festzuhalten — betrachtete kopfschüttelnd seine zusammengeballte Hand, die er langsam öffnete, als wolle er sehen, ob er etwas darin habe.

»Lululuft!«

Jetzt wurde Mojan böse, wollte zu anderen Mitteln greifen. Er rannte dem davongehenden Geiste nach, versuchte ihn hinten beim Genick zu packen.

»Jetzt hahahahab' ich dich!!«

Wieder konnte er nur kopfschüttelnd seine leere Hand betrachten.

»Lululuft! Na wawarte nur.«

Mit ausgebreiteten Armen baute er sich vor dem Geiste auf.

»Hahahalt!!!« schrie er und schlug die Arme zusammen.

Der Geist war durch ihn hindurchgegangen. Mit einem verdutzten Gesicht blickte Mojan ihm nach, nahm einen Anlauf und wollte ihm auf den Rücken springen, und zwar mit einer gummiballähnlichen Elastizität, die Nobody dem kleinen, dicken, schon bejahrten Manne gar nicht zugetraut hätte. Diese clownartige Springkunst war wieder etwas ganz Neues, was Nobody an seinem alten Freunde entdeckte.

Mojan war auf der andern Seite der Lichterscheinung wieder zum Vorschein gekommen, rannte noch ein Stück weiter, drehte um und sprang dem Geiste vorn in den Brustkasten hinein, drehte sich schnell wieder um, hob mit einem wütenden Gesicht den Fuß und gab dem Geist hintenhinein einen Tritt, und zwar mit solch einer Vehemenz, daß er dabei die Balance verlor, hintenüber auf den Rücken fiel und die kurzen Beinchen in den roten Pumphöschen gen Himmel reckte.

Jetzt stand Nobody auf dem Punkte, seine unbändige Lachlust nicht mehr bekämpfen zu können. Nur mit seiner letzten Kraft beherrschte er sich noch.

Der Geist Achmed Köprilis hatte wieder die Türöffnung erreicht, wollte darin verschwinden. Schnell raffte sich Mojan auf und ihm nach.

»Wowowo wiwillst du denn hin?«

Bei diesen Worten hatte er den Geist wieder hinten an der Pumphose zurückhalten wollen. Doch der Hosenboden war eben so ätherisch wie der ganze Kerl, was Mojan immer wieder mit Staunen zu erfüllen schien.

Der Geist hatte sich wieder auf den Diwan gelegt, der als solcher in der Dunkelheit zu erkennen war, da von der Erscheinung ein eigenes, wenn auch nur sehr schwaches Licht ausstrahlte.

Mojan machte ein pfiffiges Gesicht, nahm einen Anlauf, schoß durch die Tür und sprang mit dem Satze eines Frosches auf den Diwan und auf den Geist drauf.

»Jetzt aber hahahab' ich dich!!!«

Da öffnete der Geist seinen Mund, und aus diesem Munde kam ein schauerliches Stöhnen und Ächzen hervor.

Doch das störte Mojan so wenig, wie er es merkwürdig fand, daß er doch eigentlich nicht auf, sondern in dem Geiste lag. Nur dessen Kopf lag noch selbständig da, und das Stöhnen kam nicht etwa von irgendwo anders her, sondern eben aus diesem ätherischen Munde.

»Ööööööhhh - höuuuuhhhü!«

»Wawawas sagst du?«

»Öööööhhh — huuuuhhh!!!«

»Wewewenn du mir eine Zigarette gigibst, lasse ich dich wieder laulaufen.«

»Öööööhhh — huuuuhhh!«

»Hahahast du keine Zigarette? Wiwill mamal nachsehen.«

Mojan kletterte von dem Sofa herunter und aus dem liegenbleibenden Geiste heraus und griff dorthin, wo irdische Menschen, auch Türken, in den Hosen gewöhnlich ihre Taschen haben.

»Der hahahat ja lauter Lölöcher in den Taschen!«

»Öööööhhh — huuuuhhh!«

»Na wawawarte mamal.«

Und Mojan brachte aus seiner Pumphose ein riesiges, schwarz und weiß kariertes Taschentuch zum Vorschein, oder wohl eher ein Umschlagetuch, das er aber nicht als solches benutzte, er faltete es auseinander, betrachtete es bedächtig von beiden Seiten, dann brachte er es an die Nase, trompetete hinein, daß der ganze Korridor dröhnte, hierauf ballte er es zusammen und wollte es dem Geiste in den halbgeöffneten Mund pfropfen, was bei der ätherischen Beschaffenheit nun freilich seine Schwierigkeiten hatte.

»Mamamach's Maul weiweiter auf!«

Da mit einem Male war der Geist verschwunden, wieder unter jenem eigentümlichen Geräusch, das Nobody schon einmal vernommen hatte. Finsternis herrschte in dem Raume. Der an der Tür stehende Nobody konnte auch Mojan nicht mehr sehen. Nur hörbar machte sich dieser.

»Weweweweg!«

Eine Pause entstand.

»Wowowo bibibist du denn?«

Wieder eine lange Pause, und dann war dem vergebens auf das Wiedererscheinen des Geistes Wartenden die todsichere Erkenntnis gekommen.

»Er ist fofofort. Er ist fufufutsch.«

Dann krabbelte noch etwas in der Finsternis herum.

»Ich glaube, der Geigeist hat mein Tatataschentuch mitgegenommen. A—a—a—ach nein, papapardon, hier ist es ja.«

Wenn Nobody jetzt den Entschluß faßte, sein unsichtbares Inkognito aufzugeben, diesem Amerikaner das Geheimnis seiner Tarnkappe zu verraten, so geschah dies weniger deshalb, weil er seinen sich wahnsinnig stellenden Freund als Vermittler sehr gut brauchen konnte, als vielmehr, um nur zu erforschen, was Mr. Cerberus Mojan sich bei alledem eigentlich dachte.

War der Kerl wirklich wahnsinnig? Für wen trieb er die Komödie? Nur zu seinem eigenen Vergnügen? Ja, aber, wenn man so eine unerklärliche Lichtgestalt sieht, ob man sie nun für ein Gespenst hält oder für sonst etwas, versucht man ihr denn da auf den Buckel zu springen und treibt ähnliche Faxen?

Ja, das war das richtige Wort, dieser Yankee war ein unverbesserlicher Faxenmacher, und er brauchte gar keinen Zuschauer, er amüsierte sich im stillen über seine eigenen Faxen. Aber immerhin...

Kurz, für Nobody lag hier etwas vor, was er gar nicht definieren konnte. Für ihn war dieser Yankee ein lebendiges Rätsel.

Doch nein, deswegen durfte er sein Geheimnis nicht preisgeben, brauchte es auch nicht. Er konnte... er konnte den Gedanken nicht ausdenken! Es sollte alles ganz anders oder ganz von selbst kommen.

Wie vorhin der Sultan, vielleicht noch schneller, so kam jetzt Cerberus Mojan wieder aus dem Loche herausgeschossen, und der an der Tür stehende Nobody hatte keine Zeit mehr gehabt, beiseite zu springen, der kleine Dicke fuhr mit dem vorgeneigten Kopfe gerade in Nobodys Bauch, und dabei blieb es nicht, Mojan packte auch gleich zu.

»Hahahalt, jetzt habe ich dich gehahahascht!!«

Wie Eisenklammern legten sich die muskulösen Arme um die unsichtbare Gestalt.


Illustration

»Wewewer bibibist du? A—a—antwort oder ich haue dididir eine rururunter!«

Nobody war überrumpelt worden. Er hätte sich ja durch einen betäubenden Schlag sofort befreien können, aber gerade bei seinem alten Freunde wollte er dies nicht tun, und wenn er irgend jemandem auf der Welt sein Geheimnis anvertrauen konnte, so war es gerade dieser Yankee, von dessen Verschwiegenheit er sich schon oft genug überzeugt hatte.

»Pst, Mr. Cerberus Mojan — ich bin's Nobody!« flüsterte der gefangene Geist.

Gott weiß, was Mr. Mojan dabei denken mochte! Jedenfalls war dieser Amerikaner über alles erhaben — über alles, was auch passieren mochte, auch gar nichts konnte ihn aus der Fassung bringen — und wenn die Welt untergegangen, die Erde in die Sonne gestürzt wäre, er hätte gewiß diesen Vorgang mit Interesse beobachtet und gleich wieder irgendeine geniale Idee gefaßt, etwa wie man mit diesem Weltuntergang ein gutes Geschäft machen könne.

»Wewewer?«

»Nobody.«

»Das kakakann jeder sagen.«

Nobody lüftete seine Kappe. Als Mojan plötzlich vor sich den frei in der Luft schwebenden Kopf sah, mit Nobodys wohlbekannten Zügen, da freilich prallte er zurück. Doch das konnte noch immer Verstellung, Faxenmacherei sein, und danach benahm er sich auch.

Den Oberkörper vorgebeugt, die Augen weit vorgequollen, so stand er da, und dann zupfte er sich erst am linken Ohrläppchen, dann am rechten, dann kniff er sich in die Nasenspitze, und dann suchte er vorn an seinem blauen Jäckchen herum, zog eine Stecknadel heraus, beugte den Oberkörper noch tiefer, bis er einen rechten Winkel bildete, und stach sich mit der Stecknadel hinten in seinen fleischigsten Teil hinein.

Mit einem plötzlichen Ruck warf er den Oberkörper wieder zurück und reckte dafür den Bauch heraus, die Hände auf der hinteren Seite.

»Auuuuuu!!« heulte er. »Ja, ich wawawache wirklich! A—a—a—aber. Sie sind wohl guiguiguillotitininiert worden?«

Nobody maskierte sich wieder, ging auf ihn zu, faßte seinen Arm, und willig ließ sich Mojan in die Kleiderkammer führen. -

Wir folgen den beiden nicht. Was Nobody erfuhr, sei in einem besonderen Kapitel erzählt, welches auch gleich das Resultat der Unterredung bringt.


VIII. Die Toten kommen wieder.

»Mimister Nonobody, wewenn Sie auch nur noch einen Kokopf haben — Sie können noch sehen und werden bezeugen, daß ich, Mimister Cerberus Momojan, wirklich im Serail gegewesen bin.«

Mit diesen Worten eröffnete Mojan das Gespräch. Einen Menschen zu haben, der die Wahrheit seines neuesten Geniestreiches bezeugen konnte, das war ihm also die Hauptsache. Über das Wunder, das doch mit seinem Freunde verbunden sein mußte, zerbrach er sich nicht im geringsten den Kopf.

»Erzählen Sie, wie Sie eigentlich in das Serail gekommen sind.«

Mimister Momomojan wollte zu erzählen beginnen, wurde aber gleich im Anfange von Nobody noch einmal unterbrochen.

»Stottern Sie denn wirklich oder ist das wieder einmal eine fixe Idee von Ihnen? Dann würde ich Sie nämlich bitten, einstweilen Ihre Stotterei aufzugeben, dadurch würden Sie bei Ihrer Erzählung ein Drittel der Zeit ersparen. Sie können das später ja wieder nachholen, indem Sie jede Anfangssilbe nicht nur zwei- bis viermal, sondern drei- bis zwölfmal wiederholen.«

»Nenenee, dadas ist Tatatsache. Die Gegeschichte war nämlich so.«

Zuerst also erzählte Mojan, wie ihm seine chronische Maulsperre endlich selber lästig geworden war. Diese Angewohnheit hatte er für Nervosität gehalten, hatte sich in eine Nervenklinik begeben, unter anderem hatte er auch ein großes Senfpflaster auf den Rücken bekommen — (der Anstaltsarzt hatte den verrückten Kauz jedenfalls zu nehmen gewußt!) — es hatte geholfen, das blasenziehende Senfpflaster hatte die chronische Maulsperre ausgezogen, dafür aber ein Sprachübel erzeugt.

Dies war nicht so einfach erzählt, wie es hier wiedergegeben wird, Mojan brauchte zu allen Einzelheiten eine gute halbe Stunde, Nobodys Geduld war bewundernswert, daß er so ruhig zuhören konnte, bis er endlich doch dem Erzähler die Hand auf den Mund legte, aber aus einem ganz anderen Grunde, als weil er die Stotterei nun endlich satt hatte.

»Still, es kommen Schritte!«

Sie kamen näher, sehr viele Füße, die scheinbar mit Absicht recht kräftig auftraten. Dicht neben dieser Tür machten sie Halt, eiserne Werkzeuge klirrten, Steine polterten, eine Stimme gab Anweisungen.

»Die Arbeiter sind zurückgekommen,« sagte Nobody, »die Tür des Spukzimmers soll wieder zugemauert werden. Desto besser für uns. Nun stottern Sie ruhig weiter, jetzt haben wir Zeit genug. Nur dämpfen Sie etwas Ihre Stimme.«

Während seines Aufenthaltes in der amerikanischen Nervenklinik war in dem spleenigen Yankee die Idee und zugleich auch der feste Entschluß entstanden, die Geheimnisse des türkischen Serails kennen zu lernen. Gedacht, getan — es ging nach Konstantinopel.

Der ehemalige Großkaufmann hatte in der türkischen Hauptstadt eine Filiale gehabt, hatte in ihr selbst jahrelang gelebt. Von alledem wollte er nichts wissen, er wollte ein Fremder sein, was sich einzubilden ihm mit Hilfe seiner Phantasie leicht gelang. Seit er sich, obgleich beständig auf Reisen, zur Ruhe gesetzt, betrachtete er ja das ganze Leben nur noch als eine Komödie, in der er die Rolle des Narren spielte — jenes Narren, welcher in Wirklichkeit der Klügste von allen ist.

Also Mojan, der Konstantinopel wie seine Tasche kannte, engagierte einen Dragoman, ließ sich von diesem herumführen, die Sehenswürdigkeiten zeigen. Die Erklärungen des armenischen Fremdenführers mochten ihm schon Spaß genug machen.

Der Zug der Eunuchen mit der Sänfte kam an ihm vorüber. Mojan wollte Eunuche werden. Inwieweit ihm das ernst gewesen war, konnte Nobody jetzt nicht von dem quecksilbrigen Geist erfahren. So, wie er es sich vorstellte, sich einfach zum Dienst als Eunuche im Serail zu melden, ging es natürlich nicht, das wußte Mojan am allerbesten.

Kurz darauf war Mojan auf der Straße von einem ehemaligen Geschäftsfreund erkannt worden, der noch immer in Konstantinopel wohnte. Um die Erzählung abzukürzen, lassen wir uns hier auf keine Bezeichnung der vielen Vorstädte ein, wir bleiben einfach bei Konstantinopel.

Hier gab es keine Verstellung, Mojan freute sich selbst des Wiedersehens, der Dragoman wurde einstweilen entlassen, Mojan folgte dem Freunde nach dessen Villa.

Die beiden saßen auf der Veranda bei einem opulenten Frühstück und gedachten vergangener Zeiten, als im Garten ein schmetterndes Krähen erscholl und aus einem Gebüsch ein Hahn in menschlicher Gestalt zum Vorschein kam — ein kleiner, dicker Türke in roter Pumphose und blauem Jäckchen, der mit seinen Armen wie mit Flügeln wedelte und auf die Veranda zuhopste, um von dem Frühstückstische Brosamen zu haschen.

Ein Muschlin! Ein Wahnsinniger!

Die frei auf den Straßen Konstantinopels herumlaufenden Wahnsinnigen sind ja stadtbekannte Figuren, aber die Millionenstadt ist groß, diesen hier hatte der Geschäftsfreund doch noch nicht gesehen, und kein Abzeichen verriet, daß es ein dem Serail entsprungener Muschlin sein könne.

Die Speisenden warfen dem harmlosen Gaste Brot und Fleischstückchen zu, welche aufgepickt wurden, anders hätte es der Wahnsinnige gar nicht genommen, er war in seiner Einbildung eben ein Hahn, und da machte der Geschäftsfreund eine Entdeckung. Abwechselnd blickte er den Türken und seinen Gast an.

»Mr. Mojan, Sie brauchten sich nur zu rasieren, dem seine Sachen anzuziehen — man würde Sie gar nicht von ihm unterscheiden können.«

Das hätte der Freund nicht sagen sollen. Mojan zog schon das Etui mit den Rasierutensilien aus der Tasche.

»Wird gegegemacht.«

Vergebens begann jetzt sein erschrockener Freund zu warnen. Mr. Dhulman kannte Mojan ja zur Genüge, aber... die Gefahr war denn doch gar zu groß. Vor allen Dingen war der Wahnsinnige ein Eunuche, der gehörte wahrscheinlich noch jetzt einem Harem an, war daraus entsprungen, man war schon hinter ihm her, und wenn er erwischt wurde, kam er wieder in die Zwingburg irgendeines türkischen Großen, aus der ein Entweichen fast ebenso unmöglich ist wie aus dem Serail, das hier war eben nur eine große Ausnahme. Ja, konnte dieser Muschlin nicht dem Serail entsprungen sein?

»Um Gottes willen, Mr. Mojan!«

»Nininischt, es wird gegegemacht! Was gilt die Wette, daß ich heil und gesund wieder hierher zurückkomme?«

Ja freilich, wenn es eine Wette galt! Mr. Dhulman war einer von jenen Yankees, mit denen es auch der wettwütigste Engländer nicht aufnehmen kann.

»Well, was gilt die Wette?«

Uns interessiert es nicht weiter, wie die Wette formuliert wurde. Sie kam zustande, der menschliche Hahn wurde in das Innere der Villa gelockt, in einem sicheren Gemache sollte er vorläufig gefangengehalten werden. Daß sich Dhulman selbst dabei der größten Gefahr aussetzte, weil er einen heiligen Muschlin der Freiheit beraubte, seine Heiligkeit gewissermaßen schändete, das war dem Yankee jetzt alles ganz egal, er hatte gewettet!

Eine Viertelstunde später stolzierte Mr. Cerberus Mojan als Hahn in einer Hauptstraße Konstantinopels herum. Wir wollen nicht die Allotria schildern, die er trieb. Als wahnsinniger Hahn brachte der an sich schon verrückte Mojan ja nun etwas fertig!


Illustration

Doch sollte er nicht viel Zeit haben, seinen genialen Wahnsinn vor der Öffentlichkeit leuchten zu lassen. Des Weges kam ein Trupp bewaffneter Eunuchen daher, der menschliche Hahn wurde gepackt und in die Mitte genommen.

Und unserem Mojan ging sofort eine Ahnung auf. Ha, Eunuchen in der kaiserlichen Uniform! Dann ging es auch ins Serail! Wie das alles klappte! Ja, Glück muß der Mensch haben — und auch der Hahn!

Der Hahn wehrte sich etwas, wie es jeder in seiner Ehre gekränkte Hahn tun muß, und dann folgte er willig den Eunuchen, mit Fistelstimme krähend und unterwegs einige Eier legend.

Der Freund und der Spiegel hatten ihm versichert, daß die Ähnlichkeit mit Mufti, welchen Spitznamen er erst jetzt erfuhr, die größtmögliche sei. Die Eunuchen, obwohl sie den Muschlin doch jedenfalls genau kannten, schöpften nicht das geringste Mißtrauen, nicht einmal darüber wunderten sie sich, daß Mufti mit einem Male einzelne Anfangssilben mehrmals wiederholte. Bei einem Irrsinnigen kann ja nichts kontrolliert werden, besonders wenn seine Nachahmungssucht stark ist, auch Mufti mochte oft seine Gewohnheiten ändern.

So kam Mojan in das heilige Serail hinein, selbst ein Heiliger, ohne daß aus dem Hahn erst ein Kapaun gemacht worden wäre.

Was für Allotria nun Mojan gestern und heute im Serail schon getrieben hatte, das können wir hier nicht wiedergeben. Wir werden ihn auch noch als Hahn beobachten.

Nobody brauchte sich nicht zu wundern, daß er ihm im Serail noch nicht begegnet war, dieses war zu groß, auch war Mojans erstes Gebiet ein anderes Gebäude gewesen. Jetzt hörte Nobody gern den Streichen des verrückten Kerls zu, besonders wie dieser nun zu erzählen verstand!

Wir wollen vorläufig nur wissen, daß noch niemand einen Argwohn geschöpft hatte, es nicht mit dem echten Mufti zu tun zu haben, wobei freilich zu beachten ist, daß dieser Mojan trotz aller Verrücktheit ein ganz schlauer Patron war, der auch jetzt bei der größten Tollheit niemals eine gewisse Grenze überschritt.

Eben erzählte Mojan in seiner drastischen Weise, bei seinem Stottern noch komischer klingend, wie er zwischen den Haremsweibern gewirtschaftet hatte. Nobody mußte, um geräuschlos lachen zu können, sich die Seiten halten, als draußen die Schritte wieder abmarschierten.

Nobody hatte das Geräusch, welches die Arbeit verursachte, nie außer Acht gelassen, er sah vor seinen geistigen Augen die Mauer in der Tür wieder aufwachsen.

»Mojan, darüber können Sie wirklich einen Roman schreiben!« sagte er, als er nach seiner Laterne griff, um einmal nach der Uhr zu sehen.

»Einen Roman? Ach neinein, ich hahabe mich jetzt auf die Popopopoesie gegeworfen.«

Der Blendstrahl der Laterne flammte auf und fiel auf Nobodys Taschenuhr.

»Drei Stunden sind vergangen! Wahrhaftig! Wenn ich mich nicht auf meine Uhr verlassen könnte, ich würde es nicht für möglich halten. Ja, dann kann die Tür auch schon wieder zugemauert sein.«

»Ja, wowowo sind Sie denn eigentlich?« fragte Mojan. »Jetzt ist doch sogar Ihr Kokokopf weweg.«

»Mojan können Sie ein Geheimnis bewahren?«

»Wie eine totote Leileileiche.«

Nobody wußte, daß er diesem Manne sein tiefstes Geheimnis anvertrauen durfte, so gut wie seine Ehre. Er weihte ihn ein, sagte ihm eigentlich nur, daß er eine Kleidung besäße, die den Menschen unsichtbar mache.

»A—a—a—ach nee! Wowowoher hahaben Sie denn die? Wawawas hahat die denn gegekostet?«

»Zu kaufen gibt es solch eine Tarnkappe nicht,« lächelte Nobody, »und auf welche Weise ich in ihren Besitz gekommen bin, das allerdings möchte ich als mein Geheimnis bewahren.«

»Meimeimeintswegen,« sagte Mojan, und hiermit war diese Angelegenheit für ihn erledigt. Schon beschäftigte ihn ein anderer Gedanke, der für den kleinen Dickwanst ein weit größeres Interesse hatte.

»Nun wollen wir erst mamal in die Küküche gehen, ich hahabe Hunger.«

Aber sogleich ließ Nobody ihn nicht gehen. Es folgte noch eine kurze Unterredung, wobei Mojan ganz vernünftig war, er blieb einstweilen hier in dieser Kleiderkammer versteckt, während Nobody wieder in die Öffnung des Wandtunnels kroch, in der Voraussetzung, daß jetzt die beste Gelegenheit war, das Spukzimmer einer gründlichen Visitation zu unterziehen.

Erst auf dem Bauche rutschend, dann auf den Knien kriechend, erreichte er den Ausgang des Schachtes. Die schwärzeste Finsternis herrschte wieder in der Bibliothek.

Ehe Nobody seine Laterne aufflammen ließ, schob er sich aus dem Loche heraus, stieg an einem Regale herab.

Jetzt ließ er die elektrische Zündung der Benzinlaterne funktionieren, der Blendstrahl schoß heraus — und durch einen schnellen Druck brachte Nobody ihn wieder zum Verlöschen.

Denn in demselben Augenblick, da die Laterne aufgeflammt war, war ein knarrender Ton erschollen, hier in diesem Zimmer und - da trat auch schon der Geist des vor zweihundert Jahren verstorbenen Sultans aus der Wand!

Aber jetzt sah er etwas anders aus, als Nobody ihn bisher gesehen hatte. Wohl war es noch der hochgewachsene Türke mit dem finsteren Gesicht und mit dem lang herabhängenden Schnurrbart, aber das Geisterhafte fehlte vollständig, das Licht, welches ihn wie das ganze Gemach erleuchtete, ging von einer brennenden Lampe aus, die er in der Hand trug, und sie beleuchtete einen Menschen aus Fleisch und Blut, dessen orientalische Kleidung wirklich bunte Farben zeigte, wie die am Dolchgriff und anderswo angebrachten Edelsteine auch wirklich blitzten. Das Knarren war daher gekommen, weil sich eines der Regale gedreht hatte, es hatte mit seiner künstlichen Wand ein kleines Kabinett verschlossen, aus diesem war der Türke gekommen.

Hatte er den Lichtschein in dem finsteren Zimmer noch bemerkt? Das war jetzt für Nobody die Hauptfrage, und er war bereit, sich auf den Türken zu stürzen, um ihn unschädlich zu machen.

Nein, wie sich dieser benahm, ließ mit Sicherheit darauf schließen, daß er nichts Verdächtiges bemerkthatte, und nun konnte Nobody mit Ruhe weitere Beobachtungen an dem Fleisch und Blut gewordenen Geiste anstellen.

Der lange Schnurrbart war ein falscher, angeklebter. Ohne diesen war das Gesicht ein viel weniger wildes, mußte aber immer noch energisch genug sein. Vor allen Dingen, was Nobody am allermeisten interessierte, waren das wohl südländische, doch keine türkischen, überhaupt keine orientalischen Züge. Nobody hielt ihn für einen Italiener. Das Alter war schwer zu taxieren, besonders weil das Gesicht dem scharfmarkierten eines Schauspielers glich.

Es gab ja unter den Eunuchen genug Nichtorientalen, besonders viel Griechen und andere Südeuropäer, in einem aber hatte Nobody mit Bestimmtheit einen Deutschen oder wenigstens einen Germanen erkannt, der eben auf irgendeine Weise als Sklave, oder vielleicht auch freiwillig ins Serail gekommen war — doch dieser Mann hier, der die Rolle des Geistes so vortrefflich zu spielen wußte, der hier herumkriechen durfte, ohne vermißt zu werden, das konnte doch unmöglich ein gewöhnlicher Sklave sein, ganz abgesehen von den Diamanten, die er zu seiner Kostümierung verwendet hatte!

Wenig zu der ganzen Erscheinung des altertümlich gekleideten Türken wollte der große, moderne Reisekoffer passen, den er in der anderen Hand trug, Diesen setzte er vorläufig hin und trat mit vorgehaltener Lampe nach der wieder vermauerten Wand, beleuchtete die noch frischen Fugen.

Aus diesem Benehmen also erkannte Nobody, daß jener nichts von einem Lichtscheine bemerkt haben konnte, sonst hätte er doch erst im Zimmer umhergeleuchtet, mißtrauisch, hätte sich überhaupt ganz anders benommen.

Nein, er betrachtete nur die frische Mauerung, und da umspielte den scharfgeschnittenen Mund ein trübes Lächeln, und jetzt öffnete er diesen Mund zum Sprechen.

»Ihr hättet nicht nötig gehabt, die einmal aufgebrochene Tür wieder zu vermauern. Von jetzt an wird euch kein Geist mehr ängstigen — weder hier der Geist des Sultans Achmed Köprili, noch im Park der Geist seiner ermordeten Mutter. Mit mir haben auch diese beiden ihre Rollen hier ausgespielt — der Vorhang fällt, die Komödie ist aus!«

Flüsternd hatte er es gesprochen, und Nobody... war wie vom Donner gerührt!

Nicht etwa wegen dieser Worte — nein, wegen dieser Stimme! Denn es war eine tiefe Stimme gewesen, die unmöglich einem Eunuchen angehörte.

Außer dem Sultan noch ein anderer Mann, der auf die Eigenschaft dieses Wortes wirklich Anspruch machen konnte, hier im Serail?!

Man muß die Verhältnisse des Serails so gut kennen wie Nobody, um auch seine grenzenlose Überraschung verstehen zu können. Und er hatte sich an die Fistelstimme allüberall nun schon so gewöhnt, daß diese wohllautende, sonore Männerstimme auf ihn eben fast wie ein Donnerschlag wirkte.

Jedenfalls gab ihm dieser Mann aus Fleisch und Blut mit der tiefen Stimme ein viel größeres Rätsel auf, das erregte ihn viel mehr, als wenn er es mit einem echten Geiste aus dem Jenseits zu tun gehabt hätte.

Jener war von der Tür zurückgetreten; mit erhobener Lampe versuchte er das ganze Zimmer zu erleuchten. Er lächelte nicht mehr, aber noch dieselbe Schwermut, die wohl sonst nicht seinem Charakter entsprach, drückten seine scharfgeschnittenen Züge aus, und dasselbe sagten seine Worte.

»Nun lebe wohl, du trauter Raum, in dem ich täglich meine schönen Stunden verlebte. Ihr alten Manuskripte, die ihr mich nährtet wie eine Mutter ihr hungriges Kind, haltet mich nicht für undankbar. Ich habe eure geistige Milch eingesaugt, nie werde ich euch vergessen. Und einige von euch sollen mich begleiten.«

Es waren für Nobody keine dunklen Worte, und er fand es ganz selbstverständlich, daß der Türke jetzt die Lampe hinsetzte und den Koffer öffnete. Er wollte Manuskriptrollen hineinpacken.

Ehe er aber damit begann, setzte er sich selbst auf den Diwan, stützte den Kopf in beide Hände, so schaute er träumend vor sich hin, und die einzelnen Sätze sprach er in langen, langen Zwischenräumen, immer mit derselben schwermütigen Stimme.

»Wie fällt es mir doch so schwer. ——— Hafis, Alraschud, Semais! ——— Wie klingen noch eure köstlichen Makamen in meinem Ohr. ——— Und du, mein stolzer Giafar, du edler Barmezide! ——— dich muß ich treulos verlassen! ——— Schließlich nehme ich euch ja alle mit, ich habe euch ja alle mit heißem Mühen übersetzt, ich könnte auch euch selbst mitnehmen. ——— Euch selbst? Nur die geschriebenen Pergamente. ——— Euch selbst? frage ich noch einmal. ——— Nein, euren Geist, euch selbst kann ich nicht mitnehmen. ——— Ha, über diese kurzsichtigen Narren, welche nicht mehr an Geister glauben, welche über Geister spotten, weil sie dieselben nicht packen können! ——— Als ob in diesen uralten Pergamentrollen nicht die Geister derer steckten, welche sie einst geschrieben haben! ——— Doch nur der Geist kann den Geist begreifen!«

Er machte eine Bewegung, als wolle er aufstehen, vermochte es nicht, versank noch einmal in sein Träumen. Auch die letzten Worte waren für Nobody durchaus nicht dunkel gewesen. Ein Gelehrter, der hier die alten arabischen und türkischen Handschriften studiert und übersetzt hatte. Diese Periode schien jetzt vorüber zu sein, der Forscher nahm Abschied.

Erst die folgenden Worte waren für Nobody zum Teil unverständlich.

»Sieben lange, lange Jahre. ——— Ich bin darüber alt geworden. ——— Und mir war's wie ein schöner Traum. ——— Und es muß sein, es muß, es muß! ——— Diese Gelegenheit, meinen Wissenshunger zu stillen, kann ich mir nicht entgehen lassen. ——— Dieser Detektiv Nobody soll mich zu meinem Ziele führen!!«

Wie, was? Nobody?

Nobody allüberall!

Wenn Nobody nur eine Ahnung gehabt hätte, wer dieser Mann eigentlich war! Begegnet war er ihm noch nicht, darauf konnte er schwören.

Aber gehen lassen durfte er den nun nicht wieder, dem mußte er folgen, mochte Mojan auch noch so lange warten.

Es waren nur wenige Manuskripte, welche in den Koffer wanderten. Nur diese mochte er noch nicht gelesen oder noch nicht übersetzt haben oder überhaupt des Mitnehmens für wert erachten. Da es aber doch hohle Rollen waren und er sie nicht drücken wollte, so füllten diese wenigen Manuskripte den ganzen Koffer.

Er verschloß ihn, nahm auch die Lampe wieder auf, war bereit, die Bibliothek zu verlassen.

Das Regal war noch zurückgedreht, und Nobody ließ dem Fleisch gewordenen Geiste nicht den Vortritt, er trat zuerst hinein in das enge Kabinett, welches nichts weiter zeigte als eine nach oben und eine nach unten führende Steintreppe.

Noch einen schmerzlichen Blick des Abschieds warf der Türke zurück in den Raum, in dem er als Gelehrter manche Stunde beim traulichen Lampenschein verbracht haben mochte, dann trat auch er in den Alkoven und zog das wie eine Tür in Angeln gehende Regal hinter sich zu.

Es schnappte. Nobody fürchtete keine Falle, aus der er später keinen Ausgang wiederfand. Wo ein Mensch irgendeinen Mechanismus angebracht hatte, da wußte ihn dieser Detektiv auch sofort zu finden und zu öffnen, das war bei ihm geradezu schon ein Instinkt geworden, der ihn nie trog.

Der Türke setzte den Koffer hin, ließ ihn stehen und benutzte die nach oben führende Treppe. Wieder eine geheime Tür, und der folgende Nobody gelangte in einen Raum, aus dessen Beschaffenheit er auf den ersten Blick erkannte, daß es das Studierzimmer, richtiger die Werkstelle eines orientalischen Astronomen und noch mehr Astrologen war.

Wolle der geneigte Leser auf eine eingehende Schilderung dieses Raumes verzichten. Schon die Beschreibung des allereinfachsten Apparates, den ein Astrolog braucht, um das Horoskop zu stellen, wäre unmöglich. Mit einem Wort: alles so geheimnisvoll und unverständlich wie möglich, das Studierzimmer des Doktor Faust gegen dieses ein unschuldiges Kinderzimmer. Einiges kann, mit Nobodys Augen betrachtet, ja doch hervorgehoben werden.

So sah Nobody in dem weitläufigen Turmgemach fünf riesige Trommeln, vier in je einer Ecke und eine in der Mitte, jede von etwa zwei Meter Durchmesser, oben mit einem schneeweißen Leder oder Pergament bespannt, und was hätte nun wohl ein Europäer gesagt, der sich zwar höchst gebildet dünkt, aber noch keine Camera obskura gesehen hat, noch gar nicht weiß, was für ein Ding das ist, und er hätte auf den weißen Flächen Landschaften in natürlichen Farben gesehen, auf denen sich Menschlein hin und her bewegten, ganz, als ob sie lebten? Na, so ein gebildeter Europäer hätte eben an Zauberei geglaubt — bis er Gelegenheit bekam, so etwas auch einmal auf einem Jahrmarkt oder auf einem Aussichtsturm kennen zu lernen, und ist er irgend wißbegierig, so läßt er sich auch eine Erklärung dieses Apparates geben.

Hier kann die Erklärung des optischen Gesetzes, nach welchem die Camera obskura aufgebaut ist, nicht gegeben werden. Darüber belehrt jedes physikalische Handbuch, oder man befrage das Konversationslexikon.

Nobody bewunderte ebenso die Größe, wie die Vollkommenheit dieser fünf Kameras. Obgleich noch nicht verdunkelt, die nach allen Richtungen beweglichen Trommeln noch nicht genau eingestellt, gaben sie doch die Projektion der Gärten des Serails mit wunderbarer Deutlichkeit und Farbentreue wieder. Das dicke Männlein, das dort auf dem Hofe eben stehen blieb, um sich von einem anderen Eunuchen Feuer für seine Zigarette geben zu lassen, das war unverkennbar der Kislar-Aga! Auch unter den Wäscherinnen, die mit ihren Kupferkesselchen dort aus und ein gingen, auf jenem Platze Wäsche aufhingen, erkannte Nobody gleich bekannte Gesichter.

Wozu brauchte der Astrolog diese Cameras obskuras? Nun, sicher nicht dazu, um den Serailbewohnern belehrende Vorstellungen zu geben. Sie dienten den Haremsweibern gewiß auch nicht zur Unterhaltung. Nein, hier war das Heiligtum des Astrologen, aus diesen Cameras schöpfte er seine Allwissenheit, mit der er sicher manchmal prunkte, denn die Serailbewohner hatten doch keine Ahnung, was eine Camera obskura ist, und sie mochten dann nicht schlecht staunen, wenn ihnen der Astrolog auf den Kopf zusagte, was jeder einzelne zu einer gewissen Minute getrieben hatte.

Ein anderer Apparat, der Nobodys Bewunderung erregte, war eine riesige Laterna magica. Daß es eine solche war, erkannte er nur aus dem Projektionskörper, sonst waren da noch Einrichtungen vorhanden, die ihm bei der gewöhnlichen Laterna magica fremd oder unnötig erschienen, vor allen Dingen ein ganzes System, von zahllosen Winkelspiegeln, wie man es höchstens auf einem Leuchtturm findet, dann eine mächtige Trommel, die überall Einschnitte zeigte, an jenes Kinderspielzeug erinnernd, Lebensrad genannt, welches dem Auge, wenn man hineinblickt, scheinbar lebende Figuren zeigt, auf welcher physikalischen Spielerei auch die Erfindung der lebenden Photographien beruht.

Lebende Photographien gab es damals noch nicht, und es sei gleich bemerkt, daß dieser Apparat nicht etwa auch nur eine Ähnlichkeit besaß mit jenem, mit welchem man heute die zahllosen Photographien in blitzschneller Reihenfolge als Lichtbilder auf die Wand projiziert. Nein, dieser Astrolog war Edison noch nicht zuvorgekommen.

Immerhin, besonders beim Anblick der mit einer Kurbel versehenen Trommel erinnerte sich Nobody lebhaft gleich seines kleinen ›Lebensrades‹, mit dem auch er sich als Kind amüsiert hatte, und er gewann die feste Überzeugung, daß dies die Einrichtung war, mit welcher die so wunderbar vollendeten Geistererscheinungen erzeugt wurden, wozu noch die Kunst des Bauchredens kam, so daß es klang, als ob die Stimme aus dem Munde des Geistes käme. Aber auf welche Weise, wie der Mann es fertig brachte, sein eigenes Lichtbild in die Bibliothek hinab und durch den ganzen Korridor zu projizieren, das freilich war für Nobody vorläufig noch ein Rätsel, das bedurfte erst einer gründlichen Untersuchung des ganzen Apparates.

Der Türke entledigte sich des falschen Bartes und seiner Kleidung, legte dafür ein phantastisches Kostüm an, welches mit in Gold gestickten kabbalistischen Figuren bedeckt war, ebenso wie die hohe, chaldäische Mütze. Also es war der Basch-Kiatibi, der Sterndeuter und Hofzauberer, den Nobody zum ersten Male sah.

Hierauf trennte er die Diamanten von dem Gewande, das er als Sultan getragen, ab und barg sie wie den kostbaren Dolch und die ebenfalls mit Edelsteinen besetzten Schnabelschuhe in einem zweiten Koffer, welcher hier oben gestanden hatte.

»Der verabschiedet sich für immer von hier,« sagte sich Nobody, »er nimmt alle Kostbarkeiten mit.«

Jetzt entzündete der Astrolog eine kleine Handlaterne, nahm den Koffer, dessen Gewicht ganz bedeutend sein mußte, und verließ den Raum, stieg wieder die Treppe hinab, ihm nach Nobody.

Jener Alkoven war also nur ein Absatz auf der Treppe, hier befestigte der Astrolog die Laterne vorn am Gürtel, um auch den zweiten Koffer mit den Manuskripten in die Hand nehmen zu können, und er verfolgte die Treppe weiter hinab.

Nobody mußte annehmen, daß das Vorhandensein dieser Treppe sonst ganz unbekannt war, wie wohl noch manches andere in dem viele Jahrhunderte alten Gebäude, das an bizarrem Baustil seinesgleichen suchte. Doch der Astrolog brauchte nur den alten Bauplan gefunden zu haben, so war eben er allein in alles eingeweiht.

Die Treppe führte durch sämtliche Etagen hinab, jedenfalls in einem Schachte befindlich, der in einer der manchmal sinnlos dicken Mauern angebracht war. Nirgends zeigte sich ein Fenster, dagegen auf jeder Etage eine Tür, die aber wohl nur von innen so sichtbar war, draußen mochte sie geheimgehalten sein.

Der Astrolog benutzte keine. Immer tiefer und tiefer ging es hinab. Nobody zählte die Türen und Absätze, und auch sonst wußte er instinktiv, wo er sich immer befand.

Jetzt wurde das Erdgeschoß passiert, es ging in den Keller hinab. Noch immer nicht genug, die Treppe führte auch in den zweiten Keller hinab, von dessen Vorhandensein sich Nobody bereits überzeugt hatte.

Und immer noch eine Treppe tiefer! Da aber war das Ziel gesetzt. Die Stufen mündeten in einen weitläufigen Kanal, mit Wasser gefüllt; an beiden Seiten liefen höher angelegte Gänge hin.

Sofort wußte Nobody, wo er sich befand. Das war die alte Wasserleitung, aus den griechisch-byzantinischen Zeiten stammend, welche noch heute Konstantinopel mit Wasser versorgt. Wäre es nicht solch ein unverwüstliches Bauwerk, die faulen Türken könnten es nicht instand halten, es nicht ersetzen, sie wären wieder zu Brunnen zurückgekehrt und würden Wassermangel leiden. Kann sich doch sogar das weit intelligentere Kairo zu keiner gemeinsamen Wasserleitung aufraffen; jedes europäische Haus muß seine eigene Pumpstation haben, während selbst die reichen Araber es vorziehen, das Wasser von den Schlauchträgern zu kaufen.

Der Astrolog benutzte einen der galerieartigen Gänge, dazu angelegt, um an dem Bogengewölbe Reparaturen vornehmen zu können, die sich im Laufe von Jahrhunderten nicht als nötig erwiesen haben.

Die Richtung, die er einschlug, war eine nördliche und führte nach der Stadt. In der entgegengesetzten Richtung lief die Wasserleitung nach dem Meere, würde dasselbe natürlich nicht erreichen.

Doch nur ein kurzer Gang, so kamen wieder nach oben führende Stufen; der mit den Koffern belastete Astrolog erstieg sie und stieß, sich nur des Kopfes bedienend, eine leichte Falltür auf.

Nobody sah sich in einem Raume, in dem er sofort das Innere eines Kiosks, eines zum Wohnen eingerichteten Gartenhäuschens, erkannte. Ein anderer wäre vielleicht zurückgeschreckt, Nobody war viel zu sehr abgebrüht, um beim Anblick der weiblichen Gestalt, die auf einem Diwan lag, etwas Besonderes zu empfinden.

Es war eine Wachsfigur, oder aus sonst einer Masse gefertigt, ein altes Weib, in reiche, türkische Gewänder gehüllt, vorn auf der Brust blutbefleckt, die offene Brust eine schauderhafte Wunde zeigend, das todesblasse Antlitz mit den stieren Augen nach der Tür gerichtet.

Für Nobody war es ganz selbstverständlich, daß dies der Kiosk war, von welchem der Spuk in dem verwilderten Parke ausgehen sollte, hier hatte Sultan Achmed Köprili seine Mutter ermordet, da lag die Walide noch, so wie sie vom Dolch des Sohnes getroffen worden war.

Die Figur war nicht eben künstlerisch gefertigt, aber für einen Türken genügte es vollkommen. Wer hier die Tür öffnete, und er sah die Gestalt mit der schrecklichen Wunde, der trat sicher nicht ein.

Wozu hatte der Astrolog diesen künstlichen Spuk nötig? Nun, Nobody mußte es ja gleich zu erfahren bekommen; denn jener konnte noch nicht an seinem Ziele sein, er setzte nicht einmal die Koffer ab.

Zunächst aber sollte etwas passieren, was den unsichtbaren Nobody bald in die Gefahr einer Entdeckung gebracht hätte, oder was bei dem Astrologen wenigstens das höchste Mißtrauen erwecken mußte.

Der Magier war unvermutet und mit schneller Bewegung um eine Säule herumgegangen, und Nobody, um nicht mit ihm zusammenzustoßen, hatte schnell zurückspringen müssen, war dabei auf die Türschwelle zu stehen gekommen.

Da mit einem Male erhob sich auf dem Diwan das gespenstische Weib, streckte drohend einen Arm nach der Tür... blitzschnell trat Nobody, die Ursache dieser Bewegung gleich ahnend, von der Schwelle herab, die Figur sank wieder zurück.

Nobody, welcher durch das Betreten der Türschwelle einen Mechanismus hatte funktionieren lassen, war zu allem bereit. Es sollte noch gut ablaufen.

»Was war denn das?« murmelte der Türke, nur etwas verwundert, nicht bestürzt, bald nach der Figur, bald nach der Türschwelle blickend. Er selbst trat einmal auf diese — drohend richtete sich die Gestalt auf; er trat wieder herab — die Figur sank zurück.

Der Astrolog schüttelte nur den Kopf, dann war die Sache für ihn erledigt. Er mochte glauben, da er selbst dicht neben der Schwelle stand, diese selbst mit dem Fuße berührt zu haben, ohne es zu wissen. Für Nobody aber war das wieder eine Mahnung, äußerst vorsichtig zu sein!

Ja, wenn die alte Sultan-Walide freilich ihren Spuk in derartiger Weise trieb, sich vor dem Eintretenden aufrichtete und ihm drohend die Faust entgegenstreckte, dann konnte sie auch sicher sein, von keinem einzigen Serailbewohner in ihrer Leichenruhe gestört zu werden — und der Astrolog, daß sein Geheimnis nicht entdeckt wurde, welches er von diesem Spuke bewachen ließ. Nun noch der Kiosk in der Nacht erhellt, manchmal ein Ächzen und Stöhnen, wozu er selbst gar nicht nötig war, das konnte auch eine Windtute besorgen, und der ganze Park war vom Spuke verseucht, da war das Tfakassi angebracht — nur daß dieses ›Abführmittel‹ nicht für Geister, sondern für lebendige Menschen bestimmt war, d.h. nämlich, daß es den hier eingeschlossenen Geist nicht zurückhielt, sondern wißbegierige Menschen abhielt, diesen Park zu betreten.

Der Astrolog begab sich in eine Ecke des ziemlich großen Raumes und öffnete am Boden eine zweite Falltür. So sicher fühlte er sich hier, daß gar nichts getan war, um die Falltür vor einem spähenden Auge zu verbergen.

Wieder zeigten sich Stufen, er stieg sie hinab. Ein Glück oder doch ein großer Vorteil war es für Nobody, daß der Türke die Türen immer hinter sich offen ließ. Daraus war auch zu schließen, daß er bald denselben Weg zurücknehmen würde, wie wohl auch schwerlich zu erwarten war, daß er sich in diesem phantastischen Kostüm aus dem Serail entfernen würde. Jedenfalls brachte er jetzt nur das, was er später mitnehmen wollte, in Sicherheit.

Die Stufen führten wohl wiederum in einen unterirdischen Tunnel, der aber kein Wasser enthielt, auch viel enger und niedriger war, sicher gar nichts mit jener alten Wasserleitung zu tun hatte. Auf Nobody machte er überhaupt den Eindruck, als sei er noch gar nicht so alt; er war ganz erbärmlich ausgemauert, schon sehr defekt, an manchen Stellen war die Decke mit rohen Baumstämmen gestützt.

Dann fing er auch hier erst an und lief jener Richtung zu, in welcher das Meer lag, so daß der Türke also jetzt den Weg zurückwanderte.

Für Nobody war fast schon alles klar. Das Gartenhäuschen war eine Station, von der aus man sich heimlich aus dem Serail entfernen konnte. Aus der Wasserleitung gelangte man hinauf, eine direkte Durchbrechung mochte Schwierigkeiten gehabt haben, erst von diesem Kiosk aus hatte man den eigentlichen Fluchtweg gegraben, nach dem Meere zu. Daß der Astrolog diesen Tunnel gegraben hatte, daran zweifelte Nobody. Das wäre doch eine gar zu mühsame Arbeit gewesen, und vor Mitwissern würde er sich wohl hüten.

Nein, dieser geheime Weg hatte schon seit längerer Zeit existiert, vielleicht schon vor Jahrzehnten, das war recht wohl möglich, er war wieder vergessen worden, seine Verfertiger lebten nicht mehr, nur der Astrolog war auf irgendeine Weise in den Besitz dieses Geheimnisses gekommen, hatte den unterirdischen Tunnel vielleicht schon wiederholt benutzt.

Etwas mehr als vierhundert Schritte hatte Nobody gezählt, da wurde die künstliche Mauerung von einer natürlichen Felswand ersetzt, und nun noch wenige Schritte, so kam seitlich aus der Wand schwaches Tageslicht, eine Biegung, und Nobody genoß einen Anblick, den er nie vergessen konnte.

Es war eine Höhle, in der er sich befand, und tief unter ihm im goldenen Scheine der Abendsonne lag der blaue Spiegel des Marmarameeres, belebt von zahllosen Dampfern und noch zahlloseren Segeln, und links unten die Vorstadt Galata mit ihrem regen Hafenverkehr, alles wie einer niedlichen Spielschachtel entnommen und durch einen Zauberstab zum Leben erweckt.

Doch Nobody hatte keine Zeit, sich an diesem herrlichen Anblicke zu weiden. Er mußte seinen ahnungslosen Führer beobachten, und hauptsächlich mußte er sich orientieren, wo diese Höhle in dem das Marmarameer einschließenden Felsen lag, um sie auch von der Wasserseite aus finden zu können.

Die Höhle war nicht leer. Sie enthielt zwei große Truhen, von denen der Türke eine öffnete, und in der er kramte; er zog einen sehr langen Strick hervor, und um zu dem Bündel zu gelangen, hatte er erst einige ganz moderne, europäische Anzüge wegräumen müssen.

Hiermit war für Nobody der Beweis erbracht! Der Hofzauberer benutzte diesen heimlichen Weg öfters, um sich aus dem Serail zu entfernen, trat dann in Konstantinopel eben als Europäer auf, der er ja auch war, amüsierte sich auf seine Weise.

Wie er von hier aus hinabgelangte? Das sagte dort im Hintergrunde das am Boden befindliche, ziemlich weite Loch, aus dem das befestigte Ende einer Strickleiter hervorsah. Hier führte also ein senkrechter Schacht hinab. Ob dieser natürlich war oder wer ihn angelegt hatte, das würde wohl auch dieser Serailbewohner nicht sagen können.

Der Türke, wie wir ihn wegen seiner Kleidung noch weiter nennen wollen, befestigte die beiden Koffer zugleich an dem Seile, beide gingen beqem in den Schacht, und ließ sie so hinab.

Führte der Schacht direkt ins Wasser und lag dort unten schon ein Boot bereit, welches die beiden Koffer aufnahm, oder gab es da noch einmal einen horizontalen Tunnel?

Nobody würde sich diese Frage später selbst beantworten können. Während der Türke, sich feststemmend, die beiden Koffer an dem langen Seile hinabließ, was nicht so schnell ging, legte sich Nobody vorn an der Höhle auf den Boden nieder und spähte über den Rand hinab ins Meer, welches wohl tüchtig an der Felsenwand brandete, doch gerade hier unten ruhig war, wohl weil es durch eine vorgelagerte Barriere vor dem Wogenprall geschützt wurde.

Der Detektiv brauchte nicht lange Zeit, um sich an besonders geformten Felsen zu orientieren, so daß er diese Stelle auch von untenaus immer wieder finden konnte. Als er sich erhob, hatte auch der Türke seine Arbeit vollendet, die langsam hinabgelassenen Koffer mußten festen Grund erreicht haben, jetzt ließ er das Seil einfach hinabfallen.

Ohne Verzug trat er den Rückweg an. Was er bei seiner Entfernung aus dem Serail, diesmal für immer, mitnehmen wollte, hatte er ja nun schon unten. Nobody ihm nach.

Er ging genau denselben Weg zurück, durch den Kiosk wieder in die Wasserleitung, und wieder war es für Nobody ein großes Glück, daß der Vorangehende immer die Falltüren hinter sich offen ließ. Sonst hätte der unsichtbare Geist doch stets erst einige Zeit warten müssen, ehe er sie öffnen durfte, und leicht hätte er seinen Führer aus den Augen verlieren können, zumal, falls dieser doch nicht nach seinem Observatorium zurückkehrte, sondern vielleicht einen anderen ihm bekannten Ausweg nahm.

Und dieser Fall sollte denn auch wirklich eintreten.

Nach Nobodys sicherer Berechnung befand er sich beim Aufstieg der Treppe, die schon innerhalb des Gebäudes lag, erst in der Höhe der ersten Etage, als der Sterndeuter stehen blieb und sich an der Wand zu schaffen machte, wonach sich schwerfällig eine Steinplatte als Tür in Angeln bewegte. Nobody hatte den Handgriff, um den Mechanismus auszulösen, recht wohl beachtet, jetzt konnte er das, falls er es brauchte, auch nachmachen, und bei der Langsamkeit, mit der sich die große Platte drehte, war es ihm ebenso ein leichtes, mit einzuschlüpfen, ohne mit dem Türken in Berührung zu kommen.

Es war ebenfalls das Studierzimmer eines Sterndeuters und Zauberers, wie er am Hofe des Sultans nun einmal verlangt wird. Auch hier seltsame Apparate, an den Wänden magische Formeln, eine ganze Zauberbibliothek und anderer Hokuspokus. Aber einen großen Unterschied zwischen hier und dem Observatorium auf dem Dache fand Nobody doch heraus. Dort oben hatte alles einen praktischen Zweck, da fehlten die Totenschädel und die ausgestopften Schlangen und Tintenfische und die in Spiritus gesetzten Mißgeburten, die hier zahlreich vorhanden waren.

Offenbar war hier in der ersten Etage, wo sich auch der eigentliche Haushalt des Sultans besand, das Empfangszimmer des Hexenmeisters, und daher war dieses möglichst mysteriös herausgeputzt.

Der Bewohner dieses Raumes hielt sich hier nicht lange auf. Er schloß die geheime Öffnuug und benutzte dann die gewöhnliche Tür, um auf den Korridor zu treten, seinem unsichtbaren Begleiter wiederum wie auf erbetenen Wunsch Zeit und Gelegenheit lassend, daß er ihm folgen konnte.

Sein Ziel war die große Pforte zu den eigentlichen Wohngemächern des Sultans, verbunden mit dem speziellen Harem, wohin zu dringen Nobody bereits solche Schwierigkeiten gehabt hatte, was ihm gar nicht gelungen wäre, hätte er sich dem Sultan nicht selbst anschließen können, vor dem beide Torflügel aufgerissen wurden.

Wie würde es nun jetzt werden? Die angestellten Wächter öffneten vor einem Aus- oder Eingehenden das kleine Pförtchen immer nur gerade so weit, wie eben nötig war, da konnte Nobody unmöglich durchschlüpfen, ohne sich bemerkbar zu machen. Mindestens hätte er den höchsten Argwohn hervorgerufen, das ganze Serail wäre gleich auf den Kopf gestellt worden.

Doch Nobody hatte richtig geurteilt. Vor der mächtigen und gefürchteten Person des Sterndeuters und Zauberers wurde wenigstens der eine Torflügel mit Ehrerbietung so weit wie möglich aufgerissen, und Nobody befand sich zum zweiten Male im Allerheiligsten des Heiligtums.

Auch jetzt kam dem Eintretenden, als er kaum die Schwelle überschritten hatte, der rote Zwerg entgegen.

»Rott — allein,« sagte auch der Astrolog mit angenommener Fistelstimme, und der Zwerg trat beiseite, ließ ihn passieren, lief ihm also nicht voraus, um ihm immer die Portieren zu öffnen, welche Ehre wohl nur dem Sultan und vielleicht noch der Walide erwiesen wurde.

Für Nobody aber entstand sofort eine Frage. Auch der Sultan hatte nichts weiter als ein ›rot!‹ gesagt, und die Türwächter hatten bei seinem Eintritt nicht etwa eine Meldung gemacht, man konnte auch unmöglich hören, ob nur ein oder ob alle beide Torflügel geöffnet wurden.

Wie konnte der Blinde nun unterscheiden, ob es der Sultan oder ein anderer war? Hier mußte ihn auch sein Gehör im Stiche lassen, gerade hier lag ein weicher Teppich, der auch den festesten Schritt unhörbar machte. Kam da allein der Unterschied der Stimme in Betracht?

Nobody hatte noch etwas anderes beobachtet. Der Zwerg hatte sich dem Eintretenden ziemlich dicht genähert gehabt, mit etwas vorgeneigtem Kopf, dabei hatten sich die Nüstern seiner Nase sichtlich gebläht. Kein Zweifel, dieser blinde Zwerg besaß die Spürnase eines guten Hundes, der ihm befreundete Menschen, selbst seinen Herrn mehr durch Geruch denn durch das Gesicht oder Gehör unterscheidet.

So mußte der Sterndeuter die Portieren mit eigener Hand zurückschlagen, und in Anbetracht seiner hohen Würde tat er es gravitätisch, was dem folgenden Nobody sehr zustatten kam.

Aber es waren andere Portieren, die er passierte, er nahm in den Zimmerfluchten also eine andere Richtung als damals der Sultan, und bald kam er in eine Gegend, in der es lebendig zuging.

Auf dem endlos langen Korridore, auf welchem zu beiden Seiten eine Portiere neben der anderen hing, eilten Eunuchen und Sklavinnen hin und her, meist mit dampfenden Schüsseln, mit denen sie hinter den Vorhängen verschwanden. Hier waren die Wohnräume der Odalisken, das frühzeitige Abendessen wurde ihnen gebracht, welches jede allein einnahm, oder doch nur in Gesellschaft ihrer Diener und Dienerinnen.

Der Astrolog im Kostüm des Magiers mit chaldäischer Mütze wandte sich an einen durch die Peitsche als Kislar ausgezeichneten Eunuchen.

»Welche Gemächer bewohnt die neue, schwarze Odaliske, welche Suleima genannt worden ist?«

Der Kislar wunderte sich nicht, daß auch der all- oder doch vielwissende Magier so etwas noch fragen mußte, der wollte seine Allwissenheit eben nicht gar zu sehr anstrengen, wollte sie schonen, und er ging als Führer voraus, bis er eine Portiere zurückschlug.

Wie? Die Abessinierin wollte der Astrolog aufsuchen? Jetzt verstand Nobody schon eher, weshalb jener vorhin seinen Namen genannt hatte. Der Magier wollte jedenfalls mehr über den berühmten Detektiven hören, von dem er schon vernommen, wahrscheinlich verließ er nur seinetwegen für immer das Serail, nämlich um Nobody aufzusuchen, um vielleicht bei ihm Unterricht in der ›höheren Zauberei‹ zu nehmen.

So dachte Nobody. Er sollte sich einmal vollkommen geirrt haben!

In diesem Vorraum kauerten auf dem Teppich ein halbes Dutzend Eunuchen und Sklavinnen, hier wohnend und schlafend, nur zur Bedienung dieser einen Odaliske befohlen. Sie leckten eben ihre silbernen Teller aus, die Abendmahlzeit war schon vorüber.

Mit scheuer Ehrfurcht wurde der eintretende Magier angestarrt, ohne daß man ihm einen Gruß entgegenbrachte.

»Suleima?«

»Sie reinigt sich, wie es der Prophet befiehlt,« lautete die Antwort.

»Imschi — packt euch!«

Eiligst verließen die dienstbaren Geister das Gemach, nach dem Korridor hinaus.

Der Magier schlug die zweite Portiere zurück.

In diesem zweiten Raume, viel kostbarer ausgestattet, befand sich Theodora. Auch sie hatte gespeist, zwei Dienerinnen waren damit beschäftigt, ihr nicht nur, wie es die Religion vorschreibt, die Hände zn waschen, sondern auch den entblößten Oberkörper mit einer wohlriechenden Essenz einzusalben, worauf sie sich jedenfalls gleich in ihr Schlafgemach zurückziehen wollte, welches durch eine dritte Portiere abgegrenzt war. Jede Odaliske besitzt drei Zimmer, eines für die Diener, eines zum Wohnen und eines zum Schlafen, und dabei bedeutet Odaliske wörtlich übersetzt Stubenmädchen. Auch die Sklavinnen, welche das Haus eines begüterten Türken reinlich halten müssen, heißen Odalisken, das sind richtige Stubenmädchen. Das hier im Serail sind aber eben kaiserliche Stubenmädchen, darin liegt der Unterschied, die sind nur zum Amüsement da, und da braucht man gar nicht nach der Türkei zu gehen, um etwas Ähnliches zu finden, auch in unseren christlichen Kulurstaaten ›soll‹ es genug Hausherren geben, manchmal schon mit grauen Haaren, welche bei einem neuzuengagierenden Stubenmädchen mehr auf gute Figur und hübsche Larve als auf Geschicklichkeit sehen, und solch ein Stubenmädchen soll es dann sehr gut haben - zumal, wenn die Frau nicht zu Hause ist.

Während es die Sklavinnen nicht für nötig hielten, ihre halbnackte Herrin vor den Augen des eintretenden Mannes zu verhüllen, griff Theodora hastig nach einem Schal und warf ihn sich um. Dann wandte sie sich mit flammenden Augen an den Eindringling.

»Unverschämter! Wie kannst du wagen, ohne Anmeldung hier einzutreten! Der Tod über dich!«

Mit Vergnügen konstatierte Nobody, wie der Haremsbewohner, der gar kein Eunuche war, sich nur durch seine hohe Stimme für einen solchen ausgab — auch wieder ein Rätsel, das Nobody erst noch lösen mußte — höchst verlegen wurde.

Doch schnell raffte er sich wieder zusammen, trat gebieterisch auf.

»Imschi — entfernt euch!« befahl seine Fistelstimme auch hier kurzerhand den beiden Dienerinnen.

Die eine derselben hatte der Herrin schnell etwas zugeflüstert, das war doch der Basch-Kiatibi, der überall Zutritt hatte — und die Negerin mochte daran denken, daß es ja kein Mann war, der ihr gefährlich werden konnte, stillschweigend duldete sie, daß sich auch diese beiden Sklavinnen sofort entfernten, und dann heftete sich ihr dunkles Auge mit Spannung auf den so seltsam herausgeputzten Gast.

Was konnte ihr dieser Besuch des Magiers und Sterndeuters bringen? Und nicht minder erwartungsvoll war Nobody.

Der Basch-Kiatibi blickte noch einmal durch die Portiere zurück, ob sich die Diener auch wirklich entfernt hätten, ging nach der anderen Portiere, schlug sie zurück und musterte das Schlafzimmer, welches leicht zu übersehen war, da z.B. auch das Bett nur durch Teppiche und Kissen ersetzt wurde, und dann wandte er sich mit verheißungsvollem Gesicht an die Abessinierin.

»Bist du allein?« flüsterte er.

Schon dieses geheimnisvolle Gesicht mußte der unfreiwilligen Serailbewohnerin etwas Besonderes erzählen, und nun kam noch das Flüstern hinzu.

»Ich bin es,« gab sie ebenso leise zurück.

»Ich komme als der Abgesandte deines Sabans.«

»Von — von...«

»Ich komme im Namen Nobodys.«

Oho! dachte Nobody. Wegen dieser Flunkerei sollst du dich mir gegenüber noch verantworten.

Was für einen Eindruck diese Eröffnung auf Theodora machen mußte, läßt sich denken.

»Hast du ihn gesehen?«

»Nicht gesehen, nur gesprochen. Er hält sich doch in unsichtbarer Gestalt hier auf.«

»Was sagte er?«

»Er will dich befreien.«

Der Magier hatte also vom Sultan oder von der Walide die Geschichte vernommen, die Behauptung der neuen Odaliske, daß sich der berühmte Detektiv unsichtbar im Serail aufhalte. Das benutzte er. Aber wozu? Was bezweckte er eigentlich?

Nun, Nobody brauchte ja bloß zu lauschen.

»Warum kommt er nicht selbst?«

»Er bereitet schon alles zur Flucht vor.«

»Hat er sich denn dir anvertraut?«

»Gewiß.«

»Kennst du ihn denn?«

»Nobody, welcher eigentlich Sir Alfred Willcox heißt, ist sogar ein guter Freund von mir.«

Habe ich auch noch nicht gewußt, dachte Nobody.

»Hat er dir etwas von mir erzählt?«

»Alles.«

»Und er wird mich als seine Sabana entführen?«

»Sicher.«

Die Abessinierin hingegen war ihrer Sache doch nicht so ganz sicher, ihre Hoffnungsfreudigkeit kämpfte sichtbar mit Zweifeln.

»Wohin wird er mich bringen?«

»Zurück in deine Heimat.«

»Nach Abessinien?«

»Ja.«

»Nach Godscham?«

»Bis nach Godscham,« versicherte der Magier, der, falls ihm nicht alles mitgeteilt worden war, es bei solchen Fragen mit seinen Antworten sehr leicht hatte.

»Als mein Saban wird er mich begleiten?«

»Als dein Saban.«

»Nobody ist schon verheiratet, und er ist ein Christ, der nur eine Frau haben darf,« gab sie jetzt ihrem Zweifel Ausdruck, ein Zeichen, daß sie ihrer Sache also doch nicht so sicher war. Sie hatte dem Sultan gegenüber nur etwas renommiert.

»Nobodys Gesinnung hat sich geändert.«

»Inwiefern?«

»Als er dich hier im Serail als unglückliche Gefangene gesehen hat, ist er in Liebe zu dir entbrannt. Er ist willens, deinetwegen seine Frau und Heimat zu verlassen, um als dein Saban, als dein Gatte mit dir nach Godscham zu gehen.«

Da faltete die Abessinierin, leichtgläubig wie jedes Weib, wenn es liebt, gleichgültig, ob die Haut nun weiß oder schwarz oder rot oder braun oder gelb ist, die Hände und warf einen verklärten Blick zu der vom Qualme der Wasserpfeife verräucherten Decke empor.

»Er liebt mich, er wird mich als mein Saban begleiten!« jubelte sie leise, wie eben nur ein Weib bei solch einer Gelegenheit jubeln kann.

Na warte, mein lieber Freund, dachte Nobody, die Suppe, die du mir hier einbrockst, die wirst du gefälligst selber auslöffeln!

»Bist du bereit, mit mir zu kommen?« fuhr der Basch-Kiatibi jetzt hastig fort.

Welche Frage! Höchstens etwas Neugier war vorhanden.

»Du selbst kommst mit?«

»Ich selbst.«

»Du bist doch der Basch-Kiatibi.«

»Der bin ich.«

»Du gibst doch nicht etwa deshalb deine Stellung hier auf?«

»Ich muß es.«

»Weshalb?«

»Ich bin nichts weiter als ein gehorsamer Diener dieses Nobody, nur ein Werkzeug, für seine Zwecke hier im Serail angestellt. Er hat mir befohlen, dich zu ihm zu bringen, und ich gehorche ihm bebedingungslos.«

Wenn du noch nicht mein gehorsamer Diener bist, so sollst du es werden, dachte Nobody -

und zugleich ging ihm jetzt eine Ahnung auf, was der Magier eigentlich bezweckte. Der wollte die Negerin im eigenen Interesse entführen, wenn nicht als begehrenswertes Weib, so als eine abessinische Fürstin, von der reiches Löscgeld zu erwarten war — oder er konnte auch beides zuleich im Auge haben.

»Dann kannst du auch nicht wieder hierher zurückkehren.«

»Natürlich nicht.«

»Wo befindet sich mein Saban jetzt?«

»Er hat das Serail bereits verlassen.«

Die Enttäuschung war grenzenlos.

»Verstehe doch nur recht,« beschwichtigte der Magier schnell ein aufsteigendes Mißtrauen. »Nobody kann sich wohl selbst unsichtbar machen, aber doch nicht andere Menschen, und so ist es auch nur ihm allein möglich, nach Belieben ein- und auszugehen, dich kann er ungesehen nicht aus dem so überaus scharf bewachten Serail herausbringen. Das bringe allein ich fertig, kraft meiner gefürchteten Machtstellung, die ich als Zauberer hier einnehme. Und auch Nobody hat hierbei tätig zu sein, aber außerhalb des Serails, er hat zum Beispiel die Wachen einzuschläfern.«

»So treffe ich draußen mit ihm zusammen?«

»Gewiß doch, sofort.«

Es war nur eine Enttäuschung ihrerseits gewesen, ihren Saban nicht gleich sehen zu können, durchaus kein Mißtrauen.

»Gut. Wie soll die Flucht bewerkstelligt werden?«

»Höre mich an. Du mußt auch wissen, weshalb ich dich hier ausgesucht habe, falls wir überrascht werden, obgleich dies nur durch den Padischah selbst geschehen könnte. Ich habe dir, wie jeder neuen Odaliske, welche ins Serail kommt, das Horoskop gestellt... Weißt du, was das ist?«

»Nein.«

»Das heißt, ich habe die Sterne nach deinem Schicksal befragt, dazu ist eine mathematisch-astronomische Zeichnung nötig, welche man Horoskop nennt. Es hat mir das Günstigste von dir erzählt, was jeden treuen türkischen Untertanen tief beglücken wird. In der Beiramnacht sollst du dem Padischah zugeführt werden...«

»Niemals! Eher in den Tod!«

»Närrin! Verstehst du mich nicht? Ich muß doch einen Grund haben, daß ich dich besuche, daß du dann deine Gemächer verlassen kannst!«

»Ich verstehe,« murmelte das leidenschaftliche Weib, beschämt ob ihrer unbegründeten Heftigkeit.

Der Basch-Kiatibi setzte seinen einfachen Plan zur Flucht weiter auseinander — einfach für die Verhältnisse des Serails.

Die Sterne hatten ihm gesagt, daß die schwarze Odaliske dem Padischah einen Sohn schenken würde, den zukünftigen Beherrscher aller Gläubigen. Aber ganz genau konnte er das doch nicht bestimmen, er konnte sich auch getäuscht haben. Jetzt am Tage konnte er die Sterne ja überhaupt nur mit einem besonderen Instrumente sehen. Aber bei Nacht würde er Gewißheit erhalten, und beim Stellen des Horoskops war dann auch nötig, daß Suleima selbst mit dabei war.

»Halte dich also bei Anbruch der Dunkelheit bereit, du wirst abgeholt.«

Mit diesen Worten entfernte sich der Magier wieder, Nobody hinter ihm her.

»Wenn ich erst wieder als Fadinah in meinem Lande bin, meine und Nobodys als meines Gatten unaussprechliche Dankbarkeit werden dir sicher sein!« flüsterte die Abessinierin ihm nach, als er ihr schon den Rücken wandte.

Auch der Basch-Kiatibi hatte noch etwas zu sagen, aber nur für sich, er murmelte es, schon die Portiere hebend, nur in sich hinein, doch deutlich vernehmbar für Nobodys feines Ohr, und zwar war es Italienisch.

»Ja, wenn! Wenn du vielmehr wüßtest, was ich mit dir vorhabe, weswegen ich dich befreie!«

Er kehrte nach seinem in derselben Etage liegenden Arbeitszimmer zurück; Nobody konnte ihm ohne Schwierigkeiten folgen.

Hier bleiben wollte der Magier nicht, er wandte sich sofort der Wand zu, um den Mechanismus spielen zu lassen, weil er wieder die geheime Treppe benutzen wollte, entweder nach oben oder nach unten.

Er sollte nicht dazukommen, die Öffnung in der Wand herzustellen.

»Bona sera, amico mio. Wir können das Wiedersehen ja gleich in diesem Zimmer feiern.«

Wie ein Blitz fuhr der italienische Türke herum — vor ihm stand ein anderer Türke, ein noch junger Mann, durch Goldborten als Kaiserlicher Haremswächter gekennzeichnet. Nur die Stimme war nicht die eines solchen gewesen.

Der erste Griff des Entsetzten war nach dem Gürtel, ein Dolch funkelte in seiner zum Stoße erhobenen Hand.

»Verschnittener Hund, was hast du hier zu suchen, wie kommst du hierherein?«

»Daß ich kein Eunuche bin, müßten Sie doch gleich heraushören?!«

Eigentlich kam erst jetzt das richtige Entsetzen, der Dolch fiel zu Boden, die zitternde Hand hatte ihn nicht mehr halten können, weit quollen die stieren Augen hervor. Jetzt erst kam ihm das mit der Stimme zum Bewußtsein, und er war ja auch italienisch angesprochen worden!

»Wer... wer...«

»Wer ich bin? Als Eunuche nenne ich mich Sadak, sonst ist mein Name Nobody.«

»No... No...«

»Nicht no no, sondern si si, Signore. Ich bin Nobody alias Sir Alfred Willcox, Baronet von Kent. Na, da tun Sie doch nicht so, als ob Sie mich nicht kennten! Sie haben mich doch vorhin einmal Ihren guten Freund, ein andermal Ihren Herrn und Gebieter genannt, dem Sie unbedingt gehorchen!«

Der Basch-Kiatibi hatte sich überraschend schnell von seinem Schreck erholt. Jetzt nahm er die Sache, wie sie war, er setzte ein wißbegieriges Forschergesicht auf. Mit derartigen Menschen hatte Nobody am allerliebsten zu tun, selbst wenn es der größte Bösewicht war.

»Sie sind wirklich der berühmte Detektiv Nobody, der Champion der englischen Königin?«

»Tatsache, ich bin es. Kennen Sie die originelle Legitimation, welche er...«

»Er zerschmettert zwischen seinen Händen eine elfenbeinerne Billardkugel.«

»Geben Sie eine her, ich mach's Ihnen vor.«

»Ich glaube es. Und Sie behaupten auch, sich unsichtbar machen zu können?«

»I, Gott bewahre,« lachte Nobody, »das haben mir nur die Leute angedichtet.«

Die Spannung, mit welcher der Magier diese Frage gestellt hatte, ließ ganz bedeutend nach, es schien wie eine Erleichterung über ihn zu kommen.

»Ja, wie gelangen Sie aber in das Serail herein?«

»Auf Schleichwegen.«

»Nicht möglich.«

»Ich bin doch der lebendige Beweis, daß es mir gelungen ist.«

»Auf welchen Schleichwegen?«

»Ich will Sie Ihnen verraten, weil Sie ja mein guter Freuud sind. Sie nehmen ein Boot, fahren von Galata aus um das Kap Feran herum, dann werden Sie an der steilen Küste zwei eigentümliche Felsen sehen, der eine sieht wie ein Riese Goliath aus, der andere wie der große Hut mit der Klunkertroddel, den Goliath getragen haben soll. Zwischen diese beiden Felsen lenken Sie ihr Boot hinein... was haben Sie denn? Sie können es ganz ruhig wagen, gerade dort wird die Brandung von einer vorgelagerten Barriere abgefangen.«

Der Magier war förmlich zusammengeknickt, wieder quollen die Augen hervor, die auf dem Erzählenden hafteten.

»Weiter — weiter!« kam es keuchend von seinen farblos gewordenen Lippen.

»Nun, da hängt eine Strickleiter herab, dis klettern Sie hinauf, kommen in eine Höhle, dort können Sie erst ein bißchen Toilette machen, Garderobeschränke oder -kisten sind vorhanden...«

»Woher... woher...«

»Woher ich das weiß? O, ich weiß noch viel mehr. Dann gehen Sie immer geradeaus durch einen Gang, bis Sie an eine Treppe kommen, die ersteigen Sie, öffnen eine Falltür, Sie gelangen ineinen Kiosk - vor der alten Türkin, die auf dem Diwan liegt, brauchen Sie nicht zu erschrecken, das ist nicht etwa die ermordete Sultan-Walide, die der Verwesung spottet, das ist nur eine künstliche Figur, welche sich sogar auch aufrichtet...«

»Genug, genug! Sie sind ein Teufel!«

»Nein, ich bin Nobody und ein gar guter Mensch.«

Bei dem letzten, mit Nachdruck gesprochenen Worte richtete sich der andere wieder auf, um seine Fassung nicht mehr zu verlieren.

»Woher kennen Sie diesen geheimen Weg?«

»Das ist meine Sache.«

»Sie haben jetzt offenbar meine Unterredung mit Suleima, der neuen Odaliske, belauscht.«

»Ich weiß wenigstens, was Sie mit ihr gesprochen haben.«

»Sie müssen sich aber doch hier in diesem Zimmer versteckt gehalten haben, wie können Sie da dort gewesen sein?«

»Das ist wiederum meine Sache. Allwissend bin ich nicht, doch viel ist mir bewußt. Nur das will ich verraten, daß ich auch die Wände sprechen lassen kann. Sonst lasse ich niemals in meine Karten blicken.«

Nobody sah dem Manne an, daß dieser gar nicht auf den Gedanken kam, es könne sich jemand unsichtbar machen. Kein vernünftiger Mensch glaubt an so etwas — ebenso wie vor zwanzig Jahren noch kein vernünftiger Mensch daran geglaubt hat, die Zeit würde kommen, da man ihm die Knochen im lebendigen Leibe photographieren könne. Ein Narr, der ihm so etwas Hirnverbranntes vorgeschwatzt hätte! Und Nobody liebte solche vernünftige, aufgeklärte Leute, die nur an das glauben, was sie mit ihren Fäusten packen können. Phantastische Narren hatte er manchmal viel mehr zu fürchten.

»Ich weiß, ich weiß, ich leide an dem Fehler, manchmal Selbstgespräche zu führen, wobei ich meine geheimsten Gedanken offenbare,« murmelte der Magier, der ja selbst Hokuspokus machte.

So hatte er gleich eine Erklärung gefunden, und alles andere, was nicht in seine Schablone passen wollte, existierte jetzt nicht mehr für ihn. Das ist nämlich die höhere Weisheit dieser ›Aufgeklärten‹, über welche schon Goethe seinen Spott ausgegossen hat.

»Was ihr nicht tastet, steht euch meilenfern. Was ihr nicht faßt, das fehlt euch ganz und gar. Was ihr nicht rechnet, meint ihr, sei nicht wahr, Was ihr nicht wägt, hat für euch kein Gewicht, Was ihr nicht münzt, das, glaubt ihr, gelte nicht.«

Das merkt euch, ihr Aufgeklärten mit Zirkel, Wagschale und Logarithmentafel!!

»Ihr studiert die große und kleine Welt, Um es am Ende gehn zu lassen, wie's Gott gefällt.«

Das ist gleichfalls von Goethe.

»Nun gestatten aber Sie, daß ich Sie frage,« fuhr Nobody mit seiner unverwüstlichen Ruhe fort, die ihn vor einem ihm zugedachten Dolchstich meist besser schützte als dies ein stählerner Schuppenpanzer hätte tun können. »Wie kommen Sie dazu, mich mit diesem schwarzen Weibe verheiraten zu wollen?«

Wie gesagt, die Fassung verlor der italienische Türke nicht mehr. Aber äußerst verlegen wurde er jetzt.

»Der Padischah... die Sultan-Walide... ich dachte... ich glaubte... die Negerin sagte selbst...«

»Na, schon gut,« unterbrach Nobody die Stotterei. »Ich nehm's Ihnen auch gar nicht übel, ich mach's ja manchmal geradeso, sage manchmal auch etwas, was ich nicht verantworten kann, wenn ich irgendeinen Plan vorhabe. Aber, mein guter Mann... nee, ist nicht!... da haben Sie der armen Schwarzen einen Floh ins Ohr gesetzt... ich bin Familienvater mit zwei Kindern, die sich noch nicht selber ernähren können... und unter die Türken gehen mag ich nicht... ich habe zu Hause eine gar gute Frau, und mit der habe ich gerade genug... nee, das kann ich nicht. - Doch Scherz beiseite. Was haben Sie mit der Negerin eigentlich vor? Seien Sie offen.«

Und der so vollständig überrumpelte Basch-Kiatibi war es. Eine solche Sprechweise mußte ja wie ein geheimnisvolles Zaubermittel wirken. Ja, in so etwas war Nobody ein wirklicher Hexenmeister!

»Ich wollte sie entführen.«

»Um aus Ihrer eigenen Gefangenen dann Lösegeld zu erpressen?« fragte Nobody ganz gemütlich.

»Nein.«

»Wozu sonst?«

»Um mit ihr nach Abessinien zu gehen.«

»Um sie dort zu heiraten, um Fürst von Godscham zu werden?«

»Nein — ja. Um meinen Wissensdurst zu befriedigen.«

»Aha. Für manch anderen würden Sie ganz und gar unverständlich sprechen — nicht für mich. Wie ist Ihr eigentlicher Name, wenn ich fragen darf?«

»Anselmo Montecagni,« stellte sich der Italiener vor, dabei sogar eine Verbeugung machend.

»Sie sind Gelehrter, Signor Montecagni?«

»Ja.«

»In welcher Wissenschaft?«

»In... in... ich begeistere mich für alles. Studiert habe ich Medizin und Astronomie. Ich wollte sagen — ich bin Doktor der Medizin und Philosophie.«

»Ich habe noch nichts von Ihnen gehört.«

»Ich bin stets ganz einsam gewesen, habe nichts Schriftliches herausgegeben.«

»Gestatten Sie, Signor Dottore, daß ich noch einige Fragen an Sie richte.«

»Bitte sehr.«

»Ich möchte Ihnen durch meine Fragen einen Beweis geben, wie schnell ich den Charakter eines Menschen aufzufassen verstehe.«

»Das interessiert mich sehr.«

»Sie sind ein Mann von unersättlichem Heißhunger.«

»In gewissem Sinne, ja. Es kommt darauf an, welchen Heißhunger Sie meinen.«

»Den geistigen. Oder ich will lieber von Durst sprechen. Sie werden von einem unersättlichen Wissensdurst geplagt.«

»So ist es.«

»Und die Befriedigung dieser Leidenschaft, die nur in der höchsten Potenz unedel, schädlich, gefährlich wird, befriedigt Sie.«

»Vollkommen.«

»Das Bedürfnis nach Ruhm, Ehre und dergleichen Kinkerlitzchen haben Sie hinter sich, darüber sind Sie erhaben.«

»Ich habe nie Neigung nach äußerlichem Glanz empfunden.«

»Sie sind hier Basch-Kiatibi geworden, weil Sie wußten, daß das Serail eine kostbare Handschriftenbibliothek enthält, die Sie studieren wollten.«

»So ist es.«

»Um zu Ihrem Ziele zu gelangen, ließen Sie sich, schon in gereiften Jahren, Ihrer Mannbarkeit berauben.«

Tief fiel das Haupt des Italieners auf die Brust herab.

»Ja,« hauchte er dann.

Schade, daß er dabei nicht Nobodys Gesicht sah, diese Augen, die auf ihm ruhten.

Doch er bekam es ja zu hören.

»Mann, Mensch — ich weiß nicht, ob ich Sie verabscheuen oder als einen göttlichen Heroen anbeten soll,« erklang es im Tone des tiefsten Staunens.

Der Magier hob wieder den Kopf.

»Ich war...«

»Schon gut. Ich ziehe es vor, Sie zu bewundern. Ich liebe solche ungeheuerliche Charaktere. Ja, bei mir geht es sogar so weit, daß ich vor dem gemeinsten Raubmörder, der aber trotzig auf dem Schafott zu sterben weiß, mehr Hochachtung empfinde als vor einem soliden Ehrenmanne, welcher niemals an einen Gott geglaubt hat, und wenn er alt und krank wird, winselt er in der Kirche. Pfui Deiwel! — Ihre Geschichte werden Sie mir ein andermal erzählen. Bleiben wir bei unserer Sache. Sie wollen Abessinien kennen lernen?«

»Ich möchte in die Geheimnisse der koptischen Klöster dringen, welche auch wertvolle Manuskripte enthalten, aber für jeden Fremdling absolut verschlossen sind.«

»Ich verstehe. Das soll Ihnen die Fadinah von Godscham ermöglichen?«

»Ja, und sie hat die Macht dazu, mir Eintritt zu verschaffen.«

»Ich verstehe alles. Als im Serail gefangengehaltene Odaliske ist sie Ihnen natürlich ganz wertlos, Sie müssen ihr erst die Freiheit wiedergeben. Wie denken Sie sich die Sache nun weiter, wenn Sie mit ihr draußen sind?«

Der Magier blieb die Antwort schuldig, er hob nur die Achseln.

»Die will doch nun natürlich gleich zu Ihrem Saban, zu mir gebracht werden, und wenn Sie sie nicht begleiten, reist sie eben allein.«

»Ich wüßte einen Ausweg.«

»Welchen?«

»Haben Sie schon etwas von einer Hypnotik gehört?«

»Na und ob!« lachte Nobody.

»Hier im Serail ist mit der Hypnose gar nichts anzufangen. Sobald ich sie aber draußen habe, werde ich ihr einen hypnotischen Befehl einflößen, daß sie mir willig folgt.«

»Schön. Ich bin kein Freund der Hypnotik, aber das tun Sie ja auf eigene Verantwortung. Im übrigen muß ich offen gestehen, daß Sie mir da einen großen Gefallen erweisen, wenn Sie mich von diesem liebestollen Weibe befreien.«

»Ich werde nicht vergessen, ihr auch den posthypnotischen Befehl zu geben, daß Theodora nicht mehr von ihrem vermeintlichen Saban...«

»Bitte, das ist Ihre Sache, damit möchte ich nichts zu tun haben. Aber eine andere Bitte könnten Sie mir erfüllen.«

»Ich stehe ganz zu ihrer Verfügung.«

»Auch ich möchte eine Sklavin entführen.«

»Wie heißt sie, was ist sie?«

»Fatme Zenide, dem Äußeren nach ein altes Weib, sie ist Wäscherin.«

Nobody gab nähere Auskunft.

»Können Sie dieselbe mit hinausbugsieren?«

»Mit Leichtigkeit, besonders da Sie die Frau schon vorbereitet haben. Ich werde sie dann in der Kawansi aufsuchen, als Magier habe ich stets einen Grund dazu, die Sterne haben mir erzählt, daß noch heute in dieser Kawansi eine Kranke wahnsinnig werden wird — gleich darauf muß sie sich wahnsinnig stellen, und dann habe ich überhaupt ganz freie Hand.«

»Ihre Sterne sind famos! Da können Sie wohl auch gleich noch einen männlichen Wahnsinnigen mitnehmen?«

»Einen Eunuchen?«

Nobody erzählte von seinem Freunde Mojan. Der Basch-Kiatibi wollte es anfangs gar nicht glauben.

»Wenn ich ihn gesehen hätte, er wäre verloren gewesen. Die Diagnose ist meine Spezialität, ich hätte sofort die Simulation erkannt.«

»Am Auge?«

»Am Gebaren, und gerade den kleinen Mufti habe ich sehr genau studiert.«

»Gegenwärtig befindet er sich an einem Orte, wo er keine Allotria treiben kann. Sprechen wir über Ihre Flucht. Wohin wollen Sie die Fadinah von Godscham bringen?«

»Zu einem Freund, dem ich unbedingt vertrauen darf. Er besitzt in der Vorstadt Pera ein Haus, das auf dem Wasserwege zu erreichen ist.«

Der Basch-Kiatibi setzte seinen Plan weiter auseinander. Wir werden es später erfahren. Jedenfalls war Nobody mit allem einverstanden. Die Hauptsache für ihn war auch nur, daß jenes Weib erst einmal aus dem Serail unauffällig herauskam, ohne daß Nobody in die Notwendigkeit versetzt wurde, Gewalt anzuwenden, daß er etwa gar über Leichen gehen mußte, und ebensowenig war ihm daran gelegen, das Geheimnis seiner Tarngewänder, von denen er doch zwei besaß, noch einer anderen Person preiszugeben.

Auch Nobody hatte noch einen Vertrauten, der in einem Hotel der Stadt seiner wartete. Mojan sollte sich den anderen anschließen und dann Madame Lefort nach jenem Hotel bringen, wo Nobodys Hilfsdetektiv sie in Empfang nehmen würde. Auf Mojan konnte er sich ja verlassen.

»Und Sie selbst?«

»Ich werde noch einige Zeit im Serail verweilen, um Näheres über die Einrichtung kennen zu lernen, meinetwegen auch, um Abenteuer zu erleben. Und wohin begeben Sie sich jetzt?«

»Zum Padischah, ihm das freudige Ereignis vorauszusagen, das seinem Hause bevorsteht,« lächelte der Basch-Kiatibi.

»Gratulieren Sie ihm gleich in meinem Namen. Signor Dottore, ich werde Sie wiedersehen und hoffe, Sie näher kennen zu lernen.«

Die beiden Männer, die sich auf so seltsame Weise gefunden, gaben einander die Hand.

Sie sollten dereinst ein Wiedersehen feiern, aber ganz das Gegenteil von einem freudigen. Nobody hatte diesen Mann geistig ganz richtig taxiert, nur nicht betreffs seines moralischen Charakters.

»Bleiben Sie denn hier?«

»Ich könnte dort den geheimen Ausgang benutzen — nein, ich gehe mit Ihnen hinaus.«

»Als Eunuche? Das ist gefährlich. Sie können von einem Kislar angehalten, nach Ihrem Dienst gefragt werden, und Sie wissen nichts...«

»Bah, ich halte mich doch schon viele Tage als Haremswächter im Serail auf.«

Weiter schmückte Nobody die Fabel nicht aus. Der Magier verließ das Gemach, der Eunuche schloß sich ihm an. Er war eben in das Observatorium des Hofzauberers bestellt worden.

Gerade dieser Teil der ersten Etage war sehr wenig belebt, der Magier hatte für seine Studien und Beobachtungen natürlich Ruhe nötig. Auch machte der Korridor hier sehr viele Ecken, und als sich Nobody einmal ganz allein auf solch einer kurzen Strecke befand, obgleich nur wenige Schritte hinter dem Magier, hatte er schnell sein Tarngewand angezogen, wozu er nur weniger Sekunden bedurfte.

Diese Schnelligkeit war auch sehr nötig gewesen. Dem Basch-Kiatibi war es gerade eingefallen, sich einmal nach seinem Begleiter, den er dicht hinter sich wußte, umzuschauen, sah ihn nicht, er mochte ihm auch etwas sagen wollen, er trat zurück, um die Ecke herum, noch um die zweite Ecke nach welcher ein langgestreckter Teil des Korridors kam — der Eunuche war nicht mehr zu sehen.

»Merkwürdig,« brummte er, »da möchte man wirklich glauben, daß sich dieser Nobody unsichtbar machen kann. Er war doch eben noch an meiner Seite. Wirklich erstaunlich, wie plötzlich dieser Mensch spurlos verschwinden kann! Nun, ich weiß ja, wo ich ihn wiedertreffe.«

Also nicht etwa, daß er an eine wirkliche Unsichtbarkeit glaubte. Solch eine Vermutung tauchte gar nicht in ihm auf. Er bewunderte nur das schattenähnliche Wesen dieses Detektivs, wie er sich so schnell und unauffällig von seiner Seite entfernen konnte.

Dabei war Nobody noch immer dicht neben ihm und schloß sich ihm auch weiter an. Wieder wurde vor dem Magier der eine Torflügel weit aufgerissen, wieder schlüpfte Nobody mit hinein, wieder trat ihnen der rote Zwerg mit geblähten Nüstern entgegen.

»Rott!«

Der Basch-Kiatibi durfte passieren, der Zwerg war zurückgetreten.

Was machte der eigentlich jetzt, blieb er immer hinter der Türe stehen?

Nobody blickte sich einmal um und...

Alle Wetter!! Hätte er nicht einen blitzschnellen Seitensprung gemacht, so wäre er jetzt verraten gewesen, die Hand des Zwerges hätte ihn berührt, und für den Blinden gab es doch keine Unsichtbarkeit, der durfte mit Recht nur das glauben, was er fassen konnte.

Der Zwerg war nämlich dicht hinter Nobody gewesen, war dem Magier nachgeschlichen, und hatte mit beiden ausgestreckten Armen, sich dabei etwas drehend, solche Bewegungen gemacht, wie es eben ein Blinder tut, wenn er in seiner Nähe einen größeren Gegenstand vermutet, den er tasten will.

Wie gesagt, nur dem Zufalle, daß er sich gerade umgesehen, und dann seiner Geistesgegenwart, mit der er den Sprung ausgeführt, hatte Nobody es zu verdanken, daß er einer Entdeckung entgangen war.

Und bei dem Suchen mit den Händen in der Luft blieb es nicht! Jetzt legte sich der Zwerg auf den Boden nieder und beschnüffelte den Teppich.

Alle Wetter, konnte Nobody wiederholen — sollte der Blinde nicht nur das Gehör einer Katze, sondern auch die Nase eines Spürhundes besitzen? Daß beim Prüfen eines Eintretenden auch der Geruchsnerv eine Rolle spielte, hatte Nobody ja schon beobachtet, wenn sich die Nasenflügel immer so blähten.

Wohin Nobody seine Füße gesetzt hatte, konnte er freilich nicht mehr bestimmen, und der Zwerg schien sich seiner Sache auch nicht ganz sicher zu sein. Er erhob sich schnell wieder.

»Basch-Kiatibi!«

Der Angerufene blieb stehen und drehte sich um.

»Was willst du?«

»Bist du allein?«

»Habe ich es dir nicht gesagt? Wer soll denn bei mir sein?«

Der Magier setzte seinen Weg fort, und Nobody durfte sich nicht aufhalten, wollte er überall mit durchschlüpfen. Der rote Zwerg folgte ihnen nicht mehr.

Wieder war es eine ganz andere Richtung, die der Magier diesmal einschlug. Sie führte ihn in einen ganz abgeschlossenen Teil des Serails, in dem es sehr lebendig zuging: Eunuchen und Sklavinnen eilten oder schlenderten hin und her, Nobody mußte sehr vorsichtig sein. Dann gab es zu diesem abgeschlossenen Heiligtum auch noch einen anderen Zugang, den aber Nobody noch nicht gefunden hatte, wohl erst von hier aus konnte das geschehen, indem er sich diesem oder jenem Eunuchen anschloß. Doch es war sehr die Frage, ob dieser Ein- oder Ausgang für ihn bequem war.

In einer weiten Wandöffnung, von keiner Portiere verhangen, drängten sich Eunuchen und Weiber, der Magier steuerte darauf zu, man machte sich darauf aufmerksam, alles trat ehrerbietig vor dem Mächtigen zurück, so weit, daß auch sein unsichtbarer Begleiter ohne Gefahr hinter ihm hergehen konnte.

Eine interessante Szene bot sich ihm dar. In dem weißen Saale befanden sich gegen vierzig Odalisken, welche Tanzunterricht hatten.

Gegenwärtig übten sie das obligate Beinewerfen, alle zugleich im Takt, welchen eine wunderbar graziöse Vortänzerin angab, dabei nicht stillstehend, sondern die Reihen gingen immer hin und her, schon Figuren beschreibend. Nur die musikalische Begleitung war traurig. Eine Trommel und eine Art von Gitarre, das war alles.

Einige Kislars beobachteten die Exerzitien, feuerten durch Zurufe an, mit der Peitsche in der Hand, ließen diese auch wirklich unter den Beinen der Tänzerinnen knallen, doch wohl schwerlich diese auch nur berührend.

»Höher die Beine!!« kommandierte der gleichfalls anwesende Kislar-Aga. »Das ist kein Tanz, das ist Faulheit! So tanzen die Frankinnen — Allah lasse ihnen Steine wachsen im Bauch. Höher die Beine!!«

»Höhöher die Beibeibeine!!!« krähte ein Echo nach.

Nobody traute seinen Ohren nicht. Die Stimme! So mußte er seinen Augen glauben.

Da kam er herangetanzt, mit den Odalisken in Reih und Glied, Mufti alias Mr. Cerberus Mojan, immer wacker links und rechts die Beine in die Luft werfend, und wie die Tänzerinnen ihre flitterbesetzten Röckchen kokett halten mußten, so zog Mojan seine faltenreichen Pumphöschen so weit wie möglich auseinander.

Also er hatte die Kleiderkammer doch verlassen! Nobody konnte es ihm nicht verdenken. Er war gar zu lange ausgeblieben, und wenn ihn unterdessen der Tod ereilt, Mr. Cerberus konnte in der Rumpelkammer doch nicht verhungern.

Ihn freilich hier zwischen den Tänzerinnen wiederzufinden, das hätte Nobody nicht vermutet. Dann aber war er zuvor sicher in der Küche gewesen, sonst hätte er jetzt nicht so gute Laune gehabt, und sein schweißtriefendes Gesicht glänzte vor Vergnügen.

Übrigens machte er seine Sache ganz gut. Er verdarb keine Figur, und das kleine, kugelrunde Kerlchen hopste wie ein Gummiball, warf die kurzen Bratwurstbeinchen wie die gelenkigste Balletteuse in die Höhe.

Besonderes Vergnügen schien es ihm zu machen, immer die Kommandos zu wiederholen.

»Links — rechts — links — rechts — diramtata, diramtata — links — rechts.....«

»Lililinks — rererechts — lililinks — rererechts — kikerikikiiihhh!!!«

»Beine höher!!«

»Beibeibeine höhöher! Kikerikikiiihhh — lililinks -— rererechts — schneddredeng schneddredeng deng deng deng!«

Es war eine Szene — Nobody lehnte sich gegen die Wand, nicht nur um seinen Rücken zu decken, sondern auch, um vor Lachen nicht umzufallen. Nur daß er vollkommen geräuschlos lachen konnte.

Auch um den sonst so ernsten Mund des Magiers spielte ein Lächeln.

»Mufti, komm einmal her!«

Mojan wäre sowieso auf ihn zugegangen, er hatte den Magier in seiner phantastischen Kleidung erblickt, bewegte sich gleich auf ihn zu, zuerst noch immer die dicken Beinchen himmelhoch werfend, dann nach dem Takte der Musik nur noch tänzelnd, zuletzt im Schritt.

»Wawawas ist denn das? Wewewer ist denn der Kekerl?«

Nobody brauchte für diese Begegung nichts zu fürchten, auch der Basch-Kiatibi fand sich sofort in seine Rolle.

»Was machst du denn da, Mufti?«

»Ich tatanze mit meinen Hehennen.«


Illustration

»Mit deinen Hennen? Ach geh doch, das sind ja Mädchen.«

»Na ja, Hehennen, und ich bin der Hahahahahn, und die müssen fififix tatanzen, damit sie au—auch fififix Ei—ei—eier legen. Das waren schon wieder drei Ei—eier — und dadas waren wieder zweie, mamacht zusammen fü—fünfe.«

Der Basch-Kiatibi schien sich öfters mit dem Wahnsinnigen abzugeben.

»Wie heißt du denn?«

»Ich heiheiße Mumumumumu... muuuuhhhh!« fing Mojan jetzt wie ein Kalb zu blöken an.

»Mufti. Du bringst doch die Worte gar nicht mehr heraus? Warum stotterst du denn?«

»Dadadas kakakann i—i—i—ich mamamachen, wie i—i—ich wiwiwiwill.«

»Weiß du, wer ich bin?«

»Du bibibist ein Pipipipinsel.«

Mojan sprach's, hatte mit einem schnellen Griffe dem Magier die hohe chaldäische Mütze abgerissen, sie sich auf den eigenen Kopf gestülpt und tanzte schon wieder mitten zwischen den Odalisken.

Das hätte nun freilich nicht kommen dürfen. Oder aber es war Nobodys Schuld, er hatte zu lange gezögert, seinem Freunde etwas zuzuflüstern. Hinwiederum hätte der Magier sich eigentlich selbst helfen müssen.

»Willst du mir gleich meine Mütze wiedergeben?!«

»Kikerikikiiihhh!! Höhöher die Beibeibeine!«

Und Nobody hätte diese neue Szene gar nicht vermissen mögen. Das kleine, kugelrunde Kerlchen mit der fast einen halben Meter hohen spitzen Mütze auf dem Kopfe, wie es die kurzen Beinchen in die Höhe warf und die Pumphosen graziös auseinanderzog — es sah gar zu drollig aus.

Merkwürdig war, daß die umstehenden Eunuchen und Sklavinnen gar nicht darüber lachten. Teils waren sie eben als Mohammedaner viel zu phlegmatisch dazu, teils mochte auch der echte Mufti ihnen schon ähnliche Szenen bereitet haben, und dann war alles, was ein Muschlin, ein Wahnsinniger tat, eben etwas Heiliges, die Gottheit offenbarte sich. Wie die Mohammedaner sich das zusammenreimen konnten, das war ihre Sache.

Es trat eine Ruhepause ein, doch mußten die Tänzerinnen dort stehen bleiben, wo sie sich gerade befanden, und die letzte Figur des Reigens hatte Mojan an den äußeren Rand der Truppe gebracht, auch nicht weit von der Tür entfernt.

»Komm her, gib mir meine Mütze wieder!« ließ sich der Magier abermals vernehmen, diesmal in scharfem Tone.

Schon war Nobody an der Seite des Freundes, jetzt durfte er es wagen, die Gefahr, angestoßen zu werden, war geringer.

»Cerberus Mojan gehen Sie hin zu ihm,« flüsterte ihm Nobody ins Ohr, »folgen Sie ihm — er weiß, wer Sie sind — ich habe ihn in alles eingeweiht.«

Dieser kleine Dicke fürchtete sich vor Gott und Teufel nicht, noch weniger davor, daß ihm plötzlich aus der Luft eine Stimme ins Ohr flüsterte. Er hatte nicht einmal mit einer Wimper gezuckt. Aber den Kopf wendete er dorthin, woher die Stimme kam, natürlich sofort wissend, daß es nur sein Freund sein konnte.

»Wawawas? Der weiß, daß ich mich nur wahnsinnig stelle?«

Ganz laut, mit seitwärts gewendetem Kopfe hatte er es gesagt. Aber eine Unvorsichtigkeit war das durchaus nicht, vielleicht eher eine Berechnung. Unvorsichtig wäre es vielleicht gewesen, hätte er es nur geflüstert, nachdem er vorher erschrocken zusammengefahren war. Er war doch ein Wahnsinniger, der sich auch mit einer eingebildeten Person unterhalten konnte.

»Ja, es ist der Astrolog und Hofmagier, er weiß alles, ich habe ihn eingeweiht. Folgen Sie ihm, reden Sie mit ihm vernünftig.«

Und Mojan ging hin zu dem ihn lockenden Magier, gab ihm die Mütze zurück, nicht so ohne weiteres, er war und blieb der sich als Hahn fühlende Mufti, so wurden auch noch einige Reden gewechselt, dann aber ließ sich Mojan willig davonführen.

Nobody blieb noch. Sein Freund und das Weib, auf dessen Entführung es ihm hauptsächlich ankam, waren ja nun versorgt, da sich aber Nobody einmal im Serail befand, wollte er auch weitere Umschau halten, wenigstens bis morgen früh, oder bis morgen abend. In der Nacht konnte ihm ja jener Hof mit dem geharkten Sand, der die Spuren anzeigen sollte, kein Hindernis bieten, ebensowenig wie die Mauern, mochten sie auch mit Glasscherben gespickt und noch so hoch sein.

So schaute er noch einige Zeit den tanzenden Odalisken zu, dann schlenderte er weiter.

Hier in diesem Teile waren die Türen gar nicht verhangen oder die Portieren gleich zurückgeschlagen befestigt.

Nach dem Passieren eines Korridors kam er wieder in jenen Teil, den er schon vorhin durchquert hatte.

Da war schon wieder der rote Zwerg, und schon wieder hatte er die Schnüffelnase am Boden. Kein Zweifel, der war durch seine feine Witterung zu der festen Überzeugung gekommen, daß sich im Serail ein Fremder befand. Ob er schon einem anderen Mitteilung gemacht hatte?

»Was machst du denn da, Balu?« fragte ein vorübergehender Kislar.

Der Zwerg schnüffelte nicht mehr, sondern tastete nur noch auf dem Boden herum.

»Ich suche etwas — ich habe etwas verloren... ach, hier ist es.«

Er tat, als ob er etwas vom Boden aufhebe, steckte es in die Tasche und war wie ein Wiesel durch die nächste Portiere verschwunden.

Diese Verstellung, dieses Geheimhalten seiner Gedanken warnte Nobody doppelt vor dem Blinden. Der Gegner, der seine Pläne ausplaudert, ist ungefährlich, und wer etwas Großes vorhat, und er schwatzt immer davon, dem wird es nicht gelingen, die Hälfte des Erfolges seiner Arbeit ist wenigstens schon dahin.

Es wurde dunkel. Deswegen erstarb das Leben hier nicht. Überall wurden dicke Wachskerzen aufgestellt, ein kostspieliges Licht, mit einer unnützen Verschwendung, daß Nobody auf die Vermutung kam, die zahllosen Zimmer würden noch zu einem anderen Zwecke erleuchtet als nur deshalb, daß jeder auch im Dunkeln seinen Weg fand, wozu durch die unbewohnten Räume ja schon ein Handlicht genügt hätte.

Sollte man sich nicht vor Geisterspuk fürchten, den man durch helles Licht bannen wollte?

So sehr hell konnten die Kerzen übrigens nicht leuchten. Nobody durfte es, selbst wenn sich jemand in dem Zimmer befand, bei seiner schlangenartigen Geschmeidigkeit getrost wagen, am Boden einen Zipfel der Portiere zu heben und darunter hinwegzukriechen. Doch es wurde wieder ganz einsam hier.

Da erscholl in dem Nebenraume eine Stimme.

»Komm her — na, da komm doch — sieh, wie schön ich bin — laß dich küssen, hahahaha!«

Doch hier lockte keine menschliche Sirene, kein Eunuche sollte von einer Odaliske verführt werden, auch nicht der Padischah — sondern diese krächzende Stimme konnte nur einem Papagei angehören.

Nobody lugte durch eine Spalte der Portiere in das Nebenzimmer. In der Mitte des Raumes, oben an der Decke, hing ein riesiger Vogelbauer, in dem ein Papagei, von dem Lichte wieder aus dem Schlummer geweckt, Kletterübungen machte und dazu schwatzte. Es war ein Vogelbauer, wie Nobody ihn wohl schon als ganzes Vogelhaus hatte stehen, aber noch nicht für einen einzigen Papagei hatte an der Decke hängen sehen, wenigstens zwei Meter hoch und ebensoviel im Durchmesser betragend. Doch solchen Abnormitäten begegnet man ja im Orient auf Schritt und Tritt, man denke nur an die ungeheuren Steinsärge, in dem ein ganzes Bataillon toter Soldaten Platz hätte, und er ist nur zur Aufnahme eines einzigen Menschen bestimmt, der im Leben eine große Rolle gespielt hat.

Viel mehr interessierte sich Nobody für das, was sich direkt unterhalb des Käfigs befand. Da stand am Boden eins jener runden, sehr niedrigen Tischchen, vor dem sich der Türke mit untergeschlagenen Beinen niederkauert. Hier hatte noch vor kurzem jemand geschrieben. Auf der Ebenholzplatte, beleuchtet von einer Wachskerze, stand ein Schreibgerät mit gespaltenen Rohrhaltern, da lag auch ein Blatt Papier, mit Schriftzügen bedeckt — ganz sicher ein Brief.

»Na, da komm doch, sieh, wie schön ich bin,« lockte der Papagei.

Nobody war dem Lockrufe der bunten, befiederten Sirene bereits gefolgt. Bis auf drei Schritte näherte er sich dem niedrigen Tischchen, so daß er den Brief schon lesen konnte. Die mehr gemalten denn geschriebenen Buchstaben waren ungemein groß, viel stand auf dieser ersten Seite nicht.

»Ich, Arsinoe, die Mutter des Beherrschers aller Gläubigen, begrüße dich, meine Schwester, im Namen Allahs und seines Propheten.«

»Deine Frage will ich dir gern beantworten.«

»Für die nächste Beiramnacht habe ich als Beischläferin des Padischah die Odaliske...«

Hier schloß die erste Seite des Briefes, die Fortsetzung kam auf der nächsten.

Welche Odaliske hatte die Walide für den Sohn bestimmt, in jener Nacht, da Allah vielleicht, wenn er gnädig gelaunt ist, dem türkischen Volke einen Sultan schenkt?

Nobody wußte es ja, an wen die Walide dachte. Ob sie dies aber auch der ›Schwester‹ schrieb? Und was konnte sie dieser noch alles schreiben?

Vorsichtig blickte sich Nobody um. In diesem nur Teppiche, Kissen und Polster enthaltenen Raume konnte sich niemand verstecken. Und die beiden Portieren waren dicht zugezogen.

»Komm doch, na, da komm doch,« lockte der Papagei über ihm.

Ja, Nobody kam, er trat dicht an das Tischchen, streckte die Hand aus, um die Seite des Briefes umzuwenden...

Rrrrrrr — klatsch!

»Hahahahaha — hahahahaha!!!« lachte der Papagei, jetzt aber nicht mehr hoch über Nobodys Kopfe, sondern dicht neben seinem Ohr!

Nobody hatte keine Zeit mehr gehabt, schnell zurückzuspringen, als er das Rasseln hörte. Da hätte auch eine blitzähnliche Geistesgegenwart mit nachfolgendem Sprunge nichts geholfen.

In die Falle gegangen! Gefangen!

Der große Käfig war herabgesaust gekommen, der Boden war von selbst zur Seite gegangen, er hatte das Tischchen überdeckt — und Nobody dazu!

Schnell hatte Nobody das Gefühl der demütigenden Scham überwunden, bei all seiner Schlauheit in eine Mausefalle gegangen zu sein, welche für die dummen Frauenzimmer und Eunuchen des Serails bestimmt war.

Denn das war doch ganz offenbar der Fall. Jedenfalls war streng verboten, falls jemand etwas Schriftliches fände, es zu lesen, es auch nur aufzuheben. Wenn aber nun so ein dienstbarer Geist einen angefangenen Brief der Sultan-Walida sah, worin sie mitteilte, welche Odaliske sie dem Padischah in der nächsten Beiramnacht zuführen würde, gerade da auf der Seite abbrechend, wo sie den Namen nennen wollte, auf der anderen Seite mußte man das große Geheimnis erfahren, welches die Serailbewohner das ganze Jahr über in atemloser Spannung hält - na, da ließ sich doch keine Neugier bezähmen.

Und dann saß der Neugierige drin in der Falle, um seine exemplarische Strafe zu erwarten! Diesmal aber saß der berühmte Detektiv Nobody drin, der Champion der englischen Königin, dieses Wunder von Behendigkeit, Schlauheit, Kaltblütigkeit und anderen...eiten!

Ja, so mußte es einmal kommen! Unfehlbar ist kein von einem irdischen Weibe geborener Mensch, jeder braucht einmal eine Lektion, das dient nur zu seiner Vervollkommnung.

Indem Nobody dies zu sich selbst sagte, hatte er also schnell seine Scham überwunden.

»Nun, diese Mausefalle, für entmannte Männer und faule Frauenzimmer bestimmt, soll mich auch nicht lange festhalten können.«

»Hahahahahaha!!!« lachte der Papagei.

»Halte den Schnabel, sonst dreh ich dir den...«

Das Wort erstarb ihm im Munde, schon der Gedanke im Kopf!

»Hahahahahahaha!! Narr Narr Narr Narr Narr, hahahahaha!«

Das Gelächter und Gekrächze entfernte sich unter rauschendem Fügelschlag — oben an dem Riesenkäsig befand sich ein kleines Türchen, es war offen, mußte sich durch einen Mechanismus beim Herabfallen gleichzeitig geöffnet haben, der Papagei war hindurchgeschlüpft, flog nach der Tür, ließ sich auf den Boden nieder, kroch unter der Portiere hinweg — verschwunden war er!

»Alle Wetter, der ist dressiert! Jetzt erzählt dasVieh durch seine Flucht, daß jemand in die Falle gegangen ist! Da muß ich mich beeilen!«

Zu heben war der Käfig nicht, obgleich Nobody noch ein ganz anderes Gewicht hätte liften können als diese Gitterstangen. Dann mußte es eine Vorrichtung geben, am Boden, in den Teppich eingelassen, in welche der untere Rahmen hineingeschnappt war, so hatte es auch geklungen.

Diesen Mechanismus wollte Nobody schnell gefunden und ihn auch enträtselt haben.

»Darauf bin ich geeicht!«

Er entfernte dicht am unteren Gitterrahmen die Teppichfransen, überall, Franse für Franse.

Vergebens! Kein Haken, keine Öse, kein Riegel, gar nichts!

Es war, als ob der Rahmen ganz lose auf dem Teppiche ruhe, und dennoch wie angewurzelt.

»Das sieht fast aus, als ob sich unter dem Teppich ein Magnet befände, welcher den Eisenkäfig festhält. Aber was für ein ungeheurer Magnet müßte das sein, daß seine Anziehungskraft der meiner Muskeln spottete?«

Nobody hielt sich nicht lange damit auf, den Käfig in die Höhe heben zu wollen. Nobody versuchte die silberglänzenden Eisenstangen, gar nicht so sehr stark, zur Seite zu biegen — wiederum vergebens! Wäre es Eisen gewesen, hätten sie auf keinen Fall der herkulischen Kraft dieses scheinbar so schmächtigen Mannes widerstehen können. Aber sie ließen sich nur ein wenig biegen, nicht verbiegen — gehärteter Stahl, und da nützte bei dieser Stärke keine Bären- und auch keine Herkuleskraft.

»Durchsägen, flott! In einer Minute muß mich mein Taschenmesserchen,... was ist denn das?«

In seiner rechten Hosentasche befand sich das berühmtgewordene Universalwerkzeug mit der unbezahlbaren Iridiumsäge nicht, er mußte es in die linke gesteckt haben. Das aber war bei diesem Detektiven, der in gewissem Sinne und aus guten Gründen schrecklich pedantisch sein konnte, geradeso, als wenn ein anderer Mensch den dem Magen zugedachten Bissen statt in den Mund in die Nase oder ins Ohr steckt.

Also es war doch einmal vorgekommen, daß er das Messer in die linke Hosentasche...

Nobodys Gesicht wurde plötzlich ganz verstört.

Mit hastigen Griffen durchsuchte er sämtliche Taschen seines türkischen Kostüms, das er unter dem Tarngewand trug, die Ledertasche auf dem bloßen Leibe...

In diesem Augenbick verlor Nobody, den sonst nichts aus seiner Ruhe bringen konnte, einmal vollständig die Besinnung!

Sein Taschenmesser war weg. Er mußte es verloren haben.

Er, Nobody, hatte etwas aus seiner Tasche verloren? Unmöglich!!

Ja, das half aber alles nichts — er konnte das Messer eben nicht finden.

Und das war es eigentlich, was ihn so außer Fassung brachte, nicht die Gefahr, in der er sich jetzt befand, daß er gleich wie ein wildes Tier in ohnmächtiger Wut gegen die Gitterstäbe sprang und daran rüttelte — so ganz und gar zwecklos.

Da näherten sich Stimmen — und in diesem Augenblicke, da die eigentliche Gefahr kam, hatte Nobody auch seine vollständige Ruhe wieder, ruhig schlug sein Puls, eiskalt waren Kopf und Herz - und sogar etwas Humor war dabei.

»Nevermind. Bin doch gespannt, wie sich die Sache jetzt entwickeln wird.«

Der Sultan war es selbst, der die Portiere zurückschlug, mit unheilverkündendem Gesicht. Ihm folgte eine Menge Eunuchen, doch nur Kislars, Aufseher, in der einen Hand eine brennende Kerze, in der anderen die Peitsche, das Attribut ihrer Würde, und jetzt würden sie davon wohl einmal Gebrauch machen.

»Wehe deiner Neugier, die dich die Gesetze des Serails...«

Beim Anblick des leeren Vogelkäfigs brach der erzürnte Padischah ab. An eine nichtvorhandene Person wollte er seinen Zorn nicht verschwenden.

»Die Falle hat versagt!«

»Das ist nicht meine Schuld,« ergriff der Kislar-Aga eiligst das Wort, »ich habe sie erst heute früh untersucht, alles funktionierte vortrefflich.«

»Aber der Schuldige ist entkommen.«

»Dafür, o Padischah, kann ich doch nichts! Er ist noch rechtzeitig zurückgesprungen.«

»Dann wäre das wohl das erstemal, daß dies jemandem gelungen ist, und ich halte es kaum für möglich, habe ich diese Falle doch selbst erfunden. Sie hat ja sonst auch ganz tadellos funktioniert.«

In diesem Falle begeht dein Erfindergeist einmal keine Prahlerei, dachte Nobody in aller Gemütsruhe, während der Sultan und die Eunuchen mit den brennenden Kerzen um den Vogelbauer herumschlichen.

Wieder einmal kam es Nobody so recht voll und ganz zum Bewußtsein, was für Situationen solch ein Tarngewand doch hervorbringen kann — Situationen, die, so ernst sie auch sein mochten, doch eines gewissen Humors nicht entbehrten.

Er saß hier ganz gemütlich mit untergeschlagenen Beinen in dem Vogelbauer, nagte an seiner Unterlippe, drehte die Daumen — und die Männer leuchteten von allen Seiten hinein und sahen nichts!

»Wer mag es gewesen sein?«

»Sicher ein Franke oder eine Frankin,« erklärte der Kislar-Aga mit Bestimmtheit, »nur Franken sind imstande, nicht in eine Falle zu gehen, die der Padischah selbst erfunden und mit eigenen Händen gebaut hat — Allah lasse ihnen Steine wachsen im Bauche.«

Immer mehr begann sich Nobody zu amüsieren. Nur noch eine Sorge vergällte ihm seine humorvolle Stimmung.

»Wenn ich nur wüßte, wo ich mein Taschenmesser verloren hätte!«

»Ruft Manza, seine Spürnase wird bald herausfinden, wer es gewesen ist.«

O, jetzt durfte Nobody aber seinen Humor fahren lassen, jetzt wurde die Geschichte ernst!

Manza heißt die Nase. Mit Vorliebe gibt man diesen Namen in der Türkei Hunden — Spürnase. Einen Hund hatte Nobody im Serail noch nicht gesehen, es schien aber doch solche zu geben. Ein Eunuche lief davon, um den gewünschten Hund zu holen — und daß sich der Geruchssinn eines Hundes nicht von der Unsichtbarkeit beeinflussen ließ, hatte Nobody schon mehrmals erfahren.

Doch nein, deshalb verlor Nobody noch lange nicht seinen Humor.

»Wenn sich das Luder hypnotisieren läßt, tu ich's. Übrigens ist ja meine Lage ohne jegliche Gefahr. Wenn ich mich jetzt sichtbar mache, dann, mein lieber Beherrscher aller Gläubigen, mußt du mich mit königlichen Ehren begrüßen — bei des Propheten, deinem und meinem Barte! Ach, wenn der Prophet mir nur mein Taschenmesser wiederbrächte!«

Der abgeschickte Eunuche kehrte zurück, aber nicht mit einem Hunde, sondern... mit dem blinden Zwerge!

»Balu,« wandte sich der Sultan an ihn, »beweise die Unfehlbarkeit deiner Manza. Wer hat sich hier dem Tischchen genähert, so daß der Vogelkäfig herabgefallen ist? Die Einrichtung kennst du ja.«


Illustration

Richtig, der Zwerg wurde wegen seiner feinen Nase auch Manza genannt!

Ein sehender Hund wäre Nobody viel lieber gewesen als der blinde Zwerg.

»Befindet er sich denn nicht drin?« fragte dieser zunächst mit Recht.

»Nein, er hat dem Zuschlagen der Falle noch rechtzeitig entfliehen können.«

Der Zwerg trat dicht heran an das Gitterwerk und zog die Luft durch die Nase.

Wie sich sein Gesicht veränderte, diese Spannung.

»Der riecht Lunte und meine Wenigkeit,« dachte Nobody vergnügt.

»Nun?«

Der Zwerg sagte noch nichts, er schnüffelte noch immer.

Ach, wenn ich doch absolut geruchslos wäre, dachte Nobody seufzend; aber ich glaube, ich bin etwas anrüchig.

»War es ein Mann oder ein Weib?« fragte der Padischah weiter.

Mann, Mann! erklärte Nobody mit Stolz, freilich nur für sich selber. Ein ganzer Mann vom Scheitel bis zur Sohle und noch weiter hinauf und hinunter!

Konnte der Blinde wirklich nur durch Geruch unterscheiden, ob er einen Mann oder ein Weib vor sich habe, konnte er es sogar aus dem Geruche der hinterlassenen Spur bestimmen? Hunde können es, das ist sicher. Und auch Menschen gibt es genug, welche eine männliche Person von einer weiblichen durch den Geruch unterscheiden, und der Unterschied der anhaftenden Atmosphäre braucht nicht in Tabak und Moschus zu bestehen.

Doch der Zwerg schien sich nicht gleich klar zu werden.

»Das ist ein — ein — ein....«

»Nun? Die Peitsche über dich, wenn du das nicht bestimmen kannst!« wurde der Padischah jetzt ungnädig.

Aber der Zwerg war unempfindlich gegen diese mit einer Drohung verbundene Ungnädigkeit seines Gebieters, er antwortete nicht, sondern trat etwas von dem Vogelbauer zurück, kniete sich hin und kroch auf Händen und Füßen, die Nase dicht am Boden, davon, einem Ausgange zu, bis an die Portiere, und zwar bis an jene, welche Nobody vorhin passiert hatte, der Sultan war durch eine andere gekommen.

Dort drehte der Zwerg wieder um und schnüffelte sich auf derselben Weise zurück bis nach dem Käfig.

Dieses Gebahren war natürlich so auffällig, daß man darüber ganz seine Langsamkeit vergaß, und auch sein Schweigen gehörte hierzu.

Unserem Nobody ward jetzt aber doch etwas schwül zumute, weil er erkannte, mit welcher Sicherheit dieser menschliche Spürhund seine Fährte zu verfolgen verstand. Jetzt war er geliefert.

»Nein, noch nicht! Ich kämpfe bis zum Äußersten, ehe ich mein Inkognito lüfte!«

»Was hast du denn nur, Balu?« fragte der Padischah.

Zunächst richtete sich der Zwerg auf und schnüffelte wieder in den Vogelbauer hinein.

»Da ist ja der Franke noch drin!« sagte er dann im Tone des Staunens.

»Welcher Franke?«

»Der Fremde.«

»Welcher Fremde?«

»Der Fremde, der sich seit gestern im Serail aufhält, der euch nachschleicht, ohne daß ihr etwas davon wissen wollt, und dieser Mann befindet sich doch auch jetzt im Käfig. Seht ihr ihn denn nur nicht?«

Es läßt sich denken, was für einen Eindruck diese Worte machten. Der Zwerg wurde ob seiner geistigen Zurechnungsfähigkeit von einem Dutzend Augenpaaren zweifelnd angeblickt.

»Was schwatzt du da für Unsinn, Balu?!« sagte der Sultan streng.

»Ich rede die Wahrheit. Willst du, o Padischah, mich arme Mißgestalt, die du versehentlich und schuldlos blenden ließest, denn auch noch verhöhnen? Der Fremde befindet sich doch noch jetzt drin im Käfig! Ich rieche ihn ja!«

Wenn der Sultan nicht ganz und gar auf den Kopf gefallen ist, sagte sich Nobody, so muß er sich jetzt gleich erinnern, was ihm die Abessinierin über meine unsichtbare Anwesenheit im Serail erzählt hat.

Es konnte ja sein, daß der Sultan daran dachte, wahrscheinlich war es auch sicher der Fall, er sah plötzlich ganz verstört aus — aber er mochte in Gegenwart der Eunuchen wohl nicht darüber sprechen.

»Ein Fremder im Serail?« murmelte er gedrückt, sogar furchtsam. »Du erkennst seine Anwesenheit mit Sicherheit am Geruch, er soll in diesem Vogelbauer sein, und wir können ihn nicht sehen?!«

»Balu faselt,« sagte der Kislar-Aga verächtlich, »er wird alt und will wichtigtun.«

»Ihr Eunuchen, seid ihr denn nur blinder als ich?! Oder wollt ihr ihn nicht sehen? So will ich ihn packen!«

Er griff mit weit ausgestrecktem Arm hinein in den Käfig. Nobody hatte es kommen sehen, wartete es natürlich nicht ab, war schnell von dem Tischchen aufgestanden und schmiegte sich an die andere Seite, und der Käfig hatte also einen Durchmesser von fast zwei Metern, da langte kein Arm hin, und auch wenn von allen Seiten Arme durchgestreckt würden, sie hätten einen in der Mitte aufrechtstehenden Menschen doch nicht berühren können.

Das aber wußte auch der Zwerg.

»Gebt mir einen Piltaw.«

Einer der Eunuchen trug einen Heroldstab, länger als drei Meter, gab ihn dem Blinden.

O weh, jetzt war das Blindekuhspiel zu Ende! Dieser Stab mußte ihn berühren, und ein aufmerksamer Beobachter, eigentlich jedes Kind mußte das erkennen, wie der Stock an einem unsichtbaren Gegenstand in der Luft einen Widerstand fand, und wer das Experiment mit dem Stabe selbst machte, mußte von der Tatsache durch das Gefühl überzeugt werden.

Mit der Schnelligkeit des Gedankens erwog Nobody, ob es nicht besser sei, sich jetzt freiwillig sichtbar zu machen. Der Sultan mußte ihn als seinen Gast empfangen, er hatte es geschworen.

Aber es war doch schade, jammerschade! Es war eine infame Blamage, als unsichtbarer Geist hier in dem Vogelbauer gefunden zu werden.

Gab es denn nur keinen anderen Ausweg?

Der Zwerg steckte den Stock hindurch, fuchtelte — jetzt war Nobody berührt worden.

»Da — da — da ist er ja!!«

»Wo denn?«

Noch hatte Nobody einige Augenblicke Zeit.

Wirklich gar keine Aussicht, sich noch durch eigene Kraft zu retten.

»Na, hier, ich berühre ihn doch immer!«

»Mein Genius, komm mir zu Hilfe!« betete Nobody inbrünstig.

»Wahrhaftig, das sieht doch gerade aus, als ob der Stab einen...«

Bum!!!

Ein dumpfer Knall, das ganze Haus erzitterte.

Und der Sultan wie die Eunuchen erzitterten mit, und dann blickten sie mit lähmendem Entsetzen einander an.

Erst voriges Jahr war es gewesen, da hatten sie auch in der Nacht solch einen Knall gehört, und gleich darauf war der Ruf Killima! Feuer! erschollen, und die Sturmglocke hatte geläutet!

Im Spiritus-Magazin war eine Explosion erfolgt, das Feuer konnte noch rechtzeitig gelöscht werden — die furchtbare Angst war es, der man sich jetzt noch so deutlich erinnerte!

Denn wehe, wenn dieses uralte, morsche, sonnverbrannte Gebäude einmal ernstlich Feuer fing!

Und da — da...

»Killima, Killimaaaaa!!! Feuer, Feueeeeer!!!«

So heulte es draußen auf dem Korridor, heulte es durchs ganze Haus, die Sturmglocke heulte mit, und da ward auch schon dieses Gemach, dessen Fenster nach dem Hofe hinausging, von einem blutigroten Scheine erfüllt!

Und vergessen war das Rätsel des Vogelbauers mit dem unsichtbaren Gefangenen, und wenn man einen Geist drin gesehen hätte, man hätte ihn gar nicht mehr beachtet - das Serail in Feuersgefahr, die Sultan-Walide, Kadinen, die Prinzen — und mehr noch: die Schatzkammer, das heilige Schwert, sogar die grüne Fahne des Propheten!!! - in wilder Flucht stürmte alles hinaus, voran der Padischah, um selbst mit tätig zu sein beim Rettungswerk, und wenn er sich mit in die Eimerkette stellen mußte!

Nur der rote Zwerg war geblieben. Der stocherte noch mit seiner Stange in dem Vogelbauer herum, stach dem Gefangenen in den Bauch.

Durch Nobodys Kopf zuckte ein rettender Gedanke. Dieser Zwerg war sicher eingeweiht, wie der Mechanismus, der den Käfig am Boden festhielt, wieder auszulösen war, und wenn Nobody den Blinden nicht durch den Blick hypnotisieren konnte, so gab es hierzu noch andere Mittel, durch magnetische Streichungen, er hatte auch jenes Elixier bei sich, er konnte es dem Zwerge mit Gewalt einflößen, nur mußte er ihn dazu packen und ganz dicht an den Käfig heranziehen...

Eben als Nobody zugreifen wollte, trat der Blinde, als hätte er eine Ahnung gehabt, zurück, entfernte sich einige Schritte, um dann stehen zu bleiben!

Vergebens wartete Nobody, hoffte darauf, daß er sich nochmals dem Käfig nähern würde. Nein, wie die kleine, rote Gestalt, von blutigem Feuerschein übergossen, mit über der Brust verschränkten Armen dastand, die erloschenen Augen nach dem Käfig gerichtet, das sah genau so aus, als wolle er so stehen bleiben, bis wieder andere Menschen kamen, um ihnen beweisen zu können, daß er recht gehabt habe.

»Verflucht und zugenäht!«

Ja, Mister Nobody war diesmal wirklich zugenäht worden! Jetzt hatte er Muße, nach dem Mechanismus zu suchen, aber der war ebensowenig zu finden wie sein Taschenmesser mit der Iridiumfeile.

Nun konnte er den Zwerg betrachten und dem Feuerlärm lauschen.

Es war ein Höllenlärm! Wenn sich sämtliche Serailbewohner an den Rettungsarbeiten beteiligen mußten, so waren es zehn- bis zwölftausend Personen, welche nach orientalischer Weise mehr Spektakel machten als sie Arbeit verrichteten.

Doch es schien wirklich ein mächtiges Feuer zu sein. Immer heller wurde es in dem Zimmer, in dem die Wachskerze schon verloschen war; vor dem Fenster senken sich glühend erleuchtete Rauchwolken herab, aus denen Funken sprühten.

»Wenn alles gut geht, dann werde ich noch hier in meinem Vogelbauer gebraten,« philosophierte Nobody. »Ach, Balu Manza, göttlicher Zwerg, wenn es dir nur einfiele, einmal hier recht dicht heranzutreten! Wie wollt' ich dich...! Na da komm doch, komm doch, kleiner Schäker... halt!«

Nobody hatte eine geniale Idee gefaßt! Wenn der verd... Zwerg nicht freiwillig zu ihm kommen wollte, dann mußte er ihn einfach heranlocken!

Die erste Absicht, Gebrauch von seiner Stimme zu machen, ihn zu rufen, mit Bitten, mit der Andeutung eines Geheimnisses, gab Nobody schnell wieder auf.

Ja, seine Stimme wollte er wohl gebrauchen, aber in anderer Weise — in den Bauch hinein. Ein Vermittler mußte kommen, auf dessen Veranlassung ihn sich der Zwerg wieder dem Käfig näherte, vielleicht um abermals mit der Stange hineinzustechen.

»Balu.«

Der Blinde wendete den Kopf nach der Portiere, denn von dort hatte der Bauchredner die quäkende Stimme kommen lassen.

»Wer ist da?«

»Ich bin's,« lautete die bei geistvollen Köpfen, wenn sie draußen an eine Tür klopfen, so beliebte Antwort. »Ist es wahr, daß sich in dem Vogelbauer jemand gefangen hat?«

»Erst mußt du mi...«

Der Zwerg brach mitten im Wort ab.

Und was war denn das?

Gleichzeitig warf der Zwerg die Arme in die Luft und schlug rücklings, wie vom Blitz getroffen, zu Boden nieder, um regungslos liegen zu bleiben.

Was war das gewesen? Ein Schlaganfall?

»Hähähähähähä!!!«

Das hämische Gelächter kam wirklich von der Portiere her, Nobody dachte an den Papagei, obgleich es nicht so krächzend geklungen hatte, er wendete den Kopf und...

Heiliger Gott!! Dieser menschliche Kopf, der hinter der Portiere hervorblickte — dieses grinsende Gesicht, totenblaß, umwuchert von einem schwarzen Barte, verzerrt von Haß und Hohn — diese feixende Teufelsfratze... heiliger Gott!!

»Hähähähähähäh!!«


Illustration

Und die Portiere ward vollends zurückgeschlagen, und die Gestalt kam herein, gleichfalls in brennendes Rot gekleidet, noch röter in dem blutigen Feuerscheine, einen Pferdefuß nach sich schleifend, auf dem Kopfe ein Barett mit langer Hahnenfeder — ein echter Mephistopheles...

»Hähähähähähähähä!!«

Und der furchtlose Nobody zitterte plötzlich wie Espenlaub, mit hervorquellenden Augen und geöffnetem Munde stierte er die rote Erscheinung an, die hinkend auf ihn zuschlich, und dann wendete er sich ab, streckte nur den Arm abwehrend gegen die Teufelsgestalt aus.

»Mephistopheles — Monsieur Sinclaire,« stieß er mit kreischender Stimme hervor. »Und es ist nicht wahr — du bist eine Lüge — ein Gaukelspiel der Hölle — meiner Phantasie — ich werde wahnsinnig - du liegst ja seit zwei Jahren als Mumie in meinem Keller!!!«

»Hähähähähähähä!!«

Er hatte den Käfig erreicht, zog eine Lorgnette hervor, äugelte feixend durch die Gitterstäbe.

»Hähähähähä! Heute mir, morgen dir. Wie du mir, so ich dir. So heißt's, nicht wahr? Vor zwei Jahren hatten Sie mich in so einen Käfig gebracht, heute sitzen Sie drin, hähähähähä!«

»Und es ist nicht wahr!!« keuchte Nobody. »Du liegst als Mumie in meinem Keller! Ich selbst habe deine Leiche einbalsamiert!!«

»Na da geben Sie doch Ihren Unglauben auf. Ich habe mich eben ausgeschlafen in Ihrer zugenagelten Kiste und bin wieder aufgestanden. Aber ein Kopfkissen hätten Sie mir eigentlich mit reingeben können. Hähähähähä! Wissen Sie, ich bin gar kein so schlechter Kerl, wie Sie denken. Sie hätten gegen meine Frau auf der Argonauteninsel gar nicht so liebenswürdig zu sein brauchen — ich hätte Sie nicht in der Patsche sitzen lassen, in die ich Sie erst hineingebracht, indem ich Ihnen nämlich vorhin Ihr Messer aus der Tasche gezogen habe. Hier haben Sie es wieder. Sie wollen es nicht nehmen? Ich werfe es hinein. Nobody, Sie sind ein ganz famoser Kerl, wir machen doch noch einmal ein Geschäft zusammen, wir hauen noch einmal die ganze Welt übers Ohr. Hähähähähä.«

Der feixende Mephistopheles schob die Lorgnette zusammen, steckte sie ein und hinkte wieder der Portiere zu. Sie schon hebend, drehte er sich noch einmal um.

»Sie haben nicht nötig, die Eisenstäbe durchzusägen. Ich habe den Mechanismus bereits gelöst, schmeißen Sie den Käfig nur um. Und... auf Wiedersehen! Hähähähähä!«

Die Portiere fiel hinter der roten Gestalt herab.


IX. In eigener Angelegenheit.

Der Rosselenker mit dem roten Fes ließ seine moderne Droschke vor einem großen Hotel halten.

Ein kleiner Herr entstieg ihr, trotz seiner Bejahrtheit und Körperfülle mit jugendlicher Gewandtheit, und die vor dem Portal lungernden Kellner stürzten herbei, als ob es der erwartete Großmogul gewesen wäre.

Denn diese schwere, doppelte Uhrkette mit einer Unmenge riesiger Petschafte und anderem Anhängsel, die Brillanten an den Fingern, diese Schlipsnadel, und wie nun dieser kleine dicke Herr seinen schwarzen Gehrock und den blanken Zylinder zu tragen wußte, dieser Schmiß, wie das alles saß — Donnerwetter, das war ganz sicher ein Fürst im Reiche der Finanzwelt!

Nun hätte einmal jemand auf die Idee kommen sollen, dieser selbe Mann, die unnahbare Würde selbst, hätte noch gestern abend in roten Pumphöschen und blauem Jäckchen zwischen den Odalisken getanzt!

Aber auch der nachfolgenden Dame, der Mr. Cerberus Mojan beim Aussteigen galant die Hand reichte, hätte man nicht geglaubt, würde sie erzählt haben, sie wäre noch gestern abend die niedrigste Sklavin im Serail gewesen, Wäscherin, an Fußrheumatismus krank in ihrer Kawansi liegend.

Das gestern noch alte Weibchen sah plötzlichganz jung aus. Vor allen Dingen machte das wohl das schwarzgefärbte Haar — doch nein, sie war überhaupt eine ganz andere geworden. In den Zügen, besonders im Auge lag der Unterschied! Keine Spur mehr von den blöden, stumpfsinnigen Augen, diese funkelten vielmehr vor Lebenslust, und ihre Nasenflügel blähten sich, als wolle sie das rings um sie pulsierende Leben einsaugen, und sie war willens, es zu genießen, hatte sich schon darauf vorbereitet, sich gewappnet, wie es ein Weib tut, bei dem die Natur mit anderen Reizen gegeizt hat — schon spannte sich das Oberkleid über einem vollen Busen, dem man ja nicht ansehen konnte, daß er eingesetzt war.

Mr. Cerberus Mojan streckte mit einer unnachahmlichen Bewegung die Hand aus, und die Kellner harrten wie die dressierten Pudel der Worte, die jetzt kommen würden.

Und sie kamen.

»Ääääääähhh — Hotel Royal?«

So viele Worte wären für die dressierten Pudel gar nicht nötig gewesen.

»Sehr wohl, Herr Baron, dies ist das Royal Hotel.«

»Ääääääähhh — Mister Hatting?«

»Sehr wohl, Exzellenz, Mister Hatting logiert hier.«

»Ääääääähhh — anwesend?«

»Sehr wohl, Durchlaucht, Mister Hatting befindet sich im Lesezimmer.«

»Kikerikikiiiiihhh — gluck gluck gluck gluck — gack gack gack gack — kikerikikiiiiihhh!!!«

Das war aber nicht etwa von Mr. Cerberus Mojan gekommen! O nein! So hatte es hinter ihm geklungen, und der kleine Dicke drehte seinen kurzen Hals wie eine Schildkröte in der Schale.

Auf der Straße trieb ein Wahnsinniger sein Wesen, so klein und dick wie Mr. Mojan. Er fühlte sich als Hahn, legte nebenbei auch Eier. Bekleidet war er mit roter Pumphose und blauem Jäckchen.

Der geneigte Leser weiß Bescheid. Der echte Mufti war aus seiner Gefangenschaft entlassen worden, hatte sich zufällig gerade hierher verirrt.

Mr. Mojan wußte natürlich von nichts.

»Ääääääähhh — was das?«

»Das ist ein Muschlin, königliche Hoheit, ein Verrückter, der in der Türkei heilig gehalten wird.«


Illustration

»Ääääääähhh — selber verrückt.«

Mr. Mojan hätte seinem Doppelgänger gar keine Aufmerksamkeit mehr geschenkt — er hatte die Wette gewonnen, damit war die Sache für ihn erledigt — wenn nicht noch etwas dazwischengekommen wäre, was sich gerade hier abspielte.

Auf der Bildfläche erschien ein Trupp Eunuchen, durch Goldborten als kaiserliche gekennzeichnet. Sie nahmen den menschlichen Hahn in die Mitte, er ließ sich willig abführen.

Die Kellner fühlten sich verpflichtet, dem vornehmen Herrn, der doch offenbar hier fremd war, gleich die allerneuste Neuigkeit mitzuteilen, über die zurzeit ganz Konstantinopel sprach.

»Der ist aus dem Serail entsprungen, jedenfalls heute nacht während der großen Feuersbrunst. Sonst ist das ja unmöglich. Der ganze Dachstuhl des Hauptgebäudes ist abgebrannt. Dabei soll auch der Basch-Kiatibi verbrannt sein, das ist der Hofastrolog, der dort oben sein Observatorium hatte, und mit ihm zwei Odalisken, die gerade bei ihm waren. Das ist nämlich dadurch in die Öffentlichkeit gedrungen, weil...«

»Ääääääähhh — weiß schon. Ääääääähhh — interessiert mich nicht.«

Wieder war es eine unnachahmliche Geste der Würde und Grazie, wie Mr. Mojan den blankgewichsten Zylinder lüftete und der Dame seinen Arm bot. Und wie er sie nun so in das Portal hineinführte, wie er die Beinchen warf, die Füßchen setzte, sich in den Hüften wiegte — wirklich, dieses kleine dicke Männchen hätte auf jedem Parkett sofort die respektvollste Aufmerksamkeit erregt. Das war ein Mann, dessen Gunst sich kein Fürst verscherzen wollte, auch wenn man noch gar nicht wußte, wer er eigentlich war. Das lag in seinem ganzen Auftreten. —

Drei Minuten später befanden sich die beiden in einem Zimmer einem jungen, eleganten Herrn gegenüber, dessen Energie nur mit Mühe eine Aufregung unterdrückte.

»Ich bin es, Jordan Hatting ist mein Name. Mit wem habe ich die Ehre?«

Der eben erst eingetretene Mojan machte ein ganz merkwürdiges Gesicht, ebenso merkwürdig, wie in Träumen versunken, stand er da.

Plötzlich machte er wie ein Laubfrosch einen Satz nach rückwärts, gegen die Tür, hatte diese mit Vehemenz aufgestoßen.

Es klatschte — nämlich die Tür klatschte gegen die Nase eines Kellners, der sie in der Nähe des Schlüsselloches gehabt hatte.

»I du Mistkäfer elendiglicher, du voll Jauche gepumpter Wiedehopf stinkiger!!!«

Nun noch einen eleganten Fußtritt, der den Kellner gleich bis ans andere Ende des Korridors beförderte, und mit Würde kehrte Mr. Cerberus Mojan in das Zimmer zurück, als ob gar nichts geschehen wäre.

»Ääääääähhh — Nadelbüchse.«

»Semiramis,« gab Mr. Hatting das andere Stichwort.

»Die Nadelbüchse der Semiramis — stimmt. Ääääääähhh — Zunge zeigen.«

»Ich bitte, das richtige Stichwort genügte doch,« sagte der Herr mit einiger verlegener Entrüstung.

»Machen Sie Ihren Mund auf, stecken Sie die Zunge heraus.«

Der Herr wandte sich von der Dame ab und steckte wirklich seine Zunge weit heraus. Mojan brachte seine Nase dicht daran. An der Zunge war ein kleines Wärzchen zu sehen.

»Richtig, ein Hühnerauge auf der Zunge. Ziehen Sie die Zunge wieder ein und machen Sie den Mund wieder zu.«

Jetzt schickte Mr. Mojan jedem Satze kein ›ääääähhh‹ mehr voraus, auch stotterte er nicht mehr. Damit schien er aber auch gänzlich seine Höflichkeit verloren zu haben.

Denn höflich war das nicht gerade, wie er jetzt mit dem Daumen über die Achsel nach der Dame deutete und sagte:

»Das isse.«

Das heißt, er hatte es auf englisch gesagt, aber auch die englische Sprache hat ihre Dialekte, Jargons und vulgären Ausdrücke, und in der deutschen Übersetzung würde das eben gelautet haben: Das isse.

»Madame Lefort? Es ehrt mich sehr, Sie kennen zu lernen und Ihnen zu Ihrer glücklichen Befreiung gratulieren zu dürfen.«

Die Französin hatte sich aus der letzten, niederträchtigen Behandlung, die sie seitens ihres Begleiters erfuhr, sehr wenig gemacht, fächerklappernd stand sie daneben, erwiderte die Verbeugung des jungen Herrn, den sie mit funkelnden Augen betrachtet, wollte gleich zu schwatzen beginnen.

Sie wurde sofort durch eine gebieterische Handbewegung ihres Begleiters unterbrochen, die ganz deutlich sagte: ›Halt's Maul, ich will sprechen!‹

Unterdessen hatte Mojan umständlich seine Brieftasche gezogen und dieser ein Blatt Papier entnommen.

»Hier habe ich gleich die Quittung aufgesetzt: Von Mr. Cerberus Mojan die Madame Eugenie Lefort richtig erhalten zu haben bescheinigt... nun Ihren Namen. Bleistift genügt.«

Hatting unterdrückte ein Lächeln, als er seine Hand nach dem Papier ausstreckte. Doch schnell zog Mojan es zurück.

»Neneneneneee, so fix geht das nicht. Vorläufig ist die da noch mein Eigentum. Ich habe Auslagen für sie gehabt, die müssen mir erst ersetzt werden.«

»Aber ich bitte, geehrter Herr, das ist doch ganz selbstverständlich...«

»Neneneneneee, Geschäft ist Geschäft. Wollen Sie mir die Auslagen ersetzen oder nicht?«

»Na, sicher.«

»Haben Sie tausend Francs bei sich?«

»Gewiß. In englischem Geld.«

»Ich habe nach Francs gerechnet. Hier ist die Aufstellung. Ich habe aber nur die eine, und die möchte ich behalten. Wollen Sie nachschreiben.«

Der junge Mann zog das Notizbuch, und Mojan begann vorzulesen.

»Zwei Stiefel, einen linken und einen rechten a Stück ein Franc — zusammen 2 Francs.«

Hatting schielte nach der Dame. Sie war höchst elegant gekleidet, aber die Schuhe, diese Schuhe! Elegant sahen diese allerdings auch aus, aber... ins Nasse durfte sie damit nicht treten, sonst fielen die Sohlen ab — und morgen waren sie überhaupt in die Brüche gegangen.

»Haben Sie notiert?«

»Ich habe.«

»Weiter: zwei Strümpe, einen lilililink - hopsa! — einen linken und einen rechten. Stück 15 Francs, macht zusammen 30 Francs.«

»Ein Paar Strümpfe?!«

»Ein Paar Strümpfe. Jawohl, gucken Sie sich die Dinger nur mal an.«

Daß man sie bewundern konnte, dafür sorgte bereits die Französin durch kokettes Aufraffen ihres Rockes, als wären in dem Hotelzimmer Wasserpfützen.

Alle Wetter! Ja freilich, solche bunte Seidenstickerei, Handarbeit!

Nun aber reime sich jemand ein Paar Schuhe für 2 Francs und ein Paar Strümpfe zu 30 Francs zusammen!

Mojan fuhr fort, die Kostenberechnung vorzulesen, er ging sachgemäß von unten nach oben.

»Also ein Paar Strümpfe, 30 Francs. Zwei Strumpfbänder, 4 Sous. Ein Paar Unterhosen — das heißt, es ist nur eine, aber sie hat zwei Beine — eine Unterhose mit Klimbim, 58 Francs. Ein Unterrock, einen halben Franc. Noch einen Unterrock, 1 Franc. Ein dritter Unterrock Nummer 1 und Unterrock Nummer 2 — 150 Francs. Da hängt nämlich wieder viel Klimbim dran. Gott, wenn ich solche Spitzen an meiner Unterhose hängen hätte. Ein Hehehehe — hopsa! - ein Hemd, 1 Franc 5 Sous.[*] Eine Polstermatratze aus Gummi, vorn auf der Brust festzuschnallen, aus zwei Teilen bestehend, aus einem linken und aus einem rechten — jeder Teil 125 Francs, macht zusammen 250 Francs. Ein Korsett dazu, um das Ding festzuhalten — anderthalb Francs...«

[* 1 Sou — 4 Pfennige.]

»Ein Korsett zu anderthalb Francs?« wagte Mr. Hatting zweifelnd einzuschalten.

»Na, ist das etwa nicht genug?! Ich trage gar kein Korsett und lebe auch! Weiter! Jetzt wird's aber haarig. Ein falscher Zopp — 12 Francs. Ein Hut zu diesem falschen Zopp — 60 Francs. Ein dem Hute entsprechendes Kostüüüühhhm — 300 Francs. Eine Diamantbrosche, um das Kostüüüüühhhm oben an der Gurgel zusammenzuhalten, 2 Sous.«

»Eine Diamantbrosche für 2 Sous?«

»Na, Sie denken wohl, ich kaufe der eine echte?!

Ein paar Handschuhe, einen lilililink - hopsa! - einen linken und einen rechten, zusammen 2 Francs. Eine Zahndreckbürschte, 5 Sous. Haarfärbemittel, 3 Francs. Das Stück Seife will ich nicht berechnen, das habe ich selber zubekommen. Aber die Hälfte der Droschkenfahrt nach hier verlange ich — einen Franc. Und dann habe ich ihr noch extra als Taschengeld 5 Sous gegeben, damit sie nicht in Verlegenheit kommt. Schrumm, fertig!«

»Und die Entschädigung für Ihre Bemühungen?«

»Können Sie ja gar nicht bezahlen! Was meinen Sie wohl, was ich mit der in dem Ramschbazar durchgemacht habe!«

Wer einige Phantasie besaß oder Scharfsinn, konnte sich das aus obiger Preisliste entnehmen. Die Französin hatte immer das Teuerste, ihr Schutzpatron immer das Billigste kaufen wollen. Manchmal war es dem einen, manchmal war es dem anderen gelungen, den Kopf durchzusetzen, nur in den wenigsten Fällen waren sie sich auf halbem Wege entgegengekommen.

Auf diese Weise waren die Zweifrancstiefel und die Dreißigfrancstrümpfe mit den Fünfzehnpfennigstrumpfbändern zusammengekommen, der Unterrock für einen Franc mit dem für 150 Francs, das Dreihundertfranckostüüüühhm mit der Diamantbrosche für acht Pfennig, usw.

»Nun rechnen Sie zusammen.«

Die gezogene Summe stimmte mit der Mojans überein, er gab auf eine Fünfzigpfundnote heraus.

»So, jetzt dürfen Sie über den Empfang der Dame quittieren.«

Es geschah. Der junge Mann hatte es aus Jux sogar ›dankend‹ getan.

»Dankend? Das war nicht nötig. Der Dank ist vielmehr auf meiner Seite, daß ich sie glücklich losgeworden bin. Ääääääääähhh — Mahlzeit!«

Ein Lüften des Zylinders, und Mr. Mojan hatte schon die Türklinke in der Hand.

»Aber ich bitte Sie — wo ist denn Mister — Sie wissen...«

»Der ist noch drin.«

»Wann wird er kommen?«

»Weiß nicht. Wird schon kommen. Ääääääähhh — Mamamamama — hopsa! — Mahlzeit!«

Und hinaus war er. Jetzt konnte die Französin über den knickrigen Filz schimpfen. Doch als sie zu erzählen begann, mußte sie mehr noch lachen. — —

Kurze Zeit darauf betrat Madame Lefort an der Seite ihres neuen Beschützers den kleinen Speisesaal des Hotels, in dem an separierten Tischchen serviert wurde.

Ein einziger Gast saß drin, ein eleganter, nicht mehr allzujunger Herr mit martialischem Schnurrbart, und... tödlich erschrocken zuckte die Französin zusammen.

Sie befand sich noch in der Türkei, mitten in der Hauptstadt, in der Nähe des Serails, aus dem sie entflohen. Wer sie wieder einlieferte bekam eine Belohnung, und sie war des Todes. Mindestens erlag das schwächliche Geschöpf den Peitschenhieben.

Vergebens hatte sie ihren Begleiter gebeten, die Mahlzeit doch lieber auf dem Zimmer einzunehmen. Nein, nur nicht geheimtun, im Gegenteil ganz frei auftreten!

Und nun mußte sie gleich hier ein bekanntes Gesicht sehen!

Ihrem Begleiter, einem gewieften Detektiven, in Nobodys Diensten stehend, war ihr Schreck natürlich nicht entgangen, er wußte sofort alles.

»Ruhe,« sagte er leise, während er sich gelassen nach einem passenden Tisch umsah. »Es ist ja absolut keine Gefahr vorhanden. Sie kennen ihn?« »Ja.«

»Ach nein, dort ist es zu sonnig. — Wer ist es?«

»Maurice.«

»Kennen Sie denn nur den Vornamen?«

»Monsieur Kasin.«

»Ein Franzose?«

»Ja.«

»Woher kennen Sie ihn?«

»Aus Paris. Er machte auch die Reise nach Kanada mit.«

»Sie verkehrten mit ihm?«

»Ganz intim.«

»So. Wird er Sie wieder erkennen?«

»Ich weiß nicht. Ja — nein — ich hoffe — ich glaube nicht.«

Das hatte bald geklungen, als ob es ihr recht lieb gewesen wäre, wenn sie von dem Herrn erkannt worden; denn sie hatte sich von ihrem ersten Schreck gleich wieder erholt, einsehend, daß sie ja gerade von diesem Herrn gar nichts zu fürchten hatte.

So etwas merkte aber auch ihr Begleiter, er hatte auch schon eine Ahnung welchen Charakter das ihm anvertraute Dämchen besaß, er hatte bereits einen versteckten Platz hinter einer Säule erspäht, wo sie mit jenem nicht kokettieren konnte.

Zu spät! Der Herr hatte die Eingetretenen gemustert, er stutzte, setzte den Klemmer auf, erst Zweifel, dann malte sich in seinem schönen Gesicht unverkennbares Staunen, und schließlich stand er schnell auf und ging auf die beiden zu.

»Ist es möglich!! Eugenie!!«

Sie wußte noch nicht recht, was sie tun sollte. Sie begann wie eine Rose zu glühen.

»Mein Herr...«

»Ihr Herr Gemahl?« fragte der Herr, vorläufig nur die Hand an den Zylinder legend, den er aufbehalten hatte.

»O nein.«

Die Hand wurde gleich von der Hutkrempe zurückgezogen; Mr. Hatting, der von jetzt an gar nicht mehr beachtet wurde, fühlte die ganze unverschämte Dreistigkeit dieses Mannes heraus.

Und die Französin schien zu merken, wie sein freudiger Blick so erstaunt auf ihrer Diamantbrosche ruhte. Denn für acht Pfennig kann man nicht gerade eine gute Imitation verlangen.

»Ja, wie ist mir denn - Sie waren doch zuletzt an einen Monsieur Lefort verheiratet, nichtwahr?«

»Ja.«

»Sind Sie nicht Witwe?«

»Ja.«

»Nun, und... Sie haben doch die Erbschaft angetreten?«

»Mein Herr, ich möchte Sie bitten...«

Der sich einmischen wollende Hatting, der um eine Schattierung bleicher geworden war, wurde von Eugenie unterbrochen, die wie von einer Natter gestochen aufgefahren war.

»Eine Erbschaft? Ich eine Erbschaft?«

»Mein Herr,« begann der Detektiv nochmals, »ich muß dringend bitten...«

»Was wollen Sie?!« fuhr ihn der andere an. »Madam Lefort, hat dieser Herr ein Recht, Ihnen das Wort zu verbieten?«

»Nein, nein!!« schrie die Französin förmlich auf. »Er hat überhaupt gar kein Anrecht auf mich.«

»Gar kein Anrecht? Desto besser. Na also. Haben Sie die Erbschaft wirklich nicht angetreten?«

»Welche Erbschaft denn nur?«

»Haben Sie nicht einen Onkel?«

»Einen Onkel?«

»Fedor Welinsky.«

»Ja ja, meine Mutter war eine geborene Welinsky.«

»Hatte sie nicht einen Bruder?«

»Ja ja, den Fedor, aber der ist gestorben, verschollen.«

»Mitnichten. Das ist kein anderer als der Amerikaner Elias Ingelby.«

»Zum letzten Male nun, mein Herr, ich muß diese Dame jetzt unbedingt allein sprechen...«

»Nein!! Nein!!! Sprechen Sie!!! Ich habe eine große Erbschaft gemachr?«

»Mein Gott, wo haben Sie denn nur das letzte Jahr gesteckt?!«

»Ich — ich — ich — ich war im Krankenhaus!«

»Und Sie wissen gar nicht, daß man Sie ein ganzes Jahr lang in allen Zeitungen der Welt gesucht hat?«

»Mich? Mich?! Wieviel ist es denn? Eine Million?«

»Eine Million? Kennen Sie denn den Elias Ingelby nicht?«

»Nein! Nein!! Zwei Millionen?«

»Das ist der Besitzer der Platinwerke im Kaukasus!«

»Drei Millionen?«

»Eine halbe Milliarde!«

»Und ich — ich — wieviel krieg ich davon ab?«

»Er hat Sie zur Universalerbin eingesetzt.«

Aaaaaaaahhh... pieps.

Da lag sie. Das hatte sie nicht vertragen können. Blaß konnte sie nicht werden, sie war zu sehr geschminkt.

Und um die Ohnmächtige entspann sich zwischen den beiden Männern ein förmlicher Kampf. Jeder wollte sich ihrer annehmen, sie ganz haben.

»Ich bin der Beschützer dieser Dame!«

»Hier kommt mir etwas verdächtig vor. Hand von ihr, oder ich rufe die Polizei!«

»Herr, lassen Sie mit sich sprechen!«

»Was, Sie wollen Gewalt anwenden?«

»Ich habe auf die Dame ein ebenso großes Recht wie Sie!«

»Wissen Sie, wer ich bin?«

»Geht mich gar nischt an, ist mir ganz schnuppe!«

»Ich bin der Großfürst Alexei Karamsin!!«

— — — — —

Eine Stunde später traf Nobody in dem Hotel ein. Er sah bleich und angegriffen aus, was man wohl selten bei diesem eisernen Manne zu beobachten Gelegenheit hatte.

Und nun dieser Empfang, den ihm Mr. Hatting bereitete!

»Sie ist nicht mehr hier, sie ist meiner Aufsicht entführt worden!«

Hastig erzählte er, wiederholt seine Unschuld, die Unmöglichkeit beteuernd, sie dem Russen wieder zu entreißen.

Mit fest zusammengepreßten Lippen hörte Nobody ihm zu. Was er sich dabei dachte, hätte ihm kein Mensch ansehen können. Wohl etwas bleich, aber sonst die steinerne Ruhe selbst.

Nur einmal unterbrach er den sich mit Worten überstürzenden Erzähler gleich im Anfang.

»Mr. Hatting, wenn Sie die Ruhe verlieren, wenn Sie durch solch eine Kleinigkeit nervös werden, dann habe ich mich in Ihnen getäuscht, dann eignen Sie sich nicht zum Detektiv.«

Bei solch einer Kleinigkeit, hatte er gesagt?

Es war geradezu wunderbar, wie Nobody oft nur mit einem einzigen Wort, nur so wie zufällig ausgesprochen, einen Menschen beeinflussen konnte! Diesem Manne hier hatte er dadurch sofort wieder seine Kaltblütigkeit zurückgegeben. Jetzt klang seine Erzählung ganz anders. Mit einem Male entschuldigte er sich auch nicht mehr, im Gegenteil, er gab seine Schuld zu! Und Selbsterkenntnis ist bekanntlich der Anfang aller Weisheit — und aller Männlichkeit. Nur Feiglinge und Waschlappen entschuldigen sich immer, suchen ihre Fehler auf andere zu schieben.

»Ich ließ mich dadurch, daß ich einen russischen Großfürsten vor mir hatte, verblüffen, das muß ich offen gestehen, ich ließ die beiden ungehindert in einen Wagen steigen...«

»Bitte, auf welche Weise hätten Sie denn das auch verhindern können? Die Dame konnte doch frei über ihren Willen verfügen, der hatten Sie doch gar nichts zu befehlen.«

Überrascht blickte der Detektiv den Sprecher an. Ja, das war eben Nobody!

»Nein, die Schuld liegt an mir,« fuhr Nobody fort. »Ich habe einen großen Fehler begangen. Es ist aber auch ein unglücklicher Zufall dabei. Gleichgültig! Über vergossene Milch soll man nicht weinen. Der Schaden läßt sich wieder gutmachen. Wohin fuhren die beiden?«

»Nach dem Hafen. Der Herr, nur mit wenigen Worten von der Dame, als sie wieder zum Bewußtsein erwachte, darüber orientiert, daß sie aus dem Serail entflohen sei, hatte kaum Zeit, seinen Koffer mitzunehmen. Sie bestiegen den ersten besten Dampfer, der zur Abfahrt bereitlag...«

»Woher wissen Sie das?«

»Nun, ich bin dem Wagen natürlich gefolgt.«

»In einem anderen Wagen?«

»O nein, einem fremden Kutscher hätte ich mich nicht anvertraut. Ich bin hinterhergerannt.«

»Bravo! Und weiter?«

»Unterwegs überlegte ich, ob ich die türkische Polizei anrufen sollte. Dann hätte aber alles andere herauskommen können, ich hätte es ja überhaupt verraten müssen, um die dem Serail Entflohene festzuhalten, und es war mir sehr zweifelhaft, ob Ihnen das angenehm gewesen wäre.«

»Um Gottes willen nicht! Haben Sie sich erkundigt, wohin der Dampfer fährt?«

»Natürlich! Nach Odessa.«

»Aha! Das wird der Großfürst selbst nicht gewußt haben, und als er es dann erfuhr, wird es ihm sehr unangenehm gewesen sein. Ein türkischer Dampfer?«

»Ein russischer.«

»Wie heißt er?«

»Moskowitsch. Nicht etwa ein Passagierdampfer, nur ein kleiner Frachtkasten, der so bei Gelegenheit auch Passagiere mitnimmt.«

»Aber wieviel Knoten er macht, darüber haben Sie sich wohl nicht erkundigt?«

»Über alles. Höchstens acht Knoten.«

»Geht er direkt nach Odessa?«

»Direkt. Legt unterwegs nirgends an. Ich hatte doch die Absicht, gleich hinterherzufahren, es wäre auch gegangen, ich hätte ja selbst noch das Deck dieses Dampfers erreichen können. Aber wo blieben Sie dann? Dann saßen Sie hier und warteten, wußten gar nicht, wo ich sei. Nein, ich habe sofort an unsere Filiale nach Odessa telegraphiert, daß man dort bereit ist, die Ankommenden zu empfangen und wenigstens zu beobachten. Nun geht mittags ein schneller Passagierdampfer von hier nach Odessa, mit dem sind wir noch viel eher dort. — Als ich dies alles wußte, bin ich wieder hierhergeeilt, um auf Ihre Ankunft zu warten.«

»Hatting, Sie sind ja ein Kapitalmensch! Und Sie klagten sich erst der Energielosigkeit an? Sie haben meinen Fehler fast schon wieder gutgemacht. Hier haben Sie eine Zigarre. Also mittags geht der Dampfer?«

»Punkt zwölf.«

»Den benutzen wir. Wenigstens ich. Für Sie werde ich einen anderen Auftrag haben. Und nun lassen Sie mich mal allein. Ich will einen Brief schreiben.«

Aber Nobody schrieb keinen Brief. Kaum war er allein, als er sich mit einem leisen Stöhnen gegen die Lehne seines Stuhles fallen ließ.

»Mich hat ein böser Traum gequält,« flüsterte er.

Einige Minuten stierte er so vor sich hin, dann tastete er an seiner Brusttasche, es knisterte, schon da zuckte er zusammen, er griff hinein, zog ein Telegrammformular hervor, wie mit ängstlicher Scheu faltete er es auseinander... und da stand es:

»Die betreffende Bleikiste leer. Nichts Schriftliches darin. Gar nichts.«

Vor drei Stunden hatte Nobody an seine Frau die chiffrierte Anfrage depeschiert, ob sich in seinem Keller noch die präparierte Leiche jenes Selbstmörders befände. Gabriele mußte sofort wissen, um was es sich handelte, war sie doch dabei behiflich gewesen, die Leiche zu mumifizieren; außer Edward Scott kannte nur sie das ganze Geheimnis.

Und hier war die Antwort!

Die rote Erscheinung des Mephistopheles gestern nacht im Serail war kein Traum gewesen!

Aber auch stöhnen konnte Nobody jetzt nicht mehr. Er suchte vielmehr nach Erklärungen.

Fast zwei Jahre war es nun her, da sich in seinem Arbeitszimmer jene Szene abgespielt, die mit dem Selbstmord des geheimnisvollen Besuchs geendet hatte.

Monsieur Sinclaire hatte sich aufgehangen. Der Tod war nicht infolge eines Wirbelbruchs, sondern infolge Erstickens eingetreten. Das hatte Nobody mit Sicherheit konstatiert. Beim Hängen brechen die Halswirbel auch nur, wenn der Betreffende aus einiger Höhe herabstürzt, wie es beim offiziellen Hängen geschieht, es ist dies eine Erleichterung des Todes. Oder es muß eine sehr schwere Person sein, deren Halswirbel nicht die Last des ganzen Körpers tragen können.

Eine Sektion nahm Nobody an der Leiche nicht vor. Daß er es konnte, ist schon früher einmal gesagt worden. Nobody hatte noch in reifen Jahren als Detektiv einen regelrechten Kursus in Medizin und besonders in der praktischen Anatomie durchgemacht, nur so nebenbei, hatte es aber in einem Vierteljahre weiter gebracht, als wohl mancher junge Student innerhalb einiger Semester.

Es lag kein Grund vor, die Leiche zu sezieren. Dann hatte Nobody einen Einfall gehabt. Auch er hatte ein Mittel entdeckt, um Leichen vor Verwesung zu schützen. Es gibt deren ja schon genug, teils äußerlich, teils innerlich angewendet, Gelehrte machen aus der Mumifizierung auch eine Spezialität. Das Einsetzen in Spiritus ist doch eigentlich nichts anderes; selbst der Fleischer, der verbotenerweise seine Wurstwaren mit einem gewissen Borsalze imprägniert, ist zu diesen Spezialisten zu rechnen.

Nobodys rastlos erfinderischer Kopf hatte auf Grund eines schon vorhandenen Mittels ein neues entdeckt. Es mußte dem Tiere oder dem Menschen kurz nach dem Tode in die noch mit warmem Blute gefüllten Adern gespritzt oder besser unter Druck hineingepumpt werden.

Während jener Studienzeit hatte er wiederholte Versuche mit diesem Mittel angestellt. Doch nur an Tieren, sonst nur noch einmal an einer menschlichen Hand. Die präparierten Objekte setzte er in große Glasflaschen oder Glaskisten, welche hermetisch verschlossen und in einem sich durch vollkommene Trockenheit auszeichnenden Keller ausgestellt wurden.

Aber Nobody war mit seinen Erfolgen durchaus nicht zufrieden. Die präparierten Objekte verwesten allerdings nicht, trockneten nur aus, verwandelten sich in Mumien — und das haben schon die alten Ägypter und noch andere Völker verstanden.

Hierbei sei etwas eingeschaltet. Der Schreiber dieses hat selbst vor etwa zehn Jahren in Amerika eine Wanderausstellung besucht, in der solche Präparate zu sehen waren. Tiere, Kadaver, mit allen Eingeweiden, vollständig erhalten, vollständig geruchlos. Auch menschliche Glieder waren vorhanden, ganz natürlich, in allen Teilen beweglich, wie eben erst abgeschnitten. Vielleicht noch interessanter waren die großen Schlangen, bei deren Biegsamkeit man so recht deutlich sehen konnte, daß auch zwischen den einzelnen Wirbeln noch die Knorpel vorhanden waren, und es wurde gezeigt, daß es sich nicht etwa um eine Ausstopfung handelte, was bei einzelnen Präparaten ja auch ganz ausgeschlossen war. Man kann doch nicht einen menschlichen Fuß, ein Herz, einen ausgeschnittenen Magen ausstopfen.

Es war das Geheimnis des Schaustellers, eines Italieners, der es um keinen Preis verkaufen wollte — aber wohl nur darum nicht, weil er mit der italienischen Regierung wegen eines Verkaufs in Unterhandlung stand. Was daraus geworden ist, weiß der Schreiber dieses nicht. Der Mann wollte von New-York nach Europa und auch nach Deutschland gehen, und es ist daher leicht möglich, daß ein und der andere Leser diese präparierten Objekte selbst gesehen hat.

Nun ging vor einigen Jahren durch die Zeitungen der Bericht, daß ein italienischer Professor, der so wunderbar zu präparieren verstand, sein Geheimnis der italienischen Regierung für eine Million Lire angeboten hätte. Es wurde nach italienischer Weise lange, lange Zeit gefeilscht, darüber starb der Erfinder, seine ganzen Sachen hat er vorher verbrannt, sein Geheimnis mit sich ins Grab genommen.

So hat in den Zeitungen gestanden. Kein Zweifel, das ist derselbe Mann gewesen.

Damals aber, als Nobody auf dem Glanzpunkt seiner Detektivlaufbahn stand, gab es so etwas noch nicht, da ging es nicht über eine Mumifizierung, Austrocknung der organischen Leichenteile hinaus. Auch das Einsetzen in Spiritus kann die Natürlichkeit durchaus nicht erhalten. Das ist nämlich auch nichts weiter als ein Austrocknen. Alkohol zieht begierig Wasser an, er saugt also das Wasser aus dem Gewebe heraus, mit der Zeit ändert sich dieses total, alles klappert zusammen.

Nun, seine Kunst, soweit er sie gebracht, wollte Nobody doch einmal an einer menschlichen Leiche probieren. Alles, was er in der letzten Zeit erlebt und gesehen, mußte ihn ja dazu anregen, und gerade den Mann wollte er präparieren, der selbst solch eine Sammlung von menschlichen Präparaten besaß.

Hier war es auch aus einem anderen Grunde sehr leicht möglich. Es dürfte bekannt sein, wie schwer es in England die studierenden Anatomen haben, sich Leichen zu verschaffen. Nur von der Justiz Gehenkte dürfen seziert werden, sonst nicht einmal Selbstmörder. Und auch die gehenkten Verbrecher müssen wieder zusammengeflickt und regelrecht begraben werden. Darin ist das pietistische England sehr eigensinnig, da läßt das Gesetz nicht mit sich spaßen, nimmt keine Koryphäe der Wissenschaft davon aus. Infolgedessen ist dort die Zunft der Leichenräuber entstanden, die noch heute in England blüht. Sie stehlen die Leichen von den Kirchhöfen.

Bei diesem Manne hier hatte es keine Gefahr, aus Gründen, die hier wohl gar nicht erst angeführt zu werden brauchen.

Nobody öffnete an der noch warmen Leiche eine Ader und spritzte unter Druck sein Präparat hinein, daß es bis in die feinsten Verästelungen der Blutkanäle dringen mußte. Irgend eine weitere Behandlung war nicht nötig.

Zuerst also hatte Nobody, weil er die Präparate doch beobachten wollte, immer in Glasgefäße eingesetzt, und zwar anfangs hermetisch verschlossen, hatte solche Gefäße auch luftleer gemacht, war aber zu der Überzeugung gekommen, daß sich die Präparate gerade bei freiem Luftzutritt viel besser hielten, allerdings vorausgesetzt, daß die Luft kühl und vollkommen trocken war, welche Bedingungen dieser Keller alle erfüllte.

Einen so großen Glaskasten, um die menschliche Leiche hineinzulegen, besaß Nobody nicht. Er nahm einen großen Kasten aus Bleiblech, der sich zufällig im Hause befand. Der Deckel hätte verlötet werden können, doch, wie gesagt, der Luftabschluß brachte die Leiche sogar in Gefahr, daß sie trotz des Mittels doch noch verweste. So wurde überhaupt gar kein Deckel daraufgelegt.

Langausgestreckt lag die Leiche in dem sargähnlichen Bleikasten zwischen den präparierten Tieren aller Art. Ein gewisses Gefühl hielt Nobody ab. die Leiche unbekleidet hineinzulegen, auch von einem Totenhemd und dergleichen wollte er nichts wissen. Nein, er ließ dem Toten seine Kleidung, den schwarzen Gehrockanzug, mit Kragen, mit goldener Uhrkette und allem, so wie er bei ihm eingetreten war. Nun massierte Nobody die noch weichen Gesichtszüge, bis die Todesstarre eintrat, und er brachte es fertig, dem Gesicht denselben Ausdruck von teuflischem Haß und Hohn zu geben, wie es damals durch die Schiffsluke herausgesehen hatte.

So lag das menschliche Rätsel in dem Bleisarge, und wenn er auch mit der Zeit zur Mumie ausgetrocknet, diese Teufelsfratze würde doch immer zu erkennen sein. Jedenfalls war es eine interessante Erinnerung, was er da in seinem Keller aufbewahrte — noch etwas ganz anderes als eine in Spiritus eingesetzte Mißgeburt, über welche mancher Anatom in Verzücken geraten kann, die er auf seinem Schreibtisch immer vor Augen haben muß, an deren Anblick er sich weidet wie ein Kunstenthusiast an einem wertvollen Gemälde, das er auf der Auktion erstanden. Solche Gegenstände, die irgend etwas Geheimnisvolles an sich haben, sind tatsächlich geistige Sporne, so wie der Schreiber dieses vor sich auf seinem Arbeitstisch stets eine Sphinx haben muß, ein kleine Figur aus rotem Ton, auf der beim Aufblick sein Auge ruht, und fehlt die Sphinx einmal, so ist es auch mit dem Schreiben vorbei, die Sphinx muß in ihrer erhabenen Ruhe und mit ihrem starren Blick erst wieder vor ihm liegen.

Nobody hatte diesen Kellerraum verschlossen und war, wie wir wissen, sofort nach Ägypten gereist.

Unterdessen waren fast zwei Jahre vergangen, und Nobody, einem Seemann vergleichbar, der auf Segelschiffen große Fahrten macht, war inzwischen nur ein einziges Mal zu Hause gewesen — aus Mexiko war er gekommen, jenen blondlockigen Knaben mit den schwarzen Augen hatte er mitgebracht, den er bei den Mönchen gefunden — er hatte ihn mitgebracht, um ihn dem mütterlichen Schutze seiner Gattin zu übergeben, als Gespielen seiner eigenen Jungen — und dann war Nobody abermals gleich wieder abgereist, ohne einmal in jenen Keller gegangen zu sein.

Und nun! Ja da blieb einfach der Verstand stehen!

Hätte Gabriele, welche alle Schlüssel besaß, auf die Anfrage zurücktelegraphiert, es sei alles in Ordnung, die Leiche befände sich noch in dem Bleisarge... na, Nobody hätte an einen Traum, an eine Vision oder an sonst etwas geglaubt, an einen Doppelgänger dieses Monsieurs Sinclaire — aber so, die Leiche verschwunden... das ging eben über den gesunden Verstand desjenigen, der nicht an Gespenster, Hexen, Werwölfe und dergleichen Dinge glaubt!

Doch die Fassungslosigkeit währte nicht lange, so war Nobody wieder der alte, der mit klarem Kopfe überlegen konnte.

Nein, er hatte nicht geträumt, keine Vision gehabt. Und wenn die Leiche nicht mehr in seinem Keller lag, dann war die rote Gestalt im echten Mephistopheles-Kostüm von gestern Nacht auch der echte Sinclaire gewesen, der wieder zum Leben erwacht war.

Wie konnte das nun wohl möglich sein? Lag die Vermutung nicht sehr nahe, daß der geheimnisvolle Mann einen Selbstmord nur simuliert hatte, gar nicht tot gewesen war, um so eine Gelegenheit zur Flucht aus dem Gefängnis zu finden, in das ihn ein Schlauerer gebracht hatte?

Möglich war es; für Nobody wenigstens lag es im Bereiche der Möglichkeit. Denn jenes ähnliche Beispiel von einer Zwischenstufe zwischen Tod und Leben, nämlich wie sich indische Fakire lebendig begraben lassen, vier Wochen lang und noch länger, metertief unter der Erde bei völligem Abschluß der Luft, das ist nicht etwa eine Schwindelei, wie ›Aufgeklärte‹ einfach behaupten. Sie sollen nur hingehen nach Indien, aber nicht mit einer Reisegesellschaft von Cook oder Stange, sie dürfen nicht immer im Hotel wohnen, müssen einmal die ausgetretenen Heerstraßen verlassen! Immer hinunter ins Volk!

Dieses Lebendigbegrabenlassen ist nämlich eigentlich eine religiöse Handlung der indischen Heiligen, eine asketische Bußübung, zu der nicht jeder Uneingeweihte zugelassen wird!

Es gibt genug einwandfreie Augenzeugen, besonders in England unter den in Indien gewesenen Beamten und Offizieren, an deren Berichten nicht zu zweifeln ist — diese Beamten haben nämlich die Macht, solche Vorstellungen zu fordern, sonst muß die ganze Gegend darunter leiden — und der bekannte Carl du Prel hat für dieses Phänomen eine vollständige Erklärung gegeben, und der Schreiber dieses hat auf einem arabischen Pilgerschiffe von einem indischen Fakir und mehreren arabischen Derwischen, welche sich vor türkischen Großen produzieren mußten, noch ganz andere Experimente ausführen sehen, entsetzliche, haarsträubende, und immer mittels einer vorangehenden Autohypnose, indem sie sich nämlich erst in Ekstase versetzten, auf eine grauenhafte Weise, die hier gar nicht beschrieben werden soll.

Also möglich war es, daß der geheimnisvolle Mann, der wohl noch mehr konnte als Brot essen, seinen Tod nur simuliert hatte. Die Flüssigkeit, welche Nobody in nur geringer Menge ins Blut pumpte, war nicht ein direktes Gift. Was es überhaupt gewesen ist, sagt er nicht.

Ja, aber... hätte er denn, wenn er dergleichen beabsichtigt, so etwas Schriftliches hinterlassen? Er machte doch den Gegner, dem er entfliehen wollte, zum Mitwisser seiner Geheimnisse, indem er ihm das mit dem Teufelsbrunnen verriet! Dann hätte er mindestens eine falsche Angabe gemacht, so daß Nobody beim Drehen jenes Hebels in dem Brunnenschächte in die Luft geflogen wäre!

Und nun zweitens, der Hauptgegengrund für jene Annahme: Wenn Nobody nun den vermeintlichen Toten in einen Sarg gepackt, diesen zugenagelt und in die Erde versenkt hätte, so wie eben jeder andere Mensch unter normalen Verhältnissen begraben wird? Nobody zweifelte, daß sich der zum Leben Erwachte ohne jede Hilfsmittel da wieder herauspaddeln konnte. Und eine Hilfe von außen? Wenn Nobody ihn nun seziert hätte? Die Glieder wieder zusammenflicken und neues Leben einpusten, wie's im Märchen steht - nein, so was gibt's heutzutage nicht mehr.

Wenn es wirklich nur eine Simulation gewesen wäre, so hätte der Gehenkte etwas ganz anderes Schriftliches hinterlassen, eine innige Bitte, seine letzte — »Ich verzeihe Ihnen, aber bitte, bitte, behandeln Sie meine Leiche so und so, und bringen Sie sie da und dahin...« — oder so etwas Ähnliches.

Nein, nein! Der gute Mann hatte mehr Glück als Verstand gehabt. Er war nicht tot gewesen, ganz gegen seinen Willen, die Einspritzung hatte ihm nichts geschadet, er war wieder zum Leben erwacht, hatte sich aus seinem Sarge und aus Nobodys Hause auf englische Weise verabschiedet. Zu rechnen freilich war damit, daß dieser unvergleichliche Anatom auch schon mit seinem eigenen Körper Experimente angestellt hatte, etwa sein Blut infiziert hatte, um sich giftfest zu machen — dies nur als Beispiel angeführt — er hatte eben dem Einfluß des Todes diesmal noch getrotzt. Aber daß es so kommen würde, das hatte er selbst nicht gewußt, ganz bestimmt nicht!

Was würde dieser geheimnisvolle Mann nun...

Nobody machte in seinem Gedankengange einen Abschnitt, und den nächsten leitete er damit ein, daß er sich schallend auf den Schenkel klatschte, und dann sagte er zu sich selbst mit dem vergnügtesten Gesichte der Welt:

»Famos, daß dieses Männchen noch lebt! Dann werde ich ihn zum zweiten Male kriegen, dann ihn aber ganz anders einpökeln!«

Das war so echt ›nobodysch‹ gewesen.

Wie drängte es ihn, jetzt sofort mit dem Expreßzug nach London zu jagen, um weitere Untersuchungen über das Verschwinden zu machen!

Gabriele hatte keine Veranlagung zur Detektivin. Daß sie telegraphierte, in dem leeren Bleikasten sei auch kein beschriebenes Papier, war schon sehr viel, was ihrer Auffassungsgabe zu allen Ehren gereichte. Aber sie hätte z.B. auch gleich melden können, ob etwa das Schloß des Kellergewölbes von innen erbrochen worden sei.

Wie gesagt, so gern hätte sich Nobody sofort an Ort und Stelle begeben! Nein, er hatte gegenwärtig ein anderes Ziel im Auge, und er wollte es erreichen, und um alle Kräfte dafür einsetzen zu können, dazu mußte er sich alle anderen Gedanken aus dem Kopfe schlagen! Das ist auch, was man Geisteskonzentration nennt.

Eben weil er dies nicht gleich getan, hatte er auch den großen Fehler begangen. Er hatte die telegraphische Anfrage gleich aufgeben wollen, sobald er die Mauern des Serails hinter sich gehabt, der Schalter war besetzt gewesen, dann hatte er auch gleich auf die Antwort gewartet, zu der Annahme der schnellsten Erledigung berechtigt, weil die Depesche, mit einem Stichwort versehen, direkt in sein Haus lief, dieses Stichwort des Champion-Detektivs ward auch von allen englischen Postämtern bevorzugt, alle anderen Depeschen mußten warten - aber es war doch nicht so schnell gegangen, wie er gedacht hatte.

So hatte er seine Zeit vertrödelt. Sonst wäre er eine Stunde früher hiergewesen, und ihm, dem Detektiv Nobody, hätte der russische Großfürst jenes Weib nicht entführen sollen!!!

Zu spät! Und Nobody machte dafür nicht etwa den Herrn Mephistopheles verantwortlich. Das war ganz einfach seine eigene Schuld, und nun mußte er zur Strafe deswegen erst nach Odessa fahren!

Aber wer hätte auch geahnt, daß der eigentlich erste Mensch, der die aus dem Serail befreite Sklavin zu sehen bekam, gerade ein früherer Liebhaber von ihr sein mußte!

Und nun war das gerade auch noch der Großfürst Alexei Karamsin, der früher unter einem anderen Namen mit der liebebedürftigen Französin poussiert hatte!

Der geneigte Leser erinnert sich doch wohl dieses Namens? Das war der russische Großfürst, dem die Frau durchgebrannt war, weil sie sich nicht an einen andern Mann verschachern und mit der Knute karbatschen lassen wollte, die von Nobody nach dem Koloradotale zu ihren Freundinnen begleitet worden war.

Das Schicksal ist immer gerecht! Diesem russischen Großfürsten ging es in der letzten Zeit recht traurig!

Wie es genug englische Lords gibt — und jeder Lord ist thronberechtigt! — die nichts weiter ihr eigen nennen, als was sie auf dem Leibe tragen, und noch nicht das einmal, so gibt es auch einige russische Großfürsten, deren pekuniäre Lage keine glänzende ist.

Ja, Karamsin hatte riesige Güter — aber sie brachten ihm nichts ein. Ein Ukas des Zaren, durch welchen den Bauern nur einige wenige menschenwürdigere Lebensbedingungen zugebilligt wurden, etwa daß nicht mehr zwanzig Menschen in einer Hütte schlafen durften, sondern nur noch fünfzehn, weswegen mehr Hütten gebaut werden mußten, das konnte so einen Gutsbesitzer gleich an den Abgrund des Ruins bringen. Und ein Großfürst ist ein Großfürst, der braucht zum standesgemäßen Leben mehr Geld als andere Sterbliche.

Durch die Heirat mit der schwerreichen Erbin war dem Alexei Karamsin ja aus der Klemme geholfen worden. Aber sie hätte nicht wieder durchbrennen sollen. O ja, durchbrennen konnte ja seine Frau, nur ihr ganzes Geld hätte sie nicht mitnehmen dürfen! Das war eine Niederträchtigkeit von ihr gewesen!

Einmal im freien Amerika, war von ihr nichts mehr zu wollen. Karamsin brachte trotz aller Schwierigkeiten eine Scheidung fertig, um sich nach einem anderen weiblichen Geldsack umzusehen.

Das aber sollte ihm noch mehr Schwierigkeiten bereiten — nicht das Umsehen, sondern das Kriegen — als die Scheidung.

Der Zar, ein edler Charakter, hatte Näheres über diese faulen Verhältnisse gehört, andere Sachen kamen dazu — Großfürst Alexei Karamsin wurde bis auf weiteres ins Exil geschickt. Das heißt, er durfte sich noch in Rußland aufhalten, nur nicht mehr als Großfürst, und wenn er seinem biederen Namen Alexei Karamsin diesen Titel voransetzte, so war dies Vorspiegelung falscher Tatsachen, und wenn er sich als Großfürst nur fünf Kopeken pumpte, so war das Hochstapelei. Überall konnte er sich noch Großfürst nennen, nur nicht mehr im heiligen Rußland.

Da war es mit ihm schlimm bestellt. Eine lumpige Millioneuse kann so ein Großfürst nicht gebrauchen. Am liebsten ist ihm eine Prinzessin, an deren Hand gleich ein ganzes Ländchen baumelt. Aber so eine will doch keinen Mann haben, der nur von Kellnern und in Gesellschaften zweiter und dritter Güte als russischer Großfürst respektiert wird, im übrigen nicht einmal von einem Kommerzienrat, der alljährlich zur Marschallstafel geladen wird, um es nicht mit dem Hofe zu verderben, zu dem der Verbannte nämlich keinen Zutritt mehr hat. Und genau so wie eine echte Prinzessin denkt jedes amerikanische Goldfischchen im heiratsfähigen Alter. Die wollen für ihr vieles, vieles Geld etwas ganz anderes haben als einen verbannten russischen Großfürsten.

Da sah er sie wieder, seine einstige Poussade, von der er wußte, daß man sie seit einem Jahre in allen Blättern suchte, um sie als einstige Erbin des russisch-amerikanischen Platinschmelzers Ingelby einzusetzen!

Und sie war frei.

Und sie war... telekail.

Und für 200 Millionen Rubel oder eine halbe Milliarde pfiff Herr Alexei doch auf die ganze Großfürsterei. Schon für die Hälfte war er bereit zu pfeifen.

Und punkt zwölf Uhr pfiff Nobodys Dampfer zur Abfahrt nach Odessa.

— — — —

»Sie wünschen?«

Von oben herab hatte es der stolze, hochgewachsene Herr zu dem Manne gesagt, der so bescheiden vor ihm stand. Noch nicht einmal seinen Namen kannte er. Der anständig gekleidete Mann, der in einem Hotel von Odessa Madame Lefort hatte sprechen wollen, war sofort vorgeführt worden — nur daß er nicht die begehrte Dame, sondern den Großfürsten Alexei Karamsin zu sehen bekam.

Aber eine kleine Spannung, wenn nicht Besorgnis, war doch in den aristokratischen, maßlos stolzen Zügen zu lesen.

»Sie wünschen?«

»Ich möchte Madame Lefort sprechen.«

»Weswegen?«

»Ich muß eine Unterredung unter vier Augen mit ihr haben.«

Man hätte dem so bescheiden aussehenden Manne gar nicht zugetraut, daß er so energisch sprechen könne. Und die spannungsvolle Besorgnis in des Fürsten Zügen ward immer größer.

»Wie heißen Sie?«

»Auch das werde ich nur Madame Lefort anvertrauen, von der ich weiß, daß sie sich im Hotel befindet.«

»Haben Sie vielleicht mit der Entführung dieser Dame aus dem Serail des Sultans zu tun?«

»Allerdings.«

Da wich die Besorgnis und Spannung aus dem Antlitz und machte dafür einem kampfeslustigen Hohn Platz.

»Das hätten Sie gleich sagen sollen, mein Lieber! Sie wollen die Angelegenheit mit dem Kuratel regeln?«

»Allerdings.«

Also die Französin hatte ihm bereits alles erzählt. Desto besser! Dann konnte sich Nobody diesem Herrn gegenüber alle weiteren Worte ersparen.

»Ich werde meine Braut sofort rufen, Sie auch allein mit ihr lassen. Ich will mit dieser lächerlichen Geschichte gar nichts zu tun haben.«

Er wandte sich der Tür zu. Ein Ruf hielt ihn noch einmal zurück.

»Ihre Braut?«

»Ja, Madame Lefort ist meine Braut.«

»Ich danke Ihnen. Ich wollte dies als Bestätigung, daß ich auch recht gehört habe, nur nochmals aus Ihrem Munde vernehmen.«

Der Großfürst ging. Gleich darauf trat statt seiner die Französin ein, von einem mächtigen, russischen Windhund begleitet, in der Hand eine Hundepeitsche.

Die Tür blieb halb offen. Selbstverständlich stand ihr Galan dahinter.

Nobody hätte sie bald nicht wiedererkannt. Die war mit einem Male wieder ganz jung geworden. Und wie gehässig die erst so blöden Augen auf ihm ruhten, und zugleich ebenso zum Kampfe herausfordernd wie vorhin die des Großfürsten.

»Mit wem habe ich die Ehre?« wollte sie zuerst mit zeremonieller Höflichkeit beginnen, was ihr freilich schlecht gelang.

»Mein Name ist Sandow. Ich bin derjenige, der Ihre Flucht aus dem Serail ermöglicht hat.«

Jetzt versuchte sie, die zeremonielle Höflichkeit in das freudigste Staunen zu verwandeln, was ihr noch schlechter gelang.

»Aaaaahhh, mein Retter!! O, wie soll ich Ihnen danken!«

Sie machte eine Bewegung, als wolle sie in die Tasche greifen, vielleicht um das Portemonnaie zu ziehen.

»Ja, sind Sie denn nur wirklich derselbe, dem es gelang, als Eunuche verkleidet in das Serail zu schleichen? Ich habe Sie ja gar nicht richtig zu sehen bekommen. Sie sehen jetzt ganz anders aus, sprechen auch ganz anders.«

»Das glaube ich wohl. Ja, ich bin derselbe. Doch Madame, ich bin Geschäftsmann, machen wir es kurz. Wollen wir nicht sofort zu einem Notar gehen?«

»Wozu?«

»Nun, um unseren Kontrakt gesetzlich rechtskräftig zu machen.«

»Welchen Kontrakt?« stellte sie sich erstaunt. »Wovon sprechen Sie denn nur?«

»Madame, spielen wir doch keine Komödie. Sie übergeben mir die Vormundschaft über Ihren Sohn und stellen sich freiwillig unter Kuratel.«

Wie sie jetzt die Augen weit aufriß, das gelang ihr viel besser.

»Sie sind — wohl nicht recht — bei Sinnen?! Was schwatzen Sie denn da nur eigentlich? Ich beginne mich wirklich zu fürchten.«

»Das glaube ich, und ich bin wirklich kein Mann, der mit sich spielen läßt. Soll ich Ihrem Gedächtnis zu Hilfe kommen?«

»Noch einmal? Was meinen Sie damit?«

»Genug! Sie wollen Ihren Verpflichtungen, die Sie eingegangen sind, nicht nachkommen?«

»Welchen Verpflichtungen?«

»Schon gut. Nur das eine möchte ich noch...«

»Haben Sie etwas Schriftliches von mir?«

»O, Madam, ich hatte schon eine kleine Ahnung, oder vielmehr eine sehr starke Ahnung, daß alles so kommen würde. Aber auch ich habe mich vorgesehen.«

Sie machte doch wieder ein sehr besorgtes Gesicht.

»Waren in der finsteren Kammer etwa Zeugen, welche unser Gespräch hörten?«

Gleich hinter der Tür erklang ein unwilliges Husten. Nobody machte sie wohl auf den begangenen Fehler aufmerksam, aber seinen Vorteil nützte er nicht aus — selbstverständlich mit Absicht nicht.

»Sehen Sie, wie gut Sie sich mit einem Male auf alles entsinnen können! Nein, so wenig ich mir etwas Schriftliches von Ihnen geben ließ, so wenig hatte ich Zeugen, ich traute allein Ihrem Versprechen, was mir eigentlich bei jedem ehrlichen Menschen genügt.«

»Aaaahhh,« fing sie da wieder höhnisch an, um ihrer Verlegenheit Herr zu werden. »Jetzt erst verstehe ich Sie! Sie hatten gehört, daß ich eine halbe Milliarde geerbt habe, nicht wahr?«

»Ganz richtig.«

»Und Sie wollten mich nur unter der Bedingung befreien, daß ich Ihnen diese halbe Milliarde abtrete.«

»Madam, Sie sprechen sehr inkonsequent. Jetzt erinnern Sie sich mit einem Male an alles. Das freut mich. Und das stimmt auch, so ist es.«

»Mein Herr, das ist Erpressung!!!«

»I Gott bewahre. Erpressung ist was ganz anderes. Sie hätten doch ganz gut im Serail bleiben können. Ganz nach Wunsch. Allerdings stellte ich Ihnen ein Entweder — Oder, und dazu hatte ich die Berechtigung. Fragen Sie nur einmal einen Advokaten, wenn Sie's nicht glauben.«

»Sie wußten, daß ich die reiche Erbin sei, und Sie haben es mir nicht gesagt — Sie sind ein Halunke!!!«

»Für diese Beleidigung werde ich Sie verklagen. Auch das hatte ich gar nicht nötig. Sie waren bereit, sich unter Kuratel zu stellen, wenn ich Sie aus dem Serail befreite, und damit basta! Außerdem nun aber habe ich Ihr Vermögen ja gar nicht für mich beansprucht, ich selbst will keinen Sou davon haben...«

»Hahahaha, machen Sie sich doch nicht lächerlich, wer Ihnen das glaubte!«

»Warten Sie, lassen Sie mich nur aussprechen...«

»Für wen denn sonst?«

»Für Ihren Sohn, wie wir ausgemacht hatten. Vorläufig bekommen Sie nur die Hälfte der Zinsen des Vermögens...«

»Für meinen Sohn?« stellte sie sich wiederum erstaunt, zu immer neuen Winkelzügen greifend, weil sie gegen die eiserne Ruhe dieses Mannes ganz ohnmächtig war. »Ich habe keinen Sohn.«

»Nanu! Nun schlägt's aber gleich dreizehn! Jetzt wollen Sie wohl auch noch ableugnen, daß Sie in jener mexikanischen Ansiedlung eines Sohnes genasen?«

»Ich?«

»Da hilft nun kein Leugnen, Sie sind die Madame Lefort, da will ich schnell genug Zeugen und andere Beweise bringen, da brauche ich nicht erst den Farmer Longworth herbeizuholen.«

»Na ja,« gab sie jetzt wieder zu, in ihr Ableugnen nicht einmal System bringend. »Was ist mit diesem Wechselbalg?«

Nobody machte eine Bewegung, als bekämpfe er mit aller Macht die Aufwallung eines furchtbaren Zornes. Er beherrschte sich.

»Daß Sie Ihr eigenes Kind einen Wechselbalg nennen, gereicht Ihnen nicht gerade zur Ehre...«

»Es war eine Verirrung meines Geschmackes, mich an den Hals jenes Indianers zu werfen.«

»Und mich freut es, daß jetzt Ihr Gedächtnis wieder intakt ist. Gestatten Sie mir nun eine Frage? Jener Herr vorhin, der mich zuerst empfing, nannte Sie seine Braut. Mit welcher Berechtigung?«

»Gewiß, Großfürst Alexei Karamsin ist mein Bräutigam,« war die stolze Antwort des eitlen Weibes.

»Sie sind verlobt? Seit wann denn?«

»Wir haben uns gestern verlobt.«

»Verlobt?« stellte sich Nobody immer erstaunter. »Aber wozu denn nur?«

»Hahahaha,« lachte sie gezwungen, »Sie können ja köstlich naiv fragen! Wozu man sich verlobt! Wir werden schon morgen die Hochzeit feiern.«

»Hochzeit? Sie wollen heiraten? Das können Sie doch gar nicht?!«

»Was? Weshalb denn nicht?«

»Na, Sie können doch nicht in Bigamie leben?«

»Was? Was schwatzen Sie da für Unsinn?«

»Na, Sie sind doch schon verheiratet!«

»Gewesen, ich bin Witwe.«

»Gewesen, ja, Witwe gewesen! Sie sind doch dem Schwarzfußindianer Wanitoba legitim angetraut worden. Sie sind mit ihm unters Büffelfell gekrochen, das haben Sie selbst rühmend gesagt.«

Ein starrerstaunter Blick, dann warf sich das Weib in einen Stuhl und brach in ein schrilles Gelächter aus.

»Mit einem Indianer legitim verheiratet, hahahha!! — Weil ich mit ihm unters Büffelfell gekrochen bin, hahahahaha, das ist ja ein köstlicher Witz!!!«

Da hob Nobody seine rechte Hand, und während er sprach, schüttelte er drohend immer den Zeigefinger.

»Ich — will — einmal — ein — Exempel statuieren, daß man die heiligen Gesetze auch des wildesten Volkes, denen man sich freiwillig unterworfen, nicht als Witz aufzufassen, sondern sie zu respektieren hat! Die Zeremonie, welcher Sie sich mit jenem Schwarzfußindianer unterzogen, war eine regelrechte Trauung! Sie hatten das gewußt, Sie selbst haben das gewünscht! Sie sind mit Wanitoba verheiratet! Und er lebt noch! Und damit basta! — Sie können nicht noch einmal heiraten!«

Sie war wieder aufgestanden. Ihre weitere Verachtung klang doch sehr erkünstelt.

»Mann, machen Sie sich doch nicht lächerlich.«

»Lächerlich? Sie werden sehen! Wagen Sie es, morgen vor den Traualtar zu treten!«

»Sie wären der rechte, eine Trauung zu verhindern!«

»Das werden Sie ja sehen. Und ich sage Ihnen: ich — ich werde dazwischentreten und mit lauter Stimme rufen, daß die Braut kein Recht hat, diese Ehe einzugehen, weil sie nämlich schon verheiratet ist — und ich sage Ihnen: Himmel und Hölle werde ich in Bewegung setzen, daß die ganze Welt einmal anerkennen soll, wie auch die Ehe des ärmsten Indianers als heiliges Sakrament zu respektieren ist, wenn diese Ehe beiderseits auf Treu und Glauben abgeschlossen worden, auch wenn kein christlichsanktionierter Priester einen Trauschein ausgestellt hat. Mit allen Mitteln, die mir zu Gebote stehen, werde ich diesen Fall einmal rücksichtslos verfolgen. — Aber haben Sie keine Sorge, daß Sie als Squaw in den Wigwam jener Rothaut zurückwandern sollen. Dieser brave Indianer, dem Sie das Herz gebrochen haben, ist für Sie viel zu gut! Wissen Sie, wohin Sie gehören? Daß Sie Ihr eigenes Kind verleugnet, es einen Wechselbalg genannt haben, das hat bei mir dem Fasse den Boden ausgeschlagen. Ich — bringe — Sie — zurück in das Serail, zurück als Sklavin in die Waschküche — unter die Peitsche des Kislars, da gehörst du hin, du verworfenes Weib, über welchem noch jede Dirne himmelhoch steht, die wenigstens ihr Kind liebt!«

»Hund!!!«

Und eine Hundepeitsche war es, welche durch die Luft pfiff.

Die Lederschnur klatschte in Nobodys erhobene Hand, und mit einem Male hatte er in derselben Hand den Griff dieser Peitsche, noch einmal pfiff sie durch die Luft, und diesmal zog die Lederschnur einen blutigroten Streifen quer über das ganze Gesicht des Weibes!

Ein gellendes Geheul, sie schlug die Hände vor das Gesicht...

»Hilfe, Hilfe — faß, Woiwod, faß!!«

Aber Woiwod faßte nicht, den Hund hatte Nobodys Blick auf seine Stelle gebannt — dagegen kam aus der Tür der Großfürst herausgestürzt, wollte sich auf den Vermessenen werfen...

Und noch einmal pfiff die Peitschenschnur durch die Luft...

»Da, edler Großfürst, das ist die Revanche, daß du deine Frau geknutet hast — so, nun tretet beide morgen vor den Traualtar hin!!«

Auch über das Gesicht des Fürsten zog sich eine rote Schwiele hin — mit einem tierischen Gebrüll wollte er sich auf Nobody stürzen — noch mehr aber als der vorgehaltene Revolver hielten ihn vielleicht diese eiskalten Augen zurück, verwandelten ihn in eine keuchende Statue.

»Großfürst Alexei Karamsin,« erklang es da mit schneidender Stimme, »ich stelle mich Ihnen vor — ich bin Sir Alfred Willcox, Baronet von Kent, Waffenmeister des Hosenbandordens; auf meinem Schwerte wird demnächst Ihr höchster Gebieter, Seine Majestät der Zar, seinen Ordenseid erneuern — Sie wissen, was ich damit sagen will — ersparen wir uns alle weiteren Förmlichkeiten - ich nehme Ihre Forderung an... ich bestimme schwere Säbel!«

Und ruhig steckte Nobody den Revolver ein, verbeugte sich und verließ das Zimmer.

— — — — —

Ganz Odessa wußte es. Man sprach von nichts anderem.

Im Hotel Prince of Wales logierte der berühmte Detektiv Nobody, der zugleich Champion der englischen Königin war.

Und im Hotel gegenüber logierte der Großfürst Alexei Karamsin. Wegen eines Frauenzimmers, das der Großfürst bei sich hatte, war es zwischen beiden zu einer Szene gekommen; der englische Baronet hatte den russischen Fürsten geprügelt.

Aber schon eine Stunde später konnte es auch der Milchjunge erzählen, der seine Ziegen als lebendiges Reservoir durch die Straßen trieb, um die Milch gleich vor den Türen der Hausfrau in den Topf zu melken: nein, das war nicht nur so ein Frauenzimmer, sondern der Großfürst will sie morgen in aller Schnelligkeit heiraten, es ist schon alles vorbereitet, aber der englische Detektiv will das nicht haben, er hat alle beide mit der Peitsche im Gesicht bearbeitet.

»Gott, wie interessant!« wurde in den Salons geflüstert, besonders von schönen Damenlippen. »Werden sie sich nicht schlagen?«

»Gewiß doch! Im Hotel des Großfürsten sind vorhin zwei Säbel abgeliefert worden, mächtige Dinger — Karasch, Sie wissen, der Fechtlehrer, ist hinbestellt worden — obgleich Karamsin übel zugerichtet worden ist und seine Schwiele im Gesicht mit Eis kühlen muß, will er das Duell doch nicht verschieben, er nimmt noch einige Fechtlektionen.«

»Aber dieser Nobody ist ein Engländer, dem das Duell verboten ist.«

»Ach, was kümmert sich Nobody um so etwas!«

Offenbar war die Sympathie aller auf Nobodys Seite. Und er war der Waffenmeister des Hosenbandordens, von dem eigentlich verlangt wird, daß er der beste Fechter Englands ist — das wurde wenigstens früher von dem Champion der Königin gefordert, und bei diesem Nobody dürfte das auch heute noch zutreffen — und wenn er den Großfürsten, diesen Unmenschen, der seine Gattin geprügelt und ins Elend getrieben hatte, nur nicht etwa schonte!

Ja, wenn man nur gewußt hätte, wann und wie und wo das Duell stattfinden sollte! Man mußte sich begnügen, die beiden Hotels zu umlagern. Daß sich die Polizei eingemischt hätte, das war hier ganz ausgeschlossen.

Was für Sekundanten sie wohl hatten? Da kamen sie schon! Die beiden Herren, die jetzt das Hotel Prince of Wales betraten, waren sicher die von Nobody bestellten! Was der eine von ihnen für ein merkwürdiger Kauz war, so klein und so dick und bei all seiner Gravität doch so possierlich! Und wie eilig es die beiden hatten!

Und dann beobachtete man noch anderes, was viel zu denken gab, mehr noch zum Schwatzen.

Diese zahllosen Depeschen, die der englische Detektiv plötzlich abschickte! Nach London, nach Paris, nach New-York, nach Städten, von denen man noch gar nichts gehört hatte, und ebenso bekam er auch zahllose Depeschen wieder zugestellt. Auf dem Hauptpostamt war ein Apparat nur für ihn reserviert.

Die Telegramme waren sämtlich chiffriert, bestanden nur aus Zahlen. Was mochte er nur so viel zu telegraphieren haben? An wen? Machte er auf diese Weise sein Testament? Ordnete er seine Angelegenheiten? Erledigte er noch schnell einen Kriminalfall?

Vergebens zerbrach man sich den Kopf.

Dann kamen die beiden Sekundanten des Großfürsten aus dem anderen Hotel herüber. Sie wurden von Nobodys Sekundanten empfangen, Champagnerpfropfen knallten.

Die Sekundanten des Großfürsten waren zwei russische Edelleute; die des englischen Detektivs hießen Mr. Jordan Hatting und Mr. Cerberus Mojan, beide Amerikaner. Das hatte man nun schon herausgebracht.

Und der chiffrierte Depeschenwechsel zwischen dem Hotel zu Odessa und zwischen aller Welt ging den ganzen Tag ununterbrochen weiter.

— — — — —

Ein neuer Morgen begann zu grauen.

Neben dem Wäldchen hielt eine Equipage. Zwei Herren gingen fröstelnd auf und nieder, ein dritter packte auf dem Rasen seinen Verbandkasten aus. Großfürst Karamsin lehnte mit über der Brust gekreuzten Armen an einem Baum.

Wie ein Feuermal leuchtete die rote Schwiele quer über seinem finsteren Gesicht. Die hinterließ eine böse Narbe, die konnte später auch ein Sachunkundiger von einem ehrenvollen Säbelhieb unterscheiden.

Was tat's? Es würden bald noch andere Blutzeichen hinzukommen.

Der Russe war sich bewußt, mit wem er in den nächsten Minuten zum Zweikampf antreten würde. Er machte sich gar keine Hoffnung. Mochte er selbst in der Führung des krummen Säbels noch so firm sein — er hatte schon genug von diesem Nobody gehört. Monsieur Karasch, der Fechtmeister, der den englischen Detektiv näher kennen wollte, hätte ihm gar nicht erst solche haarsträubende Dinge zu erzählen brauchen.

Ein Feigling war dieser Russe nicht etwa. Er hätte das Duell wegen der Wunde im Gesicht, die seinen Blick doch trüben mußte, aufschieben können, der Vorschlag war ihm gemacht worden — er hatte es abgelehnt. Schon morgen, heute, mußte diese Ehrensache erledigt werden.

Er wollte alle Kraft und Kunst zusammennehmen, um seinem Gegner wenigstens eins auszuwischen. Nur unter einer Bedingung würde er gern auf diesen Wunsch verzichten; wenn ihn Nobodys Säbel nicht nur zum Krüppel machte.

Lieber eine tüchtige Prim, die den Kopf gleich bis zum Halswirbel spaltete.

Aber wie dieses freundliche Gesuch anbringen? Darüber grübelte der Fürst nach, wie er so, an seiner Unterlippe nagend, an dem Baume lehnte.

»Sie kommen! Ganz pünktlich!«

Eine zweite Equipage fuhr vor. Die Sekundanten begrüßten sich. Nobody unterhielt sich mit dem Arzte.

Jeder der vier Sekundanten hatte einen Säbel, unter denen die Duellanten dann auswählen konnten. Sie wurden umständlich miteinander verglichen.

Die Mensur, der Abstand der Zweikämpfer, wurde ausgemessen.

Dann gab es auch noch andere Zeremonien zu erledigen, ehe sich die Duellanten in Positur stellten und ihnen die gewählten Waffen übergeben wurden.

»Mr. Mojan, übernehmen Sie es,« flüsterte Hatting.

Mojan klemmte seinen Säbel — fast so lang wie er, nur nicht so dick — zwischen die Beine, zog den Quadratmeter eines grünen Taschentuches hervor, in dem ein roter Halbmond mit Stern, betrachtete es tiefsinnig, brachte es an seine Nase, trompetete in den Mond hinein, drehte das Monstrum von einem Taschentuch herum, trompetete in den Stern hinein, und als er sich austrompetet hatte, nahm er mit Würde das Wort.

»Meine Herren — ääääääähhhh. Schon in der Bibel — äääähhh — steht geschrieben — ääääähhh — der Mensch — ääääähhh — lebt nicht von Brot allein — ääääähhh — und Sie alle werden wissen — daß in der Bibel — ääääähhh — auch noch etwas anderes steht. So schwer — ääääähhh — der vorliegende Fall nun auch sein mag — ääääähhh — so ist eine Versöhnung — ääääähhh — doch nicht gänzlich au—au—au—au—ausgeschlossen...«


Illustration

»Ich bin zu einer Aussöhnung bereit.«

Der Großfürst und seine Sekundanten glaubten ihren Ohren nicht trauen zu dürfen, diese Worte aus Nobodys Munde zu hören.

»Herr, wollen Sie mich auch noch foppen?!« fuhr der Großfürst wütend auf.

»Durchaus nicht, es ist mein bester Wille, mich mit Ihnen zu versöhnen. Ich bin auch zu einer Abbitte bereit. Ich habe einen besonderen Grund dazu.«

»Lassen wir die Herren allein,« entschied Mr. Hatting, und die anderen, so kopflos sie auch waren, schlossen sich ihm an, zogen sich etwas in den Wald zurück.

»Ist es Ihr Ernst?«

»Ja. Ich bin in der Nacht zur Überzeugunggekommen, daß ich Ihre Trauung mit jener Dame ja doch nicht verhindern kann...«

»Ah, also doch!« durfte der Großfürst triumphieren.

»... und der Beweis, daß Madame Lefort mit einem Indianer verheiratet ist, dürfte sich schwer erbringen lassen. Ich spreche ganz offen. Außerdem habe auch ich Instruktionen zu befolgen, es sind mir solche auf telegraphischem Wege zugegangen...«

»Daß Sie sich in diese Angelegenheit nicht mischen sollen?«

»Ja.«

»Von welcher Seite aus?«

»Das muß mein Geheimnis bleiben. Übrigens handelt es sich eigentlich nur um jene indianische Zeremonie; es würde doch böses Blut erzeugen, wollte man solch eine Zeremonie als heilige Handlung ausfassen, die jeder Christ respektieren muß, da müßte man ja selbst die Menschenfresserei der Karaiben billigen...«

»Ich verstehe, ich verstehe.«

Mochte der Großfürst von dieser plötzlichen Inkonsequenz, um nicht zu sagen Charakterlosigkeit seines Gegners denken was er wolle, mochte er sonst auch ein noch so furchtloser Ritter sein - jedenfalls kam ihm dieser Gesinnungswechsel äußerst gelegen.

»Dies alles,« fuhr Nobody in bescheidener und dennoch stolzer Weise fort, »wäre noch kein Grund zur Versöhnung. Ich habe Sie furchtbar beleidigt. Dennoch biete ich Ihnen die Hand. Mit einer Bitte.«

»Was wollen Sie?« stieß der Großfürst zornig hervor.

»Sie, ein Edelmann, müssen für Ihre beleidigte Ehre Genugtuung fordern. Aber wissen Sie auch, daß Sie, wenn Sie mir mit dem Säbel gegenübertreten, unrettbar verloren sind?«

»Oho! Das wird sich ja finden! Auch ich weiß mit dem Kavalleriesäbel umzugehen!«

»Bitte, seien Sie so offen wie ich. Ich habe mich schon gedemütigt genug. Kommen Sie mir wenigstens etwas entgegen. Ich mag mich nicht selbst rühmen. Aber sollten Sie nicht schon von mir gehört haben? Wenn Sie mich auch nur mit der Säbelscheide zu ritzen vermögen, so will ich mir noch nachträglich eine Kugel durch den Kopf schießen — auf mein Ehrenwort! — doch bei Ihrem ersten Ausfall muß es geschehen — denn im nächsten Augenblick schlage ich eine Finte, die Sie nicht parieren sollen — und die mich bedrohende Waffe liegt am Boden — und Ihre Hand, Ihr ganzer Arm soll noch daran sein.«

Der Großfürst preßte die Lippen zusammen. Zum Krüppel geschlagen werden — das war ihm der entsetzlichste Gedanke.

Nobody ließ ihm keine Zeit, zu Worte zu kommen.

»Wir können ganz offen sprechen, niemand hört uns. Wir sind beide Christen. Es ist mir um jenes Kind zu tun. Sie wissen. Es ist ein reizender Junge. — Kurz und bündig: Sichern Sie mir zehn Millionen Rubel zu, die ich auf des Kindes Namen schreiben lassen werde. Für einen Mann, dessen Frau eine halbe Milliarde zu erwarten hat, ist das doch eine Kleinigkeit. Dann ist die ganze Sache erledigt.« — —

Was des Großfürsten Sekundanten dachten, als sich die ganze Duellaffäre so in Wohlgefallen auflöste, als der Großfürst sogar in Nobodys Equipage stieg, das wissen wir nicht. Einen hohen Begriff von dieses berühmten Detektivs Charakter mochten sie eben nicht bekommen haben, und dasselbe galt wohl auch für die Madame Lefort, als sie den Ausgang erfuhr.

Doch was machte sich denn Nobody aus fremden Meinungen! Und die beiden anderen waren mit dieser Wendung sehr, sehr zufrieden!

In einem Zimmer seines Hotels stellte der Großfürst einen Wechsel über zehn Millionen Rubel aus, so gut wie bares Geld.

»Das ist der höchste Wechsel, der jemals ausgestellt worden ist,« sagte sich Nobody, »den präsentiere ich gar nicht, der kommt in meine Raritätensammlung.«

Nobody irrte sich, und er konnte auch nicht wissen, daß fast zu eben dieser selben Zeit im fernen Südafrika der Diamantenkönig Cecil Rhodes einen Wechsel oder Scheck über zwei Millionen Pfund Sterling oder vierzig Millionen Mark ausschrieb, womit er die Kimberley-Minen gekauft hatte.

»Ich danke verbindlichst,« sagte Nobody mit vergnügtem Lächeln, als er den Wechsel mit der Riesensumme einsteckte, »ich danke im Namen eines unmündigen Kindes. Vorläufig ist es ja nur ein wertloses Stückchen Papier...«

»So gut wie bares Geld,« versicherte der Großfürst mit herablassender Handbewegung.

»Nun, ich werde den besten Gebrauch davon machen. Ist denn das mit der Erbschaft auch wirklich ganz sicher?«

Na und ob! Totsicher. Sie mußten nur nach Amerika gehen, nach New-York, wo Elias Ingelby sein Testament hinterlegt hatte. Dort aber war alles schon klipp und klar — Madame Lefort oder dann vielmehr schon die Großfürstin Karamsin mußte nur immer das Geld einstreichen, die Hypothekenbriefe und die anderen Wertpapiere nachzählen — wobei ihr der Gatte wacker mit half.

— — — — —

Die Gemütlichkeit dieses rätselhaften Mannes, der sich Nobody nannte, ging noch viel, viel weiter. Er war eben eine Seele von einem Menschen.

Sogar Trauzeuge war er, nämlich bei der Zeremonie, die gleich darauf im Hotel von einem russischen, schon bestellt gewesenen Priester vorgenommen wurde, und der zweite Zeuge war Mr. Cerberus Mojan, der seinen Schmerbauch nicht schlecht herausreckte.

»Amen,« sagte der Priester: die Ringe wurden gewechselt, und dann waren die Neuvermählten bereit, die Glückwünsche entgegenzunehmen.

Nobody zögerte noch etwas damit, es sah aus, als wolle er erst eine kleine Ansprache halten, und so geschah es denn auch.

»Gestatten Sie mir erst noch eine Bemerkung. Der verstorbene Platinfürst Elias Ingelby hat früher wirklich Fedor Welinsky geheißen. Er hat wirklich eine Schwester gehabt, die Maria hieß. Dieser Schwester oder ihren Kindern hat Elias Ingelby tatsächlich sein Vermögen vermacht. Aber dieser Fedor Welinsky, Gnädige, war nicht Ihr Onkel, seine Schwester also auch nicht Ihre Frau Mutter. Schlagen Sie nur im Petersburger Adreßbuche nach, wie viele Fedor Welinskys es da gibt, und so dürften auch die Marias nicht dünn gesät sein. Hier liegt also ein verzeihlicher Irrtum vor. Auch ich befand mich ein ganzes Jahr lang auf dem Holzwege. Nun ist die ganze Sache erledigt. Hier, mein Freund, Mr. Mojan, brachte mir gestern die letzte Ausgabe des New-Yorker Herald, in der die Erledigung dieser Erbschaftsgeschichte amtlich bekannt gemacht wird. Vor acht Tagen haben sich die Kinder der echten Maria Welinsky endlich gemeldet, haben die Erbschaft bereits rechtskräftig angetreten. Daß alles so ist, darüber habe ich bereits gestern telegraphische Erkundigungen eingezogen. Jawohl, stimmt alles. - Und nun wünsche ich Ihnen recht vergnügte Flitterwochen.«

»Didididididito,« sagte Mr. Cerberus Mojan und schloß sich dem Hinausgehenden an.

Hinter ihnen war es still wie im Grab. Das waren ja auch keine lebendigen Menschen mehr, die waren schon von der Todesstarre befallen worden. —

Sie reisten dennoch nach Amerika, obgleich sie sich schon hier mit untrüglicher Gewißheit darüber orientieren konnten, daß ihre Sache hoffnungslos verloren war.

Schon auf dem Passagierdampfer ward dem brutalen Russen gedroht, wenn er sich noch einmal an seiner Frau vergriffe, würde er in eine Arrestzelle gesperrt. Und in New-York ließ man es nicht nur bei der Drohung bewenden.

Als eine Frau aus dem Fenster um Hilfe rief, ihr Mann mißhandele sie, wolle sie morden, wurde dieser Mann von der Polizei festgenommen und nach kurzem Richterspruch zu einigen Monaten Gefängnis verurteilt. Und dieser Mann hieß Alexei Karamsin und hatte sich als russischer Großfürst in die hohe Gesellschaft einführen wollen, was ihm aber wegen gänzlichen Geldmangels mißlungen war.

Dann sind beide verschwunden. In Rußland tauchte der Großfürst nicht wieder auf, obgleich er dort doch noch immer riesige Besitzungen hatte. Aber erst hätte er jenen Wechsel einlösen müssen.

O nein! Lieber nicht!

Das Schicksal, personifiziert in Nobody, hatte gerichtet!

— — — — —

Vier Tage später drückte Nobody Frau und Kinder an sein Herz.

In die Freude des Wiedersehens durfte sich kein fremder Gedanke mischen. Aber einmal mußte es doch kommen.

Nobody erzählte. Gabriele teilte ja nicht etwa die Detektivarbeit ihres Mannes; wenn er abreiste, wußte sie manchmal gar nicht, wohin und weswegen, seine Erfolge und Abenteuer bekam sie gewöhnlich erst später zu lesen — aber hier war doch einmal eine große Ausnahme.

Ruhig hörte sie zu. Diese Frau war mit Gott und sich selbst im reinen, sie konnte nichts so leicht schrecken, am allerwenigsten so etwas. Ja, wenn ein großes Unglück geschehen wäre, wo es weinende Witwen und Waisen gab! Aber so etwas, wo ein toter Mensch wieder lebendig geworden war — das beeinflußte ihre Gemütsstimmung nicht.

»Seltsam!«

»Hast du während meiner Abwesenheit nichts Auffälliges bemerkt? Vielleicht gleich in den ersten Tagen nach meiner Abreise.«

»Gar nichts.«

»Haben die Hunde nicht einmal in der Nacht angeschlagen?«

»Das wohl, aber stets fanden wir gleich einen einfachen Grund dazu. Nein, sonst hat sich im Hause gar nichts Besonderes ereignet.«

»War denn der Kellerraum verschlossen?«

»Ja, ich mußte den Schlüssel umdrehen. Doch willst du nicht selbst einmal hinuntergehen? Vielleicht findest du irgendwelche Spuren.«

Gewiß, Nobody hatte nur die ersten Fragen gestellt. Gabriele begleitete ihn.

Die Mitnahme eines Lichtes war nicht nötig. Überall flammten elektrische Glühbirnen auf, auch im Keller.

Ehe Nobody an der betreffenden Tür den Schlüssel ansetzte, untersuchte er das Schloß. Nichts Auffälliges.

Jetzt schloß er auf. Ein Druck, und der Kellerraum war taghell erleuchtet.

Auf Regalen standen in Glasflaschen und Glaskästen die einbalsamierten Tiere der verschiedensten Art, in natürlicher Stellung — ein recht interessantes zoologisches Museum kleineren Maßstabes.

Auf einer Stellage, mit einem samtnen Tuche überdeckt, ruhte die lange, sargähnliche Bleikiste.

»Hattest du jemanden bei dir, als du hier warst?« war Nobodys erste Frage.

»Nein.«

»Wer hat denn den Deckel wieder darübergelegt?«

»Nun, ich allein.«

»Du konntest dir Schaden tun!!« war der nächste Gedanke des zärtlichen Gatten.

»O, er war gar nicht so schwer,« lächelte Gabriele, die ehemalige Wüstenräuberin, die manchmal wohl noch ganz andere Kraftleistungen vollbracht hatte.

Nobody hob den Bleideckel ab und...

Ein Blick in den Sarg, ein erstaunt fragender Blick auf seine Frau — und schnell ließ er den Deckel fallen, um die taumelnde Gabriele aufzufangen.


Illustration

Da lag er! Lag genau noch so da, wie ihn Nobody vor zwei Jahren hingelegt hatte, gestiefelt und im schwarzen Gehrockanzug und das schwarze Haar in der Mitte sorgfältig gescheitelt, die eine Hand an der goldenen Uhrkette — nur daß diese Hand ganz ausgetrocknet war, ebenso wie das Gesicht, obgleich dieses die von Haß und Hohn verzerrte Teufelsfratze beibehalten hatte — alles genau so, wie es nach Nobodys Berechnung hatte im Laufe zweier Jahre kommen müssen.

Gabriele hatte sich sehr schnell von ihrem Entsetzen erholt. Schon dieses Entsetzen hatte genug erzählt. Dann war es eine Folge ihres unerschütterlichen Gottvertrauens, was ihr so schnell die Ruhe wiedergab, und diese Seelenruhe drückte sich allein schon in ihrer ersten Frage aus.

»Wann war es, als du mich telegraphisch fragtest, ob Sinclaires Leiche noch in dem Bleisarge läge?«

»Vor sechs Tagen.«

»Nun, Alfred, du weißt, daß ich immer kerngesund gewesen bin. Auch während deiner Abwesenheit war ich es. Und ich leide doch auch nicht an Halluzinationen. - Heute vor sechs Tagen, gegen zehn Uhr morgens, erhielt ich dein Telegramm, ich entzifferte die Geheimschrift, ging sofort hierherab, schloß auf, nahm den Deckel ab... und da hat in dieser Bleikiste diese Mumie nicht gelegen. Der Kasten war leer. Glaubst du mir das, Alfred?«

Ja, Nobody glaubte diesen mit so gelassener Ruhe gesprochenen Worten. Der Kopf ihm ab, wenn sich seine Gabriele hierin auch nur geirrt hätte!

Aber ein Ächzen entrang sich seiner Brust.

»Gabriele, o, Gabriele — ist denn das nur eine Erklärung?!!«

— — — — —

Nobody saß in seinem Arbeitszimmer, die Ellbogen auf die Platte des Schreibtisches gestemmt und den Kopf in die Hände. So stierte er vor sich hin, und lange, lange Zeit schon hatte er so gesessen.

Da plötzlich legte sich eine weiche Hand auf seine Stirn.

Obgleich seine Gedanken mit Dingen aus dem Jenseits beschäftigt gewesen waren, schrak er nicht im mindesten zusammen — er kannte ja diese weiche Hand, sie hatte sich gar oft schon auf seine Stirn gelegt, um sorgenvolle Falten zu glätten.

»Gabriele, ach, Gabriele!«

»Gib dich nicht dem Grübeln hin, Alfred. Es geschieht nichts, auch kein einziges Härchen wird auf unserem Haupte gekrümmt, ohne daß Gott es will. Und ich glaubte bestimmt, bin fest davon überzeugt, daß du auch noch dieses Rätsel lösen wirst, und dann wirst du lächelnd an jene Stunde zurückdenken, da du in alledem etwas Übernatürliches erblicktest. Verlaß dich drauf: auf ganz natürliche Weise wird sich alles erklären.«

Hastig sprang Nobody auf und ergriff ihre Hand.

»Gabriele, ich danke dir, daß du so zu mir gesprochen hast. In diesem Augenblicke haben deine Worte einen Entschluß in mir geändert.«

»Was für einen Entschluß?«

»Meinen Detektivberuf ganz aufzugeben.«

»O, Alfred, das wirst du nicht tun!! Du würdest eine Unterlassungssünde gegen die ganze Menschheit begehen!«

»Nein, nein — es war ja auch nur so ein Gedanke, es ist schon wieder vorbei.«

Erst später erkannte Nobody voll und ganz, was für einen Heroismus diese Frau in diesem Augenblicke gezeigt hatte.

Denn war es nicht ganz bestimmt ihr sehnlichster Wunsch, der geliebte Mann und Vater ihrer Kinder möchte den gefährlichen Detektivberuf, der ihn gewöhnlich elf Monate des Jahres fern von seinem Hause hielt, aufgeben, um ihn immer an ihrer Seite zu haben?

Ganz gewiß! Aber nein, erst kommt die Pflicht, und so gefährlich und so ungewöhnlich auch der erwählte Beruf sein mag, bei ihm hat eine geheimnisvolle Stimme mitgesprochen, es ist etwas Göttliches dabei, solange dieser Beruf nur für die Mitmenschen von allgemeinem Nutzen ist, daß die innere Stimme mit dem Gewissen harmoniert, und das ist der Grund, weshalb man sowohl den Schleusenräumer als den Henker achten soll.

»Nur noch ein einziges Wort möchte ich darüber verlieren,« fuhr Gabriele fort. »Könntest du in dieser Angelegenheit nicht Edwards Sehergabe benutzen?«

»Ja, wenn ich nur wüßte, wo dieser Kerl wieder einmal steckt!?« konnte Nobody schon wieder in scherzendem Tone rufen, und gleich ging Gabriele auf dieselbe Stimmung ein, zeigend, wie sie ihren Mann zu behandeln, sorgenschwere Gedanken von ihm abzulenken wußte.

»Dann, Alfred, möchte ich dich einmal um eine Gefälligkeit bitten,« lächelte sie.

»Um eine Gefälligkeit? Das sind ganz einfache Worte, aber es klingt so geheimnisvoll. Was hast du da unter der Schürze?«

Schon immer hatte sie ihre linke Hand unter dem seidenen Schürzchen verborgen gehabt.

»Ja, das ist es eben. Du berühmter Detektiv hattest noch niemals Gelegenheit, für deine eigene Frau tätig zu sein - Kleinigkeiten ausgenommen — du hast mich ja erst unter der Maske des Wüstenräubers entdeckt, sonst wäre ich ja gar nicht deine Frau geworden...«

»Und das nennst du eine Kleinigkeit? Na, ich danke!« erklang es in heiterstem Tone. Nobody war schon wieder ganz der alte.

»Ja, aber ich habe dich noch niemals gebeten, für mich wirklich als Detektiv tätig zu sein. Wenn ich einmal meine Schere verlegt hatte — na, die hätte ich schließlich selber wiedergefunden...«

»Jawohl, nun schmälere auch noch meme Verdienste und meinen Ruhm! Aber Tatsache, du hast einen Auftrag für mich? Bringt mir die Sache auch etwas ein, wenn ich sie in die Hand nehme?«

Man sieht wohl, welch heitere Stimmung zwischen den beiden schon wieder herrschte, und so sind auch die folgenden Worte aufzufassen.

»Du kannst dir sogar einen neuen Lorbeer in deine Ruhmeskrone flechten, aber - aber...«

»Nun heraus damit. Was hast du da unter der Schürze?«

»Ja, das ist es eben,« erklang es abermals in kläglichem Tone. »Ich — ich getraue mir gar nicht recht, es zu sagen. Ich denke, du kannst jedem Menschen immer alles gleich ansehen?«

»Blicke mich an!« befahl Nobody und riß seine Augen in komischer Weise möglichst weit auf, und Gabriele tat dasselbe.

»Siehst du, du kannst mir nicht ins Auge blicken.«

»Nicht?«

»Du wirst abwechselnd rot wie eine Klatschrose und dann wieder weiß wie eine frischgetünchte Kalkwand.«

»Davon merke ich gar nichts.«

»Dieses Farbenspiel geht auch nicht äußerlich, sondern nur innerlich vor sich, und ich blicke in dein Inneres. Gabriele — ich muß es dir offen sagen — es tut mir leid, weil du meine Frau und die Mutter meiner unerzogenen Kinder bist, aber — Gabriele, du hast ein furchtbar schlechtes Gewissen!«

»Ja,« erklang es in weinerlichem Tone.

»Gabriele, du hast etwas gemaust.«

»Ja,« erklang es wie vorhin.

»So gesteh! Enthülle das Korpusdelikti, das du da unter deiner Schürze verborgen hältst.«

»O nein, Sie sollen nicht gleich mein Richter, sondern erst mein Rechtsanwalt sein.«

»Auch gut. Also vertrauen Sie sich mir an.«

»Ich habe — habe — ich benutzte gestern eine Droschke, und da — und da...«

»Und da haben Sie das Pferd ausgespannt und mitgenommen? Vom juristischen Standpunkte aus betrachtet, ist das ja allerdings einem Diebstahle gleichzuachten...«

»Ach nein, nicht das Pferd...«

»Auch gleich die ganze Droschke mit? Aber ich bitte Sie, Madam, Sie können doch da unter Ihrer Schürze nicht ein Pferd samt der Droschke haben?«

»Ich habe in der Droschke etwas gefunden.«

»Aha. Und es nicht abgeliefert, nicht wahr?«

»O doch, aber — aber...«

»Wohl ein Brief, den Sie vor der Ablieferung an den rechtmäßigen Besitzer abgeschrieben haben?«

Mit grenzenloser Überraschung blickte Gabriele auf.

»Woher weißt du... nein, kein Brief, aber — aber — so etwas Ähnliches...«

»Dann vielleicht eine Photographie, die Sie vor der Ablieferung kopiert haben.«

Gabrieles Erstaunen wuchs nur. Sie brachte tatsächlich unter ihrer Schürze eine Photographie zum Vorschein.

»Woher in aller Welt kannst du denn das nur wissen?«

»Ja, daher eben der Name Detektiv! Übrigens hast du mir die Sache nicht allzuschwer gemacht, und auch unter deiner Schürze verriet sich so etwas Eckiges. Was ist nun mit dieser Landschaft?«

»Erst mußt du mein Gewissen reinigen oder mich den Gerichten zur Bestrafung ausliefern. Das Original, welches ich fand, habe ich auf dem Fundbureau der Polizei abgeliefert, habe aber vorher die Photographie kopiert, weil sie für mich ganz besonderes Interesse hatte. Erst hinterher fiel mir ein, daß ich mich am Ende gar einer strafbaren Handlung schuldig gemacht habe...«

»Ach wo! Du darfst jede Photographie vervielfältigen, nur die Vervielfältigungen ohne Erlaubnis des Urhebers nicht in die Öffentlichkeit, nicht in den Handel bringen.«

»So bin ich also schuldlos?«

»Wie ein Engel.«

»Nun sieh dir die Photographie nur einmal richtig an!«

Nobody war schon dabei. Das Ganze stellte eine gebirgige Landschaft vom wildesten Charakter dar, und der Vordergrund links, wohin der Photographenapparat eingestellt gewesen war, zeigte nun allerdings etwas ganz Auffälliges.

Es war ebenfalls eine wüste Felsenmasse, in die wohl eher der Meißel eines Künstlers als die nach Laune schaffende Natur Gebilde gebracht hatte.

Aus der Ecke eines vorspringenden Felsens war ein grinsendes Menschengesicht gemacht worden, darüber eine Löwenklaue, daneben am Boden ein zum Sprunge geduckter Panther oder Tiger - am meisten aber herrschte die menschliche Fratze vor, und wer nur etwas Phantasie besitzt, der kann doch auch fast aus jeder verzerrten Figur, in der noch einige Löcher sind, ein menschliches Gesicht machen, mit und ohne Bart, mit gerader und krummer Nase, schiefmäulig, mit Hörnern oder mit einem Federhelm auf dem Kopfe — und so hatte auch hier die Phantasie eines genialen Bildhauers frei gewaltet.

Nobody schätzte Hunderte von solchen Figuren und Reliefbildern ab, und als er zur Lupe griff, erkannte er, daß diese Umgestaltung der natürlichen Felsen in Figuren noch viel, viel weiter nach hinten ging.

»Das ist allerdings originell!!«

»Nicht wahr? Und sieh, ich habe doch in der ägyptischen Wüste selbst so eine Liebhaberei betrieben, nur daß ich meine Blöcke, die ich bearbeiten wollte, an versteckten Plätzen suchte, ich wollte meine Anwesenheit doch nicht verraten. Aber nun hier — so ganz offen — das muß ja eine Sehenswürdigkeit allerersten Ranges sein! Und nun betrachte vorn den Cäsarenkopf, diese klassischen Züge, dieser Geist, der daraus spricht, diese Stirn, diese Nase - das ist ein gottbegnadeter und akademisch geschulter Künstler, der das dort in Gottes freier Natur geschaffen hat!!«

»Hm. Wo mag sich denn dieses offene Atelier befinden?«

»Das eben frage ich den berühmten Detektiv Nobody. Nun detektive mal.«

»Hm. Da stellst du an meinen Scharf- und Spürsinn gar keine so leichte Anforderung. Die Sache mache ich nicht billig. Kein lebendiger Mensch, kein Tier, kein Baum, nicht einmal ein Grashalm — ja, nun frage ich einen Menschen, wie soll man denn aus diesen Schutthaufen, Berge genannt, erkennen, in welcher Gegend der Erde die eigentlich liegen?«

»Das herauszubringen ist eben deine Sache. Wozu habe ich denn sonst einen Detektiv geheiratet?«

»Das muß in einer ganz unbekannten Gegend der Erde sein, sonst wäre dieses Bildhaueratelier in Gottes freier Natur doch, wie du auch schon gesagt hast, eine Sehenswürdigkeit allerersten Ranges, da müssen ja die Besucher in Scharen hinströmen.«

»Nun, Mister Nobody, mit dieser Bemerkung zeigen Sie nicht gerade einen besonderen Scharfsinn. Das habe ich mir beim ersten Blick auch gesagt.«

»Weißt du, ich werde ein Rundreisebillet nehmen und die ganze Erde abkleppern.«

»Nach dort dürfte noch keine Eisenbahn führen.«

»Dann lasse ich mir eine hinbauen. Wenn ich nur erst wüßte, in welchem Erdteil oder auf welcher Hälfte der Erdkugel dieses Gebirge eigentlich läge!«

»Kannst du weitgereister Mann wirklich gar nichts aus der Struktur der Gebirgsform erkennen?«

»Hm, das könnte Südafrika fein, oder — oder — auch Norwegen könnte in Betracht kommen.«

»Nicht vielleicht auch das amerikanische Felsengebirge oder das chinesische Zentralgebirge?«

»Auch nicht unmöglich. Na warte mal, das wollen wir schon kriegen. Die Hauptsache ist, daß die Berge oben spitzer sind als unten, das ist schon ein wichtiger Anhaltepunkt. Da ist am Himmel auch eine Wolke. Wo habe ich diese Wolke nur schon einmal gesehen? Na, das wollen wir gleich kriegen.«

Aus dieser scherzhaften Unterhaltung ersieht man, wie schnell Nobody alle die drückenden Gedanken, die das Wiedererscheinen jenes Mephistopheles in ihm erzeugt, von sich geschüttelt hatte - oder vielmehr seine Gabriele war es, die dies zustande gebracht hatte.

Während der letzten Worte hatte Nobody einige Zeilen auf ein Stück Papier geschrieben, jetzt steckte er dieses nebst der Photographie in ein Fach seines geheimnisvollen Schreibtisches, dessen Funktionen wir schon einmal beobachtet haben.

Das Fach wurde geschlossen, es schnappte etwas.

»Was willst du tun?«

»Das wirst du gleich sehen. Ich lasse jetzt die papierne Gebirgsmasse analysieren, und aus dem Resultat werde ich mit Sicherheit erkennen, ob die Gegend überhaupt auf unserer Erde liegt oder auf einem anderen Planeten.«

»Wirklich, kannst du das?« fragte Gabriele naiv, wohl an etwas anderes denkend.

Nobody mußte lachen.

»Scherz beiseite. Dieses kolossale Werk eines Bildhauers, das sich aller Kenntnis der ganzen Menschheit entzieht, interessiert mich außerordentlich. Ich habe nichts weiter vor, ich werde der Lösung dieser Aufgabe meine ganze Kraft widmen.«

Freudig blickte Gabriele auf. Es war gelungen, er hatte das Grübeln über die ganze Mephistophelesangelegenheit niedergerungen!

»Wann hast du die Photographie gefunden?«

»Am Freitag voriger Woche, also heute vor neun Tagen. Ich war in London, fuhr von Kings Croß nach Piccadilly, benutzte das geschlossene Cab Nummer 2127.«

»Hast du dich nicht gleich an den Kutscher gewendet, wegen seines letzten Fahrgastes?«

»Warte nur, das Finden war nicht so einfach, die Photographie lag nicht so offen da. Mir fiel es während der Fahrt ein, einmal die Zeittabelle aus der Faltentasche zu ziehen, die sich nach polizeilicher Vorschrift in jedem Cab befinden muß. Ich war neugierig, ob diese vorsintflutliche Tabelle, die seit Einführung der Kontrolluhren doch ganz überflüssig geworden sind, immer noch geführt wird. Richtig, die schmierige Tabelle stak noch drin, mit Namen und poetischen Ergüssen bedeckt, ich zog sie ganz aus der Tasche — da fiel auch diese Photographie heraus, oder vielmehr das Original der meinen. Du kannst dir denken, was sie auf mich als Bildhauerin für einen Eindruck machte. Die mußte ich haben! Und ich unterlag der Versuchung...«

»O, Gabriele, Gabriele, wie tief bist du gesunken, das hätte ich dir nie zugetraut!!« sagte Nobody mit schwermütigem Kopfschütteln.

»Wenigstens erst eine Kopie wollte ich davon machen,« fuhr Gabriele lachend fort. »Denn ich hatte schon so etwas wie eine Ahnung, daß der Besitzer der Photographie nicht so leicht zu ermitteln wäre. Ich also, ohne dem Kutscher erst etwas zu sagen, schnell nach Hause und das Bild kopiert, ich selbst habe es getan...«

»Danach sieht es auch aus,« mußte Nobody wiederum einschalten.

»Sooo? Ist es mir nicht etwa gut gelungen?« »Sehr gut, das wollte ich ja hiermit sagen. Nun und weiter?«

»Dann bin ich wieder nach London gefahren und habe die Photographie auf dem Fundbüreau der 18. Polizeiwache abgegeben, mit allen Angaben und mit der Bitte, die betreffende Person, die sich melden würde, dringend zu ersuchen, sich an mich wenden zu wollen.«

»Die Herren von der Polizei waren gegen Nobodys Gattin hoffentlich wie die Ohrwürmchen?«

»Nu natürlich. Ich genierte mich ordentlich, nur mit Mühe konnte ich verhindern, daß man gleich den Polizeidirektor von London zitierte. Der Fund wurde in der üblichen Weise im Amtsblatte bekannt gegeben und wird es ganz gegen die sonstige Gewohnheit noch heute am neunten Tage.«

»Hat sich noch niemand gemeldet?«

»Nein, und man muß doch annehmen, daß es eine gebildete Person gewesen ist, für die die Photographie Wert gehabt hat, und daß sie also auch weiß, wie sie etwas Verlorenes wiederbekommen kann.«

»Was willst du hiermit sagen? Das war undeutlich ausgedrückt.«

»Ich meine, daß die Person die Photographie schon vor längerer Zeit in jene Tasche des Wagens gesteckt und auf das Wiederbekommen derselben bereits seit langer Zeit verzichtet hat.«

»Ja, das ist daraus allerdings zu schließen. Ein Verlust ist nicht angemeldet worden?«

»Selbstverständlich nicht, sonst hätte man mir das doch gleich gemeldet. Nun kommt es aber darauf an, wie lange solche Verlustlisten aufbewahrt werden.«

»Zehn Jahre, dann werden sie verbrannt.«

»Na, zehn Jahre war die Photographie noch nicht alt, danach sah sie nicht aus, wenn sie in der Tasche auch noch so gut geschützt sein mochte.«

»War an der Photographie irgend etwas Bemerkenswertes?«

»Gar nichts. Das Positiv war auf einen Pappkarton geklebt.«

»Kein Name, keine Firma?«

»Auch nicht. Es war offenbar die Aufnahme eines Amateurs.«

»Hm. So hat der Mann — ich will einen Mann annehmen — entweder seinen Verlust gar nicht bemerkt oder er hat nach vergeblichen Bemühungen es aufgegeben, die Photographie wiederzubekommen. Oder er hat noch keine Zeit und Gelegenheit gehabt, Nachforschungen anzustellen. Oder er ist tot. Oder er ist todkrank. Gibt es noch andere Möglichkeiten?«

»Nein. Als gewissenhafter Mensch hast du alle Möglichkeiten aufgezählt.«

»Doch, es gibt noch eine andere Möglichkeit, weswegen die Photographie nicht wieder abgeholt wird.«

»Welche?«

»Der betreffende Mann hat ein böses Gewissen.«

»O, Alfred, wo denkst du denn gleich hin!«

»Ich denke eben immer an alles. Es kann doch sein, daß mit dieser Photographie, oder vielmehr mit jener Gegend, die er abgenommen hat, ein Geheimnis verbunden ist, und nun hast du dich auf der Polizei auch gleich als Gattin des englischen Champion-Detektivs vorgestellt, das hat der betreffende Mann erfahren — verstehst du?«

»Ja, ich verstehe, aber...«

»Ich weiß, was du sagen willst. O nein, glaube ja nicht, daß ich hinter allem und jedem immer gleich ein Verbrechen wittere. Dann wäre es mit mir als Detektiv schlecht bestellt, dann würde ich immer wie ein toller Hase herumjagen. Immerhin, es ist jede Möglichkeit zu erwägen. Und jedenfalls handelt es sich hier doch um eine Gegend, die man als eine unentdeckte bezeichnen kann, und alle diese Figuren kann auch nicht nur ein einzelner ausgemeißelt haben, und hätte er auch ein ganzes Leben lang Tag und Nacht gearbeitet...«

»Ja, daran habe ich auch schon gedacht!«

»Siehst du! Es handelt sich offenbar um eine ganze Gesellschaft von Künstlern, die dort im geheimen gearbeitet hat, und zwar lassen einige Figuren auf die neuere Zeit schließen, ich habe mit Bestimmtheit einen Napoleonkopf erkannt. Einer dieser Gesellschaft hat eine Photographie verloren, es wäre ihm höchst unangenehm, wenn man nach dem natürlichen Original forschen wolle, es finden würde — deshalb meldet er sich lieber gleich gar nicht. Das alles ist ja nur eine Vermutung, aber jedenfalls in Erwägung zu ziehen.«

In dem Schreibtisch, der schon früher näher beschrieben wurde, war ein Glockenton erklungen.

»Nun, meine liebe Gabriele, werde ich dir einmal beweisen, was der Detektiv Nobody, den du deinen Mann nennen darfst, alles kann. Ich werde dich sofort nach jener Gegend führen.«

»Was willst du tun?« fragte Gabriele, diesmal nicht auf den humoristischen Ton eingehend.

»Dich sofort nach jener Gegend führen, du sollst sie nicht nur auf der Photographie sehen, sondern gleich in Wirklichkeit.«

»Ja, weißt du denn...«

»Du sollst sie sehen. Du reist sofort hin.«

»Ist sie denn hier in England, hier in der Nähe?« staunte Gabriele immer mehr.

»Wir sind sogar schon da. Hier im Schreibtisch befindet sie sich. Nun blicke hier hinein!«

Nobody hatte aus dem Aufsatze des Schreibtisches zwei dicht nebeneinander stehende Knöpfe herausgezogen, die man für Handgriffe von Fächern gehalten hätte. Das war also nicht der Fall, sondern es zeigten sich in Augenweite kleine Öffnungen mit Gläsern.

»Hier bringe deine Augen dran!«

Gabriele tat es, sie stieß einen Ruf des staunenden Entzückens aus.

Wirklich, sie glaubte, jene wilde Gebirgsgegend, wie die Photographie sie wiedergegeben hatte, plötzlich richtig vor sich zu haben, also auch alles in natürlicher Größe, jeder kleinste Gegenstand plastisch hervortretend, dazu übergossen vom Sonnenschein.

Nobody war in seinem Hause natürlich mit allen Hilfsmitteln ausgestattet, welche Wissenschaft und modernste Technik einem Detektiv nur bieten können. Er hatte ein eigenes photographisches Atelier, mit ausgebildeten Künstlern, mit photographischen Apparaten, wie man sie in solcher Vollkommenheit nur noch auf den Sternwarten findet. Dort war im Handumdrehen von der Photographie ein Doppelbild gemacht worden, für das Stereoskop geeignet.

Gabriele glaubte, alle Geheimnisse dieses Schreibtisches zu kennen, an dem einst Nobody mit wahrer Leidenschaft gearbeitet hatte, mit eigener Hand, aber immer wieder mußte sie bei Gelegenheit etwas Neues daran entdecken — und nun dieses Stereoskop in dem Schreibtische, das war wieder das Allerneueste!

Es war auch ein Bild von wunderbarer Vollkommenheit, wozu die elektrische Beleuchtung viel beitrug.

»Herrlich, entzückend!!« jubelte Gabriele ein übers andere Mal. »Nein, wie das alles plastisch hervortritt! Die kleinste Kleinigkeit kann man ganz deutlich unterscheiden, man möchte es mit der Hand greifen! Ja, da ist der Napoleonskopf, von dem du vorhin sprachst. Und diese Hand, wie wundervoll die herausgearbeitet ist! Und dort, das...«

Mit einem gellenden Schreckensschrei taumelte Gabriele plötzlich zurück.

»Um Gottes willen, was hast du?!« schrie Nobody, hinspringend und die an allen Gliedern Zitternde haltend.

»Nichts, nichts,« flüsterte die nach Fassung Ringende. »Und doch — mir war gerade so — laß mich noch einmal hineinblicken.«

Zuerst brachte Nobody seine Augen an die Gläser.

»Ich kann nichts Besonderes bemerken, was mich stutzig macht,« meinte er nach einer Weile.

»Es kann ja sein, daß ich mich geirrt habe. Und doch — blicke einmal rechts nach dem großen Felsen, der heller ist als die anderen.«

»Ja, den sehe ich.«

»Merkst du nicht etwas daran?«

»Nein, nicht das geringste.«

»Dieser zeigt gar keine Skulpturen.«

»Nein, das ist aber auch das einzige Ausfallende daran — ja, dort links, das scheint ein menschliches Auge zu sein.«

»Scheint es dir nur so?«

»Hm. Das wird doch wohl das Relief eines menschlichen Auges sein, sorgfältig gearbeitet, nur muß man sich erst hineindenken können, es ist wie bei einem Vexierbild.«

»Hast du noch nicht das andere Auge und die Nase gefunden? Es ist nämlich wirklich ein Vexierbild.«

»Nein, noch nicht.«

»Beachte unten den dunkleren Felsen, der sich an den großen lehnt, denke dir, das sei der struppige Vollbart eines...«

»Alle Wetter!!« stieß da plötzlich Nobody hervor, und auch er wäre bald zurückgeprallt.

Jetzt, da er das Vexierbild enträtselt hatte, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen — in Riesengröße grinste ihm die bekannte, von Haß und Hohn verzerrte Teufelsfratze entgegen!!

— — — — —

Das Telephon hatte geklingelt. Der Polizeidirektor ließ anfragen, ob Sir Alfred Willcox anwesend sei, ob er in diesem Falle sich nach dem Polizeipräsidium bemühen wolle, oder ob ihm der Besuch des Herrn Polizeidirektors in seiner Wohnung angenehmer sei.

Der höchst interessante Fall, dem die Londoner Polizei ratlos gegenüberstand, wurde schon durch das Telephon in großen Umrissen geschildert. Der Champion-Detektiv eilte sofort hin, um sich zur Verfügung zu stellen. Was Nobody erfuhr, sei hier in anschaulicher Weise wiedergegeben. —

Auf der Oxfordstreet, einer der Hauptstraßen des inneren Londons, promeniert ein eleganter Herr, nicht mehr jung, das Haar ist an den Schläfen schon etwas ergraut, aber durch Haltung, Geschmeidigkeit und besonders durch das lebhafte Auge noch einen jugendlichen Eindruck machend.

Die wimmelnde Oxfordstreet ist wenig zum Promenieren geeignet, und auffallend ist es, wie sich der elegante Herr, der sicher den besten Gesellschaftskreisen angehört und auf dem Parkett wie im Strome des Lebens zu Hause ist, von der hastenden Menschenmenge drängen und herumstoßen läßt, und noch merkwürdiger ist, wie er dabei immer so ängstlich und hilflos lächelt. Er mustert die Geschäftsläden, offenbar auch die Hausnummern, suchend irrt sein Blick zwischen den Straßenpassanten, er läßt sich dabei immer anrempeln, mit fortschleifen, immer mit jenem halb belustigten, halb verzweifelten Lächeln.

Auf der Kreuzung zweier Straßen steht ein Konstabler, gleich einem Feldherrn mit erhobenem Arm Ordnung in das Kampfgetümmel bringend, die Schlacht lenkend. Ihm steuert jetzt der Herr zu, er muß dabei die breite Straße überschreiten, und wie er dies tut, mit welcher Ruhe er sich zwischen den Wagen und Pferden hindurchwindet, das beweist wieder, daß er hier in seinem Elemente ist, was aber so ganz und gar nicht mit seinem sonstigen Gebaren übereinstimmen will.

Er hat die Insel in der brandenden Großstadt erreicht, von welcher aus der Konstabler dirigiert, die Wagenreihen anhält, um einen Menschenstrom passieren zu lassen, und sie wieder frei gibt.

»Bitte, Konstabler.«

Der Angeredete hat nur einen einzigen Blick übrig.

»Left side! Stop — Sir?«

»Ich — ich — weiß nicht, wo ich wohne.«

»Go on!! — — — — — Sie haben den Namen Ihres Hotels vergessen?«

»Ich — ich — weiß auch nicht, ob ich überhaupt in einem Hotel gewohnt habe.«

Der Konstabler verzieht keine Miene. Er hat nur Augen für die Schlacht der Wagen und der Menschen.

»To left, to left!! — — Wie ist Ihr Name?«

»Ich — ich — kann mich nicht mehr entsinnen,« sagte der Herr mit jenem unsicheren, halb belustigten, halb verstörten Lächeln.

Der Konstabler hat nicht einmal einen erstaunten Blick übrig für den Mann, der nicht weiß, wie er heißt.

»Stop! — — — Sie haben Ihr Gedächtnis verloren?«

»Ja — ich glaube — es muß wohl so sein — ich kann mich auf gar nichts mehr besinnen.«

Da hat der Konstabler auch gar keinen Grund, eine Miene zu verziehen. Er bekommt etwas ganz Alltägliches zu hören.

Geradezu unheimlich ist es, wie sich in den großen Weltstädten, besonders in London und in New-York, die Fälle mehren, daß Menschen plötzlich vollständig das Gedächtnis verlieren. Das ist der Fluch der rastlosen Jagd nach dem Mammon! Den ganzen Tag wird unermüdlich gearbeitet, spekuliert — am Abend geht es in den Klub oder zum Vergnügen, je toller desto besser, bis zum Morgengrauen, dann nur wenige Stunden Schlaf, der gar kein Schlaf zu nennen ist, seinen Körper weiß man durch Massagen oder auch durch viel gefährlichere Hilfsmittel frisch zu halten — aber eines schönen Tages ist das Gedächtnis weg!!

Man befindet sich auf einem Geschäftsweg — mit einem Male blickt man erstaunt auf — ja, wohin wolltest du denn eigentlich? — man weiß absolut nicht mehr, wer man ist, wo man wohnt, was man zuletzt getan hat, man erkennt auch die alten Freunde nicht wieder — man weiß gar nichts mehr.

Zum Glück ist das wohl immer nur ein vorübergehender Zustand. Die Natur hat einmal eine eindringliche Warnung gegeben. Wird der Mann in seine Behausung oder in sein Geschäft gebracht, wo er nur bekannte Gesichter um sich sieht, vertraute Stimmen hört, was etwas ganz anderes ist, als wenn er so auf der belebten Straße eine bekannte Gestalt erblickt, die ihn anredet, macht er aus Gewohnheit wieder die alten Handgriffe, so kehrt mit einem Male auch wieder das Gedächtnis zurück, gewöhnlich ohne weitere böse Folgen zu haben.

Nun heißt es aber, erst den Betreffenden dorthin zu bringen, wohin er gehört.

Wohl jeder Mann — Frauen weniger — hat irgend etwas Schriftliches bei sich. Die von der Gedächtnislosigkeit Befallenen gehören meist den besser situierten Geschäftsleuten an, die eine Brieftasche bei sich führen.

Merkwürdig ist es, daß die Betroffenen gewöhnlich gar nicht daran denken, sich aus solchen Papieren zu orientieren, was sie recht wohl könnten, denn dieser Zustand ist nicht etwa zu vergleichen mit Wahnsinn!

Aber sie sind meist auch gar nicht imstande, aus dem Inhalte der Brieftasche zu erkennen, wer sie eigentlich sind, und wo sie wohnen.

Da sind Briefe — ›Herrn Gottlieb Schulze, Berlin‹ - oder ›To Mr. Jonas Perth, London‹ — das London sogar unterstrichen — ja, du lieber Gott, der Betreffende kann doch nicht alle Schulzens und alle Perths aufsuchen und den Hausherrn fragen, ob er das nicht vielleicht selber wäre. Es brauchen gar nicht solch allgemeine Namen zu sein — die Schwierigkeit ist immer eine große. Selbst ein Paß nützt nichts, da steht keine Wohnung angegeben.

Diese Fälle, daß jemand plötzlich sein Gedächtnis verliert, mehren sich so, daß sie gar nicht mehr durch die Zeitungen in die Öffentlichkeit dringen. Durch die Häufigkeit aber hat die Polizei hierin auch eine große Routine bekommen. Hierbei bedient sich die Polizei auch einmal der sonst verpönten Hypnotik, durch den Polizeiarzt, meist mit Erfolg. —

»Haben Sie Briefe oder so etwas bei sich?«

»Ja, das wohl, aber — aber — ich kann mich nicht darin zurechtfinden.«

»Sie haben es schon probiert?«

»Ja, aber...«

»Warten Sie hier, bleiben Sie hier stehen. Ich werde gleich abgelöst.«

Die Ablösung kam, der Konstabler bestieg mit dem Herrn ein geschlossenes Cab und fuhr nach seiner nahen Polizeiwache.

Der Herr zeigte sich vor dem Polizeileutnant sonst durchaus vernünftig. Auch seine Brieftasche hatte er schon visitiert, was zu den Ausnahmen zu rechnen war, oder er mußte schon sehr lange umhergeirrt sein. Auch fand er sich in seine Lage gleich hinein. Denn man muß sich nur vorstellen, wie sich da ein Mensch benehmen mag, der sich nicht in seine Lage finden kann, plötzlich so vollständig das Gedächtnis verloren zu haben, was für Szenen der da aufführt!

Nicht so dieser alte Herr mit den aristokratischen Zügen und den noch im Jugendfeuer leuchtenden Augen.

»Ich habe fünf Briefe bei mir,« erklärte er ruhig, »alle an Mr. Edwin Dudley gerichtet. Dieser Edwin bin offenbar ich. Andere Briefe kommen gar nicht in Betracht. Wollen Sie meine Brieftasche sehen?«

Er machte eine Bewegung, um die Brieftasche zu ziehen, der Polizeileutnant wehrte ab.

»Bitte — wenn irgend möglich, nehmen wir in solchen Fällen keinen Einblick in Papiere und Briefschaften. Haben Sie denn keinen Briefumschlag mit Adresse?«

»Keinen einzigen. Sonst hätte ich mir ja schnell allein zu helfen gewußt.«

»Steht die Adresse dieses Mr. Edwin Dudley nicht am Kopfe eines Briefes?«

»Auch nicht. Auf zweien nur ›London‹, auf einem ›Manchester‹, auf einem ›Bordeaux‹...«

»Das genügt vorläufig,« unterbrach ihn der Polizeileutnant.

Der Herr hatte dennoch seine Brieftasche gezogen, begann den Inhalt auf dem Tisch auszupacken. Der Polizeileutnant sah mit keinem Blicke hin, jedenfalls mit Absicht nicht.

Die Polizei mag hierin strenge Vorschriften haben. Es sind wiederholt Fälle vorgekommen, daß sich dann hinterher solche Geistesbewußtlose beschwert haben, die Polizei hätte während ihres unzurechnungsfähigen Zustandes Einblick in ihre Privatkorrespondenz genommen, und das ist in England, wo bekanntlich nicht einmal der Gerichtsvollzieher so ohne weiteres das Haus betreten darf, wo es nicht so leicht ist, selbst bei dringendem Verdachte eine Haussuchung abzuhalten, ein Verbrechen erster Klasse.

Und wenn das nun ein Staatsmann war? Danach sah dieser vornehme Herr nämlich gerade aus.

»Wollen Sie mir sagen, wer den einen oder den anderen Brief an Sie geschrieben hat? Ich halte Sie doch jetzt für zurechnungsfähig, nur das Gedächtnis ist Ihnen verschwunden, Sie haben nicht nötig, mir die Namen der Briefschreiber zu nennen.«

»Aber warum denn nicht? Die sämtlichen Briefe, die ich überhaupt in meiner Tasche habe, sind von einem Mr. H. L. Bavasour in Kalkutta unterzeichnet. Es handelt sich um...«

»O, in Kalkutta! Da dürfte die Ermittlung dieses Herrn, der dann Auskunft über Sie geben kann, längere Zeit in Anspruch nehmen.«

So ging das noch einige Zeit hin und her, ohne daß man dabei vorwärtskam, bis der Polizeileutnant eine andere Frage stellte.

»Wissen Sie, was man unter Hypnose versteht?«

»Jawohl.«

»Haben Sie sich schon einmal hypnotisieren lassen?«

Der Herr wußte ganz genau, was Hypnotik ist — aber ob er sich schon einmal habe hypnotisieren lassen, darauf konnte er sich unmöglich entsinnen. Hierin liegt auch kein Widerspruch, das läßt sich ganz gut zusammenreimen.

»Das Allereinfachste wäre, wenn Sie sich hypnotisieren ließen. Das nimmt unser Polizeiarzt vor, es geschieht in Gegenwart vieler Zeugen, Sie können solche auch bestimmen.«

Jawohl, der Herr erklärte sich sofort bereit dazu.

Der Polizeiarzt kam, im Kreise von vielen Konstablern und anderen Beamten wurde das Experiment vorgenommen. Es gelang nicht, den Herrn einzuschläfern.

Jetzt wurde ein an der Polizeiwache angestellter Straßenkehrer geholt. Dieses Männchen mit der Geiernase konnte noch ganz anders hypnotisieren als der Polizeiarzt. Auch das Wetter vorherbestimmen und Warzen versprechen konnte er, und wenn das Wetter anders wurde und die Warzen nicht weggingen, so war das eben die Schuld des Wetters und der Warzen und nicht die seine. Aber im Hypnotisieren hatte er wirklich etwas los.

Also der Straßenkehrer mußte sich erst Gesicht und Hände waschen, und dann fing er an zu blinzeln und zu kneten und zu kommandieren.

Der Herr wollte nicht einschlafen.

»Na, wenn Sie egal lachen!«

Unterdessen war der Polizeileutnant immer mehr zu der Überzeugung gekommen, hier einen Mann von gewichtiger Stellung vor sich zu haben. Daß ihm ein solcher namens Edwin Dudley nicht bekannt war, hatte nichts zu sagen. Der Herr sprach das Englische durch die Nase, dazu einige besondere Angewohnheiten — ganz sicher ein Amerikaner! Und England hatte gerade damals allen Grund, mit den Vereinigten Staaten auf freundschaftlichem Fuße zu stehen.

Der Leutnant telephonierte den Polizeidirektor an, teilte ihm alles mit, auch seine Vermutung. Vorsicht bei Behandlung dieses Mannes sei geboten.

Etwas warten! Dann meldete das Telephon, der Polizeidirektor würde selbst hinkommen, wahrscheinlich auch Sir Alfred Willcox.

Nobody kam. Er hatte sein Elixier bei sich, brauchte es aber nicht anzuwenden. Seinem magnetischen Blicke konnten auch diese feurigen Augen nicht widerstehen.

»Schlafen Sie — ruhig — ganz ruhig - antworten Sie auf meine Fragen — nicht wahr, Sie werden mir antworten?«

»Ja,« sagte der Schlafende mit schweren Kinnbacken, und hier vor den Augen aller wendete Nobody natürlich seinen geheimen Nackengriff nicht an, er verfuhr nicht anders als die öffentlich auf der Bühne auftretenden Hypnotiseure.

»Wie heißen Sie denn?«

»Edwin — Dud — Dud — Dud...«

»Sprechen Sie langsam und deutlich. Das Sprechen fällt Ihnen auch gar nicht schwer, das glauben Sie nur. Wie heißen Sie?«

»Edwin Dudley.«

»Wo wohnen Sie?«

»Jm Hotel — Hotel — in Bryards Hotel.«

Schon war das Telephon im Gange. Bryards Hotel wurde von der 16. Polizeiwache angefragt, ob dort ein Mr. Edwin Dudley logiere. — Jawohl, seit zwei Tagen. — Wie sieht er ungefähr aus? — Ein stattlicher Herr, schwarzer Schnurrbart, das Kopfhaar an den Schläfen leicht ergraut... Schluß!

Nobody wußte, wie weit er hier gehen durfte. Gar nicht weiter.

»Sie werden bei drei aufwachen. Eins — Sie werden ganz munter sein, wie nach einem gesunden Schlafe - zwei — Sie werden wissen, daß ich Sie hypnotisiert habe und sich sogar sehr gestärkt fühlen - drei!!!«

Der Herr schlug die Augen auf. Daß er so verstört um sich blickte, konnte nach der Hypnose nicht auffallen.

»Können Sie sich erinnern, daß Sie...«

»Ich bin hypnotisiert worden?« stieß er hastig hervor.

»Ja.«

»Über was hat man mich ausgefragt? Was habe ich gesagt?«

»Nun, man hat Sie nur nach Ihrem Namen und nach Ihrer Adresse gefragt. Können Sie sich denn jetzt auch im wachen Zustande erinnern?«

»Gewiß doch, ich wohne in Bryards Hotel. O, ich weiß recht wohl, was mir passiert ist, ich befand mich auf dem Wege nach... nevermind, ich hatte einen Geschäftsweg vor, da bekam ich plötzlich wie einen Stich durch den Kopf... nevermind, habe höchste Eile.«

Der Anfall war vorüber. Für diesmal geheilt! In solchen Fällen zeigt sich, wie segensreich die Hypnose in gewissenhafter Hand sein kann.

Der Herr hatte es äußerst eilig.

»Meine Brieftasche — ah, hier — jawohl, ich entsinne mich auf alles, auch was man mich in der Hypnose gefragt hat — all right, that'll do — was bin ich schuldig? Nichts? Bitte, hier eine Fünfpfundnote, machen Sie beliebigen Gebrauch davon. Meinen verbindlichsten Dank. Good bye.«

Vergebens warnte man ihn, sich gleich wieder auf die Straße zu begeben — er ließ sich nicht aufhalten, wichtiges Geschäft, versäumte Zeit einholen, keine Begleitung - nur das Cab, welches schon vorgefahren war, nahm er dankend an.

»Den trifft's bald wieder, und dann geht es nicht mehr so gut ab,« sagte der Polizeidirektor und rechnete sich zur höchsten Ehre an, sich mit dem Champion-Detektiv der Königin noch etwas unterhalten zu dürfen.

Bald wußte sich Nobody freizumachen. Das hier war die 16. Polizeistation, seine Frau hatte jene Photographie auf der 18. hinterlegt, gar nicht weit von hier, da konnte er gleich einmal hingehen und sich das Ding ansehen.

Er begab sich zu Fuß hin, legitimierte sich als Sir Willcox, fragte nach jener Photographie.

»Die ist gerade abgeholt worden, vor fünf Minuten!«

»O jemine! Von wem?«

»Von einem Herrn. Lady Willcox wünschte doch die Adresse des eventuellen Abholers zu wissen — hier steht sie, Mr. Lewis Clade, Brighton on Sea, Denverplace 72.«

»Weiß der Herr, daß Lady Willcox ihn sprechen möchte?«

»Gewiß, ich sagte es ihm ausdrücklich.«

»Und was sagte er?«

»Gar nichts, er brummte etwas vor sich hin, hatte es sehr eilig.«

»Wissen Sie, wo der Herr sich hier aufhält?«

»Nein.«

Brighton on Sea ist von London in zwei Stunden zu erreichen, deshalb braucht man keine Wohnung zu suchen.

»Ich werde einmal in Brighton anfragen, vielleicht kann ich gleich erfahren, wo der Herr dort zu treffen ist.«

Nobody setzte sich telephonisch mit der Hauptwache von Brighton in Verbindung.

»Ist Ihnen dort ein Mr. Lewis Clade bekannt, wohnhaft am Denverplace Nummer 72?«

Die Antwort kam prompt zurück:

»Gibt es gar nicht, der Denverplace geht nur bis 48.«

Jetzt wurde die Sache bedenklich.

»Haben Sie von dem Herrn eine Legitimation verlangt?«

»Nein. Er konnte die verlorene Photographie genau beschreiben, er sagte, er habe sie...«

»Wie sah er ungefähr aus? Was für einen Eindruck machte er?«

»O, ein sehr feiner Gentleman, schon ältlich, aber noch jung aussehend, mit schwarzem Schnurrbart und an den Schläfen ergrauten Haaren...«

»Haben Sie etwas an seiner Uhrkette hängen sehen?«

»Ja, eine Berlocke, wohl aus Schildpatt, wie ein großer Perlmutterknopf...«

Jetzt konnte Nobody in Gedanken ein weiteres ›O jemine!‹ sagen.

Er hielt sich keine Sekunde länger auf, in ein Cab gesetzt und nach Bryards Hotel gejagt.

»Bedaure, Mr. Dudley hat vor zehn Minuten das Hotel verlassen, mit seinem Gepäck, ohne Angabe einer Adresse.«

— — — — —

Wieder saß Nobody in seinem Arbeitszimmer, den Kopf in die Hände gestemmt, und konnte über das Walten des launischen Schicksals nachdenken.

Diesmal riß ihn keine weiche Hand aus seinem Grübeln, sondern ein Klingelzeichen, das im Schreibtisch ertönte.

Eine Depesche. Aus Aden.

»Du wirst erwariet. 17, 28, 6 Komma 4 südliche Breite; 142, 15, 11 Komma 9 westlich von Greenwich. Edward Scott.«

Wieder einmal! Und solch eine genaue Ortsangabe, die Sekunden noch in Zehntel geteilt, hatte ihm sein prophetischer Freund noch nie gemacht!

Die Sekunde des Breitengrades berechnet man auf rund 300 Meter, so nahe am Äquator laufen die Längengrade, welche sich den Polen zu natürlich immer mehr nähern, fast parallel, die Entfernung zwischen zwei Längengraden beträgt dort also ebenfalls 300 Meter, nun der zehnte Teil davon, das find 30 Meter — der Hellseher bestimmte demnach einen Platz von 20 Metern Länge und 80 Metern Breite, auf dem Nobody von jemandem erwartet würde.

Wo lag dieser Platz? Zur ungefähren Bestimmung hatte Nobody die Karte im Kopfe.

Das war ganz bedeutend westlich von Peru, mitten im Großen Ozean.

Die Landkarte gab genauere Auskunft.

Die betreffenden Breiten- und Längengrade gingen über die Paumotuinseln hinweg.

Paumotu heißt in der Sprache jener Eingeborenen, welche auf diesen Koralleninseln ein kümmerliches Dasein führen, die Wolke, womit sie ›Insel-Wolke‹ ausdrücken wollen, und wie eine Wolke sieht die Angabe dieser Inseln auf der Landkarte auch aus, es sind eben zahllose Koralleninseln, tatsächlich noch nicht gezählt.

Nur die Engländer haben diesen Namen beibehalten. Die Franzosen führen auf ihren Karten als Namen ›Gefährlicher Archipelagus‹ an, die Holländer sprechen von niedrigen Inseln, die Spanier nennen sie Kannibaleninseln, und das mit Recht, auf diesen Eilanden steht die Menschenfresserei noch in vollster Blüte, anfangs wohl eine Folge der Nahrungsnot, woraus eine Gewohnheit geworden ist.

Für genauere Antworten mußte die Spezialseekarte dieser Gegend befragt werden, allerdings immer noch sehr mangelhaft.

Doch gerade dieser östliche Teil der Gruppe war genauer aufgenommen worden, danach kreuzten sich die beiden Zehntelsekundenlinien — wenn man dies mit dem Zirkel auf der Seekarte überhaupt bestimmen konnte, auf der größeren Insel Apucarua.

Was erzählte das nautische Lexikon über diese Insel?

Gar nichts. Und von der ganzen Paumotugruppe wußte es nur zu sagen, daß sämtliche Bekehrungsversuche der Eingeborenen — fälschlicherweise von den Engländern Kariben genannt, bei welchem Namen wir aber doch bleiben wollen, so wie wir ja auch für die Eingeborenen Amerikas den ganz falschen Namen ›Indianer‹ akzeptiert haben — gescheitert wären, weil die Kariben die Missionare immer verspeist hätten, und eine Besitzergreifung dieser Koralleneilande lohne sich nicht.

Produziert, ohne Hinzutun von Menschenarbeit, wurden dort nur Kokosnüsse, welche von Tahiti aus kleine Segelklipper abholten.

Aber auch nach Tahiti gibt es bis heute noch keine regelmäßige Schiffahrtsverbindung. Nur bei Gelegenheit gehen Frachtdampfer hin, eben um die aufgespeicherte Kopra abzuholen, den zusammengepreßten Kern der Kokosnuß.

Solch eine Gelegenheit mußte Nobody abwarten, um erst einmal nach Tahiti zu kommen. Was aber dann weiter?

Daß er auf den niedrigen Koralleninseln nicht jene wilde Gebirgsformation finden würde, in welcher der Meißel von Bildhauern gearbeitet hatte, das war selbstverständlich.

Etwas anderes würde er dort finden, aber ebenfalls direkt oder indirekt mit der Teufelsfratze zusammenhängend, darüber war sich Nobody ebenso klar.

Und was damit zusammenhing, das mußte unbedingt vor aller Welt geheimgehalten werden. Würde er in Tahiti eine geeignete Mannschaft zusammenbringen können? Sicher nicht, wahrscheinlich nicht einmal ein geeignetes Fahrzeug finden.

Also konnte er gleich hier in London einen eigenen Dampfer anschaffen oder doch chartern, mieten, und dann mußte er sich freilich immer wieder fremden Seeleuten anvertrauen.

Nobody dachte an seinen alten Freund Flederwisch, an die ›Wetterhexe‹. Seit der Auflösung dieses idealen Kompanieverhältnisses hatte er noch keinen Ersatz dafür gefunden, sich gar nicht danach umgetan.

Gedacht, getan — Nobody setzte eine Depesche auf, nach den Schwefelinseln, ob Kapitän Flederwisch dort sei oder wo er sich sonst aufhalte.

Das Telegramm mußte seinen Weg durch Rußland und China nehmen. Kennt der elektrische Funke auch kaum eine Entfernung, so kamen hier doch andere Hindernisse in Betracht, Umschaltungen und dergleichen — vor morgen abend konnte er die Antwort nicht erhalten, und es war sehr, sehr die Frage, ob man dort stets wußte, wo sich der ruhelose Kapitän Flederwisch immer zurzeit mit der ›Wetterhexe‹ aufhielt.

Noch hatte Nobody das aufgesetzte Telegramm in der Hand, eben wollte er es zur Beförderung seinem Schreibtisch anvertrauen, als dieser ihm eine neue, soeben angekommene Depesche auslieferte.

Sie kam aus Algier.

»Ich erwarte dich mit der ›Wetterhexe‹ in Lissabon. Flederwisch.«

Was sollte Nobody dazu sagen? Hier hatte eben wieder sein hellsehender Freund die Hand im Spiele!

Nobody bestellte sein Haus, um die Landreise nach Lissabon anzutreten.

Ach, wenn er geahnt hätte, als er Abschied nahm von Frau und Kindern, was ihm diese Reise bringen würde!

Konnte Nobody eigentlich davon sprechen, daß er schon einmal Unglück gehabt hätte? Nein, gewiß nicht. Ja, für seine eigene Person Widerwärtigkeiten aller Art — aber daraus machte sich doch Nobody nichts.

Und während dieser Reise, ohne daß er es wußte, es erst nachträglich erfahrend, sollte das Unglück über ihn und über sein Haus kommen, ihm das Herz zerfleischend!


ENDE


Roy Glashan's Library
Non sibi sed omnibus
Go to Home Page
This work is out of copyright in countries with a copyright
period of 70 years or less, after the year of the author's death.
If it is under copyright in your country of residence,
do not download or redistribute this file.
Original content added by RGL (e.g., introductions, notes,
RGL covers) is proprietary and protected by copyright.