Roy Glashan's Library
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ir wollen in der Erzählung der neuen Abenteuer Nobodys dem Berichte eines uns bisher noch nicht bekannten Mannes folgen, müssen aber, ehe wir ihn selbst in seiner schlichten Weise erzählen lassen, einen schnellen Blick auf seine Jugendjahre werfen, denn dieser Werdegang eines Menschen dürfte nicht nur ganz besonders für Eltern, sondern auch von allgemeinem Interesse sein.
In Papenburg, der kleinen, aber alten und soliden Hafenstadt, die unserm Vaterlande schon manchen tüchtigen Seemann, unsrer Kriegsmarine schon manchen hervorragenden Offizier geschenkt hat, lebte ein vermögender Schiffsmakler namens Max Hammer. Er war für dieses Geschäft, welches eine bedeutende Erfahrung verlangt, noch ziemlich jung, dafür aber in der Praxis seines Vaters aufgewachsen und hatte treue Berater zur Seite.
Einmal ließ er sich von dem alten Grohmann, Kapitän und Eigentümer der ›Katharine‹, zu einer gewagten Spekulation überreden. Es wurde gemacht. Peter Grohmann war doch schon Freund und Berater von Hammers Vater gewesen — und als das Geschäft mißglückte, war der Schiffsmakler ruiniert, total bankrott. Aber ein Bettler wollte und konnte der ehemals begüterte Mann nicht werden. Er ertrug den Schlag nicht, legte sich hin, und einige Tage später war er tot.
Der alte Kapitän der ›Katharine‹ wurde von seinem eignen Gewissen freigesprochen. Der Mißerfolg war nicht vorauszusehen gewesen, und für solch ein Unglück kann niemand etwas. Er selbst war an dem Geschäft beteiligt gewesen und hatte schwere Verluste gehabt, nur daß er dadurch nicht gänzlich ruiniert wurde.
Er war ein Ehrenmann. Dem Toten war nicht mehr zu helfen. Aber er hatte eine Frau und unmündige Kinder hinterlassen, und dieser nahm sich der alte Kapitän jetzt und fernerhin an, als wenn es seine eignen wären.
Für uns nun kommt ein Knabe in Betracht, August Hammer.
August hatte damals gerade sein zehntes Jahr vollendet. Es war Ostern, er sollte die Bürgerschule verlassen und das Gymnasium besuchen. So war es die Absicht der Eltern gewesen.
Wäre es allein nach der ehrlichen Überzeugung des Kapitäns gegangen, so wäre hieraus nichts geworden. Der kleine, dicke Stöpsel war ein seelensguter Junge und das Muster eines wohlerzogenen Sohnes, hatte auf jeder Zensur auch regelmäßig fünf Einsen, nämlich in der Ordnungsliebe, in Fleiß und sittlichem Betragen, ferner im Turnen und Singen — aber in allen andern Fächern kam er niemals über die Drei bis Vier hinaus; zu Ostern wurde er jedesmal nur so mit Ach und Krach versetzt.
Wir wollen nicht sagen, daß August direkt schwachsinnig war. Durchaus nicht! Aber beschränkt war er. Wie soll denn auch so ein dicker Stöpsel mit solchem Vollmondgesicht, mit solchen semmelblonden Haaren und mit solchen wasserblauen Augen ein Genie sein! Und selig sind die Beschränkten, denn ihrer ist das Himmelreich. Und das sah man ›Augusten‹ gleichfalls an.
August ist eigentlich ein schöner Name; so haben gar große und berühmte Männer geheißen. Aber es gibt auch noch einen andern August, und unsrer hier wurde es; an seinen Namen heftete sich der Fluch der Lächerlichkeit: er war und blieb unter seinen Schul- und Spielkameraden der dumme August.
Nun hatten die Eltern durchaus gewollt, daß ihr Goldjunge das Gymnasium und später die Universität besuchen, ein ›Gelehrter‹ werden sollte, vielleicht gar Professor! Kann man solch eine Kurzsichtigkeit begreifen?
Du lieber Gott! Es mag wohl noch einige andre zehntausend Eltern geben, die an demselben Fehler leiden.
Der alte Kapitän Grohmann als Vormund litt nicht daran. Aber der noch lebenden Mutter Wunsch war es immer, ihren August dereinst als Professor zu sehen, war er doch so überaus fleißig, und der Kapitän setzte diesem Wunsche alle eignen Bedenken hintan.
Auf dem Gymnasium war es ganz genau dasselbe. In Ordnungsliebe, Fleiß, sittlichem Betragen, Turnen und Singen immer die Eins, sonst auf der Zensur überall ein ›kaum genügend‹. Er war der dumme August.
So würgte er sich mühsam bis zur Quarta durch. Hier blieb er sitzen, und von jetzt an schien er ganz und gar von Gott verlassen zu sein. Als Kapitän Grohmann einmal zu Ostern nach Hause kam, erfuhr er, daß August in der Quarta zum zweiten Male sitzen geblieben sei, trotzdem er wie ein Ochse gebüffelt hatte.
Wer zweimal in einer Klasse sitzen bleibt, muß die betreffende Schule verlassen.
Die Mutter war unterdessen gestorben; der Kapitän sprach mit dem Gymnasialoberlehrer, und es war so merkwürdig, wie dieser dem Knaben das brillanteste Zeugnis ausstellte und dem Vormund dennoch riet, ihn nicht erst wieder auf eine Schule zu bringen, wo er das Einjährig-Freiwilligen-Zeugnis noch erlangen könnte.
»Der bekommt es doch nie. Lassen Sie den Jungen Handwerker werden oder Beamter oder Kaufmann. Der kann ergreifen, was er will, er wird es stets weit im Leben bringen, wenn er sich auch nie vor andern auszeichnen wird. Solch ein Fleiß und solch eine Ordnungsliebe und Pflichttreue stehen einzig da. Lassen Sie ihn in einem großen, soliden Geschäftshause als Lehrling beginnen, er wird sich emporarbeiten bis zum ersten Kassierer. Nur zum Disponenten eignet er sich nicht.«
Kapitän Grohmann nahm den vierzehnjährigen Knaben vor.
»Was willst du werden, August?«
August schaute den Frager mit treuherzigen Augen an und antwortete gehorsam: »Was du willst, Onkel!«
»Willst du Kaufmann werden?«
Im Augenblick sah August vor sich Fässer mit Mandeln und Rosinen.
»Ei ja, Onkel!« sagte er freudig.
»Oder willst du Handwerker werden? Handwerk hat goldnen Boden.«
Von einem goldnen Boden sah August nichts, wohl aber sich selbst schon als muntern Handwerksburschen auf der Walze, in der Nacht bei Mutter Grün kampierend und am Tage die Haustüren abfechtend, und solch ein Leben fand er nicht übel.
»Ei ja, Onkel!« erklang es also abermals.
»Was für ein Handwerk willst du da ergreifen?«
»Was du willst, Onkel,« lautete abermals die Antwort des Musterknaben.
»Vielleicht Fleischer?«
Jetzt wurde Augusts Geist von Leber- und andern Würsten umgaukelt.
»Ei ja, Onkel!«
Der alte Seemann dachte daran, was ihm Augusts Oberlehrer gesagt hatte, und etwas andres fiel ihm ein, etwas eigentlich sehr Naheliegendes.
Welche Nation liefert die besten Matrosen? Der Engländer ist ein ausgezeichneter Matrose, noch besser ist der Skandinavier, besonders der Norweger; aber der gesuchteste Matrose ist der Deutsche.
Wenn irgendwo in der Welt ein englischer Kapitän einen Matrosen braucht, und es melden sich Dutzende, lauter Engländer und Norweger, nur ein einziger Deutscher ist darunter, und dieser hat nur einigermaßen gute Papiere, so nimmt der englische Kapitän ganz sicher diesen Deutschen an Bord seines Schiffes.
Weswegen? Mut und Kraft wird als ganz selbstverständlich von jedem Matrosen verlangt. Die Pflichttreue ist es, die freiwillige Disziplin, die Verläßlichkeit, worin der deutsche Matrose unerreichbar ist, und das macht ihn am wertvollsten.
Dasselbe gilt natürlich von allen Gliedern der Besatzung bis hinauf zum Kapitän, und wenn es so ist, dann war unser August, der auch noch ein gar gewandter Turner war, zum Seemann wie geschaffen. Um aber das Kapitänsexamen bestehen zu können, dazu braucht man kein mathematisches Genie zu sein.
Jetzt sah der gefragte Junge vor seinen geistigen Augen bunte Papageien sich auf Palmen schaukeln und possierliche Affen und schwarze Männer mit Goldringen in der Nase, und seine stereotype Antwort lautete: »Ei ja, Onkel!«
Gut! August kam also als Schiffsjunge auf die ›Katharine‹, aber von jetzt an war sein Vormund nicht mehr der ›Onkel‹, sondern eben sein unnahbarer Kapitän, der den Knaben tüchtig unter die Fuchtel nahm.
Die ›Katharine‹, ein stattliches Vollschiff mit neunzehn Mann Besatzung, trat eine sogenannte wilde Reise an. Darunter versteht der Seemann eine Reise, bei welcher er nicht zugleich für die Rückfahrt nach dem Heimatshafen angemustert wird, weil das Schiff Ladung einnimmt, wo es eine solche bekommt.
Hierbei ist nämlich ein großer Unterschied. Der Matrose, welcher an Bord eines Schiffes mustert, geht laut der internationalen Seegesetze stillschweigend einen Kontrakt ein, auch wieder die Rückreise nach dem Heimatshafen als Matrose mitzumachen, er darf also das Schiff in keinem andern Hafen verlassen. Andrerseits ist die Reederei verpflichtet, falls die Reise aus irgend einem Grunde unterbrochen werden muß, den Matrosen wieder nach dem Hafen, in welchem er gemustert hat, frei zurückzubeordern.
Bei einer wilden Reise schreiben die Seegesetze andre Bedingungen vor. Hier wird ein Kontrakt auf Zeit gemacht. Der Matrose muß für eine gewisse Frist an Bord des Schiffes aushalten und wird nach Ablauf derselben im nächsten Hafen abgemustert, welchen dann das Schiff anläuft.
Die ›Katharine‹ musterte die Mannschaft auf vier Jahre an. Erst segelte sie mit Stückgut nach Baltimore, von hier ging es mit Weizen nach Valparaiso, in Iquique wurde Salpeter nach London mitgenommen, von London ging es mit Geweben um die Südspitze von Afrika nach Hongkong, und als die ›Katharine‹ hier eintraf, waren von dem Kontrakt erst drei Jahre vergangen.
Von unserm August ist während dieser ganzen Fahrt, bei welcher er viermal die Linie passierte, gar nichts weiter zu erwähnen, als daß er nach Beendigung des zweiten Jahres zum Leichtmatrosen befördert wurde. Das war nur recht und billig gewesen. Er tat gewissenhaft seine Pflicht, war auch ein ganz fixer Junge, zeichnete sich aber in keiner Weise aus. Daß er in dieser Zeit Englisch lernte, kam einfach daher, daß an Bord einige englische Matrosen waren, und deshalb im Mannschaftslogis viel Englisch gesprochen wurde.
Einmal, als sein Kapitän an Land einen alten Freund getroffen hatte, der auch den Vater Augusts gekannt, mußte dieser zufällig über sich ein Urteil hören, das für ihn zwar sehr ehrend war, aber doch einen recht bittern Beigeschmack hatte.
»Das wird einmal ein tüchtiger Kapitän, aber auch kein andrer, als wie es bereits Tausende gibt. Der muß bei einer Reederei immer ein und dieselbe Linie fahren. Selbständig darf er nie werden. Vor allen Dingen fehlt ihm jeder Unternehmungsgeist.«
Ja, so sah er auch aus. Noch immer war August ein kleiner, dicker Stöpsel, brennende Sonnenglut und eisiger Schneesturm hatten ihm nichts von seiner semmelblonden Bescheidenheit nehmen können, ein stiller, nüchterner Jüngling, mit dem man gar nicht in Streit kommen konnte, weil er niemandem widersprach — ein Mensch, der zum Gehorchen geboren war.
Lassen wir ihn nun selbst erzählen. Bemerkt aber sei zuvor, daß er das Nachfolgende zwanzig Jahre später niederschrieb, als er es erlebte, und zwar nur zu dem Zwecke, um zu schildern, auf welch seltsame Weise er die Bekanntschaft jenes Mannes, unseres Nobody, machte, der dann so mächtig in sein Leben eingreifen sollte.
Seit zwei Tagen lagen wir in Hongkong und luden mit Hilfe von Kulis die Ballen aus. Am Abend dieses zweiten Tages war ich von der Freiwache und ging mit einigen Kameraden, nachdem wir uns vom Kapitän etwas Vorschuß hatten geben lassen, an Land.
Wir bummelten durch die Chinesenstadt, besuchten ein paar Wirtschaften und Kaffeehäuser, ohne des Guten zu viel zu tun. Um zehn mußten wir an Bord zurück sein, und Kapitän Grohmann konnte manchmal sehr streng werden. Mit dem Vorschuß war er auch niemals freigebig. Zeitig traten wir den Rückweg an, der uns erst durch eine kleine, schmutzige Vorstadt führte.
»Das ist eine chinesische Spielhölle, da müssen wir erst noch einmal hinein,« sagte ein Matrose, der schon einigemal in chinesischen Häfen und auch in Hongkong gewesen war.
Es war eine Holzhütte, von den andern nur dadurch unterschieden, daß die scheibenlosen Fenster mit blauen Gardinen verhangen und erleuchtet waren.
Man hörte drin ein Summen von Stimmen, aber keinen Lärm. Eben gingen zwei englische Matrosen hinein; ein paar Chinesen kamen ganz ruhig heraus — warum sollten wir da nicht auch einmal eintreten? Zu verlieren hatten wir ja nicht viel, und so etwas muß man doch auch einmal kennen lernen.
Wir gingen also hinein. Um einen großen Tisch, der fast den ganzen Raum einnahm, standen die Spieler, meist bezopfte Chinesen. Es ging höchst ruhig und anständig zu, und daß ab und zu ein Spieler ein winziges Täßchen heißen Arrak trank, welches ihm eine dicke, wackelnde Chinesin brachte, änderte hieran auch nichts.
Später wird das gewöhnlich anders. Der Chinese ist ein wahnsinnig leidenschaftlicher Spieler; aber vorläufig war davon noch nichts zu bemerken, denn das Spiel hatte eben erst begonnen.
Über dieses selbst will ich nur das eine sagen: In der Mitte des Tisches steht ein Topf, der eine Menge Blechmarken enthält, die mit verschiedenen Figuren bemalt sind. Vor dem Bankhalter liegt ein Bogen Papier, auf das in verschiedener Unordnung dieselben Figuren gemalt sind, meist Tierbilder. Über den Topf wird ein großer Hut gedeckt — die Spieler losen unter sich, wer daruntergreifen soll; er zieht eine Marke, und nach dem betreffenden Bilde werden die Einsätze, welche auf den einzelnen Figuren stehen, ausgezahlt. Die Berechnung dieser Auszahlung ist jedoch sehr schwierig.
Ich setzte nur ein einziges Mal einen Penny und erhielt dafür vom Bankhalter einen Schilling, also das Zwölffache, während meine Freunde immer nur das Doppelte gewannen — und verloren, bis sie nichts mehr zu verlieren hatten. Viel war es freilich nicht gewesen. Ich aber hatte sofort zu spielen aufgehört und hatte meinen Schilling fest in der Tasche.
Doch das nur nebenbei! Meine Aufmerksamkeit wurde bald durch etwas andres gefesselt, oder vielmehr ich selbst fesselte die Aufmerksamkeit eines andern, was mich sehr unangenehm berührte.
Mir gegenüber am Tisch stand ein alter Chinese mit runzligem Gesicht und lang herabhängendem Schnurrbart. Gleich bei meinem Eintritt hatte er mich mit seinen Schlitzaugen scharf angesehen — sie alle wendeten ja die Köpfe und blickten uns an, aber dieser alte Chinese hatte einen so eigentümlichen Blick, daß ich ihn förmlich bis in die innerste Seele verspürte.
Wir standen vielleicht eine Viertelstunde an dem Tische, und die Augen dieses alten Zopfträgers ließen mich nicht wieder los. Der Kerl hatte es offenbar auf mich abgesehen. Sobald ich ihn fest anblickte, was ich oft genug tat, sah er schnell weg, aber kaum wandte ich mein Auge von ihm, so fühlte ich wieder seinen durchdringenden Blick auf mir ruhen. In diesem ›Fühlen‹ lag nämlich das Eigentümliche! Sonst kann ich es gar nicht beschreiben. Hätte ich damals schon etwas von Hypnose gewußt, so wäre ich wahrscheinlich auf den Gedanken gekommen: dieser alte Chinese will dich mit seinen Schlitzaugen hypnotisieren!
Kurz und gut, mir ward immer unbehaglicher zumute. Was wollte der Kerl eigentlich von mir? Gehörte er mit zu der Bank und ärgerte es ihn, daß ich den gewonnenen Schilling nicht wieder einsetzte, um ihn schließlich doch zu verlieren? Wollte er mich durch seinen Blick, bei dem ich lebhaft an den eines Raubtierbändigers dachte, zum Gehorsam zwingen? Da gab es bei mir ja nun nichts! Und dennoch, immer deutlicher und immer deutlicher fühlte ich, wie dieser unbeschreibliche Blick sich bis in das Innerste meiner Seele einbrannte.
Wie eine Wohltat empfand ich es, als ich durch etwas andres von diesem Zauberbanne abgelenkt wurde. Wir entdeckten in einem Winkel der Hütte ein kleines Harmonium mit Orgelpfeifen und machten uns darüber lustig, wie ein solches seinen Weg in diese chinesische Spelunke gefunden hatte. Wunderbar war das ja eigentlich nicht. England versah schon damals alle Welt mit solchen billigen Instrumenten auf Abzahlung.
Während wir uns noch so über das Ding amüsierten, weil sich die Orgel in der schmierigen Spielhölle doch gar zu kurios ausnahm, näherte sich uns ein dicker Chinese, grinste, sprach auf uns ein, wovon wir aber kein Wort verstanden, und deutete dabei auf das Harmonium.
Was er verlangte, war ja ganz klar. Ob nicht Einer von uns spielen könnte!
»August, du kannst doch Klavier, spiel mal eins auf!« ermunterte mich mein Maat.
Ich hatte zu Hause Klavierspielen gelernt, sehr mittelmäßig, habe nie Begabung dazu gehabt, doch in Valparaiso hatte ich einmal in einer Wirtsstube meinen Kameraden und einer Bande Weiber zum Tanze aufgespielt, dazu langte es wohl. Nun reizte es mich ebenso, einmal auf einem Harmonium mit Blasebälgen zu spielen, was ich bisher noch nie probiert hatte, wie ich freudig die Gelegenheit erfaßte, um jenem faszinierenden Blicke des alten Chinesen zu entgehn.
Also ich schritt hin, setzte mich auf einen wackligen Stuhl, trat den Blasebalg und griff in die Tasten. Es ging famos, erst ›Ein feste Burg ist unser Gott‹ und dann ›Wir sitzen so friedlich beisammen‹. Das paßte zu der chinesischen Spielergesellschaft wie die Faust ins Auge. Dabei spielte ich wie ein Bär. Ich hatte ja auch von der dreijährigen schweren Schiffsarbeit wahre Bärentatzen bekommen und griff immer fest daneben. Aber mit meinem Erfolge konnte ich zufrieden sein. Die langbezopften Söhne des himmlischen Reiches vergaßen das Spielen und staunten nicht schlecht. Dem Virtuosen Beifall zu zollen, verbot ihnen wohl nur der chinesische Anstand.
Ich dehnte den Kunstgenuß nicht allzulange aus. Bald stand ich auf und entfernte mich mit meinen Kameraden. Den alten Chinesen mit dem sonderbaren Blick hatte ich schon wieder vergessen. Ohne irgend ein Abenteuer erlebt zu haben, kamen wir an Bord zurück und gingen zur Koje.
Dennoch sollte mein Eintritt in die chinesische Spelunke einen Wendepunkt für mein ganzes Leben bedeuten.
Am andern Tage drehten wir wieder die Winde. Der Kapitän hatte viel zu tun, er wurde in seiner Kajüte fortwährend von weißen und gelben Geschäftsleuten besucht. Nachdem wir uns in den ersten Tagen nach langer, langer Seereise an dem Anblick fremder Menschen in moderner und fremdländischer Kleidung ergötzt hatten, achteten wir ihrer jetzt nicht mehr.
Da kommt der Steward aus der Kajüte an uns vorüber.
»Du, August,« fängt er zu mir gewendet an, »beim Käpten ist ein Herr, der will dich als Organist engagieren.«
»Nanu,« lache ich, und weil ich lache, lachen die andern mit, obgleich sie wahrscheinlich gar nicht wissen, was ein Organist ist.
»Ja,« fährt der Steward ganz ernst fort, »der Käpten hat auch gelacht, aber es ist wahrhaftig wahr; der Herr sagt, du wärst ein geborner Organist und gar nicht mit Gold zu bezahlen. Er wollte dich durchaus als Organisten haben, er wollte dich gleich mitnehmen.«
Der Steward hatte es eilig und mußte wieder fort.
»Ein Organist ist ein Kantor, der in der Kirche die Orgel spielen muß,« erklärte ein gelehrter Matrose, und ich selbst hätte auch keine andre Erklärung geben können.
Na, nun war es ja allen meinen Kameraden ganz klar. Jener Herr hatte mich, gestern abend Harmonium spielen hören oder nur vernommen, daß ich es könnte, es wurde hier für eine Missionsanstalt oder für so etwas Ähnliches ein Orgelspieler gesucht — da war ich gerade der rechte Mann dazu.
Nur mir selbst war das nicht ganz klar. Ich hatte doch nicht umsonst vier Jahre lang die Bänke des Gymnasiums gedrückt. Etwas andre Ansichten bekommt man da doch über die Zivilisation als solch ein Matrose, der Sohn von Fischern oder Arbeitern, so gut er auch sonst in der Welt Bescheid wissen mag.
Nein, so einfach war das denn doch nicht. Hier mußte ein Irrtum vorliegen. Jener Herr selbst konnte mich unmöglich haben spielen hören. Ich wußte gut genug, wie jämmerlich es mit meiner Kunst stand. Und wenn hier eine christliche Kolonie einen Orgelspieler brauchte, da war nicht erst nötig, an den chinesischen Spelunken zu lauschen und einen Matrosen von Bord zu holen. Einen Organisten kann man sich schnell genug verschreiben, in jeder Hafenstadt laufen genug stellenlose Kommis und sogar Schullehrer herum, die in so etwas perfekt sind.
»Du, August, da kannst du dein Glück machen,« hieß es, »wenn dich der Käpten nur gleich gehen läßt.«
»Ach, laßt mich zufrieden, das ist ja alles Unsinn!« entgegnete ich ärgerlich und drehte meine Winde weiter.
Nach einiger Zeit, während welcher zu meinem heimlichen Verdruß immer weiter von dem Kantor und Organisten geschwatzt wurde, kam wiederum der Steward vorüber.
»Ist denn der Herr noch da?« wurde er gefragt, aber nicht von mir.
»Nee, der ist schon lange fort. Der Käpten wollte ja Augusten nicht fortlassen, ein Jahr hätte er noch Kontrakt, und, damit basta.«
»Siehst du, August! Sprich nur gleich mit dem Käpten.«
»Ach, laßt mich in Ruhe!«
»Wahrhaftig!« beteuerte der Steward. »Wenigstens eine halbe Stunde hat der Herr mit dem Käpten über dich gesprochen, er wollte dich gleich mitnehmen, du wärst ein geborner Organist, der Käpten mußte alles haarklein über dich erzählen, und als er sagte, daß du in der Schule so dumm gewesen wärst, da — da ...« — jetzt fing der Steward plötzlich zu lachen an — »... da meinte der Herr, das schadete nichts, dann wärst du eben ein zweiter Alexander Humbug.«
Und lachend machte der Steward, der nichts weiter als Dummheiten im Kopf hatte, daß er fortkam, um die Bekanntschaft mit meinen Fäusten zu vermeiden.
Jetzt war die Sache fertig. Jetzt wußten auch die andern, daß der Steward nur einen Witz gemacht hatte, einen plumpen Matrosenwitz, dessen Entstehung man nur begreift, wenn man an Bord gelebt hat.
So geht's in der Welt! Ich selbst hatte mich dagegen gesträubt, und nun hatte ich den Schaden noch obendrein. Jetzt war ich wieder einmal der dumme August, über den sich alles amüsiert, und für die nächste Zeit würde ich wohl der Organist bleiben.
Aber es sollte ganz anders kommen.
Am andern Abend war ich wieder von der Freiwache. Verbissen schlich ich mich allein an Land, nur um dem Gespötte meiner Kameraden aus dem Wege zu gehen, die sich über den Kantor und Organisten immer noch nicht beruhigt hatten.
Das bunte Treiben um mich her im Scheine der farbigen Papierlaternen hatte mich wieder etwas erheitert, als quer über die Straße ein Mann auf mich zugesteuert kam — ein feiner, patenter Herr mit langem, schwarzem Vollbart, aber noch jung.
»Habe ich das Vergnügen, Herrn August Hammer zu sprechen?« redete er mich auf deutsch an, dabei sogar den Hut ziehend.
Ich gestehe, daß ich ob solcher Ehre errötete. »Jawohl, der bin ich.«
»Dürfte ich Sie bitten, mir eine kurze Unterredung zu gewähren? Vielleicht hier im nächsten Kaffeehaus?«
Das ist der, der mich als Organisten anmustern will! schoß es mir durch den Kopf — und dann verwarf ich solch einen dummen Gedanken gleich wieder.
»O ja, warum denn nicht?« entgegnete ich, aber ich ungeschliffener Bengel sprach damals noch alles das aus, was ich dachte.
»Wozu denn? Was wollen Sie denn von mir? Ich kenne Sie ja gar nicht!« mußte ich also noch hinzusetzen.
»Makart ist mein Name. Es dürfte sich vielleicht um Ihr Lebensglück handeln. Wollen Sie mich begleiten?«
Gut, ich ging mit in das Hotel, vor dessen Tor wir gerade standen. Der Salon war ganz leer. Der Herr suchte sich trotzdem die entlegenste Ecke aus. Gefragt, was ich zu trinken wünsche, bestellte ich Kaffee, der Herr desgleichen. Das Gewünschte war sofort da; der Kellner wollte sich noch an unserm Tische herumdrücken.
»Lassen Sie uns allein!!« erklang es gebieterisch, und der befrackte Geist verduftete.
»Sie sind Leichtmatrose auf dem Papenburger Vollschiff ›Katharine‹, nicht wahr, Herr Hammer?« begann der Fremde das Gespräch.
»Das bin ich, und Sie sind der Herr, welcher gestern mit meinem Kapitän über mich gesprochen hat, nicht wahr?« fragte ich dagegen.
Es war gerade kein Stutzen, mit welchem mich der Mann anblickte, aber ich merkte doch gleich, daß ich das Richtige getroffen hatte.
»Woher wissen Sie das?«
»Das ist meine Sache. Wollen Sie mir nicht meine Frage beantworten?«
Ja, wer mich für schüchtern hielt, weil ich für gewöhnlich sehr bescheiden und still und wortkarg war, der irrte sich grimmig in mir. Ich konnte auch ganz energisch auftreten, es mußte nur einmal eine Gelegenheit kommen.
»Nein, ich selbst war es nicht, der mit Herrn Kapitän Grohmann über Sie sprach, es war ein andrer, aber er handelte in meinem Auftrage. Doch nun bitte ich Sie dringend, mir zu sagen, woher Sie von jener Unterredung Kenntnis bekommen haben. Der Kapitän hat nämlich sein Ehrenwort gegeben, Ihnen von dieser Unterredung nichts zu sagen.«
Ah, dann allerdings mußte ich Farbe bekennen.
»Der Steward hat diese Unterredung belauscht.«
Der Fremde verzog keine Miene.
»Und was wollte der Steward erlauscht haben?«
»Es wäre ein Herr da, der mich als Organisten engagieren wollte.«
»Als ... Organisten?«
Er hatte zwischen den beiden Worten eine lange Pause gemacht, dabei nur eine überlegende Miene ziehend.
»Das dürfte wohl ein andres Gespräch gewesen sein, welches der indiskrete Steward belauscht hat,« sagte er dann.
»Jener Herr hätte zum Kapitän gemeint, ich wäre ein geborner Organist, der nicht mit Gold aufzuwiegen sei. Es ist möglich, daß mich vorgestern abend jemand in einer chinesischen Spelunke hat Harmonium spielen hören, aber wie da jemand, auf die Idee kommen kann, ich sei ein Organist, das ist mir selbst ...«
Ich kam mit dem Satze nicht zu Ende. Plötzlich brach der Herr, der trotz all seiner Höflichkeit bisher eine unerschütterliche Ruhe bewahrt hatte, in ein schallendes Gelächter aus.
Doch schnell hatte er sich wieder gefaßt.
»Ich bitte um Verzeihung! Hier waltet ein Irrtum ob. In der Tat, jener Herr, der mich vertreten hat, unterhielt sich mit Kapitän Grohmann auch über Organisten, es handelte sich um eine Lieferung von Harmoniums, die von geübten Klavierspielern begleitet werden soll ... never mind! Nein, als Organisten will ich Sie nicht engagieren.«
Ich atmete erleichtert auf. Diesen infamen Organisten war ich wenigstens los.
»Als was sonst?«
»Als Matrosen für meine Jacht.«
»Sie haben eine Jacht?«
»Ja, eine eigne Jacht, nur zu meinem Vergnügen! Hätten Sie Lust, daraufzugehen?«
Vor allen Dingen begann ich immer mehr ein Geheimnis zu wittern. Eigentlich lag auch ganz klar auf der Hand, daß ein solches hier vorhanden war. Warum hatte sich dieser oder ein andrer Herr so lange mit meinem Vormund über mich unterhalten? Warum hatte der Kapitän sein Ehrenwort gegeben, über diese Unterredung nichts gegen mich verlauten zu lassen? Was schlängelte dieser mir gänzlich unbekannte Herr sich so an mich heran?
Und nun noch etwas andres! Ich sagte: gänzlich unbekannte Herr. Dabei aber ging es mir fort und fort durch den Kopf: Gott, wo hast du diesen Mann nur schon einmal gesehen?! Erst neulich?! Und — ich weiß gar nicht, wie ich auf die verrückte Idee kam — dabei mußte ich fortwährend an jenen alten Chinesen mit dem merkwürdigen Blicke denken!
Jetzt aber galt es erst zu antworten und auf eigne Faust zu forschen.
»O ja, zu einer Jacht hätte ich schon Lust. Was für Heuer geben Sie?«
»Was bekommen Sie jetzt?«
»Vierzig Mark im Monat.«
»Als Leichtmatrose?«
»Als Leichtmatrose.«
»Und was bekommen Sie später als Vollmatrose?«
»Da ist die Heuer auf deutschen Segelschiffen sechzig Mark.«
»Ich würde Sie sofort als Vollmatrosen annehmen und Ihnen monatlich achtzig Mark geben.«
Jetzt aber mußte auch er endlich einmal Farbe bekennen oder ich spielte nicht mehr mit!
»Herr Makart, wie kommen Sie eigentlich dazu, mir solch ein Angebot zu machen, wo Sie mich doch gar nicht kennen?«
»Ja, das ist es eben! Ich sehe mir meine Leute an, ehe ich sie auf meine Jacht nehme, und Sie gefallen mir. Ich weiß, daß Sie der tüchtigste Seemann sind, und ich habe mir auch schon von Ihrem Vormund und Kapitän Auskunft über Sie geholt.«
Wenn man die Sache recht besieht, so war das doch gar keine Antwort auf meine Frage. Das Rätsel blieb bestehn, wie und wo mich der Fremde zuerst kennen gelernt hatte. Doch jetzt begann er zu fragen, und nun geschah etwas Wunderbares, was ich aber, damals gar nicht als solches erkannte, sondern erst lange Zeit später, als ich mich dieser Stunde wieder erinnerte.
Das Wunderbare lag nämlich darin, wie dieser Mann mich auszufragen verstand. Von meiner frühesten Jugend an mußte ich ihm alles erzählen ... nein, nicht erzählen, sondern er fragte, und ich mußte antworten ... nein, er fragte auch nicht, sondern er holte mich aus, er krempelte förmlich das Innerste meines Leibes und meiner Seele nach außen ... und das Merkwürdige dabei war, daß ich gar nicht merkte, wie er dies in Wirklichkeit tat.
Ich weiß nicht, ob man versteht, was ich hiermit sagen will. Mit andern Worten ausgedrückt: dieser Mann war ein Virtuose im Interviewen; denn das ist eine Kunst, welche gar nicht gelernt werden, eine Gabe, welche man nur weiter ausbilden kann. Das ist es, weshalb die zum Interviewen geeigneten Journalisten von den großen Zeitungen fürstliche Gehälter bekommen. Ein solcher Mann läßt sich mit einem Diplomaten in eine leichte, harmlose Unterhaltung ein, und ohne daß letzterer es nur ahnt, werden ihm durch scheinbar ganz unverfängliche Fragen die tiefsten Geheimnisse entlockt.
Ich war kein Diplomat, und ich hatte auch keine Geheimnisse zu bewahren — und dennoch, hier lag ein noch viel schwierigerer Fall vor! Dieser Mann wußte jedes Fältchen meines Herzens aufzudecken, ohne daß ich eine Ahnung davon hatte, daß er es tat. Das ist mir, wie gesagt, alles erst viel später zum Bewußtsein gekommen, und als ich diesen Mann näher kennen lernte, da war mein Staunen darüber, was der mit mir gemacht hatte, grenzenlos!
Kurz und gut, der Herr verstand zu plaudern, daß mir die Stunden wie im Fluge verstrichen. Er hatte mich in einen Zauberbann geschlagen, dessen ich aber gar nicht bewußt wurde. Seltsam war nur, wie ich mich dabei immer, anstatt hier in dem eleganten Hotelsalon, in der schmutzigen Chinesenspelunke wähnte und den hypnotischen Blick aus den Schlitzaugen des alten Chinesen auf mir ruhen fühlte.
Das zehnmalige Schlagen der Wanduhr ließ mich emporschrecken.
»Ich muß an Bord zurück!«
Der Herr rief den Kellner und bezahlte.
»Ja, wie ist es aber nun mit Ihrer Jacht? War das wirklich Ihr Ernst?«
»Gewiß, wenn Sie damit einverstanden sind, so steht dem nichts im Wege.«
Da fiel mir ein, daß ich ja gebunden war.
»Ach, ich habe ja noch ein Jahr Kontrakt!«
»Ich weiß es,« lächelte jener. »Aber das macht nichts. Ich habe schon mit Ihrem Kapitän und Vormund gesprochen. Gehn Sie jetzt an Bord; morgen früh komme ich auf die ›Katharine‹, da werden alle Förmlichkeiten erledigt.«
Was wir sonst noch sprachen, ist nicht von Bedeutung. Es waren nur Abschiedsworte. Herr Makart begleitete mich ein Stückchen und erst als wir die Hafenlichter schimmern sahen, verließ er mich mit einem Händedruck und einem ›Auf morgen!‹
Ich sollte nicht lange Zeit haben, über das Erlebte nachzudenken. Obgleich ich schon die ganze Welt umsegelt und viermal die Linie passiert hatte, war mein Leben bisher ohne jedes Abenteuer ruhig wie ein träger Strom dahingeflossen. Hier in Hongkong sollte er sich in einen wildschäumenden Katarakt verwandeln. Der Zauberblick eines Hexenmeisters hatte mein Schicksal beschworen.
Nur noch eine dunkle Gasse trennte mich von dem Quai, an welchem mein Schiff lag. Da plötzlich lösten sich aus dem Häuserschatten schwarze Gestalten ab und sprangen auf mich ein. Mit Blitzesschnelle ward mir ein Sack über den Kopf geworfen, und ehe ich noch einen Schrei hatte ausstoßen können, erhielt ich einen Schlag vor die Stirn, der mir sofort die Besinnung raubte.
»Das war ein Gummischlauch!« war mein letzter Gedanke gewesen.
Als ich wieder zu mir kam, befand ich mich in einem engen Schiffsraume und bereits in voller Fahrt, wie ich deutlich genug an den Bewegungen der Planken verspürte; schäumte doch auch an den runden Fensterchen das Meer.
Ich war nicht der einzige, ich hatte noch zwei Leidensgefährten, von denen der eine noch bewußtlos war. Beide hatten gestern nacht den Sack und den Hieb mit dem Gummischlauch über den Kopf bekommen.
Einer von ihnen war ein alter Matrose, welcher mir gleich erklären konnte, was mit uns geschehen war. Ich wußte es überhaupt selbst, ich erkannte es gleich aus dem hier herrschenden Trangeruch. Wir waren auf einen englischen oder amerikanischen Walfischfahrer gepreßt worden.
Wenn ein Schiff noch Matrosen braucht, und es sind für Geld und gute Worte keine zu bekommen, dann werden solche nächtlicherweile in den Straßen der Hafenstadt mit Gewalt ›gepreßt‹. Es ist gar nicht nötig, daß die eigne Besatzung des Schiffes auf Menschenraub ausgeht, dafür gibt es besondere Preßkompanien. Zumal die Engländer haben darin Großes geleistet.
Das heißt, das war früher so. Heute ist das nicht mehr möglich. Da würde der Kapitän bald beim Schlafittchen genommen und wegen Menschenraubs, mindestens wegen Freiheitsberaubung streng bestraft werden.
Nur bei einer Kategorie von Schiffen wird das Pressen noch heute betrieben: bei den Walfischjägern.
Über diese Walfischfahrer wird besonders in Jugendschriften viel gefabelt. Vor allen Dingen ist ganz wenig bekannt, daß es für jeden Seemann eine Schande ist, auf einem ›Trankocher‹ zu fahren. Jeder Walfischfänger hat nur seinen kleinen Stamm von Matrosen, die rohesten Gesellen, welche von der Geldgier dazu getrieben werden, sich jahrelang in dem entsetzlichsten Schmutze herumzusielen, bis sie sich endlich darin wohlfühlen. Bei dem Kapitän, den Steuerleuten und dem Harpunier ist das einfach Geschäftssache. Die übrige Mannschaft jedoch muß geworben werden, aber das brauchen gar keine Matrosen zu sein, es sind Arbeiter zum Tranauskochen — das Rudern bringt man ihnen schon bei — und so werden durch hohe Geldversprechungen Schuster, Schneider und Handschuhmacher angemustert.
Was kümmert sich die Aktiengesellschaft darum, ob diese armen Kerls schon in der ersten Woche über Bord springen oder nach und nach draufgehen? Um nun zu verhüten, daß jemand die Flucht ergreift, läuft das Schiff nicht eher wieder einen Hafen an, als bis es genug Wale erbeutet hat, um seinen Bauch mit Tran füllen zu können. Das dauert mindestens zwei Jahre, es können aber auch sechs Jahre daraus werden. Muß das Schiff inzwischen einmal Proviant einnehmen, so haben die Walfischjäger hierfür ihre besondern Stationen auf ganz einsamen Inseln, wo es kein Entweichen gibt. In jedem andern Hafen würde sofort die ganze Bande durchbrennen.
Verringert sich aber nun der Stamm der wirklichen Matrosen, und man bekommt auf gute Weise keine andern, welche zur Seetüchtigkeit des Schiffes unbedingt erforderlich sind, dann wird einfach gepreßt. Das Opfer, von dem man weiß, daß es ein wirklicher Matrose ist, der seinen Mann stellt, wird ausgesucht, und bei passender Gelegenheit bekommt er den Gummischlauch.
Was soll er tun? Wenn er nicht arbeiten will, wird er totgeprügelt, und Tote sind stumm. Über Bord springen und nach einem andern Schiffe schwimmen, das gerade vorübersegelt, das geht auch besser in gewissen Jugendschriften als in Wirklichkeit. Er arbeitet also. Dann nach Beendigung der erfolgreichen Jagdzeit erhält er seine hohe Heuer und seinen Anteil am Gewinn vorgezählt, und dabei ist nämlich wirklich etwas zu verdienen! Da hat schon mancher Matrose nach drei Jahren bare zehntausend Mark auf ein Brett bezahlt bekommen. Na, und wo ist denn der Matrose, der da nicht zugreift? Die Leidenszeit ist doch auch vorüber — und nach Annahme seines Lohnes hat er das Recht verloren, sich vor Gericht zu beklagen. —
Wir drei kamen vor den Kapitän, einen Novascotiaman, den rohesten der rohen Seeleute.
Jungens, seid vernünftig — Not kennt kein Gebot — friß, Vogel, oder stirb!
Das war der kurze Inhalt seiner Rede.
Ich fraß. Das heißt, ich fügte mich und arbeitete. Anstatt auf eine Jacht zu gehen, ging ich mit einem amerikanischen Trankocher, der in Hongkong seine Ladung verkauft und neuen Proviant eingenommen hatte, nach dem Südpol, um Potwale zu jagen.
Was ich sonst dachte, dabei will ich mich nicht aufhalten, und das um so weniger, weil ich noch nicht einmal ganze vier Tage professioneller Walfischjäger war.
Am vierten Tage — wir befanden uns noch in der Fukianstraße, welche vom chinesischen Festland und der Insel Formosa gebildet wird — schlug ich mit einem Eimer außenbords Wasser auf, es herrschte eine starke Strömung — der Eimer riß mich mit hinab.
Es geschah wahrhaftig nicht mit Absicht. Hier, wo es von Haifischen wimmelt, springt niemand so leicht über Bord. Ich schrie vielmehr aus vollem Halse um Hilfe. Mein Sturz war an Deck nicht bemerkt worden, ich wurde nicht gehört, das Schiff segelte weiter.
Die Haifische ließen nicht lange auf sich warten. Am besten schützt man sich gegen diese Bestien durch Strampeln, und ich strampelte mit Armen und Beinen, wie nie wieder in meinem Leben.
Nach zwei Stunden näherte sich mir eine chinesische Dschonke, die mich auffischte. Trotzdem das Dutzend Zopfträger rechte Gaunergesichter hatte, was jedem ehrlichen Menschen gleich auffallen mußte, waren es brave Leute. Sie speisten mich und tränkten mich und kauderwelschten auf mich ein, wovon ich leider nichts verstand, bis sich endlich einer, der nur noch ein Auge, ein Ohr und im Munde nur noch einen Zahn hatte, erinnerte, daß er einige Brocken Englisch verstände. Ich antwortete, was die braven Leute wissen wollten — aber wohin sie mit ihrer Dschonke wollten, das erfuhr ich nicht.
Übrigens mußten sie sich beeilen, mit ihrem gebrechlichen Fahrzeug, für welches das Wort ›Schiff‹ wie ein Hohn wirkt, einen sichern Hafen anzulaufen, denn am Horizonte stieg es unheimlich schwarz auf.
Es war nicht schwer, hier irgendwo einen Zufluchtsort zu finden, denn wir befanden uns mitten in der Gruppe der Pescadoresinseln, welche die Fukianstraße ganz ausfüllen, und solch eine flach gebaute Dschonke kann überall zwischen den Klippen hindurch, welche die Passage sonst für größere Fahrzeuge unmöglich machen.
Nach einer Stunde steuerten wir denn auch mit geschwelltem Bastsegel auf eine Felseninsel zu, kamen aber nicht weiter als eine halbe Meile heran, denn da trat plötzlich völlige Windstille ein — die Windstille vor dem Sturme.
Ich brauchte nicht lange darüber nachzudenken, was die zerbrechliche Dschonke hier zwischen den Klippen bei einem ausbrechenden Sturme beginnen würde — mit einem Male tauchten hinter den Felsen zwei, drei, vier Prauen auf und ruderten mit Hast auf uns zu.
Erst dachte ich, es wären chinesische Piraten, die nur in solchen Ruderbooten angreifen; aber ich hatte mich geirrt. Die vier Prauen spannten sich ganz friedlich vor die Dschonke und schleppten sie in eine sichere Bucht.
Hier lagen nicht nur noch andre Dschonken und eine Menge Prauen, sondern auf dem felsigen Strande entwickelte sich auch ein recht hübsches Lagerleben mit Frauen und Kindern und Katzen und Hunden, und aus dem zerklüfteten Innern des Eilandes kamen immer mehr Familien hervorspaziert, um die neue Dschonke willkommen zu heißen. Auch ich wurde ein Mittelpunkt des allgemeinen Interesses, meinetwegen entspann sich eine heftige Debatte.
Was ich nicht vom Gespräch verstand, das konnte ich mir aus Gesten deuten. Es handelte sich darum, ob ich als Gast auf der Insel bliebe oder ob man mich lieber vom Leben zum Tode befördern sollte. Der eine Chinese setzte schon mehrmals an, mir mit seinem krummen Sensenschwerte den Kopf zu spalten. Er wurde daran verhindert; aber ich wurde an Händen und Füßen gebunden, und weil ich mir das nicht gleich gefallen lassen wollte, bekam ich einen Faustschlag ins Gesicht, daß mir das Blut gleich aus Mund und Nase floß.
Nun ist wohl niemand mehr darüber im unklaren, wohin ich geraten war. Vom Regen in die Traufe! In die Gesellschaft von chinesischen Piraten, die hier auf dieser unzugänglichen Felseninsel ihren Schlupfwinkel hatten, und meine braven Lebensretter gehörten mit zu ihnen! Sie waren mit reicher Beute heimgekehrt.
Zunächst freilich war ich wirklich froh, auf der Pirateninsel eine Zuflucht gefunden zu haben, wenn man mich auch schmerzhaft gebunden in eine Höhle auf den nackten Boden warf; denn bald brach ein Taifun los, gegen den mehrere Orkane im Atlantischen Ozean und zwei Hurrikans in den Westindischen Gewässern, die ich bereits erlebt hatte, alle zusammengenommen eine Kleinigkeit gewesen waren. Und dabei befand ich mich auf festem Lande, noch dazu auf einer ziemlich flachen Felseninsel, wo der Sturm gar keinen Widerstand fand! Was mochte da erst ein Schiff auf offner See auszustehn haben!!
Doch ich muß noch erwähnen, was die Chinesen mit ihren Dschonken begannen, um sie vor dem drohenden Taifun zu schützen. Es kommt mir nämlich dabei für einen spätern Zweck hauptsächlich darauf an, die Bauart dieser chinesischen Fahrzeuge zu schildern.
Die Prauen wurden an Land gezogen und zwischen Felsen geborgen. Das war sehr einfach. Die Dschonken aber wurden auseinandergeschlagen und die einzelnen Balken und Bretter ebenfalls in Sicherheit gebracht. Später, als der Taifun vorüber war, holte man die Balken und Bretter wieder hervor, nagelte sie zusammen oder befestigte sie auch nur durch Klammern miteinander, sogar nur mit Stricken, stopfte ein bißchen Werg in die Fugen und schmierte Pech nach — und es dauerte kaum eine Stunde, so war solch ein Seefahrzeug schon wieder fix und fertig!
Das charakterisiert nämlich die chinesische Handelsschiffahrt. Der Bau dieser Dschonken geschieht nach gesetzlicher Vorschrift. Ein festeres Gefüge dürfen sie nicht haben!
Weswegen nicht? Das hängt eng mit der chinesischen Mauer zusammen. China will und wollte sich seit alters von aller Welt abschließen, und da gestattete das konservative Gesetz auch nur den Bau solcher Dschonken, auf denen es unmöglich ist, größere Reisen über die hohe See zu machen. Die Söhne des himmlischen Reiches sollen im Lande bleiben und sich redlich von Reis und Fischen nähren, sie mögen Küstenschiffahrt treiben und von Insel zu Insel fahren, aber sie sollen mit ihren Schiffen nicht hinaus in die Welt gehn.
Das ist der Grund, warum die Dschonken heute noch geradeso aussehen, wie vielleicht vor Tausenden von Jahren. Solch eine Dschonke gleicht von außen einem halbfertigen Dachgerippe; überall sehen die Balken hervor, und man hat immer Angst, daß es jeden Augenblick aus dem Leime gehn kann. —
Ich will nicht des längern bei dem verweilen, was ich auf der Pirateninsel beobachtete und erlebte. Ich erwähne nur die Hauptsachen.
Als sich ein Mensch wieder im Freien aufrecht halten konnte, wurden meine Fesseln gelöst, aber nur, um einen starken Eisenring um mein rechtes Fußgelenk zu schmieden, was ein Chinese äußerst geschickt machte, ohne mich im geringsten zu verletzen. Dann wurde noch eine Kette darangeschmiedet, und so wurde ich wie ein Hund vor eine Höhle gelegt, die mir als Wohnung diente.
Hier lag ich einige Tage, ohne sonst über etwas zu klagen zu haben. Die Kette war nicht schwer, gestattete mir wenigstens zehn Schritte im Freien auf und ab zu gehen und hinderte mich nicht beim Liegen. Die Höhle war an sich trocken und der Boden mit Binsenmatten belegt. Als Kost erhielt ich reichlich Reis und Fische. Als mich im Anfang Frauen und Kinder sehr mit ihrer Neugier belästigten, wurden sie von ihren bezopften Männern mit Stockhieben davongetrieben.
Was hatte man mit mir vor? Ich sollte es bald erfahren.
Am dritten Tage nach jener Sturmnacht, als die See schon ziemlich wieder geglättet war, kamen zwei Chinesen eiligst angelaufen, banden mich los, aber ohne mich von der Kette selbst zu befreien, und trieben mich nach der Hafenbucht, welche ich von meiner Hundehütte aus ebensowenig sehen konnte wie das eigentliche Lager der Piraten.
An und auf der Bucht herrschte aufgeregtes Leben. Die meisten Prauen waren im Wasser und mit bezopften Ruderern bemannt, welche Dolche und vorsündflutliche Pistolen im Gürtel hatten, ich sah auch alte Luntenflinten, Schwerter und Äxte, ferner standen in jedem Boote Körbe mit tönernen Gefäßen.
Man bedeutete mir, in das größte Boot zu steigen, kettete mich an meinem Sitze fest, drückte mir ein Ruder in die Hand, und fort ging es; unser größtes Boot voran, fünf Prauen folgten, im Ganzen mit vielleicht 60 Chinesen bemannt.
Ich ruderte aus Leibeskräften. Was sollte ich auch anders tun? Nur der Probe halber stellte ich einmal das Rudern ein — und gleich hielt mir der Bootssteurer, dem ich gegenübersaß, mit drohender Gebärde seinen Dolch unter die Nase.
Rufe wurden laut, die Ruderer wendeten die Köpfe, ich tat's auch, und da sah ich sie — eine unglückliche Dschonke, die trotz des kräftigen Windes mit ihrem Bastsegel wie eine Schnecke dahinkroch.
Ich kann nicht viel von dem Kampfe erzählen. Dennoch war es gräßlich — eben weil es gar nicht zum Kampfe kam.
Die wenigen Chinesen der Dschonke rannten an Deck hin und her. Ich hörte sie schnattern. Dann wurde es ganz still, und wie ich mich wieder einmal umdrehte, sah ich sie alle auf den Knien liegen, die Hände auf dem Rücken, den Kopf vorgebeugt, als erwarteten sie schon den Todesstreich, der ihnen den Kopf vom Rumpfe trennte.
Und so kam es denn auch sehr bald. Das hatten sie beim Anblick der sechs Prauen gewußt, und da fügten sie sich ohne weiteres in ihr Schicksal. Ländlich, sittlich!
Der Steuerer meines Bootes war offenbar der Anführer der Bande. Er kletterte an Bord. Einige Piraten folgten, und gleich darauf flogen erst acht Köpfe und dann acht Rümpfe ins Wasser.
Die Dschonke wurde von den Piraten ins Schlepptau genommen und nach der Bucht bugsiert. Sie enthielt nur Steinkohlen, vielleicht 100 Tonnen, also etwa 2000 Mark an Wert, aber die Piraten schienen doch recht vergnügt über ihre Beute zu sein. Vielleicht hatten sie auch noch Geld gefunden.
Während, soweit ich beurteilen konnte, sämtliche Männer der Insel heranmußten, um die Dschonke sofort auszuladen, und unter der Last der Kohlensäcke nicht schlecht schwitzten, wurde ich wieder vor meiner Höhle angekettet, erhielt reichlich zu essen, konnte mich auf meinem Lager ausstrecken und zusehen, wie die Arbeiter an mir vorüberkeuchten.
Warum wurde ich so geschont oder doch nur zum Rudern verwandt? Was hatte man mit mir vor?
Ich hatte zwei Tage Zeit, um über dieses Rätsel und meine Zukunft nachzugrübeln, als abermals das Piratenlager in Aufregung kam, weil der Wachtposten von seinem erhöhten Standpunkte aus einen neuen Raub erspäht hatte.
Wieder wurde ich losgelöst und zum Rudern an einen Sitz des führenden Bootes angekettet. Diesmal war es eine bedeutend größere Dschonke, und es war auch eine ganz andre Besatzung darauf, freilich ebenfalls Chinesen, von deren Mut ich niemals eine große Meinung gehabt habe.
Sie wehrten sich und schossen ihre Luntenflinten ab. Manchem Piraten entfiel das Ruder, aber die Prauen kamen heran, sie wollten die Dschonke entern.
Anstatt jedoch nun zu Säbel und Pistole zu greifen, bewaffnete sich die Mannschaft der Dschonke mit langen Bambusstangen, und das hatte seinen guten Grund.
Ich habe schon die Binsenkörbe erwähnt, die die Piraten auch diesmal mitgenommen hatten. Aus diesen kamen kopfgroße, irdene Kugeln zum Vorschein, die man wie Handgranaten an Bord der Dschonke zu schleudern versuchte.
Diese schon in den Händen der Werfenden zu zerschlagen, war der Zweck der langen Bambusstangen; denn die Urnen waren nichts andres als die übelberüchtigten Stinktöpfe.
Auf einer Prau neben mir wurde solch ein Stinktopf glücklich zerbrochen, wir hatten den Wind vor uns und bekamen daher nur ein gelindes Düftchen zu riechen, aber es genügte, um mir den Atem dermaßen zu versetzen, daß ich zu ersticken drohte, ganz abgesehen von der nachfolgenden Übelkeit. Die in der betreffenden Prau sitzenden Piraten schlugen sofort die Hände vors Gesicht und stürzten sich kopfüber ins Meer.
Der Inhalt dieser Stinktöpfe ist ein streng bewahrtes Geheimnis der chinesischen Piraten — der Piraten, nicht etwa aller Chinesen — und hieraus ersieht man auch, wie diese chinesischen Seeräuber eine besondre Kaste bilden müssen. Unsre heutige Chemie weiß, daß der wirksame Bestandteil dieses Stinktopfes Kakodyl ist, übrigens auch ein sehr giftiges Gas, aber unaufgeklärt ist noch, wie diese barbarischen Menschen scheinbar ohne alle Hilfsmittel diese chemische Verbindung in beliebiger Menge erzeugen, und zwar erst innerhalb der schon geschlossenen Tonkugeln.
Ein wohlgezielter Stinktopf zerplatzte endlich an Deck der Dschonke, und da war der merkwürdige Kampf beendet. Nur wenigen gelang es noch, die Bordwand zu erreichen und sich ins Meer zu stürzen. Sie wollten lieber eine Beute der Haifische werden, als diesen gräßlichen Gestank einatmen müssen — die meisten kamen gar nicht so weit, sie stürzten hin und blieben betäubt liegen.
Die Piraten warteten einige Zeit, dann erkletterten sie das Deck, und wieder wanderten Köpfe und Rümpfe über Bord, wie man auch den schon ins Wasser Gesprungnen den Garaus gemacht hatte.
Die große Dschonke war voll mit Opium beladen, und dieses ist ein gar kostbarer Artikel. Anstatt aber nun hierüber Freude zu zeigen, schienen die Piraten über diese Art Beute äußerst ärgerlich zu sein, sie machten ihrem Unmut noch einmal an den Leichen in schändlicher Weise Luft, indem sie nach ihnen stachen und schlugen.
Wie kam das? Konnten sie denn das kostbare Opium nicht wieder verkaufen? Sie mußten doch eine Absatzquelle für ihre Beute haben! Merkwürdig war es schon, daß diese Chinesen, doch sicher der Abschaum ihrer Heimat, gar nicht dem Opiumgenuß frönten. Überhaupt, es herrschte eine Manneszucht unter ihnen, die ich nimmermehr zwischen solchen Seeräubern erwartet hätte. Ich hatte schon genug Erzählungen gelesen, welche von chinesischen Piraten handelten, und zwar nicht nur Phantasien, sondern sachliche Berichte, so z. B. den des Engländers Oliver Harrow, der neun Jahre von chinesischen Seeräubern gefangen gehalten wurde, und bei denen war es ganz anders zugegangen, das war eben ein rohes, wüstes Gesindel gewesen, vor allen Dingen auch dem Opiumgenusse ergeben.
Ich wurde wieder vor meiner Hundehütte angekettet. Die Piraten luden die schweren Opiumkisten aus und bargen sie in einer geräumigen Höhle, die dicht neben der meinen lag. So sah ich, wie jede Kiste plombiert war und wie ein Chinese gewissenhaft jede einzelne notierte.
Wieder einige Tage später — die Zeitrechnung hatte ich schon verloren — wurde das Piratenlager abermals sehr aufgeregt, ich blickte ebenfalls auf das Meer hinaus, wohin sie alle schauten, und sah erst eine Rauchwolke aufsteigen und dann ein Fahrzeug auftauchen, das ich beim Näherkommen als einen jener kleinen, aus starken Eisenplatten gebauten Dampfer erkannte, die man ›Norweger‹ nennt. Denn die Norweger haben von allen seefahrenden Nationen die kleinsten Überseedampfer, weshalb diese außerordentlich stark gebaut sein müssen, um jeden Seegang bestehen zu können. Es ist dies durchaus nicht zweckmäßig, denn je kleiner die Schiffsverhältnisse, desto kostspieliger — aber die Norweger bevorzugen nun einmal solche kleine Dampfer.
Das Fahrzeug hielt auf die Insel zu. Schon dachte ich, es könnte ein chinesisches Kriegsschiff sein, das auf Piraten jagte; aber als ich das Betragen der letzteren beobachtete, und als der Dampfer nun gar Flaggensignale zeigte, welche auf der Insel jedenfalls erwidert wurden, konnte ich nicht mehr im unklaren sein, und ich wunderte mich nur, wie geregelt die Geschäftsverbindungen dieser chinesischen Seeräuber waren.
Das war einfach ein Handelsdampfer, der jetzt von Insel zu Insel fuhr und den Piraten ihre Beute abkaufte, und es hätte mich gar nicht gewundert, wenn auf dem Handelsdampfer, mochte er unter irgend einer Flagge segeln, englische Besatzung und ein englischer Kaufmann gewesen wären.
Ich sollte mich aber doch sehr getäuscht haben. Meine schon sehr merkwürdigen Vermutungen wurden noch weit übertroffen.
Die Piraten machten offenbar alles zu einem feierlichen Empfange bereit, und der Dampfer, dessen Rauch bei der völligen Windstille kerzengerade in die Luft stieg, verschwand hinter jenem Felsen, hinter welchem die Bucht lag, und dorthin strömten auch die Inselbewohner, aber nur Männer.
Bald kamen sie zurück. Meine ›Freunde‹ kannte ich nun schon so ziemlich alle, jetzt waren Fremde bei ihnen, und zwar meist Japaner, wie ich sofort feststellte.
Das allgemeine Interesse galt zuerst meiner Person, und ich fand bald heraus, daß ich hier nicht bloße Handelsleute vor mir haben konnte, welche den Piraten die Beute abkaufen wollten.
Ein untersetzter Japaner, welcher sich von den andern zwar nicht durch seine Kleidung unterschied, wohl aber durch sein ganzes Auftreten und nicht zum mindesten durch seine intelligenten, sogar Geist verratenden Züge — ich will ihn den Kapitän nennen, und er war auch der von dem kleinen Dampfer — ließ sich von einem alten Chinesen, den ich schon gewissermaßen als Geschäftsführer der Insel kennen gelernt hatte, Bericht über mich erstatten.
Aufmerksam hörte der Kapitän zu, die klugen Augen immer forschend auf mich geheftet.
Dann sprach er zu dem Chinesen, hierauf wandte er sich an mich. Nachdem er mich in seiner Sprache angeredet hatte, worauf ich nur ein Kopfschütteln hatte, fragte er mich in reinstem Englisch: »Was für ein Landsmann bist du?«
»Ein Deutscher.«
»Wie bist du hierher auf diese Insel gekommen?« begann da der Japaner plötzlich im geläufigsten Deutsch.
Ich war nicht wenig überrascht; doch ich dachte daran, daß sich jetzt mein Schicksal entscheiden würde, denn dieser Japaner hatte hier offenbar zu befehlen, man hatte nur seine Ankunft erwartet, um über mich zu Gericht zu sitzen. Bis dahin hatte man mich gut gepflegt und nur zum Rudern verwandt, aber mein Leben schonte man nicht; denn konnte ich nicht bereits von einer feindlichen Kugel getroffen worden sein?
Ich sagte kurz, daß ich über Bord gestürzt sei und von einer Dschonke aufgenommen wurde.
»Bist du hier gut behandelt worden?«
»Ja.«
»Hast du immer reichlich zu essen bekommen?«
»Ja.«
»Du hast rudern müssen. Hast du dich sonst über etwas zu beklagen?«
»Nein.«
»Dieser Mann hat dich doch mit dem Tode bedroht.«
Er deutete dabei auf jenen Chinesen, welcher Lust gezeigt hatte, mir mit seinem Schwerte den Kopf zu spalten.
Der Betreffende stand jetzt wie ein armer Sünder da; überhaupt herrschte unter den Piraten eine rechte Niedergeschlagenheit.
Ich bejahte die Frage.
»Dann bist du gebunden worden.«
»Ja.«
»Aber sonst ist dir nichts weiter widerfahren?«
»Man hat mich geschlagen.«
»Geschlagen? Wer?«
Ich kannte den Mann noch recht gut. »Der dort!«
Der Japaner wandte sich an den Bezeichneten, und stellte ihn jedenfalls zur Rede. Der Mann verteidigte sich, mochte sagen, es sei nicht wahr, andre ergriffen jedoch das Wort, und der Betreffende wurde überführt.
»Dieser Mann hat dich so geschlagen, daß dir das Blut aus Mund und Nase sprang?« wandte sich der Japaner auf deutsch wieder an mich.
»Ja.«
»Gut. Weißt du, wo du hier bist?«
»Auf einer Pirateninsel.«
»Hast du schon vom gelben Drachen gehört?«
»Nein.«
»Wir sind keine Seeräuber, sondern gehören zum Bunde des gelben Drachen, welcher gegen das jetzige China Krieg führt, und du sollst Zeuge werden, wie der gelbe Drache seine Gesetze handhabt. Der Mann, welcher dein Leben bedrohte, und der Mann, welcher dich schlug — sie sind beide des Todes!«
Mit diesen Worten zog er aus seinem Gürtel einen sehr langen, zweischneidigen Dolch und reichte ihn jenem zuerst genannten Chinesen, aber ohne zu ihm sonst noch etwas zu sagen.
Ich wurde nun Zeuge einer ebenso gräßlichen wie merkwürdigen Szene, ja, es lag sogar etwas furchtbar Gewaltiges darin.
Nur zögernd nahm der Chinese den gereichten Dolch; sein gelbes Gesicht wurde fahl wie Wachs, er begann zu zittern.
»Sieh den Feigling, wie er zittert!« sagte der Kapitän mit grenzenloser Verachtung, und zwar auf deutsch, also für mich bestimmt. »Er braucht erst ein Beispiel, um zu sehen, wie gehorsam ein Sohn des gelben Drachen stirbt.«
Er nahm jenem den Dolch wieder ab und winkte mit dem Finger nach rückwärts.
»Kanimo, Harakiri!«
Ein blutjunger, zierlicher, bildhübscher Japaner trat vor, legte seine rechte Hand auf den Kopf, was ich bei Chinesen und Japanern schon wiederholt als Zeichen des Gehorsams gesehen hatte, nahm aus des Kapitäns Hand den langen Dolch, ein funkelnder Blitz ... und er hatte sich den zweischneidigen Stahl in den Unterleib gestoßen. Ich sah ganz deutlich, wie er mit Absicht das jedenfalls haarscharfe Messer auch noch so weit als möglich nach oben zog, bis er sich den Leib ganz geöffnet hatte.
Einen Augenblick stand er so da — die zerschnittenen Eingeweide quollen ihm aus der fürchterlichen Wunde — dann stürzte er steif, wie er gestanden, rücklings zu Boden und blieb so liegen. Er war sofort tot.
Die Chinesen werden von uns verlacht, weil sie behaupten, der Mensch habe sein Herz im Unterleib, aber sie sagen überhaupt gar nicht ›Herz‹, sondern ›Seele‹ und damit meinen sie das Leben. Ja, vielleicht haben sie gar nicht so unrecht. Erst unsre neueren Anatomen haben entdeckt, daß der Unterleib der Sitz eines Zentralsystems von den feinsten Nerven ist, und davon kann jeder erzählen, der schon einmal einen Stoß in den Magen bekommen hat. Solch ein Stoß an die richtige Stelle des Unterleibs lähmt sofort alle Herz- und Lungentätigkeit, was durchaus nicht der Fall ist, wenn ein weit stärkerer Stoß den Kopf, oder die Herzgegend trifft.
Daher ist es auch erklärlich, wie den vornehmen Japaner das Harakiri, das Bauchaufschlitzen, gelehrt werden kann, falls er zur Wiederherstellung seiner Ehre diese Manipulation einmal ausführen muß. In Praxis kann ihm das wohl schwerlich beigebracht werden. Nein, es wird ihm nur anatomisch erläutert, wo er den Sitz des Lebens hat, und wie er das Messer führen muß, um jene Nervenzentrale zu durchschneiden.
Geschieht dies, so tritt der Tod jedenfalls augenblicklich ein.
Mir aber ging die furchtbare Gewißheit auf, daß ich soeben Zeuge eines Gehorsams geworden war, von dem wir Europäer gar keine Ahnung haben. Der japanische Jüngling war sicher ganz unschuldig gewesen, hatte nichts durch seinen Tod zu sühnen gehabt — sein Kapitän brauchte nur ein Beispiel, um zu zeigen, wie ein mutiger Mann stirbt, und er winkte dem ersten besten aus seinem Gefolge — ›Kanimo, Harakiri!‹ — und der gerufene Kanimo trat vor und schlitzte sich den Leib auf, ohne ein Wort verloren zu haben!
Ich war entsetzt. Weniger durch das blutige Schauspiel als durch jenen Gedanken, wie ein Mensch für nichts und wieder nichts so gehorsam in den Tod gehen kann! Das, was dann folgte, berührte mich gar nicht mehr.
Mit einem gellenden Schrei sprang der Chinese, der mich unrechtmäßig hatte köpfen wollen, auf den Toten zu, riß ihm das Harakiri-Messer aus den rauchenden Eingeweiden und stieß es sich in die eignen.
Weiter kam er nicht. Brüllend wälzte er sich in seinem Blute am Boden. Der japanische Kapitän erwies ihm den Liebesdienst, bückte sich kaltblütig, packte den aus dem Leibe hervorstehenden Griff des Messers und vollendete das Geschäft des Bauchaufschlitzens. Sofort lag der Mann mit entglasten Augen regungslos da.
»Nun du!«
Etwas andres mochte der Japaner wohl nicht zu dem Chinesen gesagt haben, der mich ins Gesicht geschlagen hatte, als er jetzt diesem das Messer gab, und der hatte den Kunstgriff besser abgesehen, er brauchte keine fremde Hilfe — drei Menschen lagen mit aufgeschlitzten Leibern da.
Eben wollte sich der Kapitän wieder an mich wenden, als ein Signal ertönte, welches ich nun bereits zweimal gehört hatte: eine Beute war in Sicht. Das war hier die Hauptsache, und soviel ich noch sehen konnte, trieb der japanische Kapitän die chinesischen Piraten zur Eile an und erklomm dann einen Hügel.
Seine Anwesenheit und alles das, was ich soeben erlebt hatte, schien an meiner Bestimmung nichts zu ändern. Ich wurde losgekettet und nach dem Hafen getrieben, wo man die Prauen ins Wasser schob. Wie immer mußte ich in das größte und führende Boot steigen — aber diesmal nicht um zu rudern, sondern der Bootssteurer und zugleich der Piratenführer forderte mich durch eine Handbewegung auf, mich neben ihn zu setzen, und schloß mich an diesem Sitze an.
Etwas hatte das Kommen des japanischen Dampfers an meinem Schicksale also doch geändert: ich brauchte nicht mehr zu rudern.
Aber wozu nur mußte ich überhaupt in einem der zum Kampfe ausrückenden Boote mitkommen? Mir ging schon eine Ahnung auf, daß es sich hier um einen Aberglauben handelte, ich mußte so etwa die Rolle eines Schutzpatrons spielen.
Wieder steuerten die sechs Prauen auf eine unglückliche Dschonke zu. Es war soeben Windstille eingetreten; die langbezopften Matrosen, die ich schon erkennen konnte, waren gerade dabei, das zerrissene Bastsegel herabzulassen, um es auszubessern, als sie die sechs Prauen angerudert kommen sahen.
Sofort ließen sie von ihrer Arbeit ab, liefen schnatternd wie eine aufgescheuchte Herde Gänse an Deck durcheinander, und nun wußte ich schon, wie alles kommen würde: Das war wieder solch eine Dschonke, deren Besatzung sich gar nicht erst auf einen Verteidigungskampf einließ. Die Piraten sehen und sich in ihr Schicksal ergeben, das war bei denen eins.
Richtig, unser erstes Boot war wohl noch hundert Meter von der Dschonke entfernt, als dort drüben alle Köpfe hinter der hohen Bordwand verschwanden. Jetzt also knieten die Feiglinge schon nieder und hielten, die Hände auf dem Rücken, den Kopf hin, um ihn sich abschlagen zu lassen.
Wir näherten uns wie immer der Beute, ein Boot dicht hinter dem andern, so eine langgestreckte Reihe bildend.
Da plötzlich flammte es an der Bordwand der Dschonke auf! Ein scharfer Knall folgte. Ich hatte gerade nach der hintersten Prau geblickt, und diese mußte von dem Geschoß getroffen worden sein. Die Ruderer sprangen auf und griffen nach den Schöpfeimern. Es mußte also eine größere Kugel gewesen sein, welche die dünnen Planken des Bootes unter der Wasserlinie durchlocht hatte ... aber ich hatte nur einen einzigen Augenblick Zeit, solche Betrachtungen anzustellen, denn fort und fort zuckten aus der Bordwand der Dschonke die Feuerstrahlen hervor, jeder von einem schmetternden Krachen begleitet, das aber eher an den scharfen Knall eines Revolvers erinnerte, als an das rollende Dröhnen eines Kanonenschusses, und jedesmal hörte ich über meinem Kopfe das Heulen eines Geschosses. Ich sah die Prauen hinter mir versinken. Und da war auch unser Boot getroffen worden! Wie ein Fontäne schoß das Wasser vorn und seitlich herein, und ein Pirat stürzte vom Sitz, sein Schenkel mußte schrecklich zerrissen sein, denn das Blut floß in Strömen.
Von lähmendem Entsetzen gepackt, ließen die Chinesen die Ruder sinken. Das alles hatte sich ja in viel kürzerer Zeit abgespielt, als sich hier erzählen läßt. Sie dachten gar nicht mehr daran, das Boot leerzuschöpfen.
Nur unser Steuermann behielt seine Besinnung. Ich sah, wie seine Augen starr auf mich gerichtet waren, und ich wußte schon alles, was er beabsichtigte, was er dachte, noch ehe er mit einem wilden Schrei aufsprang und seinen Dolch aus dem Gürtel riß — hier lag Zauberei vor, und an dieser mußte ich, der weiße Teufel, wie die Chinesen jeden Europäer nennen, schuld sein! — aber ich hatte keine Lust, mich abschlachten zu lassen, und ich war schneller als er. Plötzlich hatte ich eine Ruderstange in beiden Händen und ließ sie jenem auf den Schädel niederschmettern, daß es klang, als wenn ein irdener Topf berste.
Dann umspülte mich das Wasser — erst den Unterleib, dann die Brust, dann verlor ich den Boden unter den Füßen, ich mußte schwimmen. Die Prau war gesunken.
Es ist seltsam — aber gerade in dergleichen Augenblicken, wenn es sich um Leben und Tod handelt, hat man solche Gedanken — ich wunderte mich, daß mich das sinkende Boot nicht mit herabzog, denn ich war doch durch eine Kette mit ihm verbunden.
Dem war eben nicht so! Ohne es zu wissen, war ich, um den Schlag zu führen, mit Vehemenz aufgesprungen und hatte dabei den hölzernen Sitz losgerissen, an dem meine Kette befestigt war.
Diese selbst war nicht schwer genug, um mich hinabzuziehen, und sie wurde ja auch am andern Ende von dem Holzbrette getragen. Jedenfalls konnte ich mich über Wasser halten. In solchen Situationen fehlt die Zeitberechnung. Wie lange ich schwamm, weiß ich nicht, auch nicht, was mir plötzlich die Besinnung raubte. Ich glaube, daß ich einen Schlag gegen die Schläfe bekommen habe, vielleicht vom Fuße eines schwimmenden Chinesen.
Lange kann ich im Wasser nicht bewußtlos gewesen sein, sonst wäre ich ertrunken, und während dieser kurzen Zeit bin ich von rettenden Händen aufgefischt und an Bord der Dschonke gehievt worden.
»He jüh, das ist ja ein ganz gewöhnlicher Europäer!!«
Das waren die ersten Worte, welche ich vernahm, auf deutsch gerufen, und man darf wohl glauben, daß sie mir wie Engelsmusik in die Ohren klangen, und als ich die Augen aufschlug, da sah ich, daß dieser deutschsprechende Engel wie ein Chinese gekleidet war und im Gesicht eine ungeheure Nase hatte — ein Monstrum von einer Nase, wie ich einer solchen noch niemals begegnet war — ich hatte überhaupt für gar nichts weiter Interesse, ich staunte nur immer diese ungeheuerliche Nase an, und dann bewunderte ich auch die kleinen, vergnügt blinzelnden Schweinsaugen und nicht minder die gewaltigen Elefantenohren, welche bei jedem Worte jenem phänomenalen Riechorgane Kühlung zufächelten.
»Das ist doch der ... der ... der Organist!?« hörte ich da eine andre Stimme gleichfalls auf deutsch im höchsten Staunen rufen. »Wahrhaftig, der Organist!!«
Was soll man nun dazu sagen? Man versetze sich nur in meine Lage. Hier auf der chinesischen Dschonke, die ich als Gefangener von chinesischen Piraten mit angreifen muß, werde ich gleich wieder der Organist genannt!
Der diese Worte gerufen hatte, war ein echter Chinese, was ich von dem größten Teile der übrigen Mannschaft nicht behaupten konnte. Warum soll es unter den Chinesen nicht auch schöne Männer geben? Dieser hier war ein solcher. Wohl waren es die wachsgelben Züge eines schlitzäugigen Mongolen mit hervorstehenden Backenknochen, aber dabei edel, alles wie von der Hand eines Bildhauers modelliert; diese Schlitzaugen, die jetzt so erstaunt auf mich gerichtet waren, feurig und kühn, und der lang herabhängende Schnurrbart verlieh dem noch jungen Mann erst recht einen Ausdruck von wilder Verwegenheit.
Er wandte sich an einen andern Chinesen, in dem ich aber trotz der chinesischen Kleidung, und obgleich sogar unter seiner Filzkappe ein langer Zopf hervorbaumelte, den Europäer erkannte, wenn nicht einen Deutschen, und er wurde ja auch auf deutsch angeredet.
»Hier, das ist der junge Mann, August Hammer, der uns in Hongkong abhanden kam. Zweifelt Ihr nun noch, Steuermann, daß es eine Fügung gibt? Meinetwegen nennt es Zufall, meinetwegen Schicksal — ich glaube an eine Bestimmung, der kein Mensch entrinnen kann.«
Was hatte ich da zu hören bekommen? Dieser Chinese kannte auch meinen richtigen Namen, und ich sollte ihm in Hongkong abhanden gekommen sein? Ich wußte gar nicht mehr, was ich von alledem denken sollte.
Ich will mich nicht zu sehr auf Einzelheiten einlassen, sonst dürfte der Leser ein falsches Bild von der Situation bekommen. Es ging alles Schlag auf Schlag, jetzt war keine Zeit zu Fragen und Erklärungen; die Dschonke hatte es immer noch mit den Piraten zu tun, wenn diese jetzt auch sämtlich im Wasser schwammen. Es galt, sie aufzufischen und an Bord zu nehmen.
Der junge Chinese, welcher offenbar der Kapitän war, hatte mich gesehen, hatte jenen erstaunten Ausruf getan, schnell jene Worte an den Steuermann gerichtet, und dann war er, Kommandos gebend, wieder davongesprungen, ohne mich noch eines Blickes zu würdigen.
Aber ich sollte an Bord der chinesischen Dschonke noch mehr Überraschungen erleben. Zunächst tauchte aus einer Luke ein Mann auf, der sich von der übrigen Besatzung dadurch unterschied, daß er kein chinesisches Kostüm, sondern einen blauen Monteuranzug trug, der zu seinem gutmütigen Germanengesicht auch viel besser paßte. Der Mann hatte mehrere Feilen in den Händen und machte einen so schmierig-öligen Eindruck, war auch schwarz genug, daß er viel eher aus dem Heizraum eines Dampfers, als aus dem Innern einer chinesischen Dschonke kommen konnte. Jedenfalls starrte ich ihn wie eine überirdische Erscheinung an.
»Wo ist der Mann, dem ich eine Kette durchfeilen soll?« fragte er einen Chinesen, und ich hörte denselben Dialekt, den ein Matrose der ›Katharine‹ gesprochen hatte, und dessen Heimat Köln am Rhein gewesen.
»Dort sitzt er,« lautete die Antwort des Chinesen.
Also, wohlverstanden, seitdem man mich aus dem Wasser gezogen hatte, oder doch seitdem ich wieder zu mir gekommen, war höchstens eine halbe Minute vergangen, ich saß mit triefenden Kleidern noch immer auf der Taurolle, auf welche man mich gelegt hatte.
Der Schlosser kam auf mich zu und sah mich wohl erstaunt an, doch er sagte nichts, sondern ging gleich daran, den eisernen Ring zu prüfen, den man um meinen Fuß geschmiedet hatte, dann setzte er eine Feile an.
»Wo bin ich denn hier nur?« murmelte ich, noch ganz traumverloren.
»Was? Du bist auch ein Deutscher?« fragte der Schlosser, bei seiner Arbeit einmal aufblickend. »Wie kommst du denn unter die Räuberbande?«
»Ich war ihr Gefangener! Aber so sage doch nur, was für eine merkwürdige Dschonke ist denn das?«
»Das ist ... das ist ... das darf ich nicht sagen, weil ich nicht weiß, ob's der Master haben will.«
»Der Master, wer ist das?«
»Das ist dort der Chinese mit dem langen Hängebarte. Eigentlich ist er gar kein Chinese, aber ... frage nichts mehr, ich antworte nicht.«
Der Mann begann mit Eifer zu feilen und sprach wirklich nichts mehr; ich hatte also nur erfahren, daß jener Chinese, der mich gleich beim Spitznamen genannt hatte, ›Master‹ genannt wurde und eigentlich gar kein Chinese war, und so verließ ich mich auf meine eignen Augen.
Ich zählte an Deck einundzwanzig Mann, für eine Dschonke eine sehr starke Besatzung, und im Innern schienen noch mehr zu sein. Wohl sah ich darunter auch Chinesen, an deren Echtheit kein Zweifel aufkommen konnte, auch glaubte ich zwei Japaner unterscheiden zu können, aber die meisten hatten doch unverfälscht germanische Gesichtszüge. Außerdem wurde auch entweder Englisch gesprochen oder Deutsch.
Jetzt waren sie damit beschäftigt, die schwimmenden Piraten aufzufischen. Sie warfen ihnen Taue zu und reichten Stangen, zogen die sich Daranklammernden hoch, und sobald einer an Deck war, wurde er mit einer fabelhaften Geschwindigkeit an Händen und Füßen gebunden und wie ein Mehlsack durch eine Luke ins Innere der Dschonke befördert.
Wirklich, diese echten und verkappten Chinesen arbeiteten mit einer fabelhaften Geschwindigkeit, die mußten schon Übung in so etwas haben!
Aber nicht alle im Wasser treibenden Piraten waren geneigt, die Rettungsleine oder die dargebotene Stange zu ergreifen. Sie mochten ahnen, was ihrer wartete, es waren eben Piraten, die diesmal das Spiel verloren hatten. Sehr viele zogen vor, nach ihrer Insel zurückzuschwimmen, auf die Gefahr hin, unterwegs die Beute eines Haifisches zu werden. Die Haie lieben solch ein Getümmel in ihrem Reiche nicht; jetzt zwar sah man keinen, aber dem einzelnen Schwimmer würden sie schon zu Leibe gehen. Trotzdem also wurde die Tour riskiert.
Da hatte nun die Besatzung der Dschonke ein originelles Mittel, um diejenigen, welche der Einladung keine Folge leisten wollten, dennoch an Bord zu bekommen. Ein Mann, welcher trotz seiner chinesischen Kleidung eher wie ein deutscher Steinetreiber aussah, produzierte sich als unübertrefflicher Lassowerfer. Er rollte ein ziemlich starkes Hanfseil zusammen, wirbelte die Schlinge um den Kopf und schleuderte sie nach einem der sich entfernenden Schwimmer. Die Schlinge legte sich kreisförmig um denselben, sie schien beschwert zu sein, sank sehr schnell unter, und nun konnte der Lassowerfer ganz genau den Zeitpunkt berechnen. Sobald er zuzog, hatte er jedesmal den Schwimmer mit unfehlbarer Sicherheit unter den Armen gefangen.
Während der Mann schon wieder nach einer zweiten Wurfleine griff, deren er eine ganze Menge handbereit liegen hatte, zogen die Matrosen den Gefangenen schnell heran und herauf an Bord — und in demselben Augenblick band ihm der eine die Hände auf den Rücken, ein andrer die Füße, dann hatten ihn schon zwei andre angepackt und transportierten ihn nach der offnen Luke, aus der sich vier Hände emporstreckten, um den Kerl in Empfang zu nehmen — es ging alles wie's Brezelbacken, und da wurde schon wieder ein mit dem Lasso Geangelter herangeschleppt.
Dabei wurde fröhlich gescherzt, was mir freilich ganz unverständlich blieb.
»Wieder tausend Taler,« hörte ich unten in der Luke sagen, als ein neuer Mann hinabbefördert wurde.
»Nee, nee, für den gebe ich bloß fünfhundert,« wurde dagegen protestiert. »Dem fehlen ja zwei Finger an der Hand!«
»Aber der hier, das ist ein Prachtkerl, der schafft für zwei.«
»Ja, für den gebe ich drei Taler mehr.«
Was sollte das? Das ging ja gerade wie auf dem Sklavenmarkte zu.
Nun hatten aber dennoch sehr viele Schwimmer das Weite gewonnen, ehe sie von der Wurfschlinge erreicht wurden. Da wußte sich die Besatzung der Dschonke, der es so viel darauf anzukommen schien, die Piraten gefangenzunehmen, in andrer Weise zu helfen.
An Deck lagen lange Ruder, sie wurden durch Löcher in der Bordwand gesteckt, je zwei Matrosen bewegten stehend ein Ruder, und so hatte sich die Dschonke in eine Galeere verwandelt.
Eigentlich liegt es überhaupt sehr nahe, daß man solche kleine Fahrzeuge, wie die Dschonken doch nur sind, wenigstens im Verhältnis zu andern Seeschiffen, mit Rudern ausrüstet. Die Dschonken haben in diesen Gewässern viel von Windstillen zu leiden. Sie sind manchmal schon dicht am sichern Hafen, da plötzlich hört der Wind auf, und sie können nicht weiter, sie werden unrettbar ein Opfer des der Windstille folgenden Sturmes.
Warum werden da nicht große Ruder angeschafft, welche doch Aussicht gewähren, noch den sichern Hafen erreichen zu können? Ja, das ist bei den Chinesen eben immer die alte Geschichte. Vor tausend Jahren hat es in China keine Dschonken gegeben, welche gerudert wurden, und da werden eben auch heute noch keine Ruder geführt. Man kennt es nicht. Vielleicht verbietet es sogar ein Gesetz. Hier war es anders. Es waren verkappte Chinesen, die sich einer Dschonke nur bedienten, um die Seeräuber anzulocken.
Mir hatte das Seebad nichts geschadet, und als ich von meiner Hundekette befreit war, sprang ich an eine Ruderstange, an der nur ein einziger Mann arbeitete, und legte mich mit Macht ins Zeug.
»Na, na,« lachte da der deutsche Matrose, »brich nur nicht das Ruder ab! Das geht hier bei uns doch alles allein! 'S ist bloß, daß wir rudern müssen, falls uns einer zuguckt.«
Ich verstand durchaus nicht, was der Mann meinte. Wir wollten doch die Schwimmer einholen, und solch eine plumpe Dschonke von 100 und mehr Tonnen ist kein leichtes Ruderboot, das von wenigen Menschen fortbewegt werden kann.
Da aber machte ich eigentümliche Wahrnehmungen. Wir kamen sehr schnell von der Stelle, waren gleich wieder mitten zwischen den Schwimmenden, von denen einer nach dem andern mit dem Lasso heraufbefördert wurde. Und mein schweres Ruder ging so merkwürdig leicht! Es schien im Wasser gar keinen Widerstand zu finden. Es war, als ob die Dschonke von ganz allein führe. Ich blickte nach den andern Matrosen — auch diese strengten sich gar nicht an, spielten nur so, ruderten womöglich nur mit einer Hand.
Die Vermutung lag also nahe, daß die Dschonke von einer starken Strömung getrieben wurde. Dann aber mußten doch auch die Schwimmer ...
Ich hatte nicht lange Zeit, über das Rätsel nachzugrübeln.
»Ein Dampfer — ein Norweger!« erscholl ein Ruf.
Ich sah ihn hinter der Insel hervorkommen; ich hörte den Kapitän, den sie hier den Master nannten, zu dem Steuermann seine Verwunderung darüber äußern, wie ein solcher Dampfer hierher käme, und da schien es mir an der Zeit, als ehemaliger Gefangener der Piraten handelnd aufzutreten.
»Der gehört mit zu den Seeräubern!« rief ich. »Er ist erst heute im Hafen der Insel angekommen; es sind auch viele Japaner an Bord, und die chinesischen Inselbewohner scheinen unter ihrem Befehle zu stehen.«
Meine Erklärung brachte bei der Mannschaft offenbar eine große Erregung hervor, bei dem Kapitän freilich am allerwenigsten. Er warf mir einen Blick zu, nickte, zog dann gelassen aus einem Futteral an seinem seidenen Gürtel ein Fernrohr, schraubte es lang und richtete es auf den Dampfer.
»Stimmt! Kapitän, Offiziere und viele der Matrosen sind Japaner. Aber ich kenne keinen. Haben Sie den Namen des Kapitäns gehört?«
Die Frage war offenbar an mich gerichtet.
»Den Namen des Kapitäns nicht, aber einen andern. Er befand sich mit im Gefolge des erstern und schien kein gewöhnlicher Mann zu sein. Kanimo wurde er gerufen, fast noch ein Knabe; es wurde ihm befohlen, sich freiwillig den Leib aufzuschlitzen, und er tat es sofort.«
»Kanimo! Den kenne ich, wenigstens dem Namen nach. Dann ist das der ›Drachenkopf‹, welcher die Inseln revidiert. Das können wir ja überhaupt gleich erfahren.«
Bisher war noch keiner der aufgefischten Piraten verhört worden, doch dem Chinesen, der jetzt befragt wurde, brauchte nicht erst die Pistole auf die Brust gesetzt zu werden, er beantwortete alle Fragen.
Es war nur ein sehr kurzes Verhör, und auch ich brauchte keine nähern Erklärungen abzugeben, es war jetzt keine Zeit dazu.
Länger währte die Beratung, welche zwischen dem Kapitän, einem andern Chinesen, dem Steuermanne und einem Japaner stattfand, wobei immer durch Fernrohre nach dem näherkommenden Dampfer gespäht wurde.
Die Unterredung wurde in chinesischer oder japanischer Sprache geführt, deshalb verstand ich nichts davon. Da streifte mich des Kapitäns Blick, er machte eine Handbewegung, und die andern verstummten sofort.
»Hätte ich doch die Hauptsache bald vergessen!« rief er. »Bitte, Herr Organist, wollen Sie sich hierher bemühen und an unsrer Beratung teilnehmen?«
Diese Anrede kam mir natürlich sehr spanisch vor, aber ich mußte der Aufforderung wohl Folge leisten.
»Haben Sie schon von dem gelben Drachen gehört?« begann der schwarzbärtige Kapitän, der ein so gutes Deutsch sprach und ja auch gar kein Chinese sein sollte, obgleich er genau wie ein solcher aussah. Im übrigen kann ich nur sagen, daß er mir ganz gewaltig imponierte, wenn ich auch gar nicht wußte, weswegen. Es lag eben in seinem ganzen Auftreten.
»Ich habe diesen Namen zum ersten Male von dem Japaner gehört, welcher der Kapitän jenes Dampfers ist,« entgegnete ich. »Auch er fragte mich, ob ich schon den gelben Drachen kenne. Als ich verneinte, erklärte er mir, die Piraten gehörten zum Bunde des gelben Drachen, welcher gegen China Krieg führe ...«
»Genug!« fiel mir der Chinese ins Wort, aber durchaus nicht unhöflich, wie er überhaupt von vollendeter Liebenswürdigkeit war. »Der gelbe Drache ist eben eine geheime Vereinigung, welche gegen die chinesische Regierung agitiert. Sie haben auch Seeräuber in ihren Diensten, welche Dschonken plündern müssen. Das ist ihre unerschöpfliche Geldquelle. An ihrer Spitze stehen meistens Japaner, auch solche in hoher Staatsstellung. Auf jenem Dampfer nun befinden sich solche japanische Führer des Bundes, deren wir gern habhaft werden möchten, weil wir vielleicht wichtige Geheimnisse von ihnen erfahren können. Wie machen wir nun das?«
Was sollte diese Frage bei mir, dem unerfahrnen, in Lumpen gehüllten Jüngling? Gut, ich wollte ihnen eine Antwort geben.
»Wenn Sie ihrer habhaft werden wollen, dann müssen Sie sie einfach fangen.«
»Bravo, das war die einzig richtige Antwort!« lachte der Kapitän. »Nun ist die Sache aber die, daß sich die Japaner nicht lebendig werden fangen lassen. Wir können den Dampfer entern, wir werden siegen, wir werden Chinesen und Japaner zu Gefangenen machen — aber die Männer, auf welche es uns gerade ankommt, weil sie uns etwas zu verraten haben, werden wir nicht lebendig bekommen, die werden noch im letzten Augenblicke Harakiri machen — Sie wissen, kchchch.« Er machte die Bewegung des Bauchaufschlitzens, während er mich mit seinen blitzenden Augen anlachte.
Ich war um die Antwort nicht verlegen.
»Dann muß ihnen die Möglichkeit genommen werden, sich vorher zu töten.«
»Ja, das ist leicht gesagt, aber das Wie! Wie ihrer erst habhaft werden!«
»Der Dampfer muß in den Grund gebohrt werben, daß er auf der Stelle sinkt. Sie müssen plötzlich im Wasser liegen und so mit dem Lasso herausgefischt werden wie diese Piraten hier,« entgegnete ich aufs Geratewohl, nur um nicht die Antwort schuldig zu bleiben.
Lebhaft wandte sich der chinesische Kapitän den andern wieder zu.
»Sehen Sie, mein junger Freund hier ist ganz derselben Ansicht wie ich,« rief er triumphierend, »und das soll den Ausschlag geben! Der Dampfer ist überhaupt sowieso für uns verloren. Sehen die Japaner, daß wir ihn kapern, sprengen sie ihn doch in die Luft und sich selbst mit. So aber verlieren wir nur das Schiff. Was tut's? So eins ist überall zu kaufen. Und was die wertvolle Fracht betrifft ... Steuermann, was für Meerestiefen sind hier?«
»Alles seichtes Gewässer, habe mich schon orientiert, nirgends tiefer als fünfzehn Meter,« entgegnete der Gefragte.
»Na also! Dann schicken wir Taucher hinab, und wenn wir nur die Papiere bekommen, so genügt das schon. Laßt die letzten Piraten an Land schwimmen, sie entkommen uns doch nicht. — Ruder ein!!! Klar zum Ramm!!!«
Was für ein Kommando war das? Klar zum Ramm? Diese elende, hölzerne Dschonke wollte den aus starken Eisenplatten zusammengefügten Dampfer rammen, um ihn in den Grund zu bohren?
Ich blickte mich um. Wohl sah ich an Deck und an der Bordwand Einrichtungen, welche man sonst nicht auf chinesischen Dschonken findet — übrigens war von keinen Apparaten und dergleichen die Rede, höchstens, daß in die Deckplanken feste Eisenboller und Eisenstäbe eingelassen waren — aber sonst war das Ganze doch auch nur so ein gebrechliches Balkengerippe, zusammengenagelt und mit Klammern zusammengehalten; ich prüfte die Ballen und Bretter mit meiner Hand — wurmstichiges Holz, nichts weiter.
Und diese Dschonke wollte dort den eisernen Dampfer in den Grund rammen? Ja, woher wollte sie denn überhaupt die dazu nötige Geschwindigkeit nehmen? Vielleicht daraufzurudern?
Ich hatte wiederum nicht viel Zeit zum Grübeln.
»Klar zum Ramm!!!« wiederholten die Matrosen, zogen die langen Ruder ein und befestigten sie sowie alles, was nicht niet- und nagelfest war, mit fieberhafter Eile an Deck. Dann legten sie sich alle platt hin, stemmten sich mit den Füßen fest und klammerten sich an die im Deck eingelassenen Eisenstangen, welche zu diesem Zwecke wie geschaffen waren.
Auf einen Wink des Kapitäns sprang der großnasige Matrose, übrigens ein sehr kleiner Wicht, der auch über ein Paar wunderbar krummer Beine verfügte, zu mir hin und leitete mich an, die gleichen Vorbereitungen zu treffen, um einen Stoß aushalten zu können.
Auch der chinesische Kapitän legte sich so hin, weit vorn im Schiff, entfernte vor sich ein Brett, und ich bemerkte, daß dort in das Deck ein kleines horizontales Steuerrad eingelassen war, dessen Speichen er erfaßte, während sonst die Dschonke nur eins der primitiven Hebelsteuer besaß.
Außerdem ragte aus dem Deck noch ein kurzes Rohr hervor, an welches der Kapitän seinen Mund brachte, während er durch eins der Löcher unten an der Bordwand die Meeresfläche vor sich überblicken konnte.
Durch ein solches Loch konnte auch ich den Dampfer beobachten. Er hatte sich uns schon so weit genähert, daß jeder Mann an Deck und die Offiziere auf der Kommandobrücke zu unterscheiden waren.
Sie hatten von der Insel ausgesehen, wie die Prauen von der Dschonke in den Grund geschossen worden waren, wie die Schwimmenden aufgefischt wurden, wie die Dschonke mit langen Riemen gerudert wurde — sie kamen nun, sich diese merkwürdige Dschonke näher anzusehen. Sie betrachteten sie natürlich als Feind, und wenn sie auch nicht wußten, wie das elende Holzding dem eisernen Dampfer etwas anhaben konnte, ließen sie doch keine Vorsicht außer acht.
An Deck waren zwei Geschütze postiert worden, welche zuvor sicher noch nicht dort gestanden hatten. Wohl die Hälfte der Matrosen war mit Gewehren bewaffnet, und ich konnte deutlich unterscheiden, daß es moderne Hinterlader waren. Jetzt wurden an sämtliche Leute auch noch schwere Entersäbel verteilt.
Als der Dampfer höchstens noch hundert Meter von uns entfernt war, griff der japanische Kapitän zum Sprachrohr und donnerte zu uns herüber. Bei uns aber kam kein Kopf über der Bordwand zum Vorschein.
»Oho, sie wollen ihr Revolvergeschütz an uns probieren!« meinte der Nasenkönig neben mir. »Na, gnade ihnen Gott, das dürfte ihnen schlecht bekommen, wir sind von Eisenholz gebaut.«
»Klar zum Ramm!!« kommandierte der Kapitän nochmals aber mit leiser Stimme und mehr in fragendem Tone.
»Klar zum Ramm!« bestätigten die Matrosen unisono.
Jetzt legte der Kapitän den Mund an das hinabführende Sprachrohr. »Volle Kraft voraus!!!«
Da ging ein Zittern durch die Planken, immer mehr und mehr, das Wasser schäumte durch die Ausgußlöcher, und ... ich kann es nicht beschreiben, mir schnürte etwas Entsetzliches, die Ahnung des Rätselhaften, das Herz zusammen.
Plötzlich sah ich einen Koloß vor mir — »Festgehalten!!!« erscholl der donnernde Ruf — dann ein furchtbarer Ruck, ein gellender Schrei, ein Krachen und Bersten und Gurgeln — und alles war wieder still, auch das Zittern der Planken hatte aufgehört.
Ich sprang wie die andern auf. Ruhig schaukelte sich unsre Dschonke auf der nur leicht bewegten, aber stark schäumenden See, in der es von schwimmenden Menschen wimmelte. Aber der eiserne Dampfer war verschwunden.
Die hölzerne Dschonke hatte ihn glatt durchschnitten und war selbst vollkommen unbeschädigt geblieben!
Ich schildere zuerst, was ich zu sehen bekam.
Die Schwimmenden, von denen nur einige Verletzungen davongetragen hatten, obgleich es auch einige Tote gegeben haben sollte, die aber vorläufig von den Wellen verschlungen worden waren, wurden aufgefischt und an Bord gezogen, wieder arbeitete der Lasso fleißig, und bei dieser Art von Rettung hatte man es ganz besonders auf die kurzgeschorenen Kopfe von Japanern abgesehen.
Wieder hatte ein solcher die Wurfleine unter den Armen zugezogen bekommen, da machte er eine eigentümliche Bewegung, und als man ihn heraufzog, hatte er seinen Dolch im Herzen.
So sah ich noch mehrere Selbstmord begehen; selbst im Wasser schlitzten sie sich die Leiber auf, nicht nur Japaner, auch Chinesen. Es war die greulichste Szene, die ich je gesehen habe, und war mir damals ganz unverständlich, weshalb sich diese Männer auf solche Weise selbst abschlachteten.
Es kamen jedoch noch genug lebendig an Bord. Sie wurden gebunden und hinabbefördert. Unter ihnen erkannte ich auch den japanischen Kapitän, den man bewußtlos aufgefischt hatte.
Unterdessen hatte die Dschonke zwei Anker ausgeworfen, welche Grund fanden, eine Handpumpe wurde an Deck gebracht, und ein Mann zog schon den Taucheranzug an. Zugleich wurden auf der andern Seite gebogene Planken von Eisenblech zusammengeschraubt, und im Nu entstand unter den Händen der Matrosen ein seetüchtiges Boot.
Auch hierbei ging alles wieder mit einer geradezu fabelhaften Geschwindigkeit vor sich. Eine Disziplin herrschte an Bord dieser Dschonke, wie ich sie noch auf keinem Kriegsschiff beobachtet hatte, und dabei war kaum ein Kommando nötig, jeder Matrose schien ein Muster von Intelligenz zu sein, wußte genau, was er zu tun hatte, und arbeitete dem andern in die Hand.
Ich hatte an Bord dieser merkwürdigen Dschonke nun schon so viel Seltsames erlebt, daß es mich gar nicht mehr wunderte, daß in dem Taucherhelm ein kleines Telephon angebracht und durch grünumsponnene Drähte mit einem an Deck befindlichen Sprechapparate verbunden war, und daß in dem Blechboote, ehe man es in das Wasser hinabließ, ein kleines Revolvergeschütz montiert wurde.
»Herr Hammer, Sie möchten mir zum Kapitän folgen.«
So wurde ich von einem deutschen Matrosen in chinesischer Kleidung angeredet. Ich folgte ihm die steile Treppe hinab, mit der Ahnung, daß jetzt die Lösung aller Rätsel kommen würde, und infolgedessen schaute ich meine Umgebung unter Deck nicht besonders an, wunderte mich auch nicht sehr, als ich in eine zwar winzig kleine, aber höchst komfortable Kajüte eintrat, welche man in einer Dschonke nimmermehr vermutet hätte.
Erstaunter schon betrachtete ich den Mann, der mich hier stehend empfing. Auch er trug chinesische Kleidung, aber an Deck hatte ich ihn noch nicht gesehen; denn der blonde Lockenkopf mit den schönen, edlen, aristokratischen Zügen wäre jedem sofort aufgefallen.
Lächelnd blickte er mich an, als er auf das kleine Sofa deutete, welches neben dem Miniaturschreibtisch stand.
»Bitte, Herr Organist, wollen Sie Platz nehmen!«
Ich tat es, er ließ sich vor dem Schreibtisch nieder, noch immer mich lächelnd anblickend, und ich wiederum konnte mich nicht sattsehen an diesem Urbild eines jugendkräftigen Germanen in voller Mannesschönheit, wobei ich seine chinesische Kleidung ganz vergaß.
»Nun, Herr Organist, wie geht es Ihnen?« begann er das Gespräch.
»Ich kann nur staunen.«
»Sie kennen mich nicht?«
»Nicht im geringsten.«
»Ich bin der Kapitän dieser Dschonke.«
»Ich glaubte, der Kapitän wäre der Chinese mit dem langen Barte, der von den Matrosen der Master genannt wird.«
»Dieser Chinese und Master bin ich selbst.«
Er griff in ein Schubfach des Schreibtisches, brachte ein Bündel Haare zum Vorschein, wendete das Gesicht zur Seite, machte sich an seinem Kopfe zu schaffen, nur wenige Augenblicke — und als er sich mir wieder zuwandte, sah ich wieder den langbezopften Kapitän mit dem herabhängenden Schnurrbart und den hervorstehenden Backenknochen.
Ohne ein Wort zu verlieren, nahm er die Perücke und den falschen Bart wieder ab und legte beides gleichgültig in das Schubfach zurück, und dabei sah ich, wie sich sein Gesicht plötzlich total veränderte, vor mir saß wieder der, den ich beim Eintritt hier gefunden hatte.
Ich hatte ihm selbst gesagt, daß ich nur staunen konnte.
»Das genügte wohl, um die Wahrheit meiner Behauptung zu beweisen. Haben Sie schon von einem gewissen Nobody gehört, Privatdetektiv und Berichterstatter von ›Worlds Magazine
Ich verneinte.
»Wenn Sie drei Jahre lang auf See gewesen sind, so ist das begreiflich. Sie haben doch in Hongkong mit einem schwarzbärtigen Herrn gesprochen, welcher Sie als Matrose für seine Jacht engagieren wollte.«
»Jawohl, Herr Makart hieß er.«
»Dieser Herr war ich.«
»Sie sehen ihm zwar nicht ähnlich, aber nach dem, was Sie mir soeben als Verwandlungskünstler vorgemacht haben, zweifle ich nicht daran, daß Sie es wirklich gewesen sind.«
»Dieses Vertrauen zu mir freut mich, das wird unser Gespräch sehr abkürzen. Können Sie sich ferner des alten Chinesen erinnern, der Sie in jener Spielhölle, die Sie mit einigen Kameraden betraten, immer so scharf anblickte?«
»Und ob ich mich seiner noch erinnern kann!«
»Das war ebenfalls ich.«
»Daran zweifle ich jetzt auch nicht mehr.«
»Ferner war ich auch derjenige, welcher mit Ihrem Vormund und Kapitän über Sie gesprochen hat. Zwar sagte Ihnen jener Makart, also ich selbst, er habe nur seinen Stellvertreter zu Ihrem Kapitän geschickt, aber dem war nicht so, ich selbst war es, jedoch wiederum in einer andern Maske, und ich sagte Ihnen diese kleine Unwahrheit nur, um Weitschweifigkeiten zu vermeiden. Jetzt wiederhole ich also meine Frage: wollen Sie in meine Dienste treten?«
»In was für Dienste? Was betreiben Sie?«
»Diese Frage gefällt mir von Ihnen. Sie beweist mir, daß Sie nicht in die Dienste eines jeden Menschen zu treten gewillt sind.«
»Allerdings nicht. Sie gaben sich für einen Mann aus, der sich zu seinem Vergnügen eine Jacht hält. Für diese wollten Sie mich anmustern.«
»Ich will Ihnen eine Erklärung geben, soweit eine solche jetzt in aller Kürze möglich ist. Ich habe mit der chinesischen Regierung einen Kontrakt abgeschlossen, wonach ich diese Gewässer von Seeräubern säubern soll und ... ja, mehr brauche ich eigentlich gar nicht zu sagen. Oder fragen Sie, wenn Sie noch etwas wissen wollen.«
Allerdings hatte ich da noch sehr viel zu fragen, und diese Gelegenheit dazu ließ ich mir nicht entgehen.
»Sie bedienen sich einer Dschonke und maskieren Ihre Mannschaft als Chinesen, um die Piraten auf sich zu locken und diesen dann selbst den Garaus zu machen. Ist es nicht so?«
»Ganz richtig. Davon sind Sie doch selbst Zeuge geworden.«
»Hat denn diese Dschonke eine Dampfmaschine?«
»Nein, aber einen sehr starken Petroleummotor, der ihr eine Geschwindigkeit bis zu 18 Knoten in der Stunde verleiht!«
»Einen Petroleummotor?« fragte ich, der ich noch nie so etwas gehört hatte.
»Sie sollen die Maschine dann zu sehen bekommen. Die Petroleummotore sind eine neue Errungenschaft der Technik. Ich sah eine große Jacht, welche statt mit einer Dampfmaschine mit solch einem Petroleummotor ausgestattet war, und ließ mir nach diesem Muster ein kleineres Fahrzeug auf einer Londoner Privatwerft bauen, unter der Garantie der Geheimhaltung, denn ich beabsichtigte eben, den chinesischen Piraten zu Leibe zu gehen, deshalb gab ich diesem Fahrzeug das Aussehen einer chinesischen Dschonke, scheinbar nur aus Balken und Brettern zusammengenagelt, während es in Wirklichkeit ein mit schweren Stahlplatten gepanzertes Schiff ist, vorn auch mit einem scharfen Rammer versehen. Nun begreifen Sie wohl auch, wie ich den eisernen Norweger so glatt durchschneiden konnte.«
Ja, das begriff ich, obgleich mein Staunen dadurch nicht geringer wurde.
»Immer fragen Sie nur, ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung,« ermunterte mich der Kapitän, der überhaupt von vollendeter Liebenswürdigkeit war.
Meine Fragen waren nicht geregelt, und die nächstfolgende diktierte mir nur die Neugier. »Darf ich fragen, was Ihnen die chinesische Regierung dafür zahlt, daß Sie gegen die Piraten auf eigne Faust Krieg führen?«
»Sie dürfen nicht nur fragen, sondern Sie sollen sogar fragen!« rief der Kapitän lebhaft. »Ich habe mir ausbedungen, daß ich die von mir gefangenen Piraten als meine Sklaven behalten kann.«
»Als Sklaven?!«
»Sagen Sie, wenn Ihnen dieses Wort nicht gefällt, als meine Arbeiter. O, die haben bei mir über nichts zu klagen. Bedenken Sie nur, daß Piraterie eigentlich bedingungslos durch den Tod am Galgen bestraft wird. Ich schenke ihnen mit Genehmigung der Regierung das Leben. Dafür müssen sie arbeiten. Lohn bekommen sie allerdings nicht, aber, wie schon gesagt, sie leiden keine Not. Jedenfalls stehen sich die Piraten bei mir zehnmal besser als in den Diensten des gelben Drachen, von dem sie unter der Maske eines patriotischen Zweckes doch nur ausgenützt werden.«
»Wo beschäftigen Sie die gefangenen Piraten?«
»Auf einer Insel, die mir die chinesische Regierung als Operationsbasis überlassen hat. Sie ist unser nächstes Ziel, und Sie werden selbst sehen, was wir dort treiben. Da ich aber meine Gefangenen verwenden kann wo und wie ich will, bediene ich mich ihrer auch noch zu einem andern Zwecke. Sie werden nach und nach in alles eingeweiht werden, denn ich denke doch, Sie bleiben von jetzt an bei mir. Nicht wahr, mein junger Freund?«
Mir wollte etwas durchaus nicht in den Kopf. Welchen Anlaß hatte dieser Mann, daß er mich so äußerst liebenswürdig behandelte? Wenn er mich gern als Matrose haben wollte, wie kam er dazu, daß er mich in alles einweihte, mich immer aufforderte, alles zu fragen, was ich wissen wollte? Das ist vor allen Dingen der Stellung eines Kapitäns nicht entsprechend.
»Sie wollen mich für diese Dschonke als Matrose anmustern?«
»Als meine Ordonnanz.«
Darunter verstand ich damals den Diener eines Offiziers, einen Stiefelputzer. Dieses Bild eines stiefelputzenden Soldaten im Drillichanzug hatte ich eben nun einmal in meinem Kopfe, und das gefiel mir gar nicht.
»Als Ihren Diener?« fragte ich und mag dabei ein sehr mißtrauisches Gesicht gemacht haben.
Der schöne Mann lächelte, als er sich in seinem amerikanischen Schaukelstuhle zurücklehnte.
»Einen Augenblick! Haben Sie schon von Utopia gehört?«
Als ehemaliger Gymnasiast kannte ich die Bedeutung dieses Wortes.
»Unter Utopia versteht man ein Land, welches gar nicht existiert, etwa das Phantasiegebilde eines Dichters, einen Zukunftsstaat — es ist das Land Nirgendwo.«
»Das Land Nirgendwo,« wiederholte der Kapitän langsam, und es klang sogar feierlich. »Ich bin Nobody, ein Niemand, ich habe dieses Reich Nirgendwo gegründet und herrsche darüber als König Niemand. Verstehen Sie?«
Nein, ganz und gar nicht! Ich sagte das nicht, aber er mochte es mir ansehn.
»Es freut mich, wenn Sie noch nichts von diesem Reiche Nirgendwo gehört haben,« sagte er, und dann plötzlich fuhr er mit einem schwärmerischen Enthusiasmus fort, dessen ich diesen Mann gar nicht fähig gehalten hätte:
»Es ist ein Land, welches nicht sichtbar auf dieser Erde existiert — es ist ein Reich, welches nicht gesehen, sondern nur verstanden werden kann — es ist ein Symbol für alle Geister, die es begreifen — es ist eine Verbrüderung von freien, starken und kühnen Männern — und der freieste, stärkste und kühnste Mann ist der König!«
Seltsam! Gerade diese dunklen Worte verstand ich! Ich fühlte, was jener meinte, und solch ein Fühlen kann man nicht mit Worten erklären.
»Und dieser König sind Sie?«
»Sie sagen es. Ich bin der König Niemand vom Reiche Nirgendwo.«
Die Feierlichkeit verließ ihn, er begann wieder zu lächeln.
»Haben Sie schon gehört, daß ein König eine Ordonnanz hat, die ihm die Stiefel putzen muß?« fragte er dann plötzlich.
Es war wiederum ganz seltsam, wie dieser Mann meine Gedanken erraten hatte!
»Nein. Das ist auch etwas ganz andres. Die Ordonnanz eines Königs ist ein hoher Offizier.«
»Nun, als solcher sollen Sie in meine Dienste treten — die Ordonnanz eines Königs — meine rechte Hand, mein Stellvertreter, der in meinem Namen spricht und handelt.«
Da dachte ich daran, daß ich August, der Leichtmatrose war, der auch noch Schiffsjunge hätte sein können — ich dachte an andres — und ich stand auf.
»Herr, was habe ich Ihnen getan, daß Sie mich so verhöhnen?«
Es war eine merkwürdige Frage, er aber verstand mich.
»Sie glauben es nicht? Oder zweifeln Sie an meiner Zurechnungsfähigkeit? Herr, lernen Sie mich erst kennen!! Ich sagte Ihnen damals, ich wollte Sie als Matrosen engagieren. Wieviel bot ich Ihnen den Monat?«
»Achtzig Mark.«
»Das war nur ein Scherz von mir. Ich mußte so sprechen, weil Sie mich sonst nicht verstanden hätten. Achttausend Mark im Monat, so muß es heißen! Wollen Sie in meine Dienste treten? Wenn Sie mich erst kennen gelernt haben, dann werden Sie nicht mehr so große Augen machen!« —
Hiermit will ich unser Gespräch abbrechen, obgleich es noch sehr lange währte.
Doch zunächst etwas andres! Ich habe eine bewundernde und dennoch ganz unparteiische Biographie über den bekannten Cecil Rhodes gelesen. In dieser wurde er unter anderm genannt: ein Hypnotiseur auf politischem Gebiet, der phantastischste Privatmann und der nüchternste Staatsmann, der rücksichtsloseste Patron und der edelste Mensch; Cecil Rhodes ist das größte menschliche Rätsel unsers Jahrhunderts.
Ich habe mit Cecil Rhodes persönlich verkehrt und kann alles dies bestätigen. Aber ich habe einen Mann kennen gelernt, bei welchem alles dies in noch viel höherem Maße zutrifft, welcher ein noch viel größeres und noch heute unergründliches Rätsel war — dieser Mann hieß Nobody.
Ich bin nie wieder einem Menschen begegnet, der so aus lauter Widersprüchen zusammengesetzt war wie dieser Mann. Beständig ist sein Kopf von phantastischen Ideen erfüllt, die manchmal schon mehr an Wahnwitz grenzen, und dabei ist er der praktischste und nüchternste Mensch. Seine Hartherzigkeit grenzt oft genug an Grausamkeit, und dann wieder kann er beim Anblick eines leidenden Tieres weinen. Er glaubt an nichts, nichts ist ihm heilig, er fürchtet sich weder vor Gott noch vorm Teufel — und er zittert vor fremden Gewalten. Er scharrt Schätze wie ein Geizhals zusammen — und dem ersten besten Menschen, der ihm sein Leid klagt, wirft er sie in den Schoß. Nobody läßt sich durch nichts täuschen, sein Blick dringt in jedes Herz und schaut dort die innersten Gedanken; er ist allumfassend, er sieht voraus, woran noch kein Mensch denkt — und dann wieder ist dieser selbe Mann naiv und vertrauensselig wie ein kleines Kind. Und nun bloß noch eins: dieser Nobody, welcher so aus Widersprüchen zusammengesetzt ist, dessen Charakter man gar nicht ergründen kann, ist die Beständigkeit selbst!
Wie soll man solch einen Charakter definieren? Also genug hiermit!
Ich bleibe bei mir selbst, hierdurch ein Beispiel gebend.
Nobody streift, auf der Spur des gelben Drachen, als alter Chinese verkleidet in Hongkong herum. Da sieht er mich in jener Spielhöhle, sieht mich zum ersten Male. Ich mache einen großen Eindruck auf ihn — aber wodurch, das kann man eben nicht sagen, da fehlen die Worte. Nobody ist beständig auf der Jagd nach Menschen, die er für seine Zwecke geeignet hält, und welche er an sich zu fesseln sucht. Dabei aber kommt, wie er selbst sagt, eine gewisse Ahnung mit ins Spiel. Kurz und gut, sofort, als Nobody mich sieht, sagt er sich: Das ist gerade der Mann, den ich suche, den kaufe ich mir!
Jawohl, kaufen, das ist der richtige Ausdruck!
Er sieht, wie ich den Schilling gewinne, ihn einstecke und nicht weiterspiele, und nun ist sein Entschluß gefaßt. Diesen jungen Mann kaufe ich mir.
Er geht an Bord der ›Katharine‹, horcht den Kapitän auf eine ganz raffinierte Weise über mich aus und sagt endlich mit der größten Naivität: Sie verkennen diesen Jungen total, der ist durchaus nicht so dumm, wie Sie denken, das ist vielmehr ein geborener Organisator, der gar nicht mit Gold zu bezahlen ist.«
Diese Worte hatte also der Steward aufgeschnappt und aus dem ›Organisator‹ einen ›Organisten‹ gemacht.
Mein Vormund, der nüchterne Mann, lacht den Besucher als einen Narren aus. Was, ich, der dumme August, der unselbständige Mensch, ein geborener Organisator?
Der sonst unerschütterliche Nobody befindet sich wieder einmal in einer Laune, in der er sich gekränkt fühlt! Er verteidigt seine Behauptung. Er habe in mir auf den ersten Blick ein Genie entdeckt, das nur geweckt werden müsse, und als Beispiel führte er unter andern Männern auch Linné und Alexander von Humboldt an.
Der berühmte Botaniker Linné war bekanntlich in seiner Jugend so dumm, daß er aus der Schule genommen, und einem Schuster in die Lehre gegeben wurde, und der große Alexander von Humboldt, als Knabe der Schrecken aller Lehrer, seinen Mitschülern als Muster von Dummheit und Faulheit hingestellt, erzählt von sich selbst, daß es ihm eines Tages gewesen sei, als ob ihm ein Brett vom Kopfe weggenommen worden wäre. Der Steward hatte aus diesem Alexander von Humboldt einen Alexander Humbug gemacht.
Nun, Nobody legitimierte sich als Jachtbesitzer, wenn er sonst auch den Kapitän durchaus in nichts einweihte, und wußte diesen doch noch zu überreden, daß er mich von meinem Kontrakt entband und ihm überließ.
Hiermit aber ist wiederum ein Geheimnis verbunden, wie überhaupt Nobody gar nicht so viel auf seine ›Ahnung‹ gibt, wie er immer tut. Da kommt noch etwas ganz andres in Betracht.
Es liegt im Blick dieses genialen Mannes. Alle Welt hatte mich stets für einen etwas beschränkten Menschen gehalten — Nobody erkannte beim ersten Sehen, daß in mir unscheinbarem Menschen etwas Besonderes stecke, und er vollzog sofort die Probe.
Ich habe hundertfache Gelegenheit gehabt, zu beobachten, wie dieser Mann zu hypnotisieren versteht. Er besitzt eine wunderbare Macht über die Menschen und auch über die Tiere. Ich habe noch keinen gesehen, der seinem Blick zu widerstehn vermochte.
Da traf er mich, es fiel ihm etwas an mir auf — was, das wußte er selbst nicht mit Bestimmtheit zu sagen, es lag in meinem Auge. — »Ich glaube, das ist einer, den ich nicht hypnotisieren kann« — so sagte er sich, er probierte es, fixierte mich mit seinem faszinierenden Blicke. Ich hielt ihm stand, erwiderte ihn sogar — »Wahrhaftig, das ist selbst ein Hypnotiseur, wenn er vielleicht auch noch keine Ahnung davon hat, der nimmt es sogar mit mir auf, den fessele ich an mich, dessen Energie kaufe ich mir.«
Nun, Nobody war mein Lehrmeister, er hat mich zu einem Hypnotiseur gemacht, der von sich sagen darf, daß ihm in seinem Leben nur vier Personen begegnet sind, die seiner magnetischen Kraft widerstanden haben. Auch ich habe Hunderte von Menschen auf den ersten Blick hypnotisiert.
Das darf man aber nicht mißverstehn. Ich habe die Leute nicht hingesetzt und angestiert und mit ihnen Manipulationen gemacht, bis sie in einen willenlosen Zustand kamen. Ja, wohl habe ich dies auch manchmal getan, wenn es sein mußte, aber das waren doch nur Ausnahmen. Ich meine eigentlich etwas ganz andres, ich spreche hier von einer Willensbeeinflussung, man mag es meinetwegen auch Überredungskunst nennen, obgleich man dabei ein ganz wortkarger Geselle sein kann, so wie ich einer bin.
»Wenn sich irgend zwei Menschen begegnen,« sagte Nobody später einmal zu mir, »so kann man sich zwischen ihnen eine Wage denken, die sich augenblicklich in Bewegung setzt. Einer von ihnen ist der Willensstärkere, dessen Wagschale sinkt, die des andern wird hinaufgehoben. Der eine ist der Hammer, der andre der Amboß. Der eine mag noch so viel und noch so gewandt sprechen, während der andre stumm zuhört — dieser leitet dennoch das Gespräch, ohne daß jener davon etwas weiß. Dasselbe gilt für jede Gesellschaft, auch für die größte. Der eine herrscht kraft seines überlegenen Willens, dem alle andern gehorchen. Aber um befehlen zu können, muß man erst gehorchen gelernt haben. Das ist bei Ihnen der Fall, und Sie sind zum Hammer geboren, wie auch schon Ihr Name sagt.«
Mögen diese Andeutungen genügen!
Ich schreibe dies zwanzig Jahre nach dem Erlebnis selbst nieder. Damals, als ich mit dem rätselhaften Manne in der kleinen Kajüte jener Dschonke saß, ließ er sich nicht auf solche Erklärungen ein. Ich hätte ihn ja doch nicht verstanden, ich hatte ja noch nicht einmal etwas von Hypnotik gehört.
Dieser Mann ging stets seine eignen Wege, und eine Eigentümlichkeit von ihm war es, wie er sich selbst ausdrückte, alles von hinten anzufangen. Auch bei mir verfuhr er so.
Sein Entschluß hatte bei ihm von Vornherein festgestanden, mich zu seinem Stellvertreter zu machen. Daß ich in jener Nacht auf den Walfischfahrer gepreßt worden, über Bord gefallen war und nun hier als Gefangener der chinesischen Piraten, die seine Dschonke angriffen, wieder sozusagen in seine Hände lief, das machte nun gar einen kolossalen Eindruck auf ihn, das bestärkte ihn erst recht in seiner Ansicht: diesen jungen Mann mußt du um jeden Preis an dich fesseln, den hat das Schicksal für dich bestimmt.
Ein andrer, der Großes in mir vermutet, hätte mich doch von klein anfangen lassen und mich, wenn ich die Prüfungen bestanden, nach und nach zu immer höheren Stellen befördert. Nobody aber stellte mich, den unerfahrnen Knaben von siebzehn Jahren, sofort an seine Seite, erkannte mich als Gleichberechtigten an, gab mir über seine Leute und über alles, worüber er selbst verfügte, unumschränkte Vollmacht.
Freilich sagte er mir dies nicht direkt, aber er tat es. Wie dies gemeint ist, wird gleich gezeigt werden. — — —
Unsre Unterhaltung wurde durch zwei Matrosen unterbrochen, welche einen kleinen Panzerschrank in die Kajüte trugen.
Nachdem der eine Bericht erstattet hatte, daß nach Ansicht des wieder hochgekommenen Tauchers, welcher auch diesen Stahlschrank unten abgelöst hatte, der Dampfer wirklich hoffnungslos wrack sei, und daß er nur wenig Reis und sonst Ballast enthalte, entfernten sich die Männer wieder.
»Sehen Sie, das ist ein Vexierschloß, welches auf ein bestimmtes Wort eingestellt werden muß, dann kann man den Schrank öffnen,« sagte Nobody, sich mit der runden Scheibe beschäftigend, welche an der Panzertür angebracht war und viele verstellbare chinesische Buchstaben zeigte.
Er erklärte mir, wie ein solches Vexierschloß funktioniert, und von jetzt an erklärte er fort und fort mit unermüdlicher Geduld, und wenn ich einmal nicht mehr fragte, weil ich glaubte, sie müsse doch endlich erschöpft sein, so forderte er mich gleich wieder auf, über alles, was mir unklar sei, Aufschluß von ihm zu verlangen.
»Wissen Sie, woher mir das Vexierschloß bekannt ist?«
Nein, woher sollte ich das wissen?
»Haben Sie schon von der Hypnose gehört?«
So kurz wie möglich, aber auch vollkommen deutlich, erläuterte er mir das Wesen dieses rätselhaften Zustandes, und was ich nicht in Jahren aus dicken Büchern hätte lernen können, wußte mir dieser Mann in drei Minuten beizubringen.
»Ich habe,« fuhr er dann fort, »einen der gefangenen Japaner hypnotisiert, den ich ganz richtig für einen in die Geheimnisse des gelben Drachen Eingeweihten hielt, und er hat mir denn auch im hypnotischen Zustande die wichtigsten Geständnisse gemacht. Die Hauptsache war, daß ich erfuhr, wo sich in dem gesunkenen Dampfer dieser Panzerschrank befand, welcher Papiere und Instruktionen des gelben Drachen enthält. An diesem Panzerschrank waren nicht nur Selbstschüsse und andre Vorrichtungen angebracht, um ihn gegen fremde Hände zu schützen, sondern es war auch eine Dynamitpatrone vorhanden, und ein leichter Schlag hätte genügt, um den stählernen Schrank samt Inhalt in Atome zu zerschmettern. Das war für den Fall, daß der Dampfer einmal in feindliche Hände geraten sollte. Sie sehen, wie vorsichtig die Mitglieder dieses Geheimbundes sind, und daß der, welcher den Schlag hätte führen müssen, selbst mit in die Luft geflogen wäre, das hat für einen Japaner gar nichts zu sagen. Dadurch, daß ich den Dampfer in den Grund rammte, ist dies alles vereitelt worden und sind mir diese geheimen Instruktionen in die Hände gefallen.«
Der Schrank war geöffnet. Mich blendete vor allen Dingen das viele Gold, welches eine Kassette enthielt; ferner zählte Nobody gegen 60.000 Mark in englischem und amerikanischem Papiergeld, am wichtigsten aber waren für ihn die vorgefundenen Briefe und Dokumente, und er ließ sich nicht verdrießen, mir alles zu übersetzen.
So wurde ich nach und nach in alles eingeweiht, was diesen Geheimbund des gelben Drachen betraf, und nebenbei begann ich spielend, ohne daß ich es eigentlich merkte, die chinesische Sprache zu lernen.
Dieser Mann besaß eine wunderbare Gabe, einem so etwas beizubringen.
Dann begaben wir uns an Deck. Das Boot war schon nach der Insel abgefahren. Jetzt lichtete die Dschonke die Anker und fuhr selbst nach dem Hafen.
Unterwegs erkundigte sich Nobody nach meinen Erlebnissen bei den Piraten, doch viel konnte ich ja nicht erzählen.
Nobody wußte, warum ich verhältnismäßig ganz gut behandelt worden war und immer im ersten Boote hatte sitzen müssen; er gab eine Erklärung dafür. Ich selbst hatte es ja geahnt und habe es auch schon angedeutet.
Hierbei kam ein Aberglaube in Betracht, der unter den chinesischen Piraten herrscht. Alles, was in und auf dem Meere schwimmt, ist nach ihren Begriffen ihr Eigentum, und der Schiffbrüchige, den sie lebendig aus dem Wasser fischen, soll ihnen nach alten Überlieferungen großes Glück bringen. So galt ich als ein Talisman, den man, da er nicht gut um den Hals gehangen werden konnte, einstweilen, wenn man ihn nicht brauchte, vor einer Höhle an die Kette legte. Dann mußte ich jedesmal mit in das erste Boot der eine Dschonke angreifenden Piraten. Der heilige Schiffbrüchige sicherte ihnen den Sieg.
Jener Chinese, der mich mit dem Tode bedroht hatte, war schon etwas aufgeklärter gewesen als seine Genossen und hatte von solchem Aberglauben nichts wissen wollen.
Da brachte der Dampfer die inspizierenden Japaner, welche in dem Geheimbunde des gelben Drachen eine führende Rolle spielten. Obgleich nun diese jedenfalls gebildeten Männer am allerwenigsten an die Zauberkraft solch eines lebendigen Talismans glaubten, ist doch gerade der gelbe Drache darauf bedacht, die alten Überlieferungen der Chinesen in voller Reinheit zu bewahren, und sei es auch der gröbste Aberglaube.
Jener Chinese, der an dem uralten Glauben seiner Vorfahren gezweifelt hatte, war des Todes — desgleichen der, der mich geschlagen hatte. Zugleich sollte ein sensationelles Beispiel des unbedingten Gehorsams statuiert werden — jener junge Japaner schlitzte sich freiwillig den Leib auf.
»Ja, das sind die Japaner!« sagte Nobody. »Es gibt übrigens noch ein andres Volk, aber auch nur noch ein einziges, bei dem man denselben fanatischen Gehorsam findet. Das sind die Russen. Rußland ist freilich groß. Ich denke nur an die sogenannten Stockrussen, vor allen Dingen an die Kosaken. Die opfern sich auch in blindem Gehorsam auf einen Wink ihres Gebieters.«
Er erzählte als Beispiel eine Anekdote, die aber, wie ich später erfuhr, auf Tatsache beruhen soll. Ich gebe sie hier wieder, sie ist es wert.
Peter der Große besucht in Berlin den preußischen König Friedrich den Ersten. Im Gefolge des Zaren befindet sich eine Leibgarde von Kosaken. Eines Tages stehn die beiden auf dem Söller eines Kirchturmes, der König zeigt seinem fürstlichen Gast Berlin aus der Vogelperspektive. Da gerät das Gespräch auf die Disziplin unter dem Militär, welche Friedrich noch mehr durchführen will, als schon sein Vater getan.
Peter der Große hört schweigend zu, plötzlich winkt er einem seiner Kosaken, deutet in die Tiefe und sagt: ›Spring!‹
Der Kosak sieht seinen Kaiser an, salutiert und ... springt hinab in die Tiefe.
»Hat mein königlicher Bruder auch solche gehorsame Soldaten in seinem Lande?« wendet sich Peter der Große an Friedrich.
Der König blickt lange hinab, wo der Kosak mit den zerschmetterten Knochen liegt, dann schüttelt er langsam den Kopf und entgegnet: »Nee, Gott sei Dank, solche dumme Kerls gibt's in meinem Preußen nicht!« —
Nobody blickte nach Norden, dorthin, wo das asiatische Festland lag, und es klang feierlich, was er sprach:
»Es wird eine Zeit kommen — sie muß kommen — da Rußland mit Japan um die Herrschaft in Asien ringen wird, und es wird der fürchterlichste Ringkampf werden, den die Weltgeschichte jemals gesehen hat. Und man wird sich irren. Nicht das kleine Japan ist es, welches gegen Rußland kämpft, sondern ein gelber Drache geht gegen einen Bären los. Und dann — ich sehe noch weiter in die Ferne — wird eine Zeit kommen, da es nur drei große Reiche auf der Erde gibt, und diese drei Reiche werden heißen: Germania, Slavia, Mongolia — und sie werden miteinander um die Herrschaft über die Erde ringen.« —
Wir waren im Hafen der Felseninsel angelangt, wo auch schon das Eisenboot der Dschonke lag. Ich vermißte kein einziges Fahrzeug der Piraten; sie hatten also nicht die Gelegenheit benutzt, um die Flucht zu ergreifen.
Die Zurückgebliebenen hatten beobachtet, wie die sechs Prauen in den Grund geschossen worden waren, wie sich die hölzerne Dschonke wie ein Widder auf den eisernen Dampfer geworfen und ihn mitten durchgeschnitten hatte, und da waren sie alle von einem lähmenden Entsetzen gepackt worden.
Nobody hatte das zwar vorausgesehen, war aber doch hocherfreut, daß es auch wirklich so gekommen war. So blieb das Geheimnis seiner mysteriösen Dschonke bewahrt, wie er es bisher zu wahren gewußt hatte.
Die Bootsbesatzung hatte die sämtlichen Piraten, welche sich mit Frauen und Kindern zumeist in Höhlen versteckt hatten, bereits aufgespürt — es gab auch genug Verräter unter ihnen — sie wurden zusammengetrieben und gezählt. Es waren 38 Männer, lauter Chinesen, 53 Weiber und nicht weniger als 165 Kinder.
Nobody, wieder als Chinese maskiert, hielt eine Ansprache, welche eine freudige Erregung hervorzurufen schien. Er hatte ihnen, wie er mir dann erklärte, versichert, daß ihr Leben geschont würde; vorläufig blieben sie hier auf der Insel, bis sie abgeholt würden, um dann mit einer leichten Arbeit beschäftigt zu werden, und bis dahin sollten sie den Wachtposten gehorsam sein, die er bei ihnen zurücklassen würde. Jeder Ungehorsam freilich würde sofort mit dem Tode bestraft.
Diesen letzten Satz wußte Noboby durch einen zu mildern, worauf die gefangenen Chinesen, wie auch die Frauen und Mädchen in ein schallendes Gelächter ausbrachen. Wiedergeben kann ich diesen Witz nicht; er hing damit zusammen, daß die Gefangenen, auch wenn sie von der Insel fortmußten, nicht von ihren Ehehälften getrennt würden.
Jedenfalls bewies Nobody hiermit, daß er mit solchem Gesindel und überhaupt mit Chinesen umzuspringen wußte. Verzweifelte oder stumpfsinnige Menschen, welche den Tod erwarteten, hatte ich vorgefunden — und als wir gingen, hörte ich noch lange ihr kreischendes Gelächter.
»Was wäre sonst das Los der Frauen und Kinder?« fragte ich.
»Der Tod,« lautete die ernste Antwort. »Auch die Angehörigen der Inselpiraten werden gehenkt, weil sie um das Treiben der Männer gewußt haben, so aber sind auch sie laut Kontrakt mit der Regierung meine Sklaven, auch sie nehme ich mit mir und beschäftige sie, ohne sie von den Männern zu trennen. Es ist ein gutes Werk, was ich tue.«
Wir besichtigten die auf der Insel aufgespeicherte, ganz beträchtliche Beute, wobei ich nicht von Nobodys Seite weichen durfte und er unermüdlich im Erklären war.
Das eiserne Boot ward wieder auseinandergeschraubt und an Bord der gepanzerten Dschonke genommen, welche den schönen Namen ›Fatschul‹ führte, das ist nämlich auf deutsch ›Popanz‹. Als Wachtposten blieben zwölf Mann zurück, welche sich in den chinesischen Dschonken, nachdem diese gereinigt worden, was sehr nötig war, häuslich einrichteten, stark bewaffnet und außerdem mit zwei Revolvergeschützen versehen. Sie sollten die Piraten und deren Familien bewachen, bis ein größeres Fahrzeug käme, um alle abzuholen.
Der ›Popanz‹ hatte von den Prauen 37 Mann gefangen genommen, dann von dem Dampfer noch 15 Chinesen und 7 Japaner ausgefischt; diese blieben als Gefangene an Bord, als die Dschonke am Abend die Anker lichtete und unter Motorkraft davonfuhr.
So sehr Nobody auch darauf bedacht war, mich in alles einzuweihen, so erklärte er mir doch nur stets das, was meine Augen eben sahen. Ich erfuhr nicht einmal das Ziel unsrer nächtlichen Fährt, während der keine Lichter ausgesteckt wurden. Ich hörte nur, daß der ›Popanz‹ sich bloß in der Nacht seiner Motorkraft bediente und dann stets ohne Lichter fuhr, während er am Tage immer nur das Bastsegel oder höchstens, aber auch schon als seltene Ausnahme, die Ruder zum Vorwärtskommen benutzte. Wurde dabei dennoch die Motorkraft gebraucht, so durfte das doch von keinem Beobachter bemerkt werden.
Um was es sich hierbei handelte, liegt wohl klar auf der Hand. Es war ein genialer Einfall gewesen, den Nobody gehabt, als er sich zum Kampfe gegen die chinesischen Piraten ein gepanzertes Fahrzeug bauen ließ, welches äußerlich ganz einer Dschonke glich, und es auch noch mit einem Motor ausstattete. Alle die, welche durch die Räubereien der chinesischen Piraten zu leiden haben — und das sind nicht zum mindesten europäische Kaufleute — hätten eigentlich selbst auf diese Idee kommen können. Aber das ist eben die alte Geschichte vom Ei des Kolumbus.
Solch ein Fahrzeug mußte in Wirklichkeit bald zum Popanz aller Piraten werden. Keine Prau durfte ja noch wagen, irgend eine harmlose Dschonke anzugreifen, aus Furcht, sie könne sich als der schreckliche, feuerspeiende Popanz entpuppen, der die stärksten Eisenplatten wie Butter durchschnitt, und die Furcht vor jeder Dschonke mußte um so größer sein, weil dieses Fahrzeug, wie ich selbst später häufig genug sah, oftmals sein Aussehen veränderte. Somit also wäre der chinesischen Seeräuberei in diesen Gewässern überhaupt gleich ein Ende bereitet gewesen.
Hieran aber war Nobody durchaus nichts gelegen. Ganz im Gegenteil! Mehr noch als um die Beute, welche er den Piraten wieder abnahm, war es ihm um die Gefangenen selbst zu tun — zu einem Zwecke, den wir bald kennen lernen werden — Nobody betrachtete eben diesen ihm von der Regierung konzessionierten Kriegszug gegen die chinesischen Piraten, ganz einer Kaperei entsprechend, als eine unerschöpfliche Quelle von Kapital und billiger Arbeitskraft — so lange unerschöpflich, wie er das Geheimnis seiner Dschonke zu wahren wußte, und bisher war ihm das auch gelungen.
Eine weitere Erklärung ist wohl nicht nötig. —
Als ich am andern Morgen nach einigen Stunden Schlafes in einer komfortablen Koje wieder an Deck kam, gewahrte ich hinter mir in weiter Ferne einen Gebirgszug, während sich die Dschonke in einem Labyrinth von kleinen Felseninseln befand.
Nobody leitete immer noch als chinesischer Kapitän selbst die schwierige Passage durch die schmalen Wasserstraßen, wobei beständig gepeilt werden mußte. Als er meiner ansichtig wurde, winkte er mir sofort, an seine Seite zu kommen.
»Sehen Sie dort hinten den Gebirgszug? Er gehört zur Insel Formosa, welche wir heute nacht umfahren haben. Formosa ist der Schlüssel zu China. Wer sich einst in den Besitz von Formosa setzt, wird der Herr über China sein. Und die Japaner werden es sein. Darüber aber kann noch lange Zeit vergehen, vielleicht ein paar hundert Jahre. Vorläufig ist so gut wie ganz Formosa, einige befestigte Hafenplätze abgerechnet, in der Gewalt von chinesischen Riffpiraten, denen unter den jetzigen Verhältnissen, da sich die chinesische Regierung noch keine Vorschriften zu machen braucht, gar nichts anzuhaben ist. Diese Felseneilande hier gehören noch zu der Gruppe der Pescadoresinseln, ebenfalls alles unbestrittenes Eigentum der Piraten, wenn sie deswegen auch nicht im Grundbuche eingetragen sind. Eine der größten dieser Felseninseln nun habe ich mir, wie ich Ihnen schon sagte, als Operationsbasis für meine Züge gegen die Piraten abtreten lassen. Aber das war nur pro forma, für mich hat diese Insel, die Sie bald zu sehen bekommen werden, noch eine ganz andre Bedeutung.«
Nobody begann nun, mir von einem Gaukler namens Tsin Hei zu erzählen, wie dieser an jener Insel Perlmuscheln ausgesät hatte, wie Nobody mit ihm in Verbindung kam, und wie die beiden acht Jahre lang Gefangene des Taotai von Hangtscheu gewesen waren.
Dem Leser ist dies alles schon ausführlich bekannt, und nun füge ich noch hinzu, was ich mit eignen Augen zu sehen bekam und im Laufe der Zeit erfuhr.
Nicht Nobody selbst, sondern sein Kompagnon, bekannt unter dem Namen Kapitän Flederwisch, hatte als moderner Abenteurer bei der chinesischen Regierung um die Erlaubnis gebeten, unter den genannten Vergünstigungen auf eigne Faust einen Vernichtungskampf gegen die Piraten führen zu dürfen.
Es liegt hier überhaupt ein eigentümliches Verhältnis vor. Wenn Nobody allerdings auch der Mann war, von dem alles ausging, der die Pläne entwarf und zuerst alles arrangierte, so war Kapitän Flederwisch doch eigentlich der Hauptmacher. Nobody war der Kopf, Flederwisch war sein Arm. Sobald Nobody wußte, daß — wie er sich selbst ausdrückte — sein Schlitten lief, überließ er die Leitung einem andern und kümmerte sich nicht mehr darum, steckte nur noch seine Prozente ein. So hat Nobody stets gehandelt, tat es also auch jetzt. Selbst daß er jetzt als Kapitän der Motordschonke einen Beutezug gegen die südlichen Piraten gemacht hatte, das war eigentlich nur ein Privatvergnügen für ihn gewesen.
Vorläufig aber war er doch noch an Ort und Stelle seines neuen Unternehmens, das er, wie immer, einfach als ein gewinnbringendes Geschäft betrachtete, und auch noch, da er gerade nichts andres vorhatte, selbst mit in diesem Geschäfte tätig war.
Nach längern Verhandlungen hatte Kapitän Flederwisch die gewünschte Erlaubnis erhalten. Damals aber verfügten die beiden Kompagnons nur über die nach Art eines Torpedojägers gebaute ›Wetterhexe‹, und als sie nun die Gegend genauer sondierten, welche demnächst ihr Operationsfeld sein würde, und sich alles noch einmal reiflich überlegten, kamen sie zu der Überzeugung, daß sie da noch ganz andre Vorbereitungen treffen müßten, wenn sie zu ihrem Ziele kommen wollten. Ein großes Hindernis war schon, daß die ziemlich große ›Wetterhexe‹ nicht in die seichten, von Riffen starrenden Wasserstraßen eindringen konnte. Es kamen aber auch noch ganz andre Verhältnisse in Betracht. Es war zu bedenken, daß sich in China auch unter den höchsten Verwaltungsbeamten Personen befinden, welche selbst mit zum Geheimbunds des gelben Drachen gehören. Verhindern konnten sie freilich nicht, daß dem Kapitän Flederwisch die Erlaubnis gegeben wurde, gegen die Piraten vorzugehen, aber sie würden im geheimen schon ihre Gegenminen legen; dessen durfte man sicher sein, denn sie waren doch eben mit den Piraten im Bunde.
So hielt man es für das Beste, alles, was man zur Ausführung des Unternehmens brauchte, so entfernt wie möglich von hier anzuschaffen, und daher dampfte die ›Wetterhexe‹ erst noch einmal nach England zurück.
Während Nobody und Flederwisch in London einkauften, machten sie die Bekanntschaft des Lords Hannibal Roger. Hier sahen sie auch dessen Petroleum-Motorjacht, Nobody faßte den Plan, sich nach dem Muster derselben eine chinesische Dschonke mit innrer Panzerung bauen zu lassen. Zuerst hatte er nur an kleine, flachgehende Dampfer gedacht, die er sich allerdings auch noch verschaffte, aber doch nur zu Hilfszwecken.
In dieser Zeit der Vorbereitungen, als sie selbst zur Untätigkeit verurteilt waren, machte die ganze Gesellschaft einen Abstecher nach der Riviera, wobei sich Kapitän Flederwisch als der maskierte Prinz von Monte Carlo die ›Heliotrop‹ verdiente — aber doch immer nur durch die Vermittlung Nobodys. Übrigens trat jetzt auch Lord Hannibal Roger, der ja auf dieser schönen Welt ebenfalls nichts weiter zu tun hatte, als Abenteuern nachzugehn, als tätiger und kapitalkräftiger Teilhaber mit in die Firma Nobody und Kompanie ein.
Jetzt ging es mit der ›Wetterhexe‹ und der ›Heliotrop‹ wieder zurück nach China, an Bord die auseinandergenommene Dschonke, eine Menge Geschütze jedes Kalibers, Munition und sonst alles, was man zu gebrauchen gedachte.
Ohne weitere Umstände wurde Besitz ergriffen von der Felseninsel, welche den unternehmungslustigen Abenteurern von der chinesischen Regierung zugesprochen worden war. Daß diese nicht wußte, wie in der Umgebung der betreffenden Insel durch die Aussaat jenes alten Gauklers im Laufe der Zeit unterseeische Felder von Perlmuscheln entstanden waren, braucht wohl nicht erst erklärt zu werden.
Wie schon gesagt: der sonst so nüchterne Nobody glaubt an eine Fügung, an eine Bestimmung, an ein Schicksal, oder wie man es sonst nennen mag, dem kein Mensch entrinnen kann. Es ist dies eine Eigentümlichkeit, die er mit der ganzen Nation der Yankees teilt, wie Nobody überhaupt viel Yankeehaftes an sich hat — im besten Sinne gemeint.
Und er hat auch ganz recht, wenn er sich scherzhaft einen konzessionierten Felsenmaulwurf nennt. Es ist wirklich ganz seltsam.
Um sich aus der Meeresfeste von Hangtscheu zu befreien, meißelte Nobody innerhalb von 8 Jahren einen 40 Meter langen Tunnel. Zu dieser Arbeit hatte er sich ganz unbewußt schon vorgebildet, denn Nobody hat, wie er selbst erzählt, von klein auf eine merkwürdige Vorliebe für Felsenhöhlen und Tunnels gehabt. Das ›Robinson-Spielen‹ genügte ihm nicht, er hat sich als Kind mit Hammer und Meißel immer in die Felsen einbohren müssen, wozu er in seiner Heimat die beste Gelegenheit hatte. Das war ihm sein liebstes Vergnügen gewesen, so, wie Kapitän Flederwisch erzählt, daß sich jeder Tisch, auf den er sich setzte, in seiner Phantasie in ein Schiff verwandelte, auf dem er nach unentdeckten Erdteilen ausfuhr.
Während Nobody sein Abenteuer in Ägypten am Birket el Kerun besteht, wird er als Blinder von jenem Mädchen in eine Wohnung von Kammern geführt, welche in die Felsen hineingehauen sind.
Dann kommt Nobody nach Monte Carlo — da läßt ihn das Schicksal in Gestalt der Prinzeß Turandot ein ganzes System von unterirdischen Tunnels finden, welche der ›konzessionierte Felsenmaulwurf‹ schleunigst erweitern muß.
Ja, auch jenes englische Schloß, Red Castle, dessen Keller in den Felsen gehauen waren, kann hierzu gerechnet werden, und man braucht wirklich nicht abergläubisch zu sein, um in diesem Zusammentreffen etwas wie eine Fügung zu erkennen.
Nobody nun denkt hierüber noch anders. Er widerstrebt diesem Schicksal nicht, sondern kommt ihm auch noch mit seinem gewöhnlichen Humor entgegen. Er hat es seitdem auf solche Wohnungen geradezu abgesehen.
»Ein jedes Tierchen hat sein Pläsierchen, und die meisten Menschen haben ihr Steckenpferd,« äußerte er sich einmal bei Gelegenheit. »Der eine sammelt Schmetterlinge, der andre sammelt Briefmarken, der dritte sammelt alte Stiefeleisen. Well, ich sammle originelle Menschen und Felsenlöcher.«
Auch auf jenem quadratkilometergroßen Felseneiland, welches von den chinesischen Schiffern San-Le genannt wird, sollte sich wiederum sein Schicksal erfüllen. Nobody fand darauf ebenfalls ein ganzes System von Felsenkammern, nicht in die Wände gehauen, sondern kellerartig in den Boden hinein.
Zu verwundern war das in diesem Falle allerdings nicht. Nobody wußte bereits, daß diese Felseninsel ein Heiligtum des gelben Drachen war, wo die führenden Mitglieder ihre geheimen Versammlungen abhielten, wo nach dem Glauben des Volkes der gelbe Drache wirklich als feuerspeiendes Ungetüm hausen sollte, bis er dereinst alle ›weißen Teufel‹ auffressen und die bezopften Söhne des himmlischen Reiches zur alten Herrlichkeit zurückführen würde — und die Japaner setzten noch hinzu: als Herren der ganzen Erde.
Die unterirdischen Gänge und Kammern waren vollkommen leer und nackt. Nobodys scharfer Blick aber erkannte, daß es noch vor kurzem hier anders ausgesehen hatte. Vor allen Dingen hatten hier Postamente gestanden, auf denen jedenfalls Götzen ruhten. Ein Geruch nach getrockneten Fischen verriet, daß hier auch Proviant aufgespeichert gewesen war, und dann zeigten auch die mitgebrachten Hunde ein ganz eigentümliches, ängstliches Verhalten.
»Ich kann es nicht behaupten, aber ich glaube bestimmt, daß hier zu gewissen Zeiten Menschenblut vergossen wurde,« sagte Nobody, als er mich auf der Insel herumführte, mir alles und jedes erklärend.
Die Piraten oder vielmehr die Geheimbrüder des gelben Drachen waren demnach in Kenntnis davon gesetzt worden — was nur von ganz oben herab geschehen sein konnte — daß die Regierung diese Insel einem ›weißen Teufel‹ zur Verfügung gestellt hatte; man hatte alles schnellstens fortgeschafft.
Also da hatte der gelbe Drache, der sich seiner Allmächtigkeit rühmt, so ohne weiteres das Feld geräumt, noch dazu vor einem ›weißen Teufel‹, von dem es bekannt war, daß er gegen die Bundesgenossen des gelben Drachen, gegen die chinesischen Piraten, einen Vernichtungskrieg führen wollte?
Nobody traute denn auch dem Braten nicht recht und ... fand richtig in einer versteckten, sehr tief angelegten Felsenkammer eine allermodernste Dynamitmine, welche genügt hätte, die ganze Insel in die Luft zu sprengen!
Aber dieses ›Finden‹ ist leichter gesagt, als es in Wirklichkeit war. Es hatte eine Spürnase dazu gehört, wie sie nur dieser Privat-Detektiv besaß, um das zurückgelassene Andenken des gelben Drachen aufzufinden und die Gefahr noch rechtzeitig zu beseitigen. Denn das mußten gar geriebene Köpfe und gar geschickte Hände gewesen sein, welche diese Torpedomine, schon mehr eine Art von Höllenuhr, gelegt hatten! Nur ein einziger unvorsichtiger Tritt oder Handgriff desjenigen, welcher die harmlos aussehende Kiste untersuchte, hätte genügt, die ganze Insel in einen feuerspeienden Vulkan zu verwandeln. Außerdem war die furchtbare Höllenmaschine durch einen elektrischen Draht mit einer andern, weitentfernten Felsenklippe verbunden, dort brauchte bei passendster Gelegenheit nur ein Hammerschlag geführt zu werden, um die ganze Gesellschaft in die Luft zu sprengen.
Ich will nicht des längern dabei verweilen. Die Gefahr wurde beseitigt; Nobody verfolgte auch das unterseeische Kabel und tat sein möglichstes, aber es gelang ihm leider nicht, den Feind, welcher auf jener Felsenklippe gegebenenfalls die Mine entzündet hätte, zu fassen. Die Piraten waren gewarnt.
Seit zwei Monaten wurde auf San-Le das Tauchen nach den Perlmuscheln betrieben, und der gelbe Drache hatte noch nicht das geringste Zeichen von sich gegeben. Friedlich konnten die Leute ihrer Arbeit nachgehn.
Trotzdem sagte mir Nobody selbst, daß sich diese Leute auf einem verlornen Posten befänden, und gegen den Angriff des gelben Drachen, der über kurz oder lang doch noch erfolgen würde, würden alle seine Sicherheitsmaßregeln nichts nützen. Er unterschätzte die Macht des gelben Drachen durchaus nicht.
In Anbetracht alles dessen, was ich zu hören bekommen hatte, machte die Insel, so lebhaft es auch darauf zuging, einen sehr niederschlagenden Eindruck. Es war ja auch nur ein nacktes Felseneiland.
Die Besatzung bestand aus 42 Europäern, von denen sehr viele Deutsche waren, nur ausgesuchte Männer, die Nobody und Flederwisch nach und nach um sich versammelt hatten, und aus etwa der doppelten Anzahl Chinesen, lauter gefangenen Piraten, welche Frondienste verrichten mußten.
Zuerst waren an Stellen, von denen aus man die ganze Insel und die weitere Umgebung beobachten konnte, aus losgesprengten Bruchsteinen zwei massive Forts errichtet worden, die man mit großen und kleinen Geschützen stark armiert hatte. Sie dienten mehr zur Verteidigung der Insel, falls der gelbe Drache einmal als moderner Angreifer erscheinen sollte, als um einer Meuterei der gefangenen Chinesen zu begegnen.
Diese wurden so vortrefflich verpflegt und behandelt, daß sie mit ihrem Schicksal ganz zufrieden waren. Eine Flucht von der Insel ward schon durch die zahlreich sie umschwimmenden Haifische unmöglich gemacht, dann waren auch eine Menge Wachthunde da, welche bei Nacht die Küsten abstreiften.
Das Einsammeln der Perlmuscheln auf dem Meeresgrunde geschah nur durch Europäer im Taucherkostüm, während den Chinesen das Durchsuchen der am Lande aufgeschichteten Muscheln, die schnell faulen und dann einen gräßlichen Gestank verbreiten, überlassen blieb. Obgleich dabei nur oberflächlich verfahren wurde, war die Ausbeute an Perlen doch eine ganz enorme. Eine Angabe des Wertes durch Zahlen ist hierbei unmöglich. Jedenfalls mußte die Firma Nobody und Kompanie bald eine der reichsten der Welt sein.
In einer Bucht lagen außer einigen Dschonken auch zwei kleine, eiserne Dampfer. Kurz vor unsrer Ankunft waren deren aber fünf hier gewesen. Drei waren bereits abgegangen, um die auf der Pirateninsel gefangenen Chinesen abzuholen.
Auf welche Weise man hier schon davon erfahren hatte, daß die drei Dampfer bereits unterwegs waren? Durch Brieftauben. Auf dieser Insel war eine Station von Brieftauben, der ›Popanz‹ hatte solche an Bord gehabt. Es war eine ganz eigentümliche Art von Tauben, die ich zu sehen bekam, zierlich, gelb, mit einem weißen Federkrönchen, und Nobody erklärte mir, daß es arabische Tauben seien, Selmas genannt, die er hier eingeführt habe, weil sie sich, wenn es einmal gelungen sei, sie abzurichten, als die trefflichsten Briefbeförderer erwiesen, vor allem aber jedem vierbeinigen und jedem geflügelten Räuber entgingen.
Mir lag die Frage nahe, ob die Brieftaubenpost nur zwischen dieser Insel und den von hier abgehenden Schiffen bestände. Ganz sicher gab es auch noch andre Stationen. Und wohin wurden denn die Perlen gebracht? Wohin die vielen gefangenen Piraten? Mich beschäftigten überhaupt noch sehr viele andre Fragen, aber ich unterdrückte sie standhaft, weil ich immer deutlicher merkte, wie mich Nobody nur in das einweihen wollte, was ich zur Zeit mit meinen eignen Augen sah.
Als Oberbefehlshaber der Insel wurde mir ein Japaner namens Keigo Kiyotaki vorgestellt, derselbe, welchen Nobody einst in London vom Fallbrett des Galgens gerettet hatte. Dieser führte mich auch in das Innere der Forts ein, und als ich bei der staunenswerten Armierung — ich sah sogar zwei Dreißigzentimetergeschütze — fragte, wie man denn da die Piraten noch zu fürchten habe, und sei der gelbe Drache auch noch so mächtig, sie könnten sich dieser Insel doch nur in kleinen Fahrzeugen nähern — für die Nacht waren sogar Scheinwerfer vorhanden — da wurde mir statt aller Antwort etwas gezeigt, was wiederum einen sehr niederschlagenden Eindruck auf mich machte.
In einer der unterirdischen Kammern war ein vollständiges Laboratorium eingerichtet. Soeben war ein Herr, der mir als Dr. Abendrot vorgestellt wurde, damit beschäftigt, eine Probe Reis, die er einem großen Sacke entnommen, einer chemischen Untersuchung zu unterziehen, und gleichzeitig bekam ein Hund einen Teller mit gekochtem Reis zu fressen.
»Ich halte den Reis für giftfrei,« lautete dann die Erklärung.
Also Gift war es, was man hier mehr fürchtete als Pulver und Dynamit. Alle Nahrungsmittel, die man den Piraten abnahm, wurden auf Gift untersucht. Denn es war nicht möglich, sich vom Festlande aus mit Proviant zu versehen, und wenn der gelbe Drache auch noch nicht das Geheimnis der Motordschonke kannte, so wußte man doch, daß die Bewohner dieser Insel einen Kaperkrieg gegen die Piraten führten, woran ab und zu auch die kleinen Dampfer teilnehmen mußten, und wenn man den Geheimbund des gelben Drachen kannte, so hatte man vor allen Dingen mit Gift zu rechnen, welches dem Proviante von Dschonken beigemischt wurde, die vielleicht schon dazu bestimmt waren, sich von den ›weißen Teufeln‹ kapern zu lassen.
Da konnte das Eiland trotz aller seiner Perlenschätze kein angenehmer Aufenthalt sein, und ich war herzlich froh, als ich vernahm, daß wir schon am Nachmittage die Insel wieder verlassen würden.
Die Motordschonke blieb hier, um fernerhin Razzias gegen die Piraten zu veranstalten. Wir benutzten zur Weiterfahrt einen der beiden kleinen Dampfer, und auf diesen wurden auch die gefangenen Chinesen und wenigen Japaner untergebracht, die wir aus dem Wasser gefischt hatten. Sie blieben an Händen und Füßen gebunden, wurden aber sonst sehr bequem untergebracht. Auch wenigstens die Hälfte der Besatzung der Dschonke kam mit hinüber auf den Dampfer, vorläufig noch als Chinesen verkleidet. Unter ihnen befand sich auch der kleine, krummbeinige Nasenkönig, den ich nun schon als eine gewichtige Persönlichkeit kennen gelernt hatte. Ferner nahm der Dampfer alle seit Wochen gesammelten Perlen mit, einen ansehnlichen Sack voll.
Wir verließen die Bucht noch am hellen Tage und hatten bei Anbruch der Dunkelheit die gefährlichsten Wasserstraßen hinter uns. Es wurde die ganze Nacht gedampft, und als ich am andern Morgen an Deck kam, wußte ich noch immer nicht unser Ziel.
Einige Stunden später erhob sich vor uns aus der See ein dunkler Gegenstand. Ich kann nicht schildern, wie sich dieser nach und nach zu einem imposanten Felsplateau entwickelte, welches mit schroffen Wänden aus dem Meere stieg.
Zu Mittag speiste ich allein mit Nobody in dessen kleiner Kajüte, wurde von ihm immer nicht nur wie ein angesehener Gast, sondern wie ein vertrauter Freund behandelt, ohne daß ich mir noch klar werden konnte, woher diese liebenswürdige Zuvorkommenheit stammte, und als ich dann wieder mit ihm das Deck betrat, präsentierte sich mir der abgeplattete Felsenberg in seiner gewaltigen Majestät. Er war so geformt, daß er große Ähnlichkeit mit der Insel Helgoland hatte; wie eine Kiste lag er auf dem Meere, aber von weit mächtigeren Dimensionen und vor allen Dingen auch viel höher. Helgoland gleicht einer auf der breitesten Seite liegenden Zigarrenkiste. Hier war die Zigarrenkiste auf ein Kopfende gestellt.
»Kennen Sie diesen Berg?« fragte mich Nobody.
Solch ein schroff aus dem Meere steigendes Felsengebilde ist stets ein wichtiges Seezeichen für die Schiffer und auf allen Seefahrtskarten vermerkt, aber es gibt deren zahllose. Der am einsamsten im Weltmeer liegende Berg ist das englische Assuncion.
Ich verneinte die Frage.
»Es ist der Mountain of sulphur, der Schwefelberg. Als Seewahrzeichen kommt er nur wenig in Betracht.«
»Wem gehört er?«
»Mir!« lautete die lakonische Antwort.
»Ihnen?« wiederholte ich erstaunt.
Ich hatte doch gemeint, ob er den Engländern oder den Chinesen gehöre.
»Unter englischer Flagge steht er, aber er ist dennoch mein oder unser Eigentum. Als England ganz Australien und die polynesischen Inseln okkupierte, wurde das alles durch Lose an die englischen Lords verteilt. Das ist gegen Entschädigung wieder zurückgenommen worden, doch es gibt noch Ausnahmen. Der Eigentümer dieses Schwefelberges nebst der darumliegenden Inseln ist Lord Hannibal Roger; er hat sich erst vor kurzem in diesem Besitze parlamentarisch bestätigen lassen und darauf die Schwefelinseln samt diesem Berge mir oder vielmehr der Firma Nobody & Kompanie rechtskräftig abgetreten.«
Erst jetzt gewahrte ich eine Inselgruppe, welche sich um den Berg, herum lagerte. Die Eilande, obwohl ebenfalls bergig, verschwanden gegen den Meeresriesen, welcher selbst immer mächtiger hervortrat.
»Wie groß ist der Schwefelberg?«
»Acht englische Meilen im Umfang.«
»Nicht möglich!«
»Doch. Wir sind noch weit ab, und da kann man sich sehr irren.«
»Und wie hoch?«
»Etwa tausend Meter. Aber das ist nur indirekte Messung. Bestiegen hat ihn noch kein Mensch.«
»Weshalb nicht?«
»Weil er eben unersteigbar ist. Wie soll man da hinaufkommen?«
»Ich erkenne doch treppenartige Terrassen.«
»Ja, aber wie hoch diese Stufen sind!« lachte Nobody. »Da kann man keine Leitern anlegen. Die Terrassen sind auch nicht so regelmäßig, wie sie von hier aus erscheinen.«
»Ist es ein erloschener Vulkan?«
»Sicher nicht. Gerade hier ist der Boden gar nicht vulkanisch. Das Plateau ist jedenfalls völlig eben.«
»Aber deutet Schwefel nicht immer auf vulkanische Eruptionen hin?«
»Sie meinen wegen des Namens Schwefelberg und Schwefelinseln? Diese Inseln heißen wahrscheinlich deshalb so, weil auf ihnen der Schwefel fehlt. Man sagte, einige Quellen sollten Schwefel enthalten. Ich habe daraufhin sämtliche Quellen und Bäche untersuchen lassen, aber auch nicht die geringste Spur von Schwefel darin gefunden.«
»Ich sehe Vögel zu- und wegfliegen.«
»Sehen Sie wirklich? Donnerwetter, haben Sie gute Augen!« bewunderte mich Nobody, der das Fernrohr zur Hand genommen hatte. »Sie sehen ja bald noch schärfer als ich. Was schließen Sie daraus, daß dort oben Vögel leben?«
»Dann muß es dort oben auch Wasser geben.«
»Ist nicht nötig. Es können auch Seevögel sein, Möwen, die dort oben nur nisten, die brauchen kein frisches Wasser.«
»Nein, ich unterscheide auch Landvögel.«
»Können Sie das wirklich unterscheiden? Ich bewundere Sie. Nun ja, es mag sich auf dem Plateau Regenwasser ansammeln.«
»Wie kommt es nur, daß England aus diesem Meeresfelsen kein zweites Gibraltar schafft?«
»Ich sagte Ihnen doch schon, daß der Felsen unersteigbar ist.«
»Es gibt gar keinen Felsen, keinen Berg, keine Felsenwand, die unersteigbar ist; die menschliche Ausdauer, verbunden mit unsrer heutigen Ingenieurwissenschaft, überwindet jedes Hindernis, sie erklimmt auch die steilste Wand und bringt auch die schwersten Geschütze hinauf. Warum schafft England hier nicht eine unüberwindliche Seefeste, wie es sonst seine Gewohnheit ist?«
Ich muß hierbei nochmals bemerken, wie Nobody immer direkt wollte, daß ich an ihn Fragen stellte, er wollte meine Ansichten hören, er verlangte es. Daran hatte ich mich nun schon gewöhnt, daß ich es ganz von selbst tat.
»Sie haben recht,« entgegnete er jetzt. »Auch ich lasse bereits einen Pfad in den Felsen hauen, auf welchem ich dann als erster Mensch diesen jungfräulichen Berg besteigen werde, um ihn danach ›Nobodys Mountain‹ zu taufen. Kanonen lassen sich da freilich noch lange nicht hinausschaffen, das kostet vielleicht die Arbeit von hundert, von einigen hundert Jahren. Ich kenne das. Bringen Sie nur einmal kleine Geschütze einen gewöhnlichen Alpenpaß hinauf! Übrigens hat dieser Felsenberg für eine Seemacht besonders deshalb gar keine Bedeutung, weil auf drei Seiten zu seichtes Fahrwasser für größere Kriegsschiffe ist, und auf der vierten Seite gibt es auch keine Inseln, da hebt sich die Felswand vollständig senkrecht aus dem Meere.«
Meine Aufmerksamkeit wurde jetzt auf eine der Inseln gelenkt, der wir uns unterdessen so weit genähert hatten, daß von den andern nichts mehr zu sehen war. Wir liefen in einen von Quaimauern geschützten Hafen ein, in dem außer Dschonken und kleineren Fahrzeugen auch zwei ziemlich große lagen, das eine davon wie ein großes Torpedoboot aussehend. Das waren die ›Heliotrop‹ und die ›Wetterhexe‹.
An den Ufern sah ich Hunderte von Chinesen beschäftigt, meist mit Mauerarbeiten, sie waren Sklaven, wurden aber von keiner Sklavenpeitsche angetrieben — überall erblickte ich nur heitere und zufriedene Gesichter.
Nahe am Hafen erhob sich eine stattliche Häuserstadt, daran grenzten Fluren und Wälder, wie ich die ganze Lieblichkeit dieser im gesegnetsten Klima gelegenen Insel auch schon von weitem hatte bewundern können, und einige von Kanonen starrende Bastonaden störten diesen friedlichen Eindruck nicht.
Noch hatten wir den Dampfer nicht befestigt, als ein Boot sich längsseit legte, und ich war nicht wenig überrascht, daß zwei Frauen die ersten waren, welche das Deck betraten. Das heißt, von einem ›Betreten‹ kann eigentlich nicht die Rede sein, sie stürzten vielmehr gleich auf Nobody zu, der sich jetzt aber nicht mehr als Chinese präsentierte.
Die eine hätte ich bald für eine Müllerin gehalten, sie hatte so ein weites, weißbestäubtes Sacktuch um, desgleichen um den Kopf, während die andre, ein schwarzer Lockenkopf, in dem kurzen Reitkleid mit Ledergamaschen einen mehr amazonenhaften Eindruck machte, aber zugleich auch einen etwas zigeunerhaften, denn an ihrem Kostüm flatterten einige Fetzen.
»Alfred!«
»Gabriele, Turandot!«
Die eine, die Müllerin, lag an Nobodys Brust, die andre, die Zigeunerin, hing sich ihm, weil sie vorn keinen Platz mehr hatte, hinten auf den Rücken.
Der Zweck war, dem Leser so kurz wie möglich zu schildern, was Nobody in China treibt, und wie er sich auf der Insel, die er einmal seine zukünftige Heimat nannte, eingerichtet hat.
Daß längere Zeit bei dem Schwefelberge verweilt wurde, hat seine besondere Bedeutung, wie später erkannt werden wird. Er sollte in Nobodys Leben noch eine große Rolle spielen.
Es sei nun bloß noch einer Person in Kürze gedacht, bei der sich Hammers Bericht zu lange aufhält.
Das ist Gabriele. Hammer sieht sie zwar schon an Deck des Dampfers und denkt, es ist eine Müllerin, weil sie so einen staubigen Kittel anhat, lernt sie aber erst richtig in ihrem Bildhaueratelier kennen, wo sie von einem italienischen Künstler, den Nobody direkt aus Rom ›bezogen‹ hat, unterrichtet wird, soweit sie noch eines Unterrichtes bedarf, um das Höchste in der Bildhauerei zu erreichen.
Daß wir das junge Mädchen, oder jetzt vielmehr die junge Frau, welche noch vor kurzem als Jussuf el Fanit die libysche Wüste unsicher machte, jetzt auf einer einsamen Insel als Bildhauerin wiederfinden, ist durchaus nicht wunderbar.
Wolle sich der geneigte Leser nur entsinnen, wie Nobody als vorgeblicher Blinder in der Felsenkammer des Geiergebirges die aus Stein gehauene Badewanne mit der plastischen Skulptur, badende Nymphen darstellend, bewunderte, und was damals über die französischen Journale gesagt wurde, welche solche in Mode gekommene Badewannen abbildeten.
Das war ganz einfach aus Gabrieles eigner Hand hervorgegangen, das und noch manches andre, was Nobody dann noch später zu sehen bekam. Sie hatte es nicht gelernt, niemand hatte es ihr gezeigt, sie konnte es. Das ist das Genie. Ein innerer Drang hatte ihr, wenn sie sich in die Einsamkeit zurückzog, immer wieder Hammer und Meißel in die Hand gegeben. Die Vorlage zu jenen badenden Nymphen hatte sie einem französischen Journal entnommen.
»Seelenverwandtschaft,« sagte Nobody in seiner trocknen Weise, wenn das Gespräch daraufkam, »das ist Fügung, daß wir beide für alles schwärmen, was von Stein ist. Nur ein kleiner Unterschied ist dabei: meine Frau macht Figuren, und ich mache Löcher.« —
Der Mann, der ein Fürstentum im Stich gelassen, hatte sich im Handumdrehen ein neues Reich geschaffen, über das er unumschränkter als jeder Monarch herrschte. In der Welt war er ein Niemand, hier aber sollte seine Heimat sein. Hier auf dieser Insel schleppte er alles zusammen, was er bei seinen Abenteuern draußen in der Welt schön und stark und groß und edel fand, und was ihm nicht gefiel, durfte nicht in sein abgesperrtes Reich hinein — was wohl kein andrer Fürst durchsetzen kann.
Aber es lag nicht in Nobodys Charakter, sich nun auf seinen Lorbeeren auszuruhen und den allmächtigen Gewalthaber zu spielen. Dazu war er viel zu unruhig, er mußte wieder hinaus, neue Abenteuer zu bestehn, das war geradezu eine Sucht bei ihm; dabei sammelte er Schätze, das heißt vor allen Dingen Menschen, die ihm gefielen, die ›kaufte‹ er sich, brachte sie mit nach seiner Insel oder schickte sie hin, und wenn es nötig war, so mußte ihm alles behilflich sein, um seine Pläne auszuführen oder sein Ziel zu erreichen.
So werden wir die Hauptpersonen, welche wir bereits aus Nobodys Tagebuch näher kennen lernten, ab und zu immer wieder irgendwo auftauchen sehen, um gemeinsam mit Nobody zu operieren, und hierzu gehört auch die gefangene Prinzeß Marguérite.
Was für ein Unternehmen Nobody nun gleich nach dem Betreten seiner Insel vorbereitete, das ist das abenteuerlichste und kühnste zugleich, auf das sich ein Mensch wohl jemals eingelassen hat, und zwar ist es die Einleitung zu einem furchtbaren, historischen Drama, welches gerade jetzt alle Welt beschäftigt.
Der Leser kennt das Märchen von den sieben Zwergen, die in sieben Bettchen schlafen.
So lagen sie da, aber nicht sieben Zwerge, sondern sieben erwachsene Japaner, von einem Graubart an bis zum bartlosen Jüngling, und sie lagen nicht in weichen Bettchen, sondern auf Pritschen, die allerdings mit Matratzen belegt waren, aber oben und unten an dem starken Brette waren eiserne Ringe eingelassen, und an diese waren Hände und Füße mit kurzen Ketten geschlossen.
So lagen die Gefangenen auf dem Rücken da, wie die geprellten Frösche, unfähig, ein Glied zu rühren. Sie trugen noch dieselben japanischen, stark mitgenommenen Kleider, in denen man sie aus dem Wasser gefischt hatte, denn es waren die Japaner von dem in den Grund gerammten Dampfer, die gerettet worden waren, obwohl sie es gar nicht gewollt hatten.
Alle hatten die Augen geschlossen; ihre Brust ging ruhig.
Die sieben Pritschen standen in einem geräumigen, sonst leeren Zimmer, durch dessen Mitte ein weicher Teppichläufer ging, und auf diesem wanderte mit geräuschlosem Schritt ein in einfache Seemannstracht gekleideter Mann auf und ab, am Gürtel den Entersäbel und zwei Revolverfutterale. Es war der Wächter.
Die Tür ging auf. Der uns schon bekannte Mr. Hawsken, Nobodys Sekretär, trat ein, gefolgt von Hammer und einigen andern Männern, welche rauchende Speisekessel, Teller und andres Geschirr trugen.
Beim Anblick der sieben Japaner schien Hawsken zu stutzen; fragend sah er den Wächter an.
»Die sind ja gefesselt!? Wer hat das angeordnet?«
»Mr. Paulsen.«
»Hat das der Master befohlen?«
»Das weiß ich nicht.«
»Unsinn! Das kann er nicht gewollt haben, denn wen der Master einschläfert, der liegt fester als in Fesseln. Zum Essen müssen sie sich auch frei bewegen können. Hole den Schlüssel! — Auf meine Verantwortung!«
Während der Matrose gehorchte, ging Hawsken von einem der noch immer wie schlafend Daliegenden zum andern, setzte jedem zwei Fingerspitzen auf die Augen und schob so die Lider in die Höhe. Bei allen sah er von den Augen nur das Weiße, so waren die Pupillen nach oben verdreht.
»Alles in Ordnung; sie schlafen wie die Gelenkpuppen.«
Schon war der Schlüssel zur Stelle; die Fesseln wurden aufgeschlossen.
Hawsken hieß die Männer mit ihren rauchenden Schüsseln zurücktreten, er selbst blieb in der Mitte des Zimmers stehn. Man sah, wie er sich sammelte, seine Willenskraft konzentrierte.
Das Nächstfolgende war nur denen verständlich, welche Japanisch sprachen. Wir können es natürlich nur auf deutsch wiedergeben.
»Tausendeins!!« rief Hawsken, nicht besonders laut, aber energisch.
Wie von einer Viper gestochen, zuckte der erste Japaner von links zusammen, blieb aber noch liegen.
»Tausendeins! Hörst du mich sprechen?«
Keine Antwort! Hawsken warf einen ängstlichen Blick nach der Tür und machte ein Gesicht, als habe er eine Dummheit begangen.
»Tausendeins! Du wirst mir gehorchen, ich befehle es dir!«
»Ich gehorche dir,« murmelte jetzt der Schläfer dumpf.
»Steh auf!«
Der Japaner stand mit geschlossenen Augen von der Pritsche auf.
»Setze dich!«
Der Hypnotisierte setzte sich auf den Rand der Pritsche.
»Tausendzwei!!«
Jetzt zuckte der zweite Schläfer zusammen.
»Tausendzwei! Du wirst mir gehorchen, ich befehle es dir!«
»Ich gehorche dir.«
Und so ging es weiter, bis alle sieben Japaner auf ihren Pritschen saßen. Es war ihnen auch schon ein gemeinsames Stichwort suggeriert worden, auf welches sie alle zusammen reagierten, und durch dieses wurden sie zum Essen kommandiert wie eine Reihe Soldaten. Also sie wurden nicht etwa von fremder Hand gespeist, sondern sie selbst aßen, nur, daß alles nach Kommando geschah, wenn es auch durchaus keinen automatischen Eindruck machte. So etwas kann man ja bei jeder Vorstellung über Hypnotik sehen, und wer da glaubt, das Medium des Hypnotiseurs stelle sich nur so und esse die rohe Kartoffel mit Hochgenuß als einen Pfirsich, weil es dafür bezahlt wird, dem ist eben nicht zu helfen.
Diese sieben Japaner aber bekamen keine rohen Kartoffeln zu essen, sondern gekochte, und dazu noch Reis und Hammelbraten mit Curry, was sie auch im wachen Zustande nicht verschmäht hätten — wenn sie nicht den Tod der leckersten Gefangenkost vorzogen.
Hawsken schien es sehr eilig zu haben; er sah beständig nach der Taschenuhr, und kaum hatte einer der Japaner seine Teller geleert, als ihm durch das persönlich geltende Stichwort befohlen wurde, sich zu entkleiden, immer weiter und weiter, bis er völlig nackt dastand.
Der Hypnotiseur besah sich den nackten Menschen von hinten und von vorn und machte sich Notizen. Jedes Muttermal, jede Narbe am Körper wurde gewissenhaft verzeichnet.
Unterdessen waren schon andre Vorbereitungen getroffen worden. Arbeiter hatten einen Meßapparat hereingebracht, wie er zum Messen der Körperlänge von Rekruten gebraucht wird, der Japaner mußte sich darunterstellen, dann maß ihm ein andrer mit der Schusterlade die Länge seiner Füße, ein dritter die der Hände, ein vierter nahm das Maß des Brustumfanges und der einzelnen Glieder.
Es ging also noch viel genauer zu als bei einer Rekrutenaushebung, und so wurden alle sieben Japaner behandelt.
»Der Master kommt!« ging es da flüsternd von Mund zu Mund.
Er kam, der Herr und König, jetzt wirklich unnahbar wie ein Tyrann auftretend! Aber das war nur scheinbar. Das kam nur daher, weil er seine ganze Aufmerksamkeit auf die sieben nackten Japaner richtete, deshalb für seine Untergebenen gar keinen Blick hatte; wie wenig sich diese aber daraus machten, sah man aus ihrem ungezwungenen Verhalten auch bei Anwesenheit des Gebieters.
Hinter Nobody schritt ein junger Araber in orientalischem Kostüm. Er trug mit gewisser Feierlichkeit ein Tischchen, das aus lauter kleinen Kästen und Schubfächern zusammengesetzt zu sein schien. Dann kam noch ein andrer Mann, ein Neger, welcher einen großen Wandspiegel trug. Die beiden, der Braune und der Schwarze, waren sich voll und ganz bewußt, was für wichtige Dinge ihnen anvertraut waren.
Nobody schritt die Reihe der nackten Japaner ab, jeden einzelnen von oben bis unten mit durchbohrenden Blicken musternd, und schenkte dann dieselbe Aufmerksamkeit ihrer Rückseite. »Was meinen Sie, Mr. Hawsken, wen soll ich wählen?« wandte er sich nach seiner Untersuchung an den Sekretär.
»Diesen hier, tausendsechs, denn seine Gesichtsbildung ist der Ihren am ähnlichsten, auch Größe und Schultermaß stimmen fast ganz genau, und der Schnurrbart wird Sie doch nicht stören.«
»Aber die Füße, lieber Hawsken, die Füße!! Meine Latschen sind ja drei Meter länger als die des Mannes!«
Dabei hatte Nobody selbst sehr kleine Füße. Allerdings ist die ganze japanische, wie die malaiische Rasse durch besonders zierliche Füße ausgezeichnet.
Der Größenunterschied brauchte jedoch nur ein auffallender, wenn auch noch so geringer zu sein, so genügte das für Nobody, um den vorgeschlagenen Mann als unbrauchbar für seinen Zweck zu verwerfen.
»Der dort scheint mir geeigneter. Was für eine Nummer ist das?«
»Tausendvier. Der ist aber bedeutend dicker.«
»Voller, wollen wir sagen. Schadet nichts, ich bin im strapaziösen Dienste des gelben Drachen etwas abgemagert.«
»Dabei aber nicht so breitschultrig.«
»Arbeit macht breite Schultern.«
»Die Stirn tritt stark vor.«
»Die habe ich mir eingerannt. — Jawohl, den nehme ich! Eine Hauptsache ist, daß er gerade solche große Latschen und Pfoten hat wie ich, und daß er bartlos ist, ist mir auch sehr angenehm.«
Es waren nur zwei bartlose Japaner vorhanden, der eine fast noch ein Kind, der andre ein junger Mann, vielleicht, nach unsern Begriffen geschätzt, zwischen zwanzig und dreißig.
Nach Hawskens Angaben wäre es ein dicker, aber dabei schmalschultriger und womöglich noch engbrüstiger Mensch mit einem Wasserkopfe gewesen, und Nobody gab ihm auch noch Elefantenfüße und Bärentatzen.
Natürlich handelte es sich hierbei nur um feine Unterschiede im Gegensatz zu Nobodys Proportionen. In Wirklichkeit war es ein Mann vom harmonischsten Körperbau, vom vollendetsten Ebenmaß, und dieses Gesicht war tatsächlich schön und edel zu nennen, die Nase stolz gebogen, die Backenknochen so wenig hervortretend, daß man kaum den Mongolen erkannte. Aber wenn wir auch schon öfters hervorgehoben haben, daß auch Nobody edle, aristokratische Züge besaß, so war es trotzdem ein vollkommen andres Gesicht, so verschieden wie Schwarz und Weiß. Der eine war eben ein Mongole, der andre ein Germane.
»Mr. Hawsken, lassen Sie die andern sich wieder anziehen!«
Der betreffende Japaner, welcher hier die Nummer tausendvier erhalten hatte, mußte stehnbleiben. Nobody trat zurück, ging um ihn herum und musterte ihn so von allen Seiten aufs eingehendste. Dann riß er aus seinem Notizblock ein Blatt, schrieb etwas darauf und gab es dem jungen Araber, den wir schon einmal kennen gelernt haben, damals an Bord der Wetterhexe, wo er seinem Herrn beim Umkleiden behilflich sein mußte. Hassan lief davon.
Jetzt wiederholte Nobody die Manipulation, die wir ihn schon einmal bei der hypnotisierten Marguérite haben machen sehen; er griff dem Japaner in den Nacken, gar nicht so sanft. Wie Nobody damals seinem Freunde erklärt hatte, erzeugte er dadurch eine besondere Art von Starrkrampf. Freilich war dazu wohl ein besondrer Griff nötig.
Ein augenblicklicher Erfolg desselben war jedoch nicht zu bemerken.
»Du hast mir zu gehorchen, verstehst du?!« sagte Nobody im schärfsten Tone.
»Ich gehorche dir,« murmelte der Hypnotisierte.
»Öffne deine Augen!«
Langsam schoben sich die Lider hinauf, aber von den Augen war nur das Weiße zu sehen.
»Blicke mich an!«
Da kehrten die Augen in ihre natürliche Stellung zurück.
Der Japaner mußte nach einem Fenster marschieren, wobei Nobody ihn immer scharf beobachtete, er brachte ihn in das beste Licht, und Nobody studierte so lange des Hypnotisierten Züge, bis der Araber zurückkam.
Er brachte ein Paket, dem Nobody zwei vollständige japanische Kostüme entnahm, die Kleidung eines Vornehmen, eins genau wie das andre.
Das eine Kostüm legte er handbereit auf einen Stuhl neben dem Japaner.
»Du bist ja nackt! Kleide dich an!«
Der Hypnotisierte gehorchte, und er bedurfte durchaus keiner weitern Kommandos, brauchte auf nichts aufmerksam gemacht zu werden, er legte ganz sachgemäß ein Kleidungsstück nach dem andern an. Auch von schwerfälligen Bewegungen, wie sie die Hypnotisierten sonst zeigen, war gar nichts zu bemerken. Es war eben wiederum eine andre Art der Hypnose. Ein uneingeweihter Zuschauer hätte den Mann überhaupt gar nicht für hypnotisiert gehalten.
»Zieh dich wieder aus!«
Der Japaner tat es.
»Zieh dich wieder an!«
Und so mußte sich der Hypnotisierte noch zweimal an- und wieder ausziehen, von Nobody immer scharf beobachtet.
Jetzt entkleidete sich dieser schnell selbst und legte dafür das zweite japanische Kostüm an. Aber das tat er in ganz eigentümlicher Weise. Er stand dabei vor dem Spiegel, der an die Wand gelehnt worden war, blickte immer hinein, auch schon, während er die gelbseidenen Beinkleider anzog, hielt inne, zog die Hosen wieder aus, wieder an, stockte, fing wieder von vorn an, ebenso wollte er mit den andern Kleidungsstücken nicht fertig werden, und am meisten Arbeit hatte er mit einem ärmellosen Jäckchen. Das zog er wohl ein halbes Dutzendmal an und wieder aus.
»War's so richtig, Mr. Hawsken?«
»Da wage ich wirklich kein Urteil abzugeben.«
»Das sollten Sie aber eigentlich. Herr Hammer, Sie haben doch zugesehen, wie sich der Japaner anzog.«
»Ja.«
»Zog ich mich mit genau denselben Bewegungen an wie der Japaner?«
»Nee, bei dem ging's ein bißchen fixer,« lautete die treuherzige Antwort.
»Tausendvier! Zieh dich aus!«
Der Japaner tat es, doch ließ es Nobody diesmal nur bis zu der ärmellosen Jacke kommen, diese mußte jener aber auch gleich dreimal hintereinander aus- und wiederanziehen.
»Jetzt habe ich seine eigentümliche Bewegung dabei heraus,« sagte Nobody, als er, immer in den Spiegel blickend, die Weste endgültig anlegte.
Der Japaner mußte sich setzen, so daß ihm das Licht voll ins Gesicht fiel; Nobody setzte sich ihm gegenüber; zwischen beide wurde das Tischchen gestellt. Ein Druck, und an der Platte richtete sich ein Spiegelchen auf. Nobody strich sich mit den Fingern durch die blonden Locken.
»Hassan! Abschneiden! So kurz wie der dort. Schnell!«
Da mußten gar viele Locken fallen, denn der Japaner trug sein schwarzes Borstenhaar sehr kurz.
»Was?!« rief Hawsken erschrocken, als der Araber aus seinem Kaftan schon eine lange Schere gezogen hatte. »Ihr Haar wollen Sie deshalb abschneiden lassen? Kann es denn nicht wie immer eine Perücke tun?«
»Nein. In diesem Falle nicht. Das hier wird für die Dauer. Wenn ich aus diesem Hanswurstkostüm wieder heraus bin, kann man mir wieder Zöpfe flechten.«
Während die Schere klapperte, war Nobody nicht untätig. Er blickte über den Spiegel hinweg den Japaner an und begann dabei sein Gesicht mit den Händen zu massieren. Dann öffnete er verschiedene Kästchen des Tischchens und arbeitete mit Puderquaste und Farbepinsel.
»Schwarz,« sagte er, als er über die Schulter dem Friseur ein Fläschchen reichte, mit dessen Inhalt sein Haar eingesalbt wurde.
Es ging sehr schnell. Nach zehn Minuten war die ganze Toilette beendet. Nobody stand auf.
Nobody? Unter den im Zimmer befindlichen Männern war kein einziger, der den Verwandlungskünstler nicht schon mehrmals bei seinen Maskierungen, wenn er Toilette machte, beobachtet hätte, August Hammer ja nicht ausgeschlossen, und doch war das Staunen jedesmal das gleiche, immer wieder mochte man so etwas gar nicht für möglich halten.
Dort stand ganz genau derselbe Japaner, der dort auf dem Stuhle saß — ganz genau derselbe! Der Ausdruck, daß sie sich ähnelten wie ein Ei dem andern, hätte ihnen noch gar nicht genügt. Nein, das waren eben vollkommen dieselben.
Nur Nobody selbst fand noch etwas an der Ähnlichkeit auszusetzen. Der Japaner mußte sich neben ihm vor den Spiegel stellen, Nobody verglich lange, massierte seine Lippen und die Nase, dann faßte er mit den Fingerspitzen die Haut neben seinen Augen; hüben und drüben entstanden Fältchen, er nahm die Hände zurück, und die Fältchen blieben stehn.
Hierauf untersuchte er die Finger des Japaners, griff zur Schere und verschnitt jenem die sehr langen Fingernägel.
Noch eine Generalmusterung — endlich war er zufrieden. —
In einem Gemach, welches halb einem Damenboudoir, halb einem Künstleratelier glich, saß Gabriele und arbeitete mit dem Modellierholz an einem zum menschlichen Kopfe bestimmten Tonklumpen.
Es klopfte, und nach ihrem ›Herein‹ trat Hawsken ein.
»Der Master bittet, Ihnen eine Überraschung bereiten zu dürfen,« war die höfliche Anmeldung für den Gatten.
»Er soll nur hereinkommen,« lautete die weniger zeremonielle Antwort, und Gabriele fing gleich von vornherein zu lachen an; denn sie kannte doch ihren Mann! Und in Überraschungen war der groß. Wenn Nobody auf der Insel weilte, so war es überhaupt manchmal, als wenn er nichts weiter als Unsinn im Kopfe hätte, und wenn er sich dann ausgetobt hatte und mit ernsthafter Miene sagte: ›jetzt will ich erst ein Viertelstündchen regieren‹ — so klang das erst recht urkomisch aus seinem Munde.
Es sollte hiermit auch angedeutet werden, wie ahnungslos Gabriele war.
Der Sekretär ging wieder zur Tür und öffnete sie weit.
»Tausendvier!« rief er im Kommandotone. »Komm herein!«
In gleichem Takt marschierten zwei junge, pompös gekleidete Japaner herein, einer wie der andre, die siamesischen Zwillinge, nur daß sie nicht zusammengewachsen waren.
»Halt!« kommandierte Hawsken, und die beiden standen wie die Soldaten.
»Missis möchten sagen, wer von den beiden Nobody ist.«
Gabriele lachte immer noch, als sie zur Prüfung schritt. Zuerst wollte sie sich auf ihren Künstlerblick verlassen, aber der ließ sie im Stich.
»Wirklich, ich finde auch nicht den geringsten Unterschied,« begann sie jetzt zu staunen. »Ich könnte ja untersuchen, wer von den beiden eine Perücke hat, aber das will ich nicht, ich will nur ...«
Sie trat vor die beiden hin und verglich ihre Hände. Die des einen waren etwas schmäler und länger als die des andern. Wir brauchen nicht zu wissen, wem diese angehörten, Gabriele mußte doch die Hand ihres Mannes kennen, und sie war ihrer Sache sicher.
»Hier, das ist der Mann meiner Wahl!«
»Soooo?« ließ sich da plötzlich der andre Japaner vernehmen. »Ich denke, der bin ich?«
Die junge Frau hatte trotz aller ihrer Kenntnis falsch gewählt, und während sie ganz verblüfft dastand, die Hand des einen Japaners noch in der ihren, ging der andre lachend auf sie zu und schloß sie in seine Arme.
»Nein, Gabriele, zwischen uns gibt es keinen Unterschied; du konntest nur raten, und du hast zufälligerweise falsch geraten!«
Er machte gegen den Sekretär eine leichte Verbeugung, dieser ging.
Der echte Japaner war steif in der Stube stehn geblieben.
»Tausendvier!« kommandierte Nobody. »Komm hierher, setze dich hierhin!«
Der Japaner gehorchte. Er bewegte sich zwar ganz natürlich, aber ... der Blick der Bildhauerin mochte doch noch etwas andres erkennen, dieses Kommandieren war ja überhaupt auffällig.
Mit scheuen, sogar ängstlichen Augen blickte sie nach dem Manne.
»Der ist wohl hypnotisiert?« fragte sie leise.
»Gewiß, alle sieben befinden sich in hypnotischem Schlafe. Auch in den festesten Ketten würden sie sich noch den Kopf einzurennen wissen.«
»Ach, bitte, Alfred, laß ihn doch nicht hier bei mir, ich ...«
Nobody warf einen Blick auf Gabriele, die plötzlich sehr bleich geworden war, sprang schnell nach der Tür und rief Hawsken zurück. Dieser hatte den Hypnotisierten bald wieder hinausbugsiert.
»Entschuldige, ich dachte nicht daran, daß dich so etwas erschrecken könnte.«
Nobody küßte Gabriele zärtlich die Hand und ließ sich in einem Fauteuil nieder. Sie setzte sich wieder an ihren Arbeitstisch, faltete aber die Hände im Schoß.
»Nein, erschrecken durchaus nicht, aber ... mir, dem in wilder Freiheit aufgewachsenen Weibe, ist schon der Gedanke entsetzlich, daß der Wille eines Menschen so beeinflußt werden kann, bis er nur noch ein Automat ist. Ich weiß nicht ... ich kann mich nicht ausdrücken ... ich fühle es ... solch ein Hypnotisierter wirkt auf mich fast nervenlähmend.«
»Ich verstehe dich vollkommen,« entgegnete Nobody, »und ich teile ja ganz deine Ansicht, wie ich dir schon oft gesagt habe. Ich beweise meinen Widerwillen gegen die Hypnose auch durch die Tat. Es wäre mir doch ein leichtes, Margarete durch einen posthypnotischen Befehl von ihrem unglücklichen Wahne zu heilen, aber es empört mich, einen Menschen so für sein ganzes Leben zum Sklaven eines fremden Willens zu machen. Doch was soll ich mit diesen sieben geretteten Japanern anfangen? Wie gesagt, ich könnte sie binden und knebeln, wie ich wollte, sie würden doch noch ein Mittel finden, Selbstmord zu begehn. Ein eigentümliches Volk, die Japaner! Das hängt mit ihrer buddhistischen Religion zusammen, welche die Wiedergeburt predigt. Was tut's, wenn ich sterbe? Ich komme immer wieder. Was täte es, wenn unsre ganze Nation durch einen Krieg aufgerieben würde? Mann für Mann werden wir wiederkommen, bis der Sieg unser ist. Denn der Japaner ist kein Indier. Dieselbe Lehre von der Wiedergeburt, welche den Indier zum jämmerlichen Weichling entnervt hat, entflammt den Japaner zu den heroischsten Taten. Ich aber denke anders über den Selbstmord. Es geht gegen mein Gewissen, Japans edelste Söhne freiwillig sterben zu sehen, weil sie zufällig in meine Gefangenschaft geraten sind.«
»Japans — edelste Söhne?« wiederholte Gabriele staunend. »Du sprichst doch nicht von jenen sieben Japanern?!«
»Gewiß, eben von diesen. Hast du es denn noch nicht vernommen? Ich glaubte, Flederwisch, dem ich ausführlich berichtete, hätte es dir erzählt. Nur drei von den Aufgefischten sind gewöhnliche Matrosen. Der Kapitän ist eigentlich auch nichts weiter, spielt nur eine hohe Anführerrolle im gelben Drachen. Aber von den drei andern ist der eine, der Graubärtige, Korvetten-Kapitän in der japanischen Kriegsmarine — der, den du eben gesehen hast, dessen Maske ich jetzt angenommen, das ist Baron Nogi, Leutnant im Gardedragonerregiment, Adjutant des Fürsten Tikono. Und weißt du, wer der Jüngling ist? Das ist Prinz Manimuri, der Neffe des Mikado.«
Gabriele war außer sich vor Staunen. Sie wollte es erst gar nicht glauben.
»Ja, wie kommen die denn aber nur auf den Dampfer, der doch mit der chinesischen Piratenbande zusammenarbeitete?«
»Na, die gehören eben alle mit zum Geheimbunde des gelben Drachen. Ich habe dir doch schon gesagt, daß dieser unter seinen Mitgliedern die edelsten und sogar die mächtigsten Männer Japans zählt.«
»Ja, wie können aber nur aktive Offiziere gemeinschaftliche Sache mit einem Piratenkapitän machen, ganz offen mit ihm auf den Raub auszugehn?!«
»Nun, so ist es allerdings nicht. Ich habe ja alles aus ihnen heraushypnotisiert. Eine Inspektionsreise nach den Pirateninseln wollten sie schon einmal mitmachen! Da haben die Herren Offiziere eine Segelregatta verabredet und sich vom ›Drachenkopf‹ von einer gewissen Insel abholen lassen. Nur einmal für einen oder zwei Tage! Nun kannst du dir aber denken, wie denen jetzt zumute ist! Als Besatzung eines Piratenschiffs gefangen! Sechzehn Japaner waren drauf, vier sind bei dem mörderlichen Zusammenstoß getötet worden, fünf haben sich gleich im Wasser den Leib aufgeschlitzt oder sich den Dolch ins Herz gestoßen, lauter Offiziere oder hohe Staatsbeamte, wenn auch nicht gerade Prinzen und Barone. Die sieben hier würden sich doch ebenfalls sofort töten. Was bleibt ihnen denn auch andres übrig? Zurück können sie nicht wieder.«
»Kannst du nicht ruhig mit ihnen sprechen? Du sicherst ihnen deine Teilnahme zu, gibst ihnen dein Ehrenwort, nichts zu verraten, sie haben bei der Segelregatta Schiffbruch erlitten, du hast sie auf deine Jacht aufgenommen ...«
»Höre auf, Gabriele! Wenn du so sprichst, dann kennst du die Japaner noch nicht. Bei den Matrosen ginge das vielleicht, aber doch nicht bei den Offizieren. Das sind stolze Samurais. — Na, lassen wir das jetzt! Ich werde doch noch ein Mittel finden, sie wieder in allen Ehren nach ihrer Heimat zurückschicken zu können, und bis dahin müssen sie eben schlafen. — Ich wollte jetzt mit dir über etwas sprechen, Gabriele, ich wollte mir deine Erlaubnis zu etwas einholen!«
»Meine Erlaubnis?« lächelte die junge Frau. »Seit wann hast du denn die nötig?«
»Bitte, es kann doch einmal der Fall eintreten. Die Sache ist die: endlich ist es mir gelungen, ein führendes Mitglied des gelben Drachen lebendig in meine Hände zu bekommen ...«
»Und nun willst du, nachdem du dich über alles orientiert hast, dich selbst in chinesischer oder japanischer Maske in die Höhle des gelben Drachen wagen und die Rolle eines Anführers spielen,« fiel ihm Gabriele gleichmütig ins Wort. »So geh doch!«
Es war eine ehemalige Wüstenräuberin, die so sprach, und sie wußte, daß sie keinen Spießbürger, sondern den Detektiv Nobody geheiratet hatte.
»So geh doch, dazu brauchst du meine Erlaubnis doch nicht!«
»Gestatte mal gütigst, daß ich vorläufig noch ein bißchen hier bei dir bleibe!« scherzte Nobody, es klang aber etwas gezwungen. »Nein, ich denke an etwas andres. Da käme nur der Piratenkapitän in Betracht, und das ist ein kleiner Mehlsack, in dessen Haut passe ich nicht. Außerdem beabsichtige ich, mit den Piraten, soweit sie im Dienste des gelben Drachen stehn, Frieden zu schließen. Das sind gar keine so unrechten Kerls. Vor allen Dingen gefällt es mir, daß sie alles Opium, was sie den Dschonken abnehmen, ins Meer versenken. Gern und freiwillig tun sie es ja nicht, sondern der gelbe Drache befiehlt es ihnen, und dieses Vieh ist es ja auch, das ich ganz gern etwas poussieren möchte. Trotzdem will ich noch immer in seine Höhlengeheimnisse dringen. Ich will noch mehr wissen, als ich als Piratenkapitän erfahren kann, und jetzt ist gerade die beste Gelegenheit, um mit demselben Schlage auch noch eine andre Fliege zu klatschen. Da ist der Baron Nogi, wie gesagt, Leutnant beim Leibregiment, Adjutant des japanischen Generalfeldmarschalls — soll ein höllisch schneidiger Kerl sein, der Baron Nogi nämlich — und klug dazu — ist schon im Generalstabe gewesen — außerdem ist es ganz bestimmt, das habe ich alles aus ihm heraushypnotisiert, daß er nächstens in geheimer Mission nach Petersburg geschickt wird, wird dort der japanischen Gesandtschaft beigesellt — da gäbe es für mich noch etwas andres auszuspionieren als nur die Geheimnisse des gelben Drachen, da handelt es sich um die höchste und allerhöchste Politik ...«
Nobody brach ab.
Nur der Blick seiner Frau hatte ihn verstummen lassen. Auch er war Mensch. Und eine Frau ist immer eine Frau.
»Alfred ... du willst ... doch nicht ... etwa ...?«
»Ja, ich will sehr stark,« nickte Nobody.
»Die Maske ... dieses japanischen Barons ... annehmen?«
»Habe ich bereits angenommen. Du, meine eigne Frau, hast mich ja nicht einmal von ihm unterscheiden können.«
»Du willst ... als dieser Baron Nogi ... nach Japan gehen?«
»Jawohl, nach Tokio.«
»Als Baron ...«
»Jawohl, ich habe auch Zutritt bei Hofe. Ei gewiß, ich bin immer einer von den ersten mit — ich bin doch der persönliche Adjutant des Fürsten Tikono — und mein Papa ist Schatzkämmerer des Mikado.«
»Als japanischer Offizier ...«
»O, ich will meine Dragoner schon auf dem Exerzierplatze drillen — bis sie rauchen.«
»Und du willst doch nicht etwa nach ...«
»Nach Petersburg? Ei freilich, das gibt ja gerade den Hauptspaß. Jawohl, ich gehe als geheimer Kurier nach Petersburg. Na, was denn? Nogi, Nobody — das klingt schon ganz ähnlich, wir fangen alle beide mit No an und hören mit i auf, und ich will überall durchkommen. Nur die japanische Kriegsschule fehlt mir; diese Kenntnisse kann ich nicht aus ihm heraushypnotisieren, aber sonst alles, was ich brauche. Mir soll einmal jemand nachweisen, daß ich nicht wirklich der Baron Nogi wäre.«
Gabriele schüttelte erst den Kopf, dann blickte sie zum Himmel empor. Dort oben sah sie vielleicht schon die fürchterlichsten Verwicklungen, die ihrem Manne drohten.
Dann aber, als sie sich ihm wieder zuwandte, sagte sie ganz gelassen: »Wenn du das Unternehmen für angebracht hältst, und wenn du glaubst, daß es dir gelingen wird, so tue es doch! Was brauchst du dazu meine Erlaubnis?«
Der eiserne Nobody wußte dann später nicht mehr, was mit ihm eigentlich vorgegangen war. Er kannte sich selbst nicht mehr. Wie gesagt, er war eben auch nur ein Mensch, und vor ihm saß seine Frau — noch dazu seine junge Frau.
Jetzt tastete er immer an der rechten Seite seiner gelben Pluderhose herum, und da er dort keine Tasche fand, fand er auch sein Taschentuch nicht, und er hätte sich doch so gern einmal die Nase geschneuzt.
»Ja, siehst du ... es ist wegen ... die Sache ist die ... du hast doch schon von der Baronin Nogi gehört?«
Nobody kam es vor, als ob er einen Frosch im Halse sitzen habe.
»Du meinst die Mutter des Barons? Nein, wie soll ich die kennen?«
»Nicht die Mutter, sondern ... sondern ...«
»Seine Frau? Ach so, er ist wohl schon verheiratet?«
»Ja, natürlich ist er schon verheiratet!« platzte Nobody heraus und war froh, daß es ihm endlich gelungen war. »Warum soll er denn nicht verheiratet sein?!« setzte er noch förmlich entrüstet hinzu. »Er ist doch alt genug dazu?!«
Es kam etwas ganz andres, als er erwartet hatte.
»Hat er schon ein Kind?« fragte Gabriele lebhaft.
Es war der erste Gedanke einer jungen Frau gewesen.
»Ei freilich ... ei gewiß ...«
»Einen Jungen?«
»Ei ... einen Jungen ... jawohl, ich glaube, 's ist ein Junge ... und ... und ...«
»Und ein Mädchen?«
»Jawohl, zwei ... zwei ... das heißt, eigentlich sind's zwei ... zwei Dutzend!«
Gott sei Dank, nun war's überstanden!
Gabriele aber machte natürlich große Augen.
»Was? Habe ich dich recht verstanden? Dieser Baron Nogi hätte schon vierundzwanzig Kinder?«
»Jawohl — vierundzwanzig — oder zwei Dutzend — zwei Dutzend oder vierundzwanzig, das ist doch ganz genau dasselbe, nicht wahr? Na, warum soll er sie denn nicht haben? Der hat eben jung angefangen.«
»Aber ich bitte dich, vierundzwanzig Kinder! Dieser Japaner ist doch noch keine dreißig!«
»Nee, das nicht, aber ... aber ...,« jetzt tastete Nobody krampfhaft an der linken Hälfte seiner gelben Seidenhose herum, ohne eine Tasche finden zu können. »Na, du kennst doch die japanischen Verhältnisse, er hat eben neben seiner ersten Frau noch fünf andre, das sind zusammen sechse — von jeder hat er also viere, sechsmal vier ist vierundzwanzig, und ... und ... das ist doch gar nicht zu viel? Meinst du nicht?«
Gabriele antwortete nicht, sie sah ihren Mann nur starr an — lange Zeit.
»Ah so, jetzt beginne ich erst zu verstehn, was du eigentlich willst,« begann sie dann zu flüstern, immer noch mit jenen starren Augen. »Du willst ja diesen Baron Nogi vorstellen, seine Kinder werden dich Vater nennen, seine Frau und seine Kebsweiber werden die deinen sein ...«
Plötzlich erhob sich Gabriele; hoheitsvoll stand sie vor ihm, als sie ihm die Hand hinhielt. »Also dazu willst du meine Erlaubnis haben? Du bedarfst ihrer nicht, denn ich kenne dich. Ich weiß, daß du mich liebst, und ich weiß, daß du ein Mittel finden wirst, um mir treu bleiben zu können.«
Auch Nobody war aufgesprungen, nahm hastig die dargebotene Hand, beugte sich tief darüber, küßte sie und eilte wortlos hinaus.
Als er in seinem Ankleidezimmer das japanische Kostüm mit seinem gewöhnlichen Anzuge vertauschte, wußte er, wie schon gesagt, selbst nicht, was mit ihm passiert war, daß er seiner Frau gegenüber so vollständig die Fassung verloren hatte. »Nur die verfluchte Pluderhose ist schuld daran,« murmelte er, als er diese abriß. »Ein Glück nur, daß die japanischen Offiziere schon europäische Uniformen tragen.«
Als er das Haus verließ, stieß er mit Kapitän Flederwisch zusammen.
»Hallo, Alfred! Hast du schon mit deiner Frau darüber gesprochen?«
»Über was?« fragte der Stehngebliebene ganz harmlos.
»Daß du die Rolle des Barons Nogi spielen willst?«
»Ja, ich habe es Gabriele mitgeteilt.«
»Nun, hat sie es dir erlaubt?«
»Erlaubt? Was erlaubt?« stellte sich Nobody ganz erstaunt. »Was hat mir meine Frau zu erlauben?«
»Na, zum Teufel, hast du ihr denn auch gesagt, daß der Japaner eine ganze Menge Frauen und Kinder hat, bei denen du nun den Gatten und den Vater vertreten mußt?«
»Ja, natürlich habe ich ihr das gesagt! Was ist da weiter dabei?«
»Und sie ist so ohne weiteres damit einverstanden?!« rief Flederwisch in ehrlichem Staunen.
Jetzt war es Nobody; der sich hoheitsvoll emporrichtete.
»Wenn du so sprichst, so kennst du meine Gabriele noch lange nicht! Es ist ein herrliches Weib! Ich wußte, daß sie nicht im geringsten an meiner Treue zweifelt, und sie weiß, daß ich der Mann bin, um aus jeder Lage einen Ausweg zu finden, und deshalb durfte ich ihr ganz frei und offen mit drei Worten sagen, was ich beabsichtige, und ich brauchte sie nicht erst um irgend welche Erlaubnis zu bitten, was du Pantoffelheld wahrscheinlich getan hättest. Nur dreier Worte bedurfte ich. — Mahlzeit!«
Ohne ob dieser kolossalen Flunkerei etwas errötet zu sein, drehte sich Nobody stolz um und ging seiner Wege.
»He, Alfred, noch einen Augenblick!«
Nobody blieb noch einmal stehn, Flederwisch war ihm nachgekommen.
»Na, was denn?«
»Wieviel Würmer hat dieser Japaner, die du jetzt deine eignen nennen mußt?«
»Würmer? Ich bitte, von meinen Nachkommen etwas respektvoller zu sprechen. Vorläufig vierundzwanzig.«
»Das sind gerade zwei Dutzend.«
»Dumme Bemerkung!«
»Du, Alfred, ich habe eine große Bitte an dich — wenn du nun einmal so viele Kinder hast, da kommt es dir auf ein paar mehr doch auch nicht an — ich habe nämlich drei unerzogene Kinder, kleine Schwarze, die laufen in Afrika nackt mang die Brombeeren herum — die könntest du doch eigentlich adopt ...«
»Alberner Kerl!« sagte Nobody und ließ jenen stehn.
»Und in Hinterindien habe ich auch noch viere!« schrie Flederwisch ihm nach.
Nobody hörte nicht.
»Und in Honolulu habe ich sechse auf den Affenbrotbäumen herumklettern!!«
»Wa — was?! Du hast sechs Kinder auf Honolulu?«
Ach du großer Schreck! Der lange Flederwisch knickte so zusammen, daß die kleine Turandot ihn bequem beim Ohrläppchen nehmen konnte.
»Aber, meine Turandot, das war doch nur ...«
»Und in Hinterindien hast du vier?«
»Aber, mein bestes Turandottel,« jammerte Flederwisch, schon beim Ohrläppchen davongeschleift, immer mit geknickten Knien.
»Und in Afrika laufen von dir drei Kinder nackt mang die Brombeeren herum? Komm mal mit, beichte mal weiter!«
»Aber, mein allerliebstes Turandottelchen ...«
»Schon gut, komm mal mit!«
An die Ausführung des kühnen Unternehmens konnte nicht sofort gedacht werden.
Fast ununterbrochen, von früh bis abends stellte Nobody an den hypnotisierten Japaner Fragen, denn dieser erzählte nicht von selbst, es mußte alles aus ihm herausgeholt werden, und hierbei kam die ganze Kunst des Interviewers zum Vorschein.
Eine Woche hatte Nobody hierzu angesetzt. Wollte man diese Fragen und Antworten aufschreiben, so würden sie dicke Bände, eine ganze Bibliothek füllen, und dann hätte Nobody alles dies auswendig lernen müssen, denn so etwas behielt doch auch das fabelhafteste Gedächtnis nicht.
Was hätte Nobody nicht alles wissen müssen, um wirklich als der zurückgekehrte Baron Nogi auftreten zu können, daß ein Mißtrauen gegen seine Echtheit gar nicht aufkam! Das ist ja überhaupt ein Ding der Unmöglichkeit. Das geht vielleicht bei einem seit vielen Jahren Verschollenen, der in die Heimat zurückkehrt, aber doch nicht so wie hier in diesem Falle, wo Nogi gleich wieder seine alten Beschäftigungen und Gewohnheiten aufnehmen mußte.
Nur eine Möglichkeit hätte es gegeben: Der bei der Segelregatta Verunglückte stellte sich etwas geistesgestört. Dann hätte er sich nach und nach in die Verhältnisse hineinfinden können. Dann aber wäre ihm alles das entgangen, worauf es ihm hauptsächlich ankam. So z. B. wäre der Baron Nogi doch nicht mehr als geheimer Kurier nach Petersburg geschickt worden, wenn er nur ein einziges Mal das leiseste Zeichen von Geistesgestörtheit verraten hätte.
Aber für unsern Nobody lag ja auch der Hauptreiz darin, sich aus eigner Kraft überall durchzuhelfen. Mitten hineingestürzt und nun los! Hier, ich bin der Baron Nogi, Leutnant bei den Gardedragonern, Adjutant des Generalfeldmarschalls Tikono — melde mich zur Stelle, Exzellenz!
Was brauchte er die Namen seiner vierundzwanzig Kinder zu wissen? Wenn er nur zwei beim Namen rufen konnte, so genügte das schon, die andern erfuhr er nach und nach von selbst.
Aber z. B., ob es dem Gardeleutnant erlaubt war, sich von einer japanischen oder sonstigen Zeitung, über sein Abenteuer bei der Segelregatta interviewen zu lassen, das mußte er wissen! Und so etwas brauchte er sich doch nicht zu notieren. Also alles, was er nicht im Kopfe behalten konnte, brauchte er auch gar nicht erst zu fragen. Er notierte sich einige Adressen, nichts weiter. Er konnte sich doch kein Nachschlagebuch anlegen, das er in Tokio fortwährend zu Rate zog.
Trotzdem nun gedachte er nicht weniger als eine Woche zu gebrauchen, um durch zahllose Fragen nur einigermaßen Einblick in die Verhältnisse zu bekommen, in denen sich Baron Nogi bisher bewegt hatte.
Nicht vergessen darf werden, daß er den Hypnotisierten auch schreiben ließ, was dieser in seinem Zustande genau so konnte wie im Wachsein, und der geniale Detektiv, welcher das Japanische in Wort und Schrift vollkommen beherrschte, malte die Zeichen sofort genau so nach, daß sie von denen seines Doppelgängers gar nicht zu unterscheiden waren.
»In Japan soll doch ein weitverbreitetes Spionagesystem herrschen,« meinte Gabriele einmal bei Gelegenheit.
»Ja, im Spionieren sind die Japaner groß. Die Regierung hat überall ihre Spione, ein zweites System geht vom gelben Drachen aus, und in die Geheimnisse dieses Ungeheuers glaube ich eben als Baron Nogi eindringen zu können.«
»Unterhält Japan auch im Auslande Spione?«
»Ganz gewiß. Man kann annehmen, daß die Hälfte aller jener galanten Jüngelchen, die in unsern Kulturstädten studieren oder als Volontäre Stellung nehmen, von der Regierung besoldete Spione sind.«
»Ich denke immer, wenn Baron Nogi als Spion nach Petersburg geschickt und dort der japanischen Gesandtschaft beigesellt wird, so soll er Spionagedienste verrichten.«
»Das denke ich auch.«
»Wie stellst du dich dazu? Wirst auch du spionieren?«
Nobody hielt lange die Schultern emporgezogen.
»Ich weiß, was du meinst; aber Spionage muß sein und ist durchaus kein unredliches Gewerbe. Ich will dir ganz offen meine Meinung sagen: wenn es einmal zum Kriege zwischen Rußland und Japan kommt, was über kurz oder lang geschehen muß, so stelle ich mich unbedingt auf Seite Japans. Denn diese Insel steht unter englischer Oberhoheit, das muß ich anerkennen, und England wird sich mit Japan verbünden, wenn nicht direkt, dann im geheimen.«
»Weshalb?«
»Weil der Zankapfel zwischen Rußland und Japan Korea ist, und wenn sich Rußland dort festsetzt, so hat England sein Indien verloren. Da ich nun gegenwärtig unter dem Schutze der englischen Flagge stehe, werde ich auch nicht gegen das Interesse Englands handeln. — Dann zweitens: Ich bin geborner Deutscher. Ich bin ein Germane. Der Todfeind des Germanen ist aber nicht der Japaner, nicht der Mongole, sondern der Slave, und der Träger des Slaventums ist der Russe. Der Rassenhaß der Slaven gegen die Germanen wird charakterisiert durch den Nationalhaß der Tschechen gegen die Deutschen. — Also ich sympathisiere, arbeite und fechte niemals für Rußland, sondern für Japan.«
»Es gibt eine Art von Spionage, welche Verrat oder doch Vertrauensbruch ist.«
»Wie weit ich da gehn darf, das überlasse ich meinem Gewissen. Wenn ich die japanische Uniform angezogen habe, so bin ich nicht mehr der Detektiv Nobody, sondern der japanische Leutnant Baron Nogi, und ich habe mich auch genug mit ihm unterhalten, um zu wissen, daß er ein Ehrenmann ist, mag er auch mit chinesischen Piraten unter einer Decke stecken; das hängt alles eng mit seiner glühenden Vaterlandsliebe zusammen, und jedenfalls werde ich stets so handeln, daß Baron Nogi dereinst als braver Offizier und als Ehrenmann in sein Vaterland zurückkehren kann.«
»Ja, aber was soll inzwischen mit ihm geschehen?«
Da waren die beiden wieder bei dem toten Punkt angelangt.
Man konnte es auch von den Hypnotisierten zu hören bekommen. Für sie gab es nur noch eines: den Tod. Sobald sie nur eine Hand frei und in dieser ein Messer hätten, würden sie sich den Leib aufschlitzen, und auch in Ketten würden sie sich an der nächsten Wand den Kopf zerschmettern. Man brauchte ihnen nur eine einzige Minute die Willensfreiheit zu geben.
Man konnte sie ja jahrelang im hypnotischen Schlafe halten. Das geht. Das ist schon gemacht worden. Aber wenn sie dann erwachten, und sie erinnerten sich an alles, so war es immer wieder die alte Geschichte, die Heimat war ihnen verschlossen, nun erst recht, so suchten sie lieber den Tod, oder aber sie erwachten und erinnerten sich an nichts mehr, sie waren Kinder, Tiere, Blödsinnige, und da war der Tod denn doch besser.
»Ich wüßte ein Mittel,« meinte Nobody sinnend, »um die kuriosen Käuze, die ich aber doch hochachte, dem Leben zu erhalten. Man muß sie in eine andre Welt versetzen. Ich denke an eine einsame Insel. Das wäre auch ein höchst interessantes Experiment. Man bringt die Hypnotisierten hin, weckt sie und verschwindet schnell. Sie haben keine Ahnung, wo sie sind. Ich wette zehn gegen eins, daß sie da nicht mehr an Selbstmord denken, sondern an Erhaltung ihres Lebens, wozu natürlich Gelegenheit geboten sein muß. Aber wo solch eine Insel hernehmen?«
»Nun, da gibt es doch im Stillen Ozean eine Unmenge,« entgegnete Gabriele, »wir haben sie doch hier ganz dicht in der Nähe, sie sind bewässert und fruchtbar, etwaige Bewohner werden entfernt ...«
»O nein, das ist nichts,« fiel ihr Nobody ins Wort. »Die sieben japanischen Robinsons würden schnell Mittel und Wege finden, solch eine Insel wieder zu verlassen, und es brauchte ihnen nur zum Bewußtsein zu kommen, daß sie dies können, daß sie die Möglichkeit haben, in die Welt zurückzukehren, so ist auch schon wieder die Selbstmordlust des buddhistischen Japaners da. Nein, ich meine etwas ganz, ganz andres. Ich denke eben an eine für sich abgeschlossene Welt.«
Eine Lösung dieser Frage sollte auf wundersame Weise geschehen.
Trotz seiner Beschäftigung mit Nogi hatte Nobody auch noch für andres Interesse, und vor allen Dingen ließ er sich immer Bericht erstatten, was sein Schützling August Hammer trieb.
Dieser war dem Sekretär Hawsken zugeteilt worden, arbeitete an dessen Seite im Bureau, von dem aus die Inseln verwaltet wurden.
Es war nichts besonders Erfreuliches, was Nobody über seinen Schützling zu hören bekam, wenigstens hatte er sich betreffs des jungen Mannes ganz andre Hoffnungen gemacht.
Wohl war dieser ein überaus fleißiger und ordnungsliebender Arbeiter, aber im übrigen — ein unverbesserlicher Träumer!
Die Arbeitszeit auf der Insel war eine sehr mäßige, doch anstatt nun seine Freizeit dazu zu benutzen, sich das Inselleben zu betrachten und sich mit allem vertraut zu machen, saß August, sobald er abkommen konnte, stundenlang auf einem ins Meer vorspringenden Felsenriff und blickte unverwandt nach dem hohen Schwefelberge. Wenn man ihn einmal brauchte, so wußte man ganz bestimmt, daß man ihn dort fand. Für alles andre hatte er nicht das geringste Interesse. Was gab es an dem nackten Felsenberge zu sehen? Einige Chinesen meißelten unter Anleitung eines Ingenieurs Stufen hinein. Die Arbeit schritt äußerst langsam vor sich, denn es lag in der Natur der Sache, daß auf dem schmalen Wege nur sehr wenige Hände beschäftigt werden konnten; es vermochten ja kaum zwei Menschen nebeneinanderzustehn, die andern mußten nur den Schutt wegräumen.
Schon drei Monate wurde an diesem Gemsenwege gearbeitet, und die Stufen waren kaum 100 Meter hinaufgekommen. Schätzte man die Höhe des Berges auf 1000 Meter, so bedurfte es also einer Arbeitszeit von dreißig Monaten oder zwei und ein halbem Jahr, um das Plateau zu erreichen.
Was tat es? Es war ein Werk für die Ewigkeit. Dann wollte Nobody als erster Mensch, der den jungfräulichen Berg betreten, oben eine Flagge aufpflanzen und vielleicht auch einen Leuchtturm errichten.
Allerdings konnte das Plateau auch in bedeutend kürzerer Zeit erreicht werden, innerhalb weniger Tage. Unersteigbar ist ja keine Felsenwand. Es mußten hohe Leitern angelegt werden, am obern Ende wurden Eisen in die Wand getrieben, sie dienten wieder als neue Stützpunkte der Leiter, und sobald eine Terrasse erreicht war, konnte der darunter liegende Weg mit Leichtigkeit verbessert werden. Freilich wäre es eine furchtbar gefährliche Kletterpartie gewesen, und Nobody hatte so wenig Interesse an dem nackten Felsenplateau, daß er nicht an so etwas dachte.
Was nun hatte der junge Mann beständig die an der Treppe arbeitenden Chinesen zu beobachten? Er war eben ein unverbesserlicher Träumer, und das war das, was der tatkräftige Nobody am allerwenigsten leiden konnte, und das hätte er auch nicht von dem jungen Matrosen erwartet. Irren ist menschlich, und Nobody hatte sich eben geirrt.
Aber es sollte anders kommen.
Es war am vierten Tage, seitdem sich August Hammer auf der Insel befand, als er sich früh am Morgen dem Master melden ließ.
Nobody war gerade mit dem Japaner beschäftigt.
»Ich habe keine Zeit. Was will er?«
»Danach habe ich ihn nicht gefragt,« entgegnete der Diener, welcher sich, falls Nobody einmal etwas brauchte, immer mit in dem Zimmer befand, in welchem der Hypnotisierte vorgenommen wurde.
»Jedenfalls will er die Insel wieder verlassen, er ist der Sache schon überdrüssig geworden. Er soll heute mittag wiederkommen.«
Der Diener ging, kam wieder.
»Herr Hammer läßt sich nicht abweisen. Er sagt, er hätte Ihnen eine wichtige Entdeckung mitzuteilen, die er gemacht habe.«
Nobody stutzte. Das war etwas, was ihm gefiel.
Hammer mußte eintreten.
»Es ist wegen des Schwefelbergs,« begann er. »Da oben kann kein nacktes Felsplateau sein, sondern der Berg ist hohl, bildet ein Tal, und dieses Tal hat Vegetation und ist mit einer Tierwelt belebt.«
Und der junge Matrose begann für seine Behauptungen den Beweis zu führen. Schon mit bloßen Augen hatte er auf dem Berge spezifische Landvögel erkannt, deren Namen er aufführte. Sie flogen nicht von und nach dem Berge, sondern sie waren früh und abends da; dort oben war ihre Heimat. Auch Raubvögel schwebten hoch in der Luft und stießen mit Vehemenz herab, also auf eine erspähte Beute.
»Sie stoßen auf kleinere Vögel.«
»Ich habe einen Adler gesehen, welcher, als er wieder aufstieg, etwas zwischen den Fängen trug. Ich hatte ein Fernrohr bei mir — es war ein vierfüßiges Tier, vielleicht ein Fuchs oder ein Hase.«
Mit immer größern Augen betrachtete Noboby den jungen Mann, welcher so still und bescheiden vor ihm stand und dennoch seine Ansichten auf das bestimmteste zu verfechten wußte.
»Es ist ja möglich, daß auf dem Plateau eine Vegetation entstanden ist. Es ist sogar möglich, daß es dort oben in 1000 Meter Höhe vierfüßige Tiere gibt, wenn es mir auch nicht ganz klar ist, wie die hinaufgekommen sein sollen, wie aber kommen Sie zu der Ansicht, daß der Berg ein Tal enthalten könne?«
»Gestern, am Sonntag, habe ich eine Segelpartie um den ganzen Berg herum gemacht. In der Nacht zuvor hatte es stark geregnet, auch gestern rieselte es den ganzen Tag, und ich habe auf keiner Seite des Berges einen Wassersturz herabkommen sehen. Das Regenwasser fließt nach innen ab.«
Da plötzlich sprang Nobody auf und blickte zur Decke empor.
»Nun sind wir schon drei Monate hier und haben den Schwefelberg tagtäglich vor Augen gehabt,« rief er, »und wir alten, erfahrenen Männer müssen uns erst von diesem Jungen auf das Phänomen aufmerksam machen lassen, daß von dem vermeintlichen Plateau kein Wasser abfließt!!«
»Ich hätte Sie nicht gestört und Ihnen meine Mitteilung erst heute mittag gemacht,« fuhr Hammer fort, »wenn ich nicht gehört hätte, daß noch heute vormittag der Fesselballon geprüft werden soll, und dann geht er doch gleich ab nach der Perleninsel.«
Das war auch wieder etwas, woran selbst Nobody nicht gedacht hatte.
Es war ein Luftballon angeschafft worden, der auf der Perleninsel gefesselt angewendet werden sollte, um die ausgiebigsten Muschelbänke auf dem Meeresgrunde ausfindig zu machen, so daß die Taucher nicht erst lange zu suchen brauchten. Je höher man sich nämlich befindet, desto tiefer kann man in das Wasser hinabblicken. Wenn von Deck eines ankernden Schiffes aus gar nichts vom Grunde zu sehen ist, so braucht man nur auf eine Raa zu steigen, um ganz deutlich den Anker und den ganzen Grund zu erkennen, und je höher man steigt, desto klarer wird alles. Natürlich gibt es dabei eine Grenze, und schlammig darf das Wasser auch nicht sein.
Der Fesselballon war erst gestern hier angekommen, heute sollte er geprüft werden, wozu schon die Vorbereitungen getroffen wurden. Auf den Inseln waren Kohlen gefunden worden; man bereitete sich bereits sein eignes Leuchtgas, und nach der Felsenklippe sollte solches in komprimiertem Zustande mitgenommen werden. Aber daran, den Ballon zu benutzen, um einmal auf den Schwefelberg hinaufzukommen, hatte Nobody wirklich nicht gedacht. Allerdings hatte er bisher auch kein besonderes Interesse dafür gehabt.
»Ja, mein lieber Freund, da sind Sie wohl im Irrtum. Sie kennen die Beschaffenheit eines Fesselballons nicht. 1000 Meter steigt der nicht, höchstens 200. Weiter reicht das Seil nicht.«
»Ohne Fesselleine, meine ich.«
»Ach so, eine freie Fahrt! Ob der Ballon 1000 Meter Höhe erreicht?«
»2000 Meter und noch mehr, und die Fesselleine ist so schwer, daß der Ballon noch stark belastet werden muß, sonst würde die Abfahrt nicht gelingen, der Ballon wäre gar nicht zu halten und würde gleich wie eine Kanonenkugel emporschießen.«
»Woher wissen Sie das?« fragte Nobody überrascht.
»Ich habe mich bei dem Ingenieur erkundigt.«
»Sie haben dem Ingenieur von Ihren Beobachtungen erzählt, wie Sie der Ansicht sind, daß der Schwefelberg ein Tal enthält?«
»Nein.«
»Weshalb nicht?«
»So etwas tue ich nicht. Ich habe niemandem gesagt, was ich beobachtete und was ich dachte, und als ich meiner Sache ganz sicher war, wollte ich zuerst zu Ihnen gehn. Was brauchen die andern zu wissen, was ich treibe und denke? Wenn Sie es wollen, werden es die andern schon schnell genug zu erfahren bekommen. Ich habe den Ingenieur scheinbar aus Neugierde ausgefragt, wie hoch so ein Ballon steigen kann, wenn kein schweres Tau daranhängt.«
Nobody warf dem Sprechenden einen langen Blick zu, dann sah er zum Fenster hinaus nach dem aufsteigenden Rauch und den über den Schwefelberg streichenden Wolken. »Es ist gerade Südwind, der Ballon würde von dem Berge wegtreiben, und meine Wetterbeobachter erklären, daß dieser Südwind noch einige Wochen anhalten wird.«
»In zwei Stunden haben wir direkten Nordwind,« sagte Hammer.
Überrascht blickte Nobody ihn an. »Woher wollen Sie das wissen?«
»Ich sah vorhin Delphine schwimmen, nach Süden, sie änderten ihre Richtung immer mehr, beschrieben förmlich einen Bogen, bis sie ihre Tour direkt nach Norden fortsetzten, und wenn die Delphine das tun, dann springt stets der Wind innerhalb zwei Stunden um.«
»So? Das müßten meine Seeleute doch auch wissen, und die haben mir noch nichts gesagt.«
»Das glaube ich schon.«
»Das glauben Sie schon?«
»Ja, mir hat es doch auch niemand gesagt.«
»Woher haben Sie es denn erfahren?«
»Das habe ich in den drei Jahren, die ich auf See fuhr, immer an den Delphinen beobachtet. Sie schwimmen stets gegen den Wind.«
»Ja, das weiß ich auch. Und wenn sich der Wind dreht, so wenden sie sich ihm eben immer wieder entgegen.«
»Aber sie ändern ihre Richtung schon immer ungefähr zwei Stunden vorher,« beharrte Hammer. »Wie sie wissen können, woher zwei Stunden später der Wind kommen wird, das kann ich freilich auch nicht sagen, das ist wohl Instinkt. Aber 's ist so, ich habe es wohl hundertmal beobachtet.«
»Haben Sie diese Beobachtung Ihrem Kapitän oder sonst jemandem mitgeteilt?«
August zögerte etwas, ehe er Antwort gab. »Nein,« sagte er dann kleinlaut.
»Weshalb nicht?«
»Man hätte mich ausgelacht, und dann braucht man das ja bei der Segelschiffahrt auch gar nicht zu wissen, da richtet man eben die Segel so, wie man es gerade braucht, um den Wind am besten ausnützen zu können.«
»Wenn Sie recht haben,« sagte Nobody mit Nachdruck, und es klang sogar feierlich, »wenn in zwei Stunden der Wind wirklich von Norden kommt, dann sollen Sie ... gehn Sie zu der Ballonstation und sagen Sie den Ingenieuren, sie sollen den Ballon zu einer freien Fahrt fertig machen!«
In des jungen Mannes Augen blitzte es auf, als er zur Tür schritt.
»Halt!«
Jener blieb stehen.
»Wissen Sie, was für einen Beweis ich Ihnen soeben gegeben habe?«
»Ja.«
»Nun?«
»Dadurch, daß Sie den Ballon schon klar zu einer freien Fahrt machen lassen, was sehr viel Arbeit erfordert, zeigen Sie, daß Sie nicht an der Richtigkeit meiner Behauptung zweifeln. Sie schenken mir Vertrauen.«
»Gut gesagt, und so ist es. Jetzt gehn Sie, ich komme sofort nach.«
Der Wind drehte sich wirklich, bis er nach zwei Stunden direkt aus Norden kam und so blieb.
Jetzt erst machte Nobody einem andern Menschen Mitteilung, wie richtig sein Schützling prophezeit hatte, auch von den Beobachtungen, daß sich auf dem Schwefelberg kein Plateau befinden könne, und zwar war es seine Frau, der er zunächst alles erzählte, und Nobody sprach mit triumphierenden Worten.
»Und habe nicht auch ich recht gehabt?« setzte er dann mit womöglich noch größerm Triumph hinzu. »Ich weiß wohl, auch ihr habt euch heimlich belustigt, weil ich in diesem dummen August so Großes erkennen wollte, geradeso wie auch Kapitän Grohmann mich auslachte. Aber wer zuletzt lacht, lacht am besten. Und das bin ich! Dieser so stille Junge ist ein Pfiffkopf, auf den ein Dutzend kluge Schwätzer gehn; was der spricht und tut, das hat alles Hand und Fuß, denn sonst spricht er eben nicht, und das habe ich ihm gleich auf den ersten Blick angesehen. Na, nun sage nichts mehr — auch du hast gedacht, ich hätte mich nur in den Wahn verrannt, in dem Jungen müßte durchaus etwas Großes stecken. Jawohl, ich werde allerdings noch etwas Großes aus ihm machen!« —
Unter Leitung des Mr. Mitchell, Ingenieurs und speziellen Äronauten, war der große Ballon gefüllt worden und harrte der Befreiung von seinen Fesseln.
Da er dazu bestimmt war, ein 200 Meter langes, sehr starkes Hanfseil zu tragen, welches 18 Zentner wog, so mußte mindestens ebensoviel Sand als Ballast mitgenommen werden. Der Wind würde den Ballon sofort gegen den sich in nächster Nähe erhebenden Schwefelberg treiben, aber das schadete nichts ... Die Luftbewegung war nur schwach, und die Felswände waren so glatt, daß sie der starken Seidenhülle nichts anhaben konnten; auch die Gondel würde jeden Anprall aushalten, gerade weil sie nur aus elastischen Bambusstäben zusammengesetzt war.
Außer Nobody und Mitchell sollte auch August Hammer die Fahrt mitmachen. Obgleich man nur einmal über den Berg hinwegtreiben wollte, wurden für alle Fälle auch Waffen und genügend Proviant und alles sonst Nötige mitgenommen, um selbst eine lange Ballonfahrt aushalten zu können.
Alles war fertig. Der freigelassene Ballon schoß in die Höhe und ging dann in schräger Richtung gegen die Felswand los, sprang wie ein Gummiball ab, dann klatschte die Korbgondel daran, und das wiederholte sich immer wieder.
Es gab tüchtige Püffe, nichts weiter.
Zehn Minuten waren vergangen, man näherte sich dem Ende der Felswand. Zum Glück war der Grat überall abgerundet.
Aufkreischend flogen Möwen und andre Vögel davon, auch bunte Papageien, kehrten aber sofort wieder nach dem Plateau zurück und verschwanden. Wohin, das mußte man in den nächsten Augenblicken erfahren.
Doch der Ballon hatte zu steigen aufgehört, er kam in die Schwebe. Er selbst befand sich schon über dem Grat, die Gondel noch darunter. Da verlor der Ingenieur seinen Hut, er fiel in die Tiefe, und schon die Verminderung um dieses geringe Gewicht veranlaßte ein merkliches Steigen.
Nun bloß noch ein Säckchen Sand über Bord geschüttet, und der Ballon riß die Gondel in die Höhe! Frei schwebte diese nach Süden über den Berg dahin.
»Sapristi!!« erklang es erstaunt.
Man mußte sich beeilen, um nur einen allgemeinen Überblick zu gewinnen. Denn weht auch nur ein schwacher Wind, so legt ein solcher doch noch mindestens 10 Meter in der Sekunde zurück, so schnell segelt dann auch der Ballon; da waren die 4000 Meter, welche man vor sich hatte bis zum andern Ende des Berges, gar rasch durcheilt.
Nicht ein Plateau sah man, auch keine Einsenkung, sondern das Innere des Berges war hohl; er bildete also einen Kessel, welcher von einer natürlichen Mauer umschlossen war, die sich auch nach innen jäh hinabsenkte, nicht einmal Vorsprünge zeigend, noch weniger Terrassen.
So ganz regelmäßig war die Mauer freilich nicht. Die Breite des obern Randes wechselte schon auf dieser Seite vielleicht zwischen 5 und 30 Metern, aber auf der andern Seite schien die Wand durchweg sehr dünn zu sein. Dieser obere Teil der Felsenmauer, der sich aber auch etwas nach innen neigte, so daß alles Regenwasser ebenfalls in das Innere des Berges abstießen mußte, war dicht mit Vogelnestern bedeckt.
Was für ein wundersames Naturspiel war das? War das ein erloschener Krater? Das sah gar nicht so aus.
Man hatte jetzt keine Zeit, solche Fragen zu beantworten, nicht einmal sie aufzustellen, der Blick mußte sich beeilen, und er wanderte hinab in die Tiefe.
Und was bekam das Auge zu sehen? Tief, tief dort unten wucherte eine üppige Vegetation; die hervortretenden Spitzen mußten mächtige Bäume sein, durch grüne Triften schlängelten sich Bäche als silberne Fäden, sie endigten im glänzenden Spiegel eines Sees ...
»Was tun Sie?« schrie der Ingenieur erschrocken.
Nobody hatte die Leine des Ventils gezogen, augenblicklich begann sich der Ballon, der sich gerade in der Mitte des Kessels befand, zu senken.
»Ich will mir die ummauerte Insel dort unten näher ansehen; diese Gelegenheit lasse ich mir doch nicht entgehn,« war die gelassene Antwort.
»Wir kommen nicht wieder heraus, wir sitzen in einer Falle!!«
»Das lassen Sie meine Sorge sein! Bringe ich Sie hinein, so bringe ich Sie auch wieder heraus. Regulieren Sie das Ventil, daß nur eben so viel Gas entweicht, wie zum langsamen Abstieg nötig ist.« Der Ingenieur gehorchte. Leider mußte, da jetzt gerade die Sonne hinter einer Wolke hervortrat und auf den Ballon brannte, etwas mehr ausgelassen werden, als sonst nötig gewesen wäre.
Da hier innerhalb der himmelhohen Mauern eine vollständige Windstille herrschte, senkte sich der Ballon mit der Gondel schnurgerade hinab. Nach physikalischen Gesetzen mußte sich der Fall immer mehr beschleunigen — wenn auch nicht mit dem freien Falle eines Steines vergleichbar — doch schon das Auswerfen einiger Hände voll Sand genügte, um das wieder aufzuheben.
Eine Patrone, welche Nobody über Bord warf, fiel gerade auf eine Waldblöße, nur von wenigen Bäumen bestanden, und da die Gondel genau dieser Richtung folgte, und man das Sinken des Ballons vollständig in seiner Gewalt hatte, so mußte es eine ideale Landung werden, wie ein Luftballon sie nur selten gehabt hat. Die Gondel strich an den Zweigen einer riesenhaften Platane vorbei, welche an Höhe mit einigen Bäumen Kaliforniens und Australiens wetteiferte — Bäume, von denen wir uns gar keine Vorstellung machen können — in den Ästen suchte schnatternd eine Herde Affen das Weite — dann versank die Gondel in einem grünen Grasmeer.
Nur ein ganz sanfter Stoß erfolgte. Mr. Mitchell hatte Zeit gehabt, den Landungsplatz zu mustern und Instruktionen zum Manöver zu erteilen. Auch Nobody ließ sich von dem erfahrenen Äronauten anstellen.
Sofort, als die Gondel aufstieß, zog Mitchell das Ventil, um noch etwas Gas herauszulassen. Unterdessen waren Nobody und Hammer schon herausgesprungen, jeder eilte mit einer Leine dem nächsten ihm bezeichneten Baume zu, um das Seil daran zu befestigen. Dann folgte ihnen der Ingenieur mit einem dritten.
Aber das war eine schwere Arbeit! Nämlich durch dieses Gras zu kommen. Drei Meter war es mindestens hoch. Dabei waren die Halme gar nicht so stark, nicht etwa wie Rohr, wie das Präriegras, sondern ganz dünn und weich. Trotzdem oder gerade deswegen legte es sich wie Schlingen um die Beine, und die Füße wurden förmlich von einem Grasfilz umstrickt. Doch sie kamen durch; den Standpunkt der Bäume hatten sie sich genau gemerkt; der noch faltenlose, wenn auch schon viel kleiner gewordene Ballon war gefesselt.
Ein Hase war vor Nobody aufgesprungen; ein wildes Huhn hätte er bald totgetreten; ein riesiger, prachtvoller Schmetterling mußte wirklich den Tod durch Nobodys Fuß erleiden. Langgeschwänzte Affen, Opossums, weiße Eichhörnchen und andre Baumtiere schauten aus den Zweigen den Arbeitern zu.
Sie trafen sich an der Gondel wieder.
»Na, was sagst de denn dazu,« fing Nobody mit dem Refrain eines allbekannten Gassenhauers an.
»Man möchte es gar nicht glauben,« meinte der Ingenieur.
Hammer äußerte gar nichts. Es war auch von hier aus nicht viel zu sehen, nicht einmal der nächste Baum. Viel mehr als der riesige Graswuchs mit tropischen Blumen, auf denen sich prachtvolle Schmetterlinge schaukelten, von Käfern aller Art belebt, war nicht zu bewundern. Dann entdeckte man noch oben an den Grashalmen das winzige Nestchen eines Kolibris.
»Wenige Schritte von hier ist ein ziemlich breiter, aber seichter Bach, in dem können wir marschieren,« sagte Mitchell, aus der Gondel ein großes Messer mit schwerer Klinge nehmend, zum Kappen der Taue bestimmt.
»Jawohl, dort drüben an meinem Baume fließt er vorüber,« bestätigte Hammer, »ich habe auch schon viel Fische drin gesehen.«
»Was wollen Sie mit dem Kappmesser?« fragte Nobody.
»Uns einen gangbaren Weg durch das Gras hauen,« entgegnete der Ingenieur; »wir werden es noch oft brauchen; ich sah von oben auch Schlingpflanzen zwischen den Bäumen hängen.«
»Nein,« entschied jedoch Nobody, »es wird kein Weg gebahnt! Was wir niedertreten, richtet sich schnell wieder auf, doch abgeschnittenes Gras bleibt lange sichtbar, und ich will dieser ummauerten Wildnis ihre Jungfräulichkeit lassen. Dagegen werden wir Waffen mitnehmen, wir könnten auch mit Raubtieren zu rechnen haben.«
Sie bewaffneten sich mit Gewehren und Revolvern, und nachdem sie einmal den breiten, aber seichten Bach erreicht hatten, konnten sie in demselben schnell fortkommen, bekamen auch mehr von der Vegetation und Tierwelt zu sehen.
Die drei Männer, welche schon in allen Weltteilen gewesen waren, wurden sich einig, daß sich hier die indische Flora und Fauna mit der australischen vermischte. Besonders die Insekten gehörten Indien an, die sehr zahlreichen weißen Eichhörnchen speziell Java, das Opossum, kleine Känguruhs und andre Beuteltiere hatten ihre Heimat in Australien. Aber auch Amerika und Europa kamen in Betracht. Die überall herumschwärmenden Kolibris, nicht viel größer als Hummeln, wie Diamanten schillernd, sind nur in Amerika zu Hause; nur in Südamerika kommen Affen mit Wickelschwänzen vor. Die Hasen, von denen es hier wimmelte, erinnerten an Europa, desgleichen die im Wasser spielenden Forellen. Dasselbe galt von der Pflanzenwelt. Neben dem australischen Gummibaum stand der indische Baobab mit Brotfrüchten. Um das riesige Farnkraut von Neuseeland schlang sich die Vanille, und am Stamme eines deutschen Apfelbaumes gedieh die westindische Ananas.
Das war aber doch nur dem Anscheine nach der Fall.
Nobody fing einen der blitzschnellen Kolibris mit der Hand, ein Kunststück, welches ihm so leicht keiner nachmacht, und untersuchte das winzige Tierchen, das gleich am Herzschlag verendet war.
»Nein, das ist kein amerikanischer Kolibri,« erklärte er. »Es ist nur ein sehr kleiner und sehr bunter Vogel; er baut sein Nest auch an Grashalmen, aber sonst hat er mit dem amerikanischen Kolibri keine Ähnlichkeit, es ist eine ganz andre Art. Dasselbe gilt von den Affen. Das sind indische Affen, bei denen sich hier nur Klammerschwänze ausgebildet haben, und das sind auch keine nordeuropäischen Hasen, das sind keine Gebirgsforellen, obwohl sie so aussehen. Betrachten Sie sie nur näher! Die haben ja die Augen ganz oben am Kopfe und das Maul weit unten.«
Ebenso war es mit den Pflanzen. Der Apfelbaum glich in den Blättern ganz seinem deutschen Vetter, aber in der Frucht fand man einen Steinkern. Die Ananas enthielt eine milchige Flüssigkeit.
Die Sache war die: diese von einer natürlichen Mauer eingeschlossene Insel besaß in der Tier- und Pflanzenwelt ihre eignen Spezies, die sich im Laufe der Jahrtausende selbständig entwickelt hatten.
Das steht durchaus nicht ohne Seitenstück da. Es gibt vielmehr eine ganze Menge von Inseln, deren jede ein besonderes Insekt, Reptil, Raubtier oder sonst etwas hat, was nirgends anderswo in der Welt zu finden ist, und diese Inseln sind von keiner Mauer abgeschlossen.
Das stärkste Beispiel aber liefern die Gallopagos-Inseln, die Heimat der riesigen Lederschildkröten, die nur hier ihre Eier ablegen. Alexander von Humboldt hat auf diesen Gallopagos-Inseln mehr als hundert neue Arten von Insekten, Muscheln und Vögeln gefunden, welche sonst nirgends auf der Erde anzutreffen sind, nirgends fortkommen!
Wer löst dieses Rätsel? Humboldt hat es nicht vermocht. In ihre tiefsten Geheimnisse, in die der Schöpfung und was damit zusammenhängt, läßt sich die Natur nicht blicken.
Warum gibt es in Irland keine Frösche und Eidechsen? Was für Anstrengungen haben nicht schon Gelehrte und Gartenbesitzer gemacht, wegen der vielen Schnecken die überaus nützliche Kröte in Irland einzubürgern! Schiffsladungsweise hat man sie aus Frankreich importiert! Alles vergeblich! Die Tiere sterben, obgleich das feuchte Irland mit seinem frischen Gras der Existenz dieser Lurchen doch so günstig zu sein scheint — nach menschlichem Ermessen!
Sinnend betrachtete Nobody das tote Vögelchen in seiner Hand, sinnend die mächtigen Farnwedel, die so dünne Stengel hatten, das mit den schlanken Halmen so ungeheuer emporgeschossene Gras, und dann blickte er zum Himmel empor, wo die Wolken von einem stärker gewordenen Winde gejagt wurden, während sich hier unten auch nicht das leiseste Lüftchen regte.
»Wie diese Tiere hierhereingekommen oder wie sie sonst hier entstanden sind, weiß ich nicht,« sagte er, »aber das eine steht fest: nur hier können sie existieren, nirgends anders, und vergebens würde man versuchen, sie lebend von hier fortzubringen! Schon der kleinste Windhauch würde auf sie wie ein tödliches Gas wirken!«
Im übrigen zerbrach sich Nobody nicht weiter den Kopf über die Rätsel der Weltschöpfung. Er nahm alles, wie es war. Etwas andres aber fiel ihm ein.
»Seltsam, ganz seltsam!« murmelte er. »Da mußte Flederwisch auf mein Geheiß den Kokotten in Monte Carlo etwas von einer Insel an der afrikanischen Küste vorphantasieren, von einem Felsenberge, der in seinem Innern ein Paradies berge, von dem kein Mensch etwas wisse — und hier im Stillen Ozean finde ich in Wirklichkeit solch eine Felseninsel. Seltsam!«
Sie wateten weiter in dem Flüßchen, bis sie den kleinen See erreichten. Von Schlangen und Raubtieren hatten sie bisher noch keine Spur bemerkt, aber überall flohen Hasen und hühnerähnliche Laufvögel vor den Herren der Schöpfung.
»Mir kommt es fast vor,« meinte Mr. Mitchell, »als hätten die Tiere doch schon einmal unangenehme Bekanntschaft mit Menschen gemacht, sie sind gar so scheu!«
»Hören Sie,« entgegnete Nobody, »daß im andern Falle die Tiere dem Menschen freudig entgegenspringen, das halte ich für einen faulen Schwindel. Ich habe ein Buch des französischen Afrikareisenden Leblanc gelesen; darin schildert er, wie er in eine Oase gekommen ist, die noch von keinem menschlichen Fuße betreten worden war, und wie da die Gazellen ihm aus der Hand fraßen, die Vögelchen sich ihm gleich auf den Kopf setzten und ihm die Läuse absuchten. Wenn dieser Monsieur Leblanc so etwas erzählt, dann glaube ich fast, daß er überhaupt nicht in Afrika gewesen ist. Ich war auch in Gegenden, von denen ich bestimmt weiß, daß ich der erste Mensch dort gewesen bin, aber alles, was da kreucht und fleugt, riß vor mir wie Schafleder aus. Teufel noch einmal, soll so ein Hase auch nicht erschrecken, wenn solch ein zweibeiniges Ungeheuer anspaziert kommt?«
Da auch der beste Ballon aus der stärksten Seide immer Gas ausläßt, konnte der Aufenthalt auf der Insel nur von kurzer Dauer sein, und Nobody wollte ihn dazu benutzen, zu untersuchen, ob es irgend eine Stelle gebe, wo die Felswand von innen zu ersteigen sei.
Den See mühsam umgehend, fand man einen zweiten Bach, den man aufwärts verfolgte, bis man auch wirklich die steile Felswand erreichte. Aber immer an dieser entlangzugehn, das war wegen der Dichtigkeit der Vegetation, und besonders wegen der Schlingpflanzen, wenn man kein Messer gebrauchen wollte, unmöglich, und da das Terrain neun bis zehn Quadratkilometer umfaßte, so hätte man doch wenigstens einen Tag gebraucht, um sich mit dem Messer einen Weg zu bahnen.
So gaben die Herren ihren Vorsatz vorläufig auf. Sie fanden einen dritten Bach, der ebenfalls einer Felsspalte entsprang, und machten sich auf den Rückweg, zunächst wieder nach dem See.
»Wie ich vom Ballon aus gesehen habe,« sagte der Ingenieur, »befindet sich an der östlichen Seite ein noch viel größerer See.«
»Dort, wo die äußere Felswand so ganz steil ohne Terrassen in das Meer hinabstürzt?« fragte Nobody.
»Ja, er grenzt dicht daran, sein Wasser spült daran, und auf der andern Seite das Meer. Es ist dort so tief, daß es auch für die größten Schiffe fahrbar ist, und gerade dort scheint die Mauer sehr dünn zu sein. Wenn da gesprengt würde, und der Niveauunterschied zwischen See und Meer ist nicht zu groß, was wir mit dem Barometer leicht feststellen können, so ließe sich hier eine unüberwindliche Festung mit sicherm Hafen schaffen.«
»Hm, daran habe ich auch schon gedacht. Aber wozu alles in eine Festung verwandeln und mit Kanonen spicken? Nein, mit diesem ummauerten Paradiese habe ich etwas andres vor. Das ist ja gerade, was ich mir gewünscht habe. Hierher kommen meine sieben Japaner, und diese als Robinsons in ihrer Entwicklung beobachten zu können, das ist auch etwas, was noch nicht dagewesen ist. Brauchen wir aber eine Festung, so kann das noch immer im Handumdrehen ...«
»Mr. Nobody!« rief da Hammer, der etwas vorausgegangen war.
Er hatte das Ufer des Sees schon erreicht; dort stand er, noch im Wasser des Baches, und deutete mit ausgestrecktem Arme auf das Land.
Schnell waren die beiden andern an seiner Seite, und was sie da zu sehen bekamen, das war allerdings dazu angetan, ihre Bestürzung zu erregen.
Das Ufer des Sees war mit kurzem Grase bestanden; an einer Stelle war dieses niedergetreten, und hier lagen viele Muschelschalen, mit Gewalt erbrochen, ferner Gräten und Köpfe von Fischen, und zum Überfluß waren in dem weichen Sande dicht am Wasser auch noch große Spuren abgedrückt.
»Ein menschlicher Fuß!!« rief der Ingenieur.
»Und was für mächtige Quadranten hat der Kerl!« setzte Nobody in seiner trocknen Weise hinzu; dann fuhr er fort: »Geht barfuß, hat sehr lange Nägel an den Zehen, ißt Muscheln und Fische roh. Ob er kein Feuer besitzt oder solches überhaupt nicht kennt, ist deshalb noch die Frage.«
Er hob einige Muschelschalen auf und betrachtete sie aufmerksam.
»Die hier scheint er aufgerissen zu haben, aber an diesen beiden hier sind die Spuren von Zähnen zu erkennen. Daraus wäre zu schließen, daß es ein vollkommener Wilder ist, der nicht einmal ein Steinmesser besitzt. Gibt es aber einen solchen Wilden? Nein. Nun, wir werden uns den Burschen gleich näher besehen, die Spur ist noch ganz frisch. Habt ihr Stricke oder Riemen bei euch? Nein? Dann schnallt eure Patronengürtel ab!«
Sofort begann Nobody, das Auge an den Boden geheftet, am Ufer des Sees entlangzugehen, bis er in das Gebüsch drang. Die Nachkommenden konnten die geringe Spur im Grase, welcher Nobody so schnell und sicher folgte, nicht bemerken. Außerdem wußte sich dieser viel geschickter durch die Schlingpflanzen zu winden, als sie, so daß sich der Abstand von seinen Gefährten immer mehr vergrößerte.
Weit sollte er nicht zu gehn brauchen. Er hatte eine kleine Waldblöße erreicht, über welche sein scharfes Auge die Spur im Grase deutlich hinweglaufen sah, und wenn er auch seine Umgebung beobachtete, so war sein Hauptaugenmerk doch auf diese Spur gerichtet, als er plötzlich hinter sich ein heiseres Brüllen vernahm, und ehe er sich umwenden konnte, wurde sein Hals von riesenhaften Fingern umklammert.
Seine Begleiter hatten gesehen, wie sich das furchterregende, haarige Ungeheuer von hinten auf ihren Master geworfen hatte und ihn zu erdrosseln, ihm wohl auch die Zähne in den Hals zu schlagen suchte.
»Ein Gorilla!!« schrie der Ingenieur und sprang mit gezogenem Jagdmesser seinem Herrn zu Hilfe.
Aber Nobody brauchte diese nicht. In dem Augenblick, als er die Finger an seinem Halse fühlte, drehte er, obgleich sein Kopf wie in einen Schraubstock eingespannt war, sich um, packte mit der einen Faust die haarige Kehle des Ungeheuers, die andre Faust führte in dessen Bauch einen furchtbaren Boxer-Hieb, den auch kein Gorilla hätte aushalten können.
Das haarige Ungeheuer, welches den Menschen wohl um Kopflänge überragte, ließ denn auch sofort sein Opfer los, schloß die Augen, stöhnte auf gräßliche Weise und taumelte zurück — da war Nobody schon wieder bei ihm, umschlang ihn, hob ihn aus, schmetterte ihn zu Boden, und zwar so, daß er auf den Bauch zu liegen kam, und als der Ingenieur zur Stelle war, kniete Nobody schon, zwischen seinen Zähnen Lederriemen, auf dem Rücken des Ungetüms und preßte ihm hinten die Arme zusammen.
»Bindet ihm die Füße, ich übernehme die Hände!!«
Das Fesseln war schnell geschehen, so sehr sich die menschliche Bestie auch wand, was aber eher von Magenkrämpfen infolge des Fausthiebes herrühren mochte, denn sie stöhnte und rang nach Atem.
Sobald Nobody mit dem Binden der Hände fertig war, sprang er auf und verfolgte noch einmal die Spur. Denn er hatte diese ja vor sich gehabt, und der Affenmensch war ihm von hinten angesprungen.
Allein bald überzeugte er sich, daß der Wilde hinter der Waldblöße im Gebüsch um diese herumgeschlichen war, um dem Manne, der ihn verfolgte, heimtückisch in den Rücken zu fallen, was ihm freilich schlecht bekommen war.
»Es ist nur der eine,« sagte Nobody, wieder aus dem Gebüsch tretend, »und ich bezweifle sehr, daß es noch ein andres solches Wesen auf der Insel gibt.« Die beiden Zurückgebliebenen waren soeben erst mit dem Fesseln der Füße fertig geworden. Staunend betrachteten sie das Ungeheuer, von dem sie vorläufig allerdings nur den Rücken sehen konnten, und mit keinem geringeren Staunen heftete der Ingenieur dann seine Augen auf den zurückkommenden Nobody.
»Das war ein Meisterstück, wie Sie diese Bestie überwältigten! Jeder andre wäre verloren gewesen.«
»Es ist kein Affe, es ist ein Mensch,« sagte Hammer.
»Ja, und ich halte ihn nicht für einen wirklichen Wilden, sondern für einen verwilderten Menschen. Hierbei ist nämlich ein großer Unterschied. Nun, betrachten wir ihn von der andern Seite!«
Sie rollten ihn herum, daß er auf den Rücken zu liegen kam. Keiner von den dreien hatte bisher das Gesicht sehen können.
Es war ein sehr großer Mann, etwas über zwei Meter groß, hager, aber breitschultrig, sehnig und muskulös. Der ganze Körper war mit rotbraunem Haar bedeckt, mit Ausnahme der obern Partie des Gesichtes, der Knie, der Hände und der Füße. Dieses Körperhaar war nicht allzu lang. Dagegen reichte ihm das Haupthaar fast bis an die Kniekehlen, und von Mund und Wangen wucherte ein rotbrauner Bart bis hinab auf den Leib.
Und das Gesicht selbst? Wohl machte es einen schrecklichen Eindruck, aber das kam daher, daß es jetzt vor Furcht verzerrt war; die blutunterlaufenen Augen rollten in wilder Angst von einem der Männer zum andern. Die gelbbraune, lederartige Haut kam noch dazu; aber sonst waren es menschliche, ganz normale Züge: kein hervortretendes Kinn, was besonders den Tiermenschen charakterisiert, nicht einmal aufgeworfene Lippen, keine abstehenden Ohren.
»Das ist ein Kaukasier, ich erkenne es aus der Schädelbildung,« sagte Nobody, »ich halte ihn sogar den Zügen nach für einen Germanen.«
Er beugte sich über ihn.
»Sprechen Sie deutsch? Speak English? Parlez-vous français? Parla ...«
Er hatte ihm den Kopf streicheln wollen. Da schnappte das Ungeheuer nach Nobodys Hand, wobei ein wahrhaftes Wolfsgebiß zum Vorschein kam.
»Das Luder beißt,« sagte Nobody, nahm noch einen Lederriemen und schlang ihn dem Wilden um Kinn und Kopf, daß er den Mund nicht mehr öffnen konnte.
»Nachdem wir hier schon Wunder genug zu schauen bekommen haben,« nahm der Ingenieur das Wort, »ist da die Annahme zu kühn, daß wir es hier mit einem menschenähnlichen Wesen zu tun haben, welches die von aller Welt abgeschlossene Insel ebenfalls selbständig erzeugt hat?«
»Nein, das will mir nicht recht in den Kopf,« entgegnete Nobody. »So ganz unmöglich wäre es ja nicht, aber dann, dem werden Sie doch beistimmen, müßte es auch noch andre solche Geschöpfe hier geben, vor allen Dingen auch weibliche. Geboren worden muß der Kerl doch sein. Nein, das ist ein Mensch, der sich hierherein verirrt und den Ausweg nicht wieder gefunden hat, sich nicht zu helfen wußte und so nach und nach zum Tiere herabgesunken ist. Solche verwilderte Menschen sind oft gefunden worden, besonders in den großen Wäldern Amerikas und Sibiriens, und immer war ihr Körper mit dichten Haaren bedeckt. Die Natur gibt ihnen als Ersatz für die verlorne Kleidung einen Pelz.«
»Ja, wie soll er aber hierhergekommen sein?« meinte der Ingenieur.
»Das weiß ich vorläufig auch noch nicht.«
»Sollte es ein Loch in der Felswand geben, durch das man kriechen kann?«
»Das wäre mir sehr fatal, und das bezweifle ich auch.«
»Dann hätte dieser Mann, der doch sicher schon jahrelang hier haust, den Ausgang doch auch wieder gefunden.«
»Das denke ich ebenfalls,« entgegnete Nobody, der aber sonst seinen eignen Gedanken nachzuhängen schien.
»Oder sollte es möglich sein, außen an der Felswand emporzuklettern?«
»Nein, das ist ganz und gar ausgeschlossen, daraufhin habe ich diese selbst schon zu genau untersucht.«
»Ja, wie soll er aber sonst über die himmelhohe Mauer gekommen sein?«
»Das ist das erste Rätsel, welches es jetzt zu lösen gilt, und mir auch ganz unerklärlich.«
August Hammer hatte dieser Unterhaltung still zugehört. »Ich wüßte wohl, wie er über die Felswand kommen konnte,« ließ er sich plötzlich vernehmen.
Lebhaft wandte Nobody sich ihm zu.
»Nun?«
»Was heißt, ich meine nur, so ganz unmöglich ist es doch nicht.«
»Sprechen Sie nur Ihre Ansicht aus! Wie konnte er hierhereingelangen?«
»Einfach geradeso wie wir — mit einem Luftballon!«
Der Ingenieur brach in ein schallendes Gelächter aus.
»Dieser nackte Wilde — in einem Luftballon — hahaha!«
»Na na, was gibt es denn da zu lachen?« sagte aber Nobody sehr ernst. »Lächerlich ist vielmehr, daß wir es für eine Unmöglichkeit halten, über die Felswand zu kommen, da wir uns doch selbst hier befinden, und warum sollte es denn so ganz ausgeschlossen sein, daß auch dieser Mann einst einen Luftballon benützt hat? Er wird ein gebildeter Mensch gewesen sein, ich glaube es sogar ganz bestimmt. Auch er hat, wie dieser junge Mann hier, an dem Schwefelberge merkwürdige Beobachtungen gemacht, ist auf die Vermutung gekommen, daß hier oben kein flaches Plateau sein könne; sein Wissensdurst hat ihn einen Luftballon besteigen lassen, er gelangte in dieses Tal, aber nicht wieder heraus, der erschöpfte Ballon trug ihn nicht mehr. Warum soll das nicht möglich sein? Merkwürdig freilich wäre der Zufall, wenn wir Luftschiffer hier einen Kameraden getroffen haben sollten. — Mr. Mitchell, bleiben Sie hier, bewachen Sie den Gefangenen! Ich werde die rückwärtsführende Spur des Mannes verfolgen, vielleicht finde ich noch etwas, woraus ich Schlüsse über ihn ziehen kann. Hammer begleitet mich.«
Nobody hatte darauf gehalten, daß die Umgebung des Platzes, auf welchem man die Überreste der Mahlzeit gefunden hatte, nicht zertreten worden war. Jetzt untersuchte er diesen und hatte im Grase bald die Fährte gefunden, welche der Affenmensch zurückgelassen hatte, als er zuerst hierhergekommen war.
Von dem jungen Matrosen begleitet, welcher freilich in dem kurzen Grase nichts von einer Spur zu unterscheiden vermochte, verfolgte Nobody diese.
Sie führte erst in das Dickicht, dann wieder an den See zurück, und um diesen herum, wo man den Fußabdruck im weichen Sande wahrnehmen konnte.
Es kam vor, daß manchmal mehrere Spuren nebeneinanderherliefen oder sich kreuzten, aber Nobody vergewisserte sich, daß sie immer nur von ein und demselben Manne herrührten, was besonders im Schlamm sehr leicht zu konstatieren war, weil jenem Affenmenschen der Nagel der linken großen Zehe halb abgerissen war und dies bei jeder Spur immer wieder zum Vorschein kam.
Nach etwa einer Stunde dachte Nobody an die Rückkehr. Er war überzeugt, daß sich auf der Insel nur dieser einzige Mensch befand. Derselbe kannte kein Feuer, nährte sich von Muscheln und Fischen, fing auch Hasen und Vögel, jedenfalls nur im Sprunge mit den Händen; das Fleisch verzehrte er roh, riß es aus dem Balge heraus. Hiervon hatte Nobody Spuren gefunden, und ferner, was ihm sehr wichtig war, ein Nachtlager auf ebner Erde. Größere Raubtiere konnte es hier also nicht geben, jedenfalls auch keine Schlangen, sonst hätte der Affenmensch für die Nacht ganz sicher einen Baum erstiegen.
»Hier liegt ein flaches Stück Holz, Master!« rief da der etwas zurückgebliebene Matrose.
Nobody kehrte um, sah jenen mit ausgestreckter Hand dastehn, gewahrte auch schon das längliche, flache, viereckige Holz; aber Hammer stand davon noch etwa fünf Schritte entfernt und deutete nur darauf, wodurch er in Anbetracht seiner Bemerkung einen etwas dämlichen Eindruck machte.
Da lag eine Frage sehr nahe. »Warum heben Sie das Holz nicht auf?«
In dieser Frage fehlte ein Wort, das Wörtchen ›denn‹, welches wohl schwerlich jemand vergessen hätte.
»Ich wollte es nicht anrühren, Sie könnten doch etwas Besondres daran bemerken, vielleicht nur, wie es liegt, was mir entgeht.«
Nobody warf dem Sprecher schweigend einen seiner langen Blicke zu. Dann ging er langsam auf das Holz zu, den Boden und seine Umgebung musternd, sogar nach oben blickend, wo sich die Zweige der Bäume über ihm wölbten, und hob es auf. Das Stück Holz glich einem kurzen, dicken Lineal, in der Mitte lief der Länge nach eine Rille, die in einem Loche endete. Ferner bemerkte Nobody zu beiden Seiten der Rille vertiefte Striche.
»Ein Thermometer. Oder doch das Brett eines Thermometers. Was für ein System? Fahrenheit. Das läßt auf einen Engländer oder Amerikaner schließen.«
Als er die andre Seite betrachtete, fand er zwei Buchstaben eingeschnitten: R. S. »Und was für Holz ist das? Das ist ja ...« Erst hatte er es mit dem Fingernagel ritzen wollen, und als das nicht ging, probierte er es mit dem Taschenmesser; aber auch das konnte kaum eindringen.
»Das ist eisenhartes Teakholz. Demnach ist der Mann wirklich ein wissenschaftlicher Forscher. Denn dieses Holz, welches sich weder in Hitze noch Kälte wirft, wird nur für die feinsten Instrumente verwendet, diese werden aber dadurch sehr teuer, weil es sich so außerordentlich schwer bearbeiten läßt. — Doch halt, wir wollen nicht voreilig sein! Jener verwilderte Mensch könnte auch nur der Begleiter, der Diener des Mannes gewesen sein, der dieses Thermometer einst benutzte. Nun, auf dieser ummauerten Insel kann ja nichts verloren gehn, was nicht verwest; von einem hier Verstorbenen müßten wir wenigstens das Skelett finden.«
Dies war auch der Grund, warum Nobody jetzt jede weitere Untersuchung aufgeben wollte. Auf dieser Insel konnte ihnen ja nichts entgehn, und es war Zeit, an die Rückfahrt mit dem Ballon zu denken.
Der Affenmensch sollte gleich mitgenommen werden.
Nobody teilte dem Ingenieur mit, was er gefunden hatte, dann wollte man den behaarten Mann nach dem Ballon tragen. Als er sich wehrte, was auch den drei Männern kaum möglich machte, ihn aufzuheben, wurde ein junger Baumstamm gefällt, wobei das Kappmesser sehr zustatten kam, der Gefangene daran gebunden, dann nahm Nobody das eine Ende über die Schulter, vorn trugen die beiden andern, und so wurde in dem seichten Bache zurückgewatet.
Noch eine Biegung, und der Ballon mußte ihnen zu Gesicht kommen. Das war auch der Fall, aber ...
»Der Ballon läßt Gas aus!!« rief der Ingenieur erschrocken.
Noch stand die ovale Hülle aufrecht, noch war keine Falte zu bemerken, aber sie hatte doch ganz bedeutend an Umfang abgenommen.
Der Ballon hatte noch keine Prüfung bestanden; diese Fahrt hierher war sie gewesen, und die Seidenhülle erwies sich als nicht ganz dicht. Denn wenn auch stets etwas Gas entweicht — schon nach zwei Stunden darf eine solche Abnahme des Gases nicht bemerkbar sein. Trotzdem glaubte der Äronaut, wie er versicherte, daß man noch über die tausend Meter hohe Felsenwand gelangen könne, selbst unter Mitnahme des sehr schweren Affenmenschen. Natürlich mußte dementsprechend Ballast zurückgelassen werden.
Allein Mr. Mitchell schien beim Anblick des schwindsüchtigen Ballons und bei Erwägung der Aussicht, hier unter Umständen eingekerkert zu sein, etwas den Kopf verloren zu haben. Als wissenschaftlich ausgebildeter Äronaut hätte er nicht nur ›glauben‹ dürfen, sondern gleich eine sichere Berechnung über die noch vorhandene Tragkraft des Ballons anstellen müssen, was er aber nicht tat.
Hals über Kopf wurde der Affenmensch in die Gondel geworfen, die drei Männer sprangen nach und begannen einen Sandsack nach dem andern auszuladen. Jeder wog 25 Pfund, 70 hatte man mitgenommen gehabt, 67 waren noch vorhanden. Der Sandsäcke wurden immer weniger, doch weder Gondel noch Ballon wollte sich rühren.
»Hören Sie, Mr. Mitchell,« meinte Nobody, »wenn der Ballon auch ohne Sand nicht in die Höhe geht, dann wollen wir den schönen Sand doch lieber gleich in der Gondel lassen.«
»Er muß, er muß,« versicherte der Ingenieur, dem der Schweiß von der Stirne perlte. »So weit erschöpft ist der Ballon noch lange nicht, daß er nicht vier Menschen tragen kann. Das sind wenigstens noch zehn Zentner Ballast.«
»Na, wenn er muß, dann mal weiter!«
Endlich, es waren nur noch 18 Säcke in der Gondel, begann diese leicht zu schaukeln. Von einem Erheben aber war noch gar keine Rede.
Unterdessen hatte der Ingenieur seine Ruhe wiedergefunden; er ließ die Arbeit einstellen, er wollte die Tragkraft des Luftschiffes berechnen. Er maß den Umfang des Ballons, wobei er auch hinaufklettern mußte. Dann, als er in seinem Notizbuch gerechnet hatte, machte er ein sehr besorgtes Gesicht.
»Es ist keine Möglichkeit vorhanden, daß wir über die Felsenwand kommen.«
»Nette Geschichte das!« meinte Nobody. »Wenn wir nun diesen schweren Kerl zurücklassen?«
»Den habe ich gar nicht mitgerechnet.«
»Wieviel trägt denn der Ballon noch?«
»Mit fünf Zentnern würde er gut aufsteigen. Aber jetzt steht die Tragfähigkeit zur Abnahme des Gases in einem ganz andern Verhältnis als vorher, drei Zentner müssen wenigstens nach und nach abgegeben werden, um zwei Zentner in 1000 Meter Höhe zu bringen.«
»Aha, ich verstehe. Wenn aller Ballast heraus ist, können wir drei aufsteigen, können sogar den Kerl dort mitnehmen.«
»Jawohl. Aber Sie würden nicht weit kommen.«
»Sie nicht, wohl aber ich.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ganz einfach: ich nehme Sie, Herrn Hammer und den dort als Ballast mit, werfe nach Bedarf einen nach dem andern über Bord. Würde ich dann über die Felswand kommen?«
»Ja, dann allerdings,« lachte der Ingenieur, aber sein Lachen kam nicht recht vom Herzen.
»Na, dann nehme ich anstatt Menschen eben Sand als Ballast mit.«
»Was wird aber aus uns?«
»Sie bleiben einfach hier. Ja, das hilft doch nichts. Nur einer kann wieder heraus, und ich erlaube mir, hierzu mich selbst vorzuschlagen. Ich habe auch die meiste Berechtigung dazu. Ich muß unbedingt heraus. Ich muß mich als Baron Nogi dem Mikado zur Stelle melden. Mein Urlaub ist abgelaufen. Ich muß als geheimer Kurier nach Petersburg. Auf mich warten sechs Frauen. Ich habe vierundzwanzig hungrige Kinder zu Hause. Nur ich bin derjenige, welcher!«
Nobody hatte dies in einer Weise gesagt, daß auch der sonst so stille Hammer in ein schallendes Gelächter ausbrach. Nur der Ingenieur stimmte nicht in dieses ein.
»Na,« lachte auch Nobody, als er Mitchell auf die Schulter klopfte, »machen Sie mal nicht so ein trübseliges Gesicht. Daß ich Sie hier nicht in der Mausefalle sitzen lasse, können Sie sich wohl denken, und drei Jahre, bis die Chinesen mit der Steintreppe fertig sind, brauchen Sie auch nicht zu warten. Wenn Sie innerhalb von drei Tagen nicht wieder heraus sind, dann ... will ich diesen Luftballon, aber knallvoll, als Pille verschlucken. Unterdessen können Sie hier wie im Schlaraffenland leben; es wächst Ihnen ja alles in den Mund, die gebratenen Hasen laufen herum, und Decken haben Sie auch, um sich ein Nachtlager zu bereiten. — Also vorwärts!«
Die Vorbereitungen wurden getroffen, daß Nobody allein abfuhr, und bald sollte es sich zeigen, wie gut es gewesen, daß nicht der Ingenieur allein in die Höhe gestiegen war, um Hilfe zu holen. Denn der wäre trotz aller seiner aeronautischen Weisheit nicht über die Felswand gekommen, und dann wäre es ein für allemal zu spät gewesen, sich durch eigne Kraft zu befreien.
»Der Affenmensch wird gut gepflegt, bleibt aber gebunden und wird immer von einer Person bewacht,« war Nobodys letzte Anordnung. »Fertig?«
Die Taue wurden gekappt; mit 14 Sandsäcken ging der Ballon in die Höhe.
Jetzt lagen aber, wie schon gesagt, ganz andre Verhältnisse vor als bei der Abfahrt.
Um nur die Hälfte des Weges zurückzulegen, hatte Nobody schon 7 seiner Sandsäcke opfern müssen. Da aber der Ballon augenblicklich noch immer stieg, glaubte er beim Auswerfen des letzten Sackes die Felswand bequem überfliegen zu können, denn das mußte geschehen, sobald Ballon und Gondel über den Rand des Plateaus hinauskamen, wo sie von dem frisch wehenden Winde erfaßt wurden. Aber das sollte nicht gelingen. Das ahnte Nobody schon, als er nur noch einen einzigen Sack Ballast zur Verfügung hatte.
Der Ballon war, wenigstens noch 10 Meter unterhalb der Windzone, und 25 Pfund wollten jetzt gar nicht mehr viel bedeuten. Wohl schnellte der Ballon etwas empor, sank aber ebenso schnell immer wieder hinab. Ob nun Nobody diesen Sack hinauswarf oder andre schwere Gegenstände, die sich noch in der Gondel befanden, wie z. B. ein Taubündel, das war gleichgültig. Jetzt war alles Ballast. Nobody hob Sack und Taurolle auf den Rand der Gondel, stürzte sie gleichzeitig hinab — hoch flog der Ballon, berührte schon mit seinem obern Rande die fast greifbar deutliche Windzone — da sank er wieder.
Ein kleines Faß mit Wasser folgte nach, ein Gewehr ... beides hatte kaum einen sichtbaren Erfolg. Jetzt merkte der schlaffgewordene Ballon es eben nicht mehr, wenn nur ein Hut davonflog, jetzt kamen schon Zentner in Betracht.
In der Gondel war nichts mehr, nur noch der Luftschiffer selbst, und stetig sank der Ballon.
Da zog Nobody seinen Nickfänger aus der Tasche, klappte ihn auf, nahm ihn zwischen die Zähne, sprang in das Netzwerk, hing sich in die Knie, verstrickte sich mit den Füßen, und so, den Kopf nach unten, durchschnitt er sämtliche Stricke, welche die Gondel hielten — und wie diese in die Tiefe stürzte, so sauste der Ballon hoch in die Luft.
Noch im Kniehang schwebte Nobody über den schmalen Felsgrat und erblickte 1000 Meter unter sich den Meeresspiegel. Dann richtete er sich auf, setzte sich in den Stricken zurecht und ließ noch etwas Gas aus.
In schräger Richtung ging es hinab, und wenige Minuten später schaukelte der erschöpfte Ballon wie eine riesige Schwimmblase auf den Wogen des Stillen Ozeans. Nobody hatte kurz vorher, um nicht unter dem Ballon im Strickwerk verwickelt zu werden, einen Kopfsprung gemacht.
Als er wieder auftauchte und seinen Blick dem Schwefelberge zuwandte, sah er hinter diesem eine Rauchwolke vorkommen.
Seine Hoffnung sollte nicht getäuscht werden. Auf der Insel war der Schwefelberg nicht aus den Augen gelassen worden; man hatte den Abstieg des kühnen Luftschiffers und Trapezkünstlers beobachtet, und sofort ging ein kleiner Dampfer ab, um ihn und den Ballon aufzufischen.
»Boot ahoi!!«
Der Schiffsjunge hatte es im unsichern Scheine der Morgendämmerung zuerst bemerkt, und dann bekam er für seine Aufmerksamkeit von einem Matrosen noch eine Ohrfeige, weil man auf diese Weise ein Boot wohl anruft, aber nicht meldet.
»Und 's ist ja gar kein Boot, 's ist nur ein Floß.«
Auf der Kommandobrücke des englischen Dampfers ›Stag‹ standen der Kapitän und der zweite Steuermann. Jetzt hatten auch diese das fragliche Fahrzeug erspäht; sie richteten die Fernrohre darauf.
»Es ist ein Floß,« sagte der Steuermann.
»Soll der Teufel das Floß holen!« knurrte der Kapitän.
»Nur aus zwei Baumstämmen zusammengebunden.«
»Soll der Teufel die beiden Baumstämme holen!«
»Es ist ein Notsegel errichtet.«
»Soll der Teufel das Notsegel holen!«
»Der Mann winkt.«
»Soll ihn der Teufel frikassieren!«
»Ich glaube, es ist ein Chinese, er trägt solch eine Kleidung.«
Jetzt machte der liebenswürdige Kapitän seinem Ärger in fürchterlichen Flüchen Luft. Wenn es ein Schiffbrüchiger war, warum hatte ihn das Meer nicht gleich verschlungen? Warum mußte der gottverfluchte Halunke auch gerade den ›Stag‹ in Sicht bekommen? Der Kapitän war nämlich mit Dividenden an der Fahrt beteiligt, und die Zeitversäumnis, die er wegen dieses verdammten Kerls hatte, fühlte er in seiner eignen Tasche. Ja, wenn es wenigstens ein zahlungsfähiger Mensch gewesen wäre! Aber ein elender Chinese, ein Kuli ...
Die edle Nächstenliebe und der aufopfernde Todesmut der Seeleute, wenn es gilt, in Seenot Befindliche zu retten, werden eben oft nur von den eisernen Seegesetzen diktiert.
Nach einer kurzen Beratung hielt man es für besser, d. h. für eine Ersparnis an Zeit und Kohlen, direkt hinzufahren und den Mann an Bord zu nehmen, anstatt erst ein Boot auszusetzen und das Floß heranzubugsieren.
Der Signalapparat klingelte, Ruderkommandos — der Dampfer drehte bei, beschrieb einen Bogen und bald lag das Floß längsseit.
Über dasselbe ist nicht viel zu sagen. Es bestand aus zwei ungleich langen, roh behauenen Baumstämmen, mit Stricken zusammengebunden, in der Mitte war eine kurze Stange errichtet und an dieser aus einem bunten Seidentuche ein Notsegel angebracht, welches den leichten Wind ausnützen sollte.
Der Steuermann, welcher das Manöver des Anlegens leitete, sah aber auch noch andres. Ihm fielen schon die Knoten auf, und es ist gar nicht so leicht, eine Stange nur mit Stricken zwischen zwei Balken so festzubinden, daß sie aufrecht steht und imstande ist, ein vom Wind geblähtes Segel zu tragen.
»Wenn er das selber gemacht hat, so ist das ein Seemann, und zwar ein fixer. Ja, das ist aber auch kein Chinese, sondern ein Japaner!«
Der seefahrende Engländer unterscheidet seit alters zwischen einem Chinesen und einem Japaner wie wir etwa zwischen einem faulen, lügnerischen Polen und einem fleißigen biedern Pommern. Ein chinesischer Matrose ist ganz undenkbar. Japanische Seeleute aber werden immer mehr gesucht, der Japaner ist sogar das Ideal eines Matrosen. Man muß ihn freilich zu behandeln verstehn.
»Könnt Ihr allein heraufklettern?« rief der Steuermann hinab.
»Warum nicht?« erklang es von unten. Der Mann erfaßte das ihm zugeworfene Tau und schwang sich gewandt an Deck.
Wir brauchen ihn nicht näher zu beschreiben, wollen nur noch angeben, daß sein japanisches Kostüm sehr mitgenommen war.
»Volldampf voraus!« kommandierte der Kapitän auf der Brücke; der Dampfer setzte sich wieder in Bewegung und ließ das improvisierte Floß hinter sich auf dem Wasser zurück.
Lange würde es nicht mehr auf den Wellen schaukeln. Die Rettung des Passagiers hätte nicht mehr lange auf sich warten lassen dürfen.
Noch war die See ziemlich glatt, aber am Horizont ballten sich Wolken zusammen, immer stärker wurde der Wind, und einem nur einigermaßen bewegten Seegange hätte das zusammengebundene Floß nicht standgehalten.
»Was ist Euch passiert?« fragte der Steuermann den Japaner, der schon bewiesen hatte, daß er Englisch verstand.
»Schiffbruch,« war die lakonische Antwort. »Was für ein Dampfer ist das?«
»Der englische ›Stag‹, Kapitän Marrow. Was war's für ein Schiff, mit dem Ihr untergingt?«
»Eine Segeljacht. Wohin geht ihr?«
»Nach Tokio.«
»Das ist gut.«
»Der Kapitän winkt. Geht auf die Brücke!«
Der Japaner folgte der Aufforderung.
Der Kapitän empfing ihn als unnahbarer Kommandant seines Schiffes. Aber Marrow war gar kein solcher Grobian, wie man aus seinen ersten Äußerungen hätte schließen müssen, denn es wirkte auf ihn schon versöhnend, in dem Schiffbrüchigen — oder in dem ›Aufgepickten‹, wie der Seemannsausdruck lautet — keinen in aller Welt verachteten Chinesen, sondern einen Japaner zu erkennen, und schließlich sah er auf den ersten Blick, daß er keinen gewöhnlichen Mann vor sich haben konnte. Trotzdem aber war er jetzt der unumschränkte Monarch.
»Wer sind Sie?«
»Baron Nogi, Gardeleutnant in der japanischen Armee.«
Vor allen Dingen war der Kapitän froh, daß er einen zahlungsfähigen Passagier bekommen hatte, wenn er sich das auch nicht anmerken ließ.
»Haben Sie Schiffbruch erlitten?«
Der Japaner erzählte. Er hatte mit Freunden, fast lauter Offizieren, eine weite Partie auf einer Segeljacht gemacht, sie waren von einem Unwetter überrascht worden, waren gescheitert. Nogi hatte sich auf ein Felsenriff gerettet, auf dem er neun Tage verbrachte. Er bekam wohl einige Schiffe in Sicht, konnte sich ihnen aber nicht bemerkbar machen.
Am neunten Tage, gestern früh, waren zwei Balken an das Riff getrieben, auch ein Mast mit Tauwerk, also die Planken eines untergegangenen Schiffes.
Nogi hatte die beiden Ballen zusammengebunden und ein Notsegel errichtet; gestern nachmittag hatte er die Felsenklippe verlassen und war die ganze Nacht umhergetrieben. Heute bei Tagesanbruch sichtete er den Dampfer, wurde bemerkt und aufgenommen.
»Sind Sie der einzige Gerettete?«
»Ich war allein auf der Klippe.«
»Sie haben nichts wieder von Ihren Gefährten gesehen?«
»Nein.«
»Wieviele waren an Bord?«
»Die Gesellschaft bestand aus fünfzehn Herren, die Mannschaft aus acht Matrosen.«
»Und die Herren waren meistens japanische Offiziere?«
»Ja. Unter ihnen befand sich auch der Prinz Manimuri, der Neffe des Mikado.«
»Glauben Sie, daß niemand weiter gerettet ist?«
»Ich fürchte nein. Es war, so weit das Auge reichte, die einzige Klippe, auf welche mich die Götter warfen.«
Kapitän Marrow befuhr ständig diese Gewässer, er kannte die Japaner, und daher wunderte er sich nicht, daß dieser hier dies so gleichmütig sagte, daß in dem edlen Antlitz keine Muskel zuckte. Es war eben ein Japaner, dessen erste Tugend die teilnahmlose Selbstbeherrschung ist.
»Das ist allerdings fürchterlich. Sie sind nicht besonders erschöpft.«
»Auf der Klippe nisteten viele Seevögel, ihre Eier dienten mir als Speise und Trank zugleich, ich nahm auch als Proviant welche mit.«
»Das war Ihr Glück. Sie scheinen doch auch praktische seemännische Kenntnisse zu besitzen, das bewies mir Ihr Floß.«
»Ich bin zwischen Inseln geboren worden und habe mich im Jachtsport ausgebildet.«
»Sie begeben sich in Ihre Heimat zurück und werden das Unglück melden?«
»Selbstverständlich! Ich vernahm schon von jenem Herrn, welcher wohl ein Offizier ist, daß Ihr Dampfer nach Tokio geht.«
»So ist es. Herr, ich möchte freilich nicht an Ihrer Stelle sein. — Nun, ich denke, Sie haben nicht nötig, für die Passage zu arbeiten!«
Es war ein zarter Wink mit dem Zaunspfahle — eigentlich war es, da sich der Japaner nicht nur als Edelmann, sondern sogar als Armeeoffizier vorgestellt hatte, sogar eine Beleidigung, aber dem englischen Kapitän war das gleichgültig, und der Japaner blieb regungslos.
»Augenblicklich bin ich mittellos. Da wir selbst die Segel bedienten, hatte ich Uhr und Fingerringe abgelegt, sie ruhen auf dem Meeresgrunde; aber in Tokio werde ich Ihren Forderungen sofort nachkommen, ich gebe Ihnen mein Wort darauf.«
»Schön! Nun, mein Dampfer ist auch zur Mitnahme einiger Kajütenpassagiere eingerichtet. Bitte, der Steward steht zu Ihrer Verfügung!«
Baron Nogi war vom Allmächtigen entlassen. Er begab sich wieder die Treppe hinab, um den Steward aufzusuchen.
Auf der Kommandobrücke hatte ein Matrose Messing geputzt und war kurz vor dem Japaner hinabgegangen.
Natürlich wurde er von seinen Kameraden sofort ausgefragt, wer der schiffbrüchige Japaner sei, was er sonst dort oben zu hören bekommen habe.
Baron Nogi schritt eben dem Kajüteneingange zu, der ganz hinten an Deck gelegen war, da plötzlich hörte er etwas, was auf ihn wie ein Blitz aus heiterm Himmel wirken mußte.
Sein Weg führte ihn an zwei Matrosen vorüber, welche an der Bordwand standen.
»Das ist ja der Nobody!« sagte der eine.
»Wahrhaftig, der Nobody!!« rief der andre, sprang nach hinten zu dem Kajüteneingange und steckte den Kopf zur Tür hinein.
»He, Mister — Mister Dingsda!« schrie er. »Kommen Sie schnell rauf, der Nobody ist da!«
Des jungen Japaners Fuß stockte nicht, keine Muskel zuckte in dem gelben Antlitz. Nur sein Auge wanderte durchbohrend von einem der beiden Matrosen zum andern. »Es sind beides englische Matrosen. Ich kenne sie nicht, sie sind mir nie begegnet. Woher haben die mich erkannt? Hat sich mein Gesicht verändert? Trage ich nicht mehr die Maske eines echten Japaners? Hat mich meine Kunst verlassen? — Nein, hier muß irgend ein Rätsel, ein Zufall vorliegen.« Das waren die Gedanken, welche blitzschnell durch den Kopf des Japaners jagten, von dem der Leser weiß, wer es in Wirklichkeit ist.
Noch hatte er den Kajüteneingang nicht erreicht, als aus diesem eine Gestalt hervorgeschossen kam, und vor dem Japaner stand ein kleiner, sehr dicker Kerl mit Bartkoteletten, nur im Hemd, auf dem Kopfe eine Zipfelmütze, an den Füßen Pantoffeln und machte sein respektables Maul so weit als möglich auf.
»Ach, mein lieber Nobody, endlich habe ich Sie wiedergefunden! Sehen Sie, ich kann's schon!«
Und jubb! Die Pantoffeln sausten durch die Luft; der kleine, dicke Mann stand plötzlich auf den Händen und marschierte so an Deck herum.
Nun hatte er aber, jedenfalls direkt aus dem Bett gesprungen, nur ein Hemd an, und das war nicht am Leibe festgeklebt, sondern es fiel herab und stülpte sich ihm über den Kopf.
Tableau! Die Matrosen kollerten sich vor Lachen an Deck. Und unser Nobody hätte sich so gern mitgekollert!
Er durfte es nicht, durfte sich nur verwundert umsehen. Da erblickte er den Steuermann, wie dieser bedeutungsvoll mit dem Finger gegen seine Stirn klopfte und dann die Schultern zuckte.
Für Nobody war das Rätsel überhaupt schon erklärt gewesen. Ein merkwürdiger Zufall diese Begegnung!
Der wunderliche Handläufer hatte sich wieder auf die Beine gestellt, wodurch auch sein Hemd wieder in Ordnung kam; Matrosen brachten ihm seine Lederpantoffeln zurück.
»Nur mit der Zunge will's noch nicht recht gehn ...«
Das dicke Kerlchen reckte die Zunge heraus, packte sie mit beiden Händen und zog daran, freilich ohne sie weiter hervorzubekommen.
»... und mit der tiefen Rückenbeuge ist's auch noch faul, da ist mir immer der Bauch im Wege. Aber mein Taschentuch kann ich schon mit Leichtigkeit auffressen. — Na, mein lieber Mr. Nobody, wie ist es Ihnen denn immer ergangen?«
»Sie verkennen mich, mein Herr!«
Der dicke Hemdenträger machte sein Maul auf und machte es wieder zu.
»Sie sind nicht Mr. Nobody?«
»Nein. Baron Nogi ist mein Name!«
»Sie sind wirklich nicht der Nobody? Nee? Schade.«
Jetzt begann der kleine Dicke, breitbeinig vor dem Japaner hingepflanzt, in der Brustgegend an seinem Hemd herumzutasten.
»Cerberus Mojan!« schnarrte er. »Wo ist denn mein Notizbuch? Ach so, ich bin noch im Hemd. Entschuldigen Sie. Never mind, Geschäft ist Geschäft — Cerberus Mojan, Schmieröl, Schwefel, Schokolade! Sie kennen doch die weltberühmte Firma Cerberus Mojan und Ko. in London? Für die reise ich. — Na, Herr Baron, wie wär's denn mit etwas Schmieröl? Geben Sie mir einen Auftrag, es wäre heute mein erster. Nur ein Fäßchen! Haben Sie nicht eine Nähmaschine zu Hause? Sie können's auch innerlich nehmen. Ihnen schadet es überhaupt nichts. Sie haben nämlich die Würmer, das sehe ich gleich Ihrem ...«
»Wahrschau!« riefen ein paar Matrosen, die über Deck ein langes Tau schleppten, Mr. Cerberus Mojan geriet in eine Schleife und endete in einem Wasserfasse.
Der Steuermann hatte dem bedrängten Japaner zu Hilfe kommen wollen, er konnte ihm wenigstens noch eine Aufklärung geben.
»Es ist ein Passagier, den wir in Singapore an Bord genommen haben, außerdem hat er im Schiff noch eine eigne große Ladung von Schmieröl, Seife und Schokolade. Der gute Mann ist etwas spleenig. Wenn er nicht von seinen Artikeln spricht, dann schwatzt er von dem Detektiv Nobody, den er aufsuchen will, um ihm zu zeigen, wie er schon auf den Händen laufen und sein Taschentuch in den Mund pfropfen kann.«
Lachend hatte es der Steuermann gesagt, während er den unfreiwilligen Passagier unter Deck führte, und er nahm sich auch des Hilfsbedürftigen weiter an, indem er ihn mit Kleidern und Wäsche aus seiner Garderobe versorgte, ohne darum gebeten worden zu sein.
Die Kabine, welche der Japaner vom Steward angewiesen bekommen hatte, lag dicht neben der des Steuermanns, so ging dieser, nach und nach die Kleidungsstücke bringend, immer hin und her, und Nobody ließ sich die Gelegenheit nicht entgehn, um noch weitere Erklärungen zu verlangen, soweit jener solche geben konnte.
Daß Mr. Cerberus Mojan wieder einmal auf der Suche nach Nobody war, um von ihm den spiritistischen Apport zu erlernen, und nun in jedem Menschen, ganz gleich, wie er aussah, den Verwandlungskünstler vermutete, das lag ja klar auf der Hand. Die Matrosen wußten um die Manie des spleenigen Engländers und hatten sich den Jux gemacht, zu behaupten, der auf dem Floß angekommene Schiffbrüchige sei der gesuchte Nobody.
Für diesen aber kam es darauf an, zu erfahren, wie Mr. Mojan ihn überhaupt in dieser Gegend vermuten könne.
Der mitteilsame Mann hatte daraus gar kein Hehl gemacht, er erzählte vielmehr jedem, der es hören wollte — und Nobody bekam es während der Fahrt noch oft genug zu hören — wie er nun, nachdem er auf den Händen laufen konnte, sich in New-York bei Mr. World nach Nobodys jetziger Adresse erkundigt habe, aber nur erfahren konnte, daß sich dieser in China aufhielte — und nun war Mr. Mojan eben auf gut Glück hier, um den Hexenmeister zu suchen. —
Sonst ist über die Reise nichts zu berichten. Der Pseudo-Baron Nogi amüsierte sich weidlich über Mr. Mojan, welcher an Bord der einzige Passagier war, wie der ihm von Nobody vorschwärmte, ihm von dessen spiritistischen ›Abtritt‹ erzählte, ab und zu auf den Händen lief, sein Taschentuch auffraß, auch zeigte, wie weit er es schon in der tiefen Rückenbeuge gebracht hatte, wobei er das Taschentuch nur von einem Tisch aufheben wollte, gegen den er sich mit dem Rücken stellte, aber das Tuch verfehlte und, auch noch von einer Bewegung des Schiffes befördert, mit dem Kopfe rücklings in eine große Schüssel Spinat fuhr.
Erwähnt sei nur noch, daß es kein Zufall war, daß der vorgebliche Schiffbrüchige gerade von einem Dampfer bemerkt und aufgenommen worden war, welcher nach Tokio fuhr, das auch Baron Nogis Ziel sein mußte.
Nobody hatte eben Erkundigungen eingezogen, welche Dampfer die Fukienstraße zu jener Zeit, da er von einem solchen aufgenommen zu werden wünschte, passierten, und da die Dampfer ihre ganz bestimmte Linie einhalten, so war es ihm ein leichtes, es so einzurichten, daß er von seinem Floß an Bord eines Schiffes kam, welches ihn gleich direkt nach Tokio brachte.
Am dritten Tage lief der ›Stag‹ in die große Bucht ein, an welcher Tokio, die Gartenstadt von zwei Millionen Einwohnern, liegt.
Bei dem schönen Wetter und der ruhigen See war die Bucht sehr von Booten belebt, in denen sich besonders die Frauen der wohlhabenden und vornehmen Japaner mit ihren Kindern spazieren rudern ließen.
Die Familienboote waren zwar mit einem Baldachin bedeckt, aber sonst offen, und so konnte man sehen, daß die meisten geradezu von Kindern wimmelten, während sich stets nur eine einzige Frau darin befand.
Diese einzige Japanerin benahm sich den vielen Kindern gegenüber wie eine Mutter, das konnte man bei jeder Gelegenheit sehen, und hätte man sie gefragt, so würde sie auch stolz erklärt haben, daß alle diese Kinder, deren Zahl in den Booten zwischen einem und wohl fünf Dutzend schwankte, ihre eignen seien.
Natürlich wäre das eine Unmöglichkeit gewesen. Es waren ja auch so viele gleichaltrige Kinder darunter, so eine Frau hätte ja in jedem Jahre Vierlinge haben müssen.
Diese stolze Behauptung der Frauen, die vielen Kinder wären ihre eignen, bedarf einer Erklärung.
Der Japaner lebt in Monogamie, hat also nur eine Frau; aber er darf sich neben dieser rechtmäßigen Gattin noch so viele halten, wie er ernähren kann. Das wird unter Umständen zur Bedingung, nämlich, wenn die rechtmäßige Gattin kinderlos bleibt. Denn Kinderlosigkeit ist die größte Schande des Japaners. Da ist auch der ärmste Tagelöhner gezwungen, noch mehr zu arbeiten, um noch eine Nebenfrau ernähren zu können, mit der er Kinder zu zeugen hofft.
Ist aber Kinderlosigkeit die größte Schande, so ist Kinderreichtum der größte Stolz des Japaners — und der Japanerin! Je mehr Kinder, desto angesehener ist sie. Auf ihrem Kimono, dem weitärmligen Oberkleid, drückt sie die Zahl ihrer Kinder durch Streifen aus, und je mehr Streifen, desto ehrfurchtsvoller wird sie von den Männern gegrüßt, desto neidischer blicken ihr andre Frauen nach.
Doch die Japanerin schmückt sich mit fremden Federn. Die Nebenfrau des armen Arbeiters muß ihre Kinder der kinderlosen Gattin abtreten, die Frau des Reichen und Vornehmen, der sich vielleicht ein Dutzend Nebenweiber hält, gibt deren sämtliche Kinder für ihre eignen aus, zeigt sich mit ihnen stolz in der Öffentlichkeit. Auf Grund dieser seltsamen Zustände ist auch das Familienleben des Japaners ein überaus glückliches, nicht zu vergleichen mit dem türkischen Haremsleben. Eifersucht gibt es gar nicht. Im Gegenteil, die rechtmäßige Gattin hält den Mann ja erst an, sich möglichst viele Kebsweiber zuzulegen, um mit deren Kindern zu prahlen, und die Frau, die ihr die meisten liefert, ist ihr die liebste, und was der unebenbürtigen Mutter in der Öffentlichkeit abgeht, das wird ihr zu Hause durch Aufmerksamkeit und Hochachtung ersetzt.
Von der sittlichen Moral dieser merkwürdigen Verhältnisse wollen wir lieber nicht sprechen. Ländlich, sittlich. Gott sei mir Sünder gnädig! Besser offen als in der Heimlichkeit! Aber von der nationalökonomischen Bedeutung dieses Verhältnisses wollen wir sprechen.
Kinder sind ein Segen des Himmels. Dieses Bibelwort ist und bleibt wahr — trotz aller verdammenswürdigen Zeitungsannoncen. Die Juden erkennen die Wahrheit dieses Spruches noch heute an; wollten die Christen ihnen doch hierin nachahmen! Alle Ausgaben, welche die Eltern für ihre Kinder haben, sind Ersparnisse, welche dereinst den Eltern tausendfache Zinsen bringen — und dabei brauchen sie die Kinder nicht auf hohe Schulen zu schicken, brauchen ihnen nicht Klavierunterricht geben zu lassen — vorausgesetzt wird aber, daß sie die Kinder zu liebevollem Gehorsam und zur geschwisterlichen Eintracht zu erziehen verstehn. Und je mehr solcher Kinder, desto fester, desto unerschütterlicher steht solch eine Familie da. Aus einer derartigen Gemeinschaft, in der alle fest und treu zusammenhalten, kommt jeder einzelne vorwärts im Leben, und die ganze Familie selbst, und je zahlreicher die Familie, desto weiter bringt sie es!
Man schaue daraufhin nur einmal um sich! Es ist nicht nötig, deswegen aufs Land zu gehn, wie da ein paar Bauernfamilien, welche alle den Namen des armen Holzhackers tragen, von dem sie abstammen, nach und nach das ganze Dorf aufkaufen, bis sie zuletzt den Rittergutsbesitzer hinausschmeißen. Es ist auch nicht nötig, deswegen nach den fünf Brüdern Rothschild zu blicken.
Und was von der Familie gilt, das gilt vom ganzen Volke.
Landwirtschaft, Bergbau und Industrie machen ein Volk wohlhabend — aber Kinderreichtum ist die Kraft des Volkes! Und dieser Kinderreichtum, dieser Stolz, möglichst viel Nachkommen zu haben, die in Gehorsam und zur glühendsten Vaterlandsliebe erzogen werden, das ist es, was Japan zu einem furchtbaren Gegner macht, der sich nicht niederringen läßt — und die hiermit verbundene Expansionsfähigkeit des japanischen Volkes ist es, die uns Abendländern dereinst gefährlich werden kann. Der Gegensatz zu Japan in dieser Hinsicht ist Frankreich. Die absichtliche Kinderarmut ist Frankreichs Unglück, ist sein Niedergang, kann noch sein Verderben werden. —
Einige Boote hatten sich bei der ruhigen See sehr weit hinausgewagt, und es drohte ihnen ja auch gar keine Gefahr.
Ein solches, durch die vergoldeten Verzierungen wie durch die reiche Tracht der beiden Ruderer als das Privatboot eines Vornehmen gekennzeichnet, hatte sich durch Unachtsamkeit der letztern zu weit dem großen Dampfer genähert, es kam in das Bereich des von der Schraube aufgewühlten Kielwassers, wurde von dem Koloß wie von einem Magneten angezogen, die Ruderknechte wollten es absetzen, sprangen gleichzeitig nach einer Seite, ein einziger gellender Schrei, und das Boot war gekentert!
Der Schrei fand ein Echo an Deck des Dampfers. Außer den zwei Männern und einer Frau fünfzehn Kinder im Alter von drei bis sieben Jahren in dem von der Schraube aufgewühlten Kielwasser — schon der Gedanke daran war entsetzlich, noch entsetzlicher der Anblick; auch der gefühlloseste Matrose erstarrte im ersten Augenblick vor Schreck, um dann laut aufzuschreien.
Doch sollte es noch gut ablaufen, dank der Besonnenheit und Kühnheit der Zuschauer. Gleichzeitig mit dem gellenden Schrei hatte auf der Kommandobrücke der Signalapparat geklingelt, die Maschine stoppte im Moment, es konnte kein Mensch in die sich noch drehende Schraube hineingeraten sein.
In die erstarrten Matrosen kam Leben; schnell ließen sich diejenigen, welche gute Schwimmer waren, von den andern an ihren Gürteln Seile befestigen, so sprangen sie hinab, die meisten der Kinder waren noch nicht untergesunken, andre eben erst im Untersinken begriffen, paarweise wurden sie an nachgeworfenen Tauen festgebunden und so hinaufgezogen, und die beiden japanischen Schiffer halfen auch brav mit.
Nobody hatte in seiner Kabine gesessen, als der furchtbare Schrei sein Ohr traf, und das nachfolgende Kindergezeter sagte ihm alles.
Wie er an Deck gestürzt kam, sah er viele kleine Kinder, mit denen man sich beschäftigte, während sich im Wasser nur noch einige Matrosen befanden, welche zu tauchen suchten, woran sie aber durch die Seile gehindert wurden.
Der Dampfer, der zuletzt nur ganz langsam gefahren, war mit vorsichtigen Schraubenumdrehungen wieder etwas zurückgegangen.
»Wie viele Kinder sind gerettet?« war Nobodys erste Frage.
»Eins — zwei — drei — dreizehn,« wurde gezählt.
»Wie viele waren es?«
»Die Muschi fehlt,« jammerte einer der japanischen Ruderer, »und sie hatte zwei Kinder im Arm, sie ist gesunken ...«
Der Mann wollte sich wieder über die Bordwand stürzen, Nobody hielt ihn mit Gewalt zurück. »Fort dort unten!« schrie er hinab. »Wenn sie gleich gesunken ist, so muß es auf einer andern Stelle geschehen sein!«
Die Matrosen gehorchten, ließen von ihren fruchtlosen Bemühungen ab. Der an der Bordwand stehende Nobody war gleichzeitig mit dreierlei beschäftigt. Er ließ sich von dem Steuermann beschreiben, an welcher Stelle das Boot gekentert sein mochte, beobachtete die weitere Umgebung dieser Stelle mit starren Augen und entledigte sich gleichzeitig seines Rockes und seiner Stiefel.
Da quoll in einer beträchtlichen Entfernung vom Schiff eine Luftblase empor, zu groß, als daß sie aus der Lunge eines Menschen kommen konnte, es war die von den Frauenkleidern gefangene Luft, und mit einem weiten Hechtsprung über die Bordwand war Nobody im Wasser verschwunden.
Die Sekunden verstrichen. Das Unglück war von den andern Booten gesehen worden, sie eilten herbei, bildeten um den Ort, da man das Auftauchen erwartete, einen weiten Halbkreis, wurden von den Matrosen gewarnt, weiter heranzukommen, und die Männer und Frauen und Kinder blickten in ängstlichem Schweigen auf die glatte Wasserfläche.
Und die Sekunden verstrichen. Es wurde eine halbe Minute daraus. Eine halbe Minute? Nein, für die Zuschauer war schon längst die Ewigkeit angebrochen!
Da kräuselte sich die glatte Wasserfläche; der schwarze Kopf eines Japaners hob sich zuerst empor; tief holte er Atem, dann folgte der Kopf einer jungen Japanerin, dann erschienen ab und zu zwei kleine Köpfe, die aber immer wieder unter dem Wasser verschwanden — doch noch ehe ein Boot zu Hilfen kommen konnte, hatte an Bord des Dampfers ein Matrose geschickt ein Seil geschleudert, Nobody hatte es sofort in seiner Hand und auch schon um das Gelenk gewickelt. Er wurde nach dem Dampfer gezogen. Dadurch kamen auch die Köpfe der beiden kleinen Kinder, welche die bewußtlose Frau krampfhaft in ihren Armen hielt, in jedem eins, über Wasser. Vom Dampfer waren Fallreeps ausgeworfen worden, Strickleitern mit hölzernen Sprossen; an diesen kletterten die Matrosen wie die Katzen hinab, nahmen Frau und Kinder in Empfang und beförderten sie mit vereinten Kräften hinauf; Nobody folgte langsam nach.
»Kata Nogi banzai!!« erscholl es da aus einem Boote.
Und ›Kata Nogi banzai, banzai, banzai!!!‹ erklang es hundertstimmig aus Männer-, Frauen- und Kinderkehlen nach, und enthusiastisch wurden Filzkappen und seidene Tücher geschwenkt; jubelnd klatschten die Kinder in die Hände. »Banzai, banzai, banzai!!!«
Er war erkannt worden, der Baron Nogi, dem der japanische Hurraruf galt, der Liebling des Mikado, der Liebling der ganzen Hauptstadt.
Konnte Nobody mehr verlangen? Nicht einmal das Bad hatte ihm etwas von seiner Maske abgewaschen.
Aber es sollte noch ganz anders kommen.
Die ersten aus dem Wasser gezogenen Kinder hatten sich wieder erholt, eben beugte sich Nobody über die junge, schöne Frau, die er dem nassen Tode entrissen hatte, und die zwar ohnmächtig war, bei der aber keine Wiederbelebungsversuche gemacht zu werden brauchten, als sich den Banzai-Rufen noch andre Laute beimengten.
»Papa, Papa!!« erscholl es jauchzend, und plötzlich wimmelte es um ihn herum von kleinen Geschöpfen in nassen Seidengewändern, plötzlich umklammerten einige Dutzend Ärmchen seine Beine, die Händchen packten zu, was sie nur fassen konnten.
»Papa, Papa, mein guter Papa!!«
Diese japanischen Kinder sagten wirklich ›Papa‹.
Denn ob Deutscher oder Spanier, ob Eskimo oder Botokude oder Buschneger, ob Tunguse oder Kalmücke oder Japaner — der Kinder erstes Lallen ist überall ein gleiches, es gibt kein einziges Volk auf der Erde, bei welchem der Vater nicht Papa und die Mutter nicht Mama genannt wird.
Für die Namen der Eltern wenigstens ist von den Kindern die internationale Weltsprache erfunden worden!
»Papa, mein guter Papa!!«
Dann stürzten sie zu der bewußtlosen Frau, nannten sie Mama, küßten sie zärtlich und hingen sich von neuem an den Mann, den sie für ihren Vater hielten.
»So wecke doch die Mama auf! Sie freut sich doch so sehr, daß du wieder da bist! Sie hat uns nur immer von dir erzählt. Sie hatte schon solche Angst, weil du gar so lange ausbliebst ...«
Da kam es dem Manne zum Bewußtsein, daß er Baron Nogis Frau und Kinder gerettet hatte ... doch nein, das wußte er schon lange, dazu hatte es nur des ersten ›Papa‹ bedurft ... nein, seine Kinder, seine eignen waren es, die er dem Tode entrissen hatte, seine eigne Frau... . Nobody wußte nicht, was plötzlich in ihm vorging — es stieg ihm so siedendheiß zum Herzen empor — und noch höher hinauf — aus seinen Augen kam etwas Nasses, das sich mit den Salzwassertropfen verwischte ...
Da schlug die junge, schöne, jetzt so blasse Frau, der man sanft die Kinder aus dem Arme genommen hatte, die Augen auf, sie sah den Mann, sie lächelte verklärt, und verlangend streckte sie die Arme nach ihm aus. »Kata Nogi, Sayadamona,« flüsterte sie glücklich und spitzte den kleinen Mund zum Kuß.
Sayadamona — ich sehe dich wieder, ich habe dich wieder — aber in einem Worte geschrieben — eine Art von Vergißmeinnicht — und ihr Name selbst war Sayadamona!
Und Nobody? Er wäre ein abscheulicher Barbar gewesen, hätte er gezögert. Ja, jetzt erst wäre er zum Lügner geworden, hätte er es nicht getan!
Während die Kinder den vermeintlichen Vater mit Liebkosungen überhäuften, die sich vorzüglich auf seine Beine erstreckten, und während von den Booten, wo man wußte, daß Kata Nogi seine eigne Frau und seine Kinder gerettet hatte, noch immer die Banzai-Rufe erschollen, beugte sich Nobody überquellenden Herzens über die junge Frau, schloß sie in seine Arme und küßte sie, küßte sie immer wieder — und Gabriele hätte dabeisein können, es waren Küsse der reinen Menschenliebe.
»Meine Sayadamona, meine Muschi!« —
Sie hatte sich nur noch nach den Kindern erkundigt, und als sie erfahren, daß alle gerettet, und nachdem sie sich nochmals überzeugt hatte, daß dies wirklich ihr schon vermißter Gatte sei, war sie mit einem glücklichen Seufzer wieder in eine wohltätige Ohnmacht gefallen.
Man legte sie in des Kapitäns Bett, weil dieses an Bord des Schiffes das einzige war. Sonst gab es nur Kojen, in die man hineinkriechen muß.
Die neue Ohnmacht währte nur kurze Zeit, und als Sayadamona erwachte, saß ihr vermeintlicher Gatte neben ihr.
Wieder alles ein Glück und eine Seligkeit, als sie nur seine Hand ergreifen durfte, um sie mit Innigkeit an ihre Lippen zu pressen!
»Wo bist du nur so lange gewesen? Ach, was ich für Angst ausgestanden habe! Ist euch ein Unglück zugestoßen?«
Noboby erzählte — dasselbe, was er dem Kapitän über den Untergang der Jacht berichtet. Wenn Sayadamona bei dem Tod der vielen Offiziere, darunter sogar der Neffe des Mikado, ganz ruhig blieb, so war das keine Herzenskälte, sondern die anerzogene Teilnahmlosigkeit der Japanerinnen gegen alles, was nicht die Familie betrifft, in der sie ganz aufgeht — und wenn sie dennoch Schreck zeigte, so war dies nur der Gedanke, daß dadurch ihrem allein zurückkehrenden Manne Unannehmlichkeiten erwachsen könnten.
Nobody wußte sie zu beruhigen. Jetzt berichtete sie ihm, daß es den andern fünf Frauen und neun Kindern zu Hause gut ginge, wie sich alle nach dem Vater sehnten, dann legte sie sich in die Kissen zurück und schloß die Augen.
»Küsse mich!«
Wie leicht wäre es dem Manne geworden, dies zu umgehn, ohne sie deshalb zurückzustoßen. Er hätte einfach von einem Gelübde gesprochen, welches er den Göttern abgelegt, wenn sie ihn aus dem Schiffbruche retteten — von einem Gelübde, nicht eher seine Frau wieder zu umarmen und zu küssen, als bis alle ›weißen Teufel‹ aus Japan hinausgetrieben worden wären — oder sonst etwas Ähnliches — das hatte sich Nobody ja auch vorgenommen, hatte es Gabriele gesagt — aber wäre diese anwesend gewesen, sie selbst hätte sicherlich verlangt, daß er diese junge Frau, die ihn für ihren Gatten hielt, küßte, denn es wäre eine zu fürchterliche Grausamkeit gewesen, jetzt dieser armen Frau einen Wunsch zu versagen.
Ja, Nobody hatte ein gewisses Anrecht auf sie bekommen, die er gerettet, und wäre der wirkliche Baron Nogi jetzt, als er sie geküßt hatte, in die Kabine getreten, er hätte ihm frei ins Auge blicken können.
Die Liebesszene sollte auch nicht allzu lange dauern.
»Was ist das?« stutzte Nobody plötzlich, als er zufällig einen Blick durch das runde Fensterchen geworfen hatte, auch schon durch Kommandos und durch das Laufen der Matrosen an Deck aufmerksam gemacht. »Wir gehn ja zurück?!«
Er eilte an Deck. Der Dampfer hatte gewendet, fuhr zurück, der Kapitän fluchte wieder einmal wie ein Haiducke.
»Warum dampfen wir denn zurück, anstatt in den Hafen einzulaufen?«
»Die Halunken haben mir zusignalisiert, daß ich auf Reede gehen soll, ich darf nicht in den Hafen, und dagegen ist nichts zu machen.«
»Weshalb dürfen Sie denn nicht in den Hafen?«
»Das zu sagen haben die großnasigen Japaner nicht nötig. Aber ich weiß schon, warum. In Waisin munkelte man etwas von der Pest, man hatte tote Ratten gefunden. Nun mag unterdessen die Pest dort wirklich ausgebrochen sein, und da ist ein Schiff natürlich pestverdächtig. Daß mich auch der Teufel reiten mußte, erst noch einmal in Waisin anzulegen, um ein paar Faß Stockfische mitzunehmen. Jetzt kann ich für acht Tage in Quarantäne liegen.«
Der Kapitän schimpfte weiter wie ein Rohrsperling, als aber die japanischen Sanitätsbeamten kamen, war er gegen sie von äußerster Liebenswürdigkeit. Denn in deren Macht stand es, die achttägige Quarantäne auf drei Tage abzukürzen oder sie auch auf acht Wochen zu verlängern.
Als sie den Passagier sahen, welcher des Steuermanns Sommeranzug trug, nahmen sofort alle Beamten militärische Haltung an, und als die Pflicht erledigt war, näherte sich der erste von ihnen, der Offizierrang einnahm, dem vermeintlichen Baron Nogi und gratulierte ihm mit respektvoller Kameradschaftlichkeit zu dem Glück, daß es gerade der heimkehrende Vater gewesen war, der Gattin und Kinder gerettet hatte. Denn die zurückgekehrten Boote hatten unterdessen schon alles erzählt.
Nobody kannte nicht einmal die Namen der Beamten, wußte sich aber geschickt abzufinden. Im übrigen ging es nicht anders zu, als zwischen europäischen Offizieren, wie die Beamten ja auch solche Uniformen trugen.
»Darf ich den Herrn Baron fragen, wie die Segelpartie ausgefallen ist?«
Nobody hätte es gern erst an vorgesetzter Stelle gemeldet, aber da er es schon dem Kapitän erzählt, war es zu spät.
Er berichtete mit kurzen Worten; der Schreck der Beamten war grenzenlos, und sie brauchten diesen jetzt nicht zu verbergen, im Gegenteil, sie mußten ihrem Entsetzen möglichsten Ausdruck geben, denn durch den Tod des Prinzen, kam auch die geheiligte Person des Mikado mit in Betracht, sein Leid war das Leid aller Japaner.
Die Beamten hatten noch an Bord zu tun, und Baron Nogi wurde von einem Matrosen zu seiner Gattin berufen, welche plötzlich zu sterben meinte.
Das weiter hinausgefahrene Schiff war in die bewegte See gekommen, schaukelte stark, und Sayadamona war von der Seekrankheit gepackt worden, zum ersten Male in ihrem Leben, und da war es begreiflich, daß sie gleich zu sterben meinte. Auch die Kinder fühlten sich mehr oder weniger unwohl.
Hier waren tröstende Worte vergebens, Nobody begab sich wieder an Deck und fragte den Sanitätsbeamten, ob er mit Frau und Kindern gleich sein großes Boot zur Fahrt an Land benutzen könne.
Dem Beamten schien diese Frage, die schon mehr Wunsch war, sehr unangenehm zu sein, bis er offen sagte, daß überhaupt niemand das pestverdächtige Schiff verlassen dürfe.
»Sie, Herr Baron, als Passagier erst recht nicht, auch wenn Sie nur unterwegs aufgenommen worden sind. Sie sind schon drei Tage an Bord.«
»Aber meine Frau, meine Kinder — die sind doch eben erst an Bord gekommen, für sie kann die Quarantäne doch nicht gelten!«
»Ich werde tun, was in meinen Kräften steht, und das sofort.«
Der Sanitätsbeamte, der auch seemännisch ausgebildet war, ließ mit Flaggen nach der Seewarte signalisieren, daß sich an Bord des ›Stag‹ die Frau und fünfzehn Kinder des Baron Nogi befänden, ob diese die Quarantäne brechen und das Land betreten dürften.
Da auch auf der Seewarte der Unfall schon bekannt geworden war, konnte die Meldung sehr abgekürzt werden, wiederholte Verstandenzeichen forderten dazu auf.
Ferner meldete der Sanitätsbeamte, daß die Baronin Nogi ganz bedenklich erkrankt sei, ein längerer Aufenthalt auf dem Schiffe sei lebensgefährlich, von der eigentlichen Ursache, der Seekrankheit, sprach er gar nicht, da der Sanitätsbeamte aber zugleich Arzt war, war seine Aussage kompetent. Auf alle Kinder zugleich konnte er diese kleine Unwahrheit aus Gefälligkeit zu dem Baron freilich nicht ausdehnen.
»Warten!« hieß es auf dem Turme der Seewarte.
Man mußte ziemlich lange warten, ehe die Antwort kam.
»Frau Nogi an Land.«
»Die Kinder auch?« ließ der Beamte nochmals fragen.
»Nein. Schluß!«
Sayadamona wurde in das Boot gebracht. Die Seekranke befand sich in einem derartigen Zustande, daß sie die Trennung von Gatten und Kindern gar nicht empfand. Sie wollte sterben. Sobald sie das Land betrat, würde das vorbei sein, aber dann war es zu spät, und an Bord des pestverdächtigen Schiffes durfte sie auch nicht wieder. Doch schließlich war es ja nur eine vorübergehende Trennung, über die man später lachen würde.
Nobody aber empfand das Dazwischenkommen der Seekrankheit mit der unfreiwilligen Trennung aus leicht begreiflichen Gründen als eine große Wohltat.
Das erste Wiedersehen war vorüber, und traf er dann mit seiner Frau zusammen, in seinem eignen Hause, so konnte er ihr viel eher etwas von einem Gelübde oder dergleichen vorerzählen.
Auch daß er sich nun einige Tage mit den Kindern allein befand, war sehr günstig. Die konnte er leicht über alle Hausverhältnisse ausfragen.
Der Abend war angebrochen, wieder ruhige See bringend. In der Nacht wurde Nobody durch ein Klopfen an seine Kabinentür geweckt.
Ein Offizier sei gekommen und wünsche den Herrn Baron zu sprechen, er warte in der Kajüte.
Schnell kleidete sich Nobody an. Jetzt mußte er jedenfalls Bericht erstatten.
Der junge Offizier, der mitten in der Nacht, in Begleitung zweier Sanitätsbeamten die weite Ruderfahrt gemacht hatte, roch schon von weitem nach Karbol, man hatte ihn schon desinfiziert, ehe er das pestverdächtige Schiff betrat.
»Baron Nogi?« fragte er kurz.
Dem Detektiv fiel sofort etwas auf. Dieser Offizier trug die Uniform eines in Tokio stationierten Regiments. Sollte er da den Baron Nogi, den Adjutanten des Generalfeldmarschalls, nicht kennen, daß er sich erst davon überzeugen mußte, ob es wirklich der Baron Nogi war?
Es konnte ja sein, daß er erst seit einigen Tagen in Tokio war. Dann hätte Nobody es wagen können, ihn erst nach dem Namen zu fragen, ihn als neuen Kameraden zu begrüßen. Nein, der Detektiv wußte ganz bestimmt, daß dieser Offizier, ihn schon kannte, diese Kürze war Instruktion, er sah sogar den mißtrauischen Blick, der auf ihm ruhte.
Was lag hier vor? Gleichgültig, Baron Nogi ließ sich nicht beirren.
»Bin ich! Was gibt's?«
»Auf Befehl des kommandierenden Generals: Sie sollen den Bericht aufsetzen!«
»Welchen Bericht?«
»Über die Segelpartie mit der Jacht, über den Schiffbruch.«
»Ist das dem kommandierenden General schon bekannt?«
»Auf Befehl des kommandierenden Generals: Sie sollen diesen Bericht aufsetzen!« wiederholte der junge Offizier in schneidendem Tone.
»Jetzt sofort?«
»Jetzt sofort! Ich warte hier und nehme ihn gleich mit.«
Gut, konnte geschehen! Nobody ließ sich Papier und Feder besorgen und begann zu schreiben. Die Formalitäten kannte er. Aber daß der junge Offizier inzwischen in der Kajüte auf und ab ging und manchmal dem Schreibenden über die Schulter blickte, das gehörte sich auch nicht. Doch Noboby achtete nicht darauf.
Nach einer Stunde war der ausführliche Bericht fertig, der Offizier nahm ihn mit sich, und der Pseudo-Baron ging wieder in seine Kabine, entkleidete sich, legte sich zur Koje und schlief im nächsten Augenblick wieder den Schlaf des Gerechten.
Was hätte es auch für einen Zweck gehabt, über das merkwürdig schroffe Verhalten des Offiziers sich den Kopf, zu zerbrechen? Mensch, ärgere dich nicht! Nobody würde den Grund schon noch früh genug erfahren.
Am nächsten Morgen sehen wir an Bord des auf Reede ankernden Schiffes eine reizende Szene. Schnell war der Anfall von Seekrankheit vorübergegangen, die fünfzehn Kinder waren wieder mobil, und da es draußen etwas regnete, mußte ihnen die große Kajüte als Tummelplatz dienen.
In Tokio war ein europäischer Zirkus mit Menagerie gewesen, die Kinder hatten ihn besucht, sie wollten ›wilde Tiere‹ spielen.
Papa Nobody war der Raubtierbändiger, sperrte sie zwischen Stühle ein und fütterte die heulenden, knurrenden, fauchenden, kratzenden und beißenden Bestien mit Zucker und Biskuits, trieb die Löwen und Tiger und Bären in einen Käfig zusammen, ließ sie über den Stock und durch den Reifen springen, auf dem Schwebebaume balancieren und auch ab und zu in seine Waden beißen.
Dann kam die Zirkusvorstellung daran. Am meisten hatte den kleinen Japanern das stehende Reiten auf ungesatteltem Pferde imponiert, und das ungesattelte Pferd war Papa Nogi, alias Nobody. Also er galoppierte auf Händen und Knien wiehernd im Kreise herum, und die kleinen Kunstreiter und Kunstreiterinnen machten auf seinem Rücken die schwierigsten Sachen. Die festgeschraubten Tische zeigten sich zum Stafettenreiten wie geschaffen, das ungesattelte Pferd galoppierte unten hindurch, und die auf dem Tische stehenden Künstler sprangen ihm auf den Rücken, daß Nobody die Rippen krachten.
Die japanischen Kinder werden so zum Gehorsam erzogen, daß es auch die vornehmste Japanerin für eine Schande hält, beim Spazierenführen der ganzen Bande eine Gouvernante oder sonst eine beaufsichtigende Person mitzunehmen. Die Kinder müssen der Mutter auf einen Augenwink gehorchen.
Ferner dürfte bekannt sein, daß die Japaner Meister im Ringen sind, es wird, wie das Fechten mit blanken Waffen, mit Leidenschaft ausgeübt, in England und Nordamerika gibt es auch viele japanische Lehrer der Ringkunst. Dieses Ringen ist ein ganz andres als das bei uns übliche; ein professioneller Ringkämpfer würde die Herausforderung eines Japaners gar nicht annehmen, weil es sich dabei nur um hinterlistige Kniffe handelt, was jedoch zu entschuldigen ist, da diese Kampfesweise als Verteidigung in der Notwehr betrachtet wird, und wirklich fabelhaft ist es, wie solch ein kleiner, zierlicher Japaner den größten und stärksten Kerl mit einem einzigen Ruck und Zuck zu Falle bringt. In diese Geheimnisse werden in Japan schon die kleinen Knaben eingeweiht, aber sonst sind sich prügelnde Kinder in Japan genau so unbekannt wie in China.
Hier aber zeigte es sich, daß es nur der Gelegenheit bedurfte, um aus den unnatürlich artigen japanischen Kindern genau solche wilde, unbändige Jungen und Mädels zu machen, wie man sie sonst in aller Welt findet.
Als so ein kleiner Strolch gar zu sehr über den Strang haute, zögerte Papa Nobody nicht lange, legte das Kerlchen übers Knie und verwackelte ihm den Hintern, daß es Zeter und Mordio schrie.
Da hatte Papa Nobody aber etwas Schönes angerichtet!
»Mich auch! Mich auch einmal!!« erklang es jubelnd im Chor, und es half alles nichts, der gute Papa mußte einen nach dem andern übers Knie legen und ihn auspochen, die Jungen wie die Mädels, freilich nicht gar zu derb, aber Nobody rann doch der Schweiß von der Stirn, und wer recht artig war, durfte noch einmal drankommen.
Die japanischen Kinder kannten das ›Übersknielegen‹ noch nicht, und das machte ihnen nun ein Teufelsvergnügen, besonders, daß sie dabei so recht nach Herzenslust brüllen konnten. Eigentlich hätte Nobody das gar nicht tun dürfen, dadurch hätte er sich verraten können, denn das war eben nicht japanisch.
»Papa, das hast du wohl auf der einsamen Insel gelernt, wo du die Vogeleier gegessen hast?«
Jawohl, und Papa Nogi hatte als Schiffbrüchiger auf der weltverlassenen Vogelklippe für seine Kinder auch noch ein andres Spielchen ausgegrübelt. Er hatte auf der Vogelklippe eben geniale Gedanken gehabt. Da man nun einmal beim Hauen war, wurde das edle ›Schinkenklopfen‹ arrangiert.
Nobody setzte sich auf einen Stuhl, ein Kind legte den Kopf in seinen Schoß, die andern vierzehn Kinder stellten sich im Halbkreise herum, nacheinander schlug jeder den Betreffenden auf sein Hinterteil, bis das Opfer erriet, wer ihn geschlagen hatte, worauf nun dieser eine mehr oder minder große Portion Prügel über sich ergehn lassen mußte. Ach, war das ein Jubel! Und Papa Nogi lachte, daß ihm die Tränen über die Backen kollerten.
Als das edle Spielchen im besten Gange war, wurde es leider unterbrochen.
»Es sind ein paar Herren gekommen, die Sie sprechen wollen,« meldete ein Matrose.
Nobody beschwichtigte die Kinder und begab sich hinaus. In dem Vorraum zur Kajüte standen ein nobel gekleideter Herr und zwei handfeste Männer, lauter Japaner.
»Was wünschen Sie?«
»Sind Sie Baron Nogi, Leutnant im ersten Garderegiment?«
»Der bin ich.«
»Im Namen des Mikado: Sie sind verhaftet!«
Der Herr zog ein Pergament hervor, welches er jenem ausgebreitet zum Lesen hinhielt. Die japanische Schrift legitimierte den Inhaber als Kaiserlichen Kriminalkommissar, welcher beauftragt war, den an Bord des englischen Dampfers ›Stag‹ befindlichen Baron Kata Nogi zu verhaften und ins Untersuchungsgefängnis abzuliefern.
Unserm Nobody war das überhaupt höchst gleichgültig, das versprach ihm nur ein interessantes Abenteuer, das nicht in seiner Berechnung gelegen hatte, so etwas liebte er ja, und als Japaner durfte er keine Unruhe zeigen.
Fragen aber war ihm gestattet. »Weshalb?«
»Dies zu erklären halte ich nicht für nötig, auch wenn ich es wüßte.«
»Ist in Ihrer Begleitung ein Offizier?«
»Nein.«
»Ich bin Offizier, ich kann nur von einem Offizier verhaftet werden.«
»Aber nicht, wenn es sich um eine kriminelle Verhaftung handelt. Ich verhafte Sie auf Kaiserlichen Befehl. Wollen Sie mir folgen?«
»Ich gehorche dem Kaiserlichen Befehl. Lassen Sie mich nur noch einmal zu meinen Kindern gehn.«
Die Beamten warteten draußen, während Nobody in die Kajüte ging und den Kindern sagte, er wolle nur die Mama holen, käme gleich wieder.
In seiner Kabine hatte er nichts mehr zu tun, bekam auch den Kapitän nicht wieder zu sehen. Bei dem Steuermann bedankte er sich, sagte, es würde alles in Ordnung gebracht, dann folgte er den Männern ins Boot, in welchem sich auch ein Sanitätsbeamter befand, der zur Begleitung nach dem pestverdächtigen Schiffe unerläßlich war.
Während der Überfahrt nach dem Lande hing Nobody keinen Grübeleien nach. Er würde es ja sehr bald erfahren, warum er, noch dazu auf solch brüske Weise, wie ein Verbrecher, verhaftet worden war.
Zuerst wurde er nach einer Sanitätsstation gebracht, wo er ein desinfizierendes Bad nehmen mußte. Die ihn bedienenden Japaner waren gegen den Baron Nogi von aufmerksamster Unterwürfigkeit; er erhielt einen neuen Anzug, in dem sich jeder Gentleman sehen lassen konnte, und als er sich dem Kriminalkommissar wieder zur Verfügung stellte, wurde die Fahrt in einem geschlossenen Zweispänner mit zugezogenen Fenstergardinen fortgesetzt. Den Kommissar über sein Schicksal zu befragen, mußte Baron Nogi und überhaupt ein Japaner unter seiner Würde halten.
Der Wagen hielt vor einem großen Gebäude; eine Zelle nahm den Untersuchungsgefangenen auf.
»Wann komme ich vor den Richter?« fragte er den Beamten, der ihn begleitet hatte.
»Spätestens innerhalb 24 Stunden, doch kann ich Ihnen sagen, daß die richterliche Untersuchungskommission sofort zusammentritt.«
»Ich komme doch vor ein Militärgericht?«
»Nein, vor das bürgerliche.«
Das war es, was Nobody am meisten frappierte. Er hatte seinen Urlaub nur um einige Tage überschritten. Deswegen wollte er sich verantworten, aber das ging doch nur seine vorgesetzte Militärbehörde etwas an. Was konnte er dafür, daß jene Offiziere und der Neffe des Mikado ihren Tod bei der Segelpartie gefunden hatten? Da konnte doch immer wieder nur ein Militärgericht von ihm Rechenschaft fordern. Oder hatte der wirkliche Baron Nogi etwas auf dem Kerbholz, was ihn vor den Staatsanwalt brachte? Nobody zweifelte daran.
Jedenfalls nahm Nobody diesen unberechneten Zwischenfall durchaus nicht tragisch, ganz im Gegenteil, er wollte sich schon durchhelfen, und wenn er nun einmal die Rolle des wegen irgend etwas angeklagten Baron Nogi spielte, so wollte er diesen herausbeißen, daß jener seine Freude an ihm gehabt hätte.
Er brauchte nicht lange zu warten, so öffnete sich wieder die Zellentür, Nobody wurde von zwei Männern in die Mitte genommen und nach Passieren einiger Korridore in einen Saal geführt.
Hinter Tischen saßen einige alte Japaner in Nationaltracht, die zur Seite auf Stühlen Sitzenden trugen entweder militärische Uniformen oder moderne Kleidung. Die Galerien waren leer, das Publikum hatte zu dieser Voruntersuchung also keinen Zutritt. Es ging alles sehr schnell. Der mittelste Richter blätterte noch einmal in seinen Akten und erhob sich.
»Wie heißen Sie?«
»Baron Kata Nogi.«
»Was sind Sie?«
»Leutnant im Kaiserlichen Gardedragonerregiment.«
»Lebt Ihr Vater noch?«
»Ja.«
»Was ist er?«
»Schatzkämmerer am Hofe des Mikado.«
»Haben Sie dies geschrieben?«
Nobody bekam den Bericht zu lesen, den er diese Nacht geschrieben hatte.
»Ja.«
»Gut. Wir sind nicht mehr im unklaren, wer Sie sein wollen. Sie sind verhaftet worden und stehn vor dem Untersuchungsrichter, weil behauptet worden ist, daß Sie gar nicht dieser Baron Kata Nogi sind.«
Au weh!! Das hätte freilich nicht kommen dürfen! Jetzt konnte er nur gleich die ganze Komödie aufgeben.
Die brauchten ja nur zu verlangen, er solle die Einrichtung seines Wohnzimmers beschreiben, oder wie die Fassade seines Hauses aussah. Das konnte er schon nicht. Auf so etwas war Nobody nicht geeicht. Aber er beschloß im Augenblick, erst einmal die beleidigte Unschuld zu spielen. Vor allen Dingen wollte er erfahren, wie man auf den Verdacht gekommen war, daß er nicht der echte Baron Nogi sei, wo ihn doch sogar Frau und Kinder als solchen anerkannt und er sich bisher noch nicht die geringste Blöße gegeben hatte.
So war sein grenzenlos erstauntes Gesicht ganz der Situation entsprechend.
»Was?! Ich — wäre — nicht — der — Baron Nogi?!«
»Eine große Ähnlichkeit, nichts weiter. Ich gestehe, daß auch ich Sie für den Baron Nogi halten könnte.«
»Na, ich werde doch am besten wissen, wer ich bin, hahaha!«
»Mäßigen Sie sich, Sie stehn vor dem Richter.«
Nobody wurde wieder ernst.
»Wer wagt denn zu behaupten, daß ich nicht der Baron Nogi wäre?«
»Zunächst die Sanitätsbeamten, welche Sie gestern zuerst an Bord des englischen Dampfers sahen.«
»Gerade diese haben mich zuerst als Baron Nogi begrüßt.«
»Ja, wie sollten sie aber auch gleich auf den Verdacht kommen, daß sich ein andrer für Baron Nogi ausgeben könnte? Sie haben den Argwohn erst hinterher gefaßt.«
»Was für einen Argwohn?«
»Daß Sie nicht der Baron Nogi sind.«
»Ja, aber worauf fußt dieser Argwohn?«
»Das werden Sie gleich dann erfahren.«
»Ich berufe mich auf das Zeugnis meiner Kinder und meiner Frau, welche mich als Vater und Gatten erkannt haben.«
»Gerade die Frau Baronin Nogi ist die Hauptklägerin, daß Sie nicht ihr Gatte sein können.«
Jetzt wurde Nobody doch äußerst betroffen, und er verlieh seinem ersten Gedanken lauten Ausdruck. »Hier wird eine Intrige gegen mich gesponnen!!« rief er mit schallender Stimme.
»Sie stehn hier vor dem unparteiischen Richter,« war die würdevolle Ermahnung. »Außerdem ist diese Handschrift hier, die wirklich von Ihnen stammt, gar nicht die des Barons Nogi.«
Oho! Nobody wußte ganz bestimmt, daß die beiden Handschriften niemand, auch nicht der geübteste Sachverständige voneinander unterscheiden konnte.
»Baron Monio Nogi!« rief der Richter.
Einer derjenigen im Kreise Sitzenden, welche japanische Kostüme trugen, ein würdiger Greis, erhob sich.
»Angeklagter, kennen Sie diesen Mann?« wendete sich der Richter zuvor wieder an den in der Box Stehenden.
Nobody stutzte. Was sollte das? War dieser japanische Richter wirklich so dumm, daß er erst einen Mann mit Namen aufrief und hinterher den, welchen er greifen wollte, fragte, wer das sei?
Oder war es eine Falle? Gleichgültig, Nobody beschloß, mit Absicht hineinzugehn, um sich dann wieder herauszuhelfen.
»Das ist mein Vater. — Vater, bin ich dein Sohn, oder bin ich es nicht?«
Der Alte musterte ihn, dann schüttelte er das graue Haupt.
»Er sieht meinem Sohne wohl sehr ähnlich, aber er ist es nicht, ich höre es gleich an der Stimme.«
Jetzt wurde Nobody wirklich ganz perplex. So war dies also tatsächlich sein Vater? Und der Richter hatte ihn erst darauf aufmerksam gemacht? Er wußte gar nicht mehr, was er davon denken sollte.
Offiziere und Zivilisten wurden aufgerufen, sie betrachteten den Untersuchungsgefangenen von allen Seiten und gaben dann einstimmig dasselbe Urteil wie der alte Schatzkämmerer ab, daß jener dem Baron Kata Nogi wohl sehr ähnlich sehe, daß aber doch ein gewisser Unterschied vorhanden sei. Nein, das wäre der Baron Kata Nogi nicht.
»Ich berufe mich auf das Zeugnis meiner Frau, daß ich es doch bin!« beharrte Nobody trotzig.
Eine Seitentür öffnete sich, eine Japanerin ward hereingeführt — Sayadamona. Sie sah sehr bleich aus, mit der größten Angst hafteten ihre Augen an dem Manne, der in der Box stand.
»Sayadamona,« begann Nobody sofort, »ich, der ich gestern dich und zwei unsrer Kinder gerettet habe, ich frage dich ...«
»Ruhe!« gebot der Richter. »Sayadamona Nogi, erkennst du in diesem Mann deinen Gatten, den Baron Kata Nogi?«
Lange blieb die Antwort aus, immer ängstlicher blickte die junge Frau den ihr bezeichneten Mann an.
»Nun?«
»Nein!!« kam es da gellend von ihren Lippen, und gleichzeitig brach sie zusammen, sie mußte hinausgetragen werden.
Und sie hält mich dennoch für ihren Gatten, sagte sich Nobody, ich weiß es ganz bestimmt, es ist ihr befohlen worden, mich zu verleugnen, und ebenso sind alle andern überzeugt, daß ich wirklich der Baron Nogi bin, sie zeugen wider ihr besseres Wissen gegen mich. Was in aller Welt ist das nur für eine Intrige, die man gegen mich oder vielmehr gegen Baron Nogi vorhat?
»Der Unterschied in der Handschrift hätte auch schon genügt, um zu beweisen, daß Sie nicht Baron Kata Nogi sind,« fuhr der Richter fort.
»Na, wer soll ich denn da eigentlich sein?« nahm Nobody jetzt zum Spott seine Zuflucht.
»Sie sind der Mann, welcher in der letzten Minute, ehe Baron Nogis Jacht in See ging, noch an Bord kam und die Fahrt mitmachte.«
»Das ist mir ganz neu.«
»Leugnen Sie es nicht, Sie sind erkannt worden.«
»Von wem?«
»Von zwei Matrosen.«
»Und als wen haben die mich denn erkannt? Wer soll ich denn eigentlich sein?«
Da hob der Richter seinen Arm gegen den Angeklagte und sagte, jedes Wort betonend: »Sie — sind — der — amerikanische Detektiv — Nobody!«
Bombenelement! Nobody glaubte wirklich, er höre eine Bombe platzen. Noch lieber aber hätte er geglaubt, daß er nur träume.
Wie konnten die wissen, daß ...
Da sah er über die Schulter des Richters plötzlich einen Kopf mit einem pfiffigen Gesicht auftauchen, dieser Kopf nickte ihm nochmals energisch zu — und Nobody ließ seine Blicke im Kreise umherwandern, überall bemerkte er ein leises Augenblinzeln, auch von andern wurden die Köpfe ganz heimlich bejahend bewegt ...
Da ging Nobody eine Ahnung auf.
»Gestehn Sie, daß Sie dieser Nobody sind?« fragte der Richter.
»Ja denn, ich gestehe es!«
»Führt den Angeklagten wieder in seine Zelle zurück!« —
Nobody war wieder in seiner Zelle und mit seinen Gedanken allein. Rastlos wanderte er auf und ab, und es ward ihm schwer, in diese auf ihn einstürmenden Gedanken Ordnung zu schaffen — viel schwerer als ihm eine Flucht von hier werden würde.
Sollte er abwarten, wie sich das noch weiter entwickeln würde, oder sollte er sich noch heute nacht den Weg zur Freiheit bahnen?
Dazu mußte er erst das Gitterfenster untersuchen, aber da die Zellentür ein Fensterchen besaß, durch welches er jeden Augenblick beobachtet werden konnte, so wollte er erst den Anbruch der Dunkelheit abwarten.
Die Dunkelheit brach an — da kam der Schließer und brachte eine brennende Petroleumlampe. Das war fatal.
»Ich brauche keine ...«
Nobody verstummte. Dem Schließer war noch ein andrer Mann in die Zelle gefolgt, ein alter Japaner in Nationaltracht. Nobody erkannte ihn sofort wieder: das war der alte Baron Monio Nogi! Dann kam vielleicht jetzt unter vier Augen auch die Lösung der Rätsel. Oder wollte der Alte nur Näheres über das Schicksal seines Sohnes erfahren, den er für tot hielt?
Der Schließer hatte die Lampe auf den Tisch gesetzt und war wieder gegangen. Baron Monio blickte sich zuerst einmal nach dem Fensterchen um.
»Wir sind hier ganz ungestört; bei Todesstrafe darf uns niemand beobachten oder gar belauschen.«
Dann schlich er zu Nobody hin und klopfte ihm mit freundlichem Lächeln auf die Schulter.
»Sehr gut gemacht, mein Sohn, das hast du sehr gut gemacht.«
War das wieder eine jener Fallen, in denen die Japaner so groß sind?
Nein, Nobody konnte dem Menschen durch das Auge ins Herz blicken, und in dem Herzen dieses alten Mannes las er nur väterlichen Stolz auf seinen Sohn.
Trotzdem konnte er ja die Probe machen, auch er konnte eine Falle stellen.
Mit einer abwehrenden Handbewegung trat er zurück.
»Nennen Sie mich nicht Ihren Sohn! Ich bin ein Gefangener, Sie sind ein freier Mann.«
Der Alte tat etwas erstaunt.
»I, sei doch nicht so komisch,« sagte er dann beschwichtigend. »Freilich ist ein furchtbarer Fehler begangen worden, durch welchen du schwer gedemütigt wurdest, und wodurch alles hätte mißglücken können, aber deine Klugheit und rasche Fassungsgabe hat ja alles wieder gutgemacht.«
Nobody horchte hoch auf, und jetzt konnte er auch fragen:
»Was für ein Fehler?«
»Es war doch Leutnant Timitti, welcher heute nacht zu dir kam und dir den schriftlichen Bericht abforderte?«
»Jawohl, es war Leutnant Timitti,« bestätigte Nobody dreist.
»Es hatte aber Leutnant Dimodi sein sollen, der war beauftragt, dich in alles einzuweihen, verstehst du? Es war eine Namensverwechslung, und wie die Verwechslung sonst zustande kam, will ich dir später erklären. Anstatt daß dich nun Leutnant Dimodi in alles einweihte, hat dich Leutnant Timitti schon für den Betrüger gehalten, der sich für den Baron Kata Nogi ausgibt, hihihi.«
Der Alte kicherte vor sich hin, und Nobody ging jetzt eine Ahnung auf, daß er sein Spiel doch noch nicht verloren hatte.
»Aahh so!« sagte er langgedehnt, obgleich er in Wirklichkeit noch gar nichts wußte, und dann durfte er hinzusetzen: »Ja, in was sollte mich denn Leutnant Dimodi eigentlich einweihen?«
»Nun, daß du dich eben für einen falschen Baron Nogi ausgeben sollst, und daß du ... nein, ich verstehe schon, du kannst noch von gar nichts wissen. Hier, setz dich her, ich will dir ausführlich erzählen.«
Sie setzten sich, und Nobody war nicht wenig gespannt auf das, was er nun zu hören bekommen würde. Die Sache schien ja immer verwickelter zu werden.
»Es war dir doch schon im Vertrauen mitgeteilt worden, daß du nächstens in geheimer Mission nach Petersburg gehn solltest,« begann der Alte.
»Jawohl, wenigstens im Vertrauen wurde es mir gesagt.«
»Oberst Kaluno hatte es dir verraten.«
»Ganz richtig, Oberst Kaluno. Wie geht es dem eigentlich?«
»Der ist doch schon seit drei Monaten tot!!« rief der Alte erstaunt.
»Ach so — ja — ich dachte an den andern! Nun, und?«
»Unterdessen hat es sich etwas geändert, oder aber, wir haben alles erst jetzt richtig erfahren. Im russischen Kriegsministerium zu Petersburg ist der Plan ausgearbeitet worden, wie Rußland die Mandschurei besetzen will und sich bei Einmischung von andern Mächten diesen gegenüber verhalten wird, speziell zu Japan. Daß dieser Plan mit Erwägung aller Kriegseventualitäten fix und fertig ausgearbeitet im geheimen Kabinett liegt, wissen wir hier bestimmt. Jetzt handelt es sich darum, in diesen Kriegsplan Einblick zu nehmen, ihn womöglich zu kopieren. Hierzu warst du von vornherein ausersehen. Kein Mensch in Japan kann diese Aufgabe so gut lösen wie du. Aus einem ganz besondern Grunde! Aber gerade bei dir ist ein Hindernis vorhanden. Kennst du die Gräfin Anita Urlewsky?«
Wenn die Frage so gestellt wurde, durfte Nobody getrost verneinen.
»Anita Urlewsky, eine geborene Italienerin, ist die geschiedene Frau des Grafen Urlewsky. Sie hat überhaupt eine dunkle Vergangenheit hinter sich, sie ist eine Abenteurerin gewesen und ist es schließlich noch heute. Das hindert aber nicht, daß das Haus des ebenso schönen wie geistvollen und nicht minder kapriziösen Weibes der Mittelpunkt der schöngeistigen und besonders auch der politischen Welt Petersburgs ist. Dies kommt mit daher, weil sie die ausgehaltene Maitresse des verwitweten Grafen Alexei Petrof ist, des russischen Kolonialministers. Obgleich dieser ganz genau weiß, daß ihm die Gräfin Anita durchaus nicht treu ist — es ist stadtbekannt, daß sie sich jedem Abenteurer hingibt — liegt er doch wie ein Sklave zu ihren Füßen. Außerdem vertraut er ihr vollkommen, sie ist so gut wie seine Sekretärin, seine Mitarbeiterin, und in die tiefsten politischen Geheimnisse eingeweiht. Verstehst du nun, um was es sich handelt? Der mußt du den Kopf verdrehen, daß sie dir den geheimen Kriegsplan ausliefert.«
Hui, dachte Nobody, ist denn der Baron Nogi als solch ein gefährlicher Don Juan bekannt? Davon hat er mir in der Hypnose gar nichts verraten.
»Nein, ich verstehe nicht so ganz,« entgegnete er jetzt. »Du gibst mir von dieser Frau ein unklares Bild. Du sagst, es sei stadtbekannt, daß sie sich jedem Abenteurer hingibt, und in demselben Atemzuge sagst du auch, sie sei die Vertraute eines Ministers, von dem sie in die tiefsten Geheimnisse eingeweiht würde. Wie reimt sich das zusammen? Dem würde die Regierung doch bald einen Dämpfer aufsetzen.«
»Und ich könnte dem entgegnen: das liegt eben in den russischen Verhältnissen. Alles ist von oben bis unten bis ins Mark verfault, und der Beamte, der am meisten stiehlt, tut seine Pflicht am besten. In diesem Falle trifft das aber gar nicht zu. Die Gräfin ist ein ganz rätselhaftes Weib. Sie ist eine Sphinx. Du wirst sie ja noch genau kennen lernen, und an höherer Stelle wirst du auch noch nähere Offenbarungen erhalten. Ja, wohl schwärmt sie für Exzentrizitäten aller Art, jeder Abenteurer ist ihr willkommen, je toller, desto besser, aber ... sie ist dem Manne, der sie aushält und der sich ihr anvertraut, treu. Das heißt, nicht in bezug auf die Liebe — über solche veraltete Ansichten ist die Gräfin Urlewsky erhaben — aber in bezug auf die Geheimhaltung dessen, was man ihr anvertraut. Da ist sie treu wie Gold. Ein ganz außergewöhnliches Weib, diese Urlewsky! Wer sich ihr anvertraut, den verrät sie nicht, da läßt sie lieber ihr Leben. Hierfür hat sie auch schon einen Beweis geliefert.«
»Sie war bereit, ihr Leben zu opfern?«
»Mehr noch, wenigstens für eine Frau, welche weiß, daß sie schön ist und bewundert werden will. Der kleine Finger an ihrer linken Hand ist verkrüppelt. Es war im letzten russisch-türkischen Kriege. Sie war damals fast noch ein Kind. Da fiel sie bei der Belagerung einer Festung den Feinden in die Hände. Sie sollte das Losungswort sagen, welches das Festungstor öffnete. Ein türkischer Offizier setzte ihr die Pistole vor die Stirn. Ein Wort konnte sie retten. Da legte die kleine Anita ihre Hand auf eine glühende Ofenplatte, neben der sie stand, und während ihre Hand fast briet, schaute sie lächelnd den Türken an, der ihr mit der Pistole drohte. Davon ist ihr der verkrüppelte Finger geblieben.«
»Großartig, einfach großartig!!« rief Nobody und sah dabei ganz verklärt aus. »Und was sagte der türkische Offizier?«
»Was der sagte? ›Schade, daß du kein Türke bist!‹ Und mit Ehrenbezeugungen überschüttet, ward Anita zurück in die belagerte Festung gebracht.«
Den Kriegsplan werde ich den Japanern verschaffen, sagte sich Nobody sofort, aber nicht durch die Vermittlung dieses heldenhaften Weibes, die soll meinetwegen keinen Treubruch begehn. Kaufen werde ich sie mir trotzdem, die muß mir gehören, koste sie, was sie wolle, die muß mit nach meiner Insel.
Und laut fragte er:
»Wenn das aber solch ein Weib ist, wird es mir denn da gelingen, die Gräfin so weit zu bringen, daß sie mir den geheimen Plan ausliefert?«
»Dir?« lächelte der alte Schatzkämmerer. »Wenn du so sprichst, dann kennst du dich ja selbst noch nicht einmal. Sieh doch nur, wie dir hier alle die weißen Frauen nachrennen! Die sind ja alle ganz vernarrt in dich! Da ist die Tochter des russischen Gesandten, die kannst du doch auch um den Finger wickeln, während sie sonst von keinem ihrer weißen Landsleute etwas wissen will. Das liegt in deinem Blick, in deinem Auftreten, in deinem ganzen ritterlichen Wesen, du entstammst eben dem berühmtesten Geschlecht der Samurais. Ach, das wird ja so einfach! Mag die exzentrische Gräfin bisher die Liebe auch nur als eine Spielerei betrachtet haben, du zwingst sie doch noch nieder und bändigst sie, wie du noch jedes Weib gebändigt hast, bis es gehorsam zu deinen Füßen lag.«
Hui, dachte Nobody wiederum, seht einmal diesen Baron Nogi an, was das für ein Schwerenöter ist! Und dessen Rolle muß ich nun spielen! Es ist doch gut, daß meine Frau von dieser Eigenschaft meines Doppelgängers nichts weiß.
»Nun ist es selbstverständlich,« fuhr der Alte fort, »daß ein Baron Kata Nogi so etwas nicht unternehmen kann. Ich meine, nicht unter seinem Namen. Du bist verheiratet, und wenn man das auch dort noch nicht weiß, so wird man es doch schnell genug erfahren, du kannst dich der Maitresse des Ministers nicht mehr als glühender Verehrer nähern, und überhaupt, als Baron Nogi, als Adjutant des Generalsfeldmarschalls, und wo du auch schon eine politische Rolle gespielt hast, da würde man bei unserm gespannten Verhältnis mit Rußland sofort Verdacht schöpfen ...«
»Ich verstehe, ich verstehe,« fiel ihm Nobody ins Wort, »als Baron Kata Nogi kann ich mich nicht auf dieses Unternehmen einlassen. Ah, ihr wünscht also, daß ich vorgeblich mit bei dem Schiffbruch der Jacht meinen Tod gefunden haben soll?!«
»Mein Sohn, du bist scharfsinnig wie immer,« zollte ihm der Alte Beifall. »So ist es. In geheimen Sitzungen wurde schon immer beraten, wie man dich wegen jener Sache nach Petersburg schicken könne, ohne daß du als Baron Nogi erkannt wirst. Das ist gar nicht so einfach. Eine Maskierung würde da nichts helfen. Du, der Günstling des Mikado, bist auch der Liebling des ganzen japanischen Volkes, du kannst nicht so einfach verschwinden; unsre Zeitungen würden förmlich gezwungen werden, deine Abwesenheit zu motivieren, und da genügte nicht, so einfach zu sagen, man hätte dich ins Ausland geschickt. Das Volk würde Rechenschaft verlangen, wohin, wozu, und so würden die Zeitungen die Sache breittreten. Überdies werden unsre japanischen Zeitungen auch in Petersburg genau gelesen. Kurz, man hätte sich mit deinem Verschwinden beschäftigt und wäre sehr leicht auf die Spur gekommen, daß der Abenteurer, der sich um die Gunst der Gräfin Urlewsky bewirbt, und Baron Kata Nogi ein und dieselbe Person sind.
»Da verbreiteten die von der Spazierfahrt zurückkommenden Boote, die Kunde, wie die Baronin Nogi und ihre Kinder verunglückt waren und kein andrer als der eigne Gatte und Vater sie gerettet habe. Du warst also von der Segelpartie zurückgekehrt. Wir vermuteten aber, die ganze Gesellschaft befände sich an Bord des englischen Dampfers. Solch ein furchtbares Unglück konnte ja niemand ahnen. Die Sanitätsbeamten kamen an Bord, sie brachten deine Erzählung mit zurück, du seist der einzigste der die Katastrophe überlebt hätte!
»In Waninos klugem Kopfe tauchte zuerst der Plan auf. Er eilte zum Minister. Schnell wurde eine geheime Sitzung abgehalten.
»Da kam auch die Anfrage des Sanitätsbeamten, ob deine Frau und Kinder das pestverdächtige Schiff verlassen dürften. Jawohl, wenigstens deine Frau mußte man ins Vertrauen ziehen.
»Der Entschluß wurde gefaßt. Freilich war es unterdessen Abend geworden, ehe man sich über alles klar ward. Leutnant Dimodi sollte dir den Bericht abfordern, die Hauptsache aber war, daß er dir Instruktionen betreffs dessen gab, was man mit dir vorhatte, was du vor dem Richter auszusagen hattest.
»Es war folgendes beschlossen worden: Du bist ein Abenteurer, ein Hochstapler. Seit einiger Zeit hast du die Bekanntschaft des Barons Kata Nogi gemacht und sein Vertrauen zu erwerben gewußt. Du siehst ihm sehr ähnlich und schließt dich der Segelpartie an. Ihr erleidet Schiffbruch. Alle gehn unter. Auch Baron Nogi siehst du in den Wellen versinken. Nur du rettest dich auf eine Vogelklippe. Da kommt dir der Gedanke; du willst die Rolle des Barons Kata Nogi spielen! Das kannst du um so eher, weil du dich wenig in der Öffentlichkeit hast sehen lassen, niemand weiß, daß du mit Kata Nogi verkehrt hast. Aber sonst bist du imstande, seine Rolle zu spielen. Nun wird auch noch das Unglück der Frau und Kinder dein Glück, zufällig mußt gerade du es sein, der sie rettet. — Übrigens wieder eine Tat, wie sie nur mein Sohn fertig bringt,« setzte der Alte hinzu.
»Es lag im Ratschluß der Götter, die mir stets gnädig gesinnt waren, schon dadurch, daß sie mich den Sohn solch eines vorzüglichen Mannes werden ließen,« wehrte der japanische Nobody bescheiden ab. »Dies also sollte mir Leutnant Dimodi mitteilen.«
»Jawohl. Aber in der Eile, mit welcher gehandelt werden mußte, entstand — durch die ähnlich lautenden Namen eine Verwechslung. Leutnant Dimodi wurde durch ein Versehen zurückgehalten, statt seiner ging Leutnant Timitti ab, der aber nur wußte, daß er dir den Bericht abfordern solle und irrtümlich, weil er nur etwas davon gehört hatte, der Meinung war, daß du wirklich ein falscher Baron seiest.«
»Ja, das merkte ich an seinem Betragen. Und wofür hält mich Sayadamona? Glaubt auch sie, ein falscher Baron hätte sie gerettet und sie geküßt?«
»Nein. Sayadamona ist eingeweiht worden, und Sayadamona ist im Gehorsam erzogen. Aber es ward ihr schwer, dich öffentlich zu verleugnen, es griff sie so an, daß sie in Ohnmacht fiel.«
»Weiß sie, weshalb ich nach Petersburg gehe, daß ich dort ein schönes Weib verführen soll?«
Nobody interessierte sich im Augenblicke mehr für die junge Frau seines Doppelgängers als für alles andre.
»Nein, das braucht sie nicht zu erfahren, wir haben ihr etwas andres erzählt, du müßtest eben auf eine geheimzuhaltende Reise. Und was wäre schließlich dabei, wenn sie wüßte, zu welchem Zwecke du nach Petersburg gehst? Was hat sich eine Japanerin um das Tun und Lassen ihres Mannes zu kümmern? Sayadamona aber ist eine echte Japanerin.«
Trotzdem! Nobody, der viel mehr Herz hatte, als er vorgab, empfand es als eine Wohltat, daß Sayadamona nichts hiervon erfuhr.
»War der Richter eingeweiht?« fragte er dann weiter.
»Ja, wir alle, die Ankläger und Zeugen, gehörten sämtlich zum gelben Drachen.«
Aha! Also auch der gute Papa war Mitglied dieser gefährlichen Verbindung.
Das war aber auch der Beweis, daß Nobody jetzt keine Falle mehr zu fürchten hatte, er wurde wirklich für den echten Baron Kata Nogi gehalten. Denn Nobody konnte in gewissen Fällen überaus mißtrauisch sein.
»Da aber,« fuhr der Alte fort, »ging uns eine fatale Erkenntnis auf. Erst im letzten Augenblick, als wir schon im Gerichtssaale saßen und du vorgeführt werden solltest, erfuhren wir zufällig, daß du überhaupt gar nicht vorbereitet worden warst! Das war eine schöne Geschichte! Zum Glück machte der Richter seine Sache sehr gut, er legte dir die Antworten immer in den Mund — aber noch besser, mein Sohn, hast du deine Sache gemacht. Ist es denn nur möglich, ahntest du denn gleich, was wir mit dir vorhatten?«
Der Alte konnte sich nicht enthalten, dem Sohne liebevoll den Kopf zu streicheln, auf welchen dieser nicht gefallen war.
»Natürlich, natürlich! Eine Ahnung ging mir gleich auf, ich sah doch auch euer Kopfnicken, wenn ich auch noch nicht im geringsten wußte, wohinaus ihr eigentlich wolltet. — Ja, was ist denn das aber für einer gewesen, den ich vorstellen sollte, der ... der ... wie war gleich der Name?«
»Nobody,« kam der alte Schatzkämmerer dem Sohne zu Hilfe.
»Ja, Nobody! Wie kamt ihr gerade auf den?«
»Hast du noch nichts von diesem Nobody gehört?«
Diese Frage war vortrefflich! Denn Nobody hätte nicht so ohne weiteres wagen dürfen, seine Unkenntnis zu verraten. »Nein.«
»Das ist ein amerikanischer Detektiv, der seine Abenteuer in einer New-Yorker Zeitung beschreibt; ›Worlds Magazine‹ heißt das Blatt.«
»So, so. Und dieser Nobody soll ich sein?«
»Ja. Es hatte jemand diesen Einfall gehabt. Dieser Detektiv macht gerade jetzt sehr viel von sich reden, und irgend jemand mußte es doch sein.«
»Aber wie leicht hätte herauskommen können, daß ich nicht dieser Nobody bin! Wenn der nun jetzt aufgetreten wäre, euch zur Rechenschaft gezogen hätte, wie ihr einen Mann, den ihr als Abenteurer, Hochstapler und Betrüger anklagt, mit seiner ehrenwerten Person identifiziert?«
»I, dieser Nobody existiert doch gar nicht,« kicherte der Alte.
»Existiert gar nicht?«
»I wo, das ist doch nur eine vorgebliche Person, eine Phantasiegestalt, die ihre erfundenen Abenteuer in jener Zeitung veröffentlicht, um die Leser zu unterhalten.«
Wartet, dachte der gar nicht existierende Nobody, ich will euch noch einmal einen Beweis davon geben, daß diese Phantasiegestalt wirklich leibt und lebt — einen Beweis, daß euch die Haare zu Berge stehn sollen!
»Aber,« fuhr der Alte fort, »das Publikum glaubt, wie es so oft mit Romanfiguren passiert, wirklich an seine Existenz. Der chinesische Gesandte ist auch so einer, der sich für so etwas interessiert, der erzählt uns viel davon, und daher sind wir über diesen amerikanischen Detektiv, obgleich er gar nicht lebt, genau orientiert. Nun wird er auch als ein großartiger Verwandlungskünstler hingestellt, der sein Gesicht und wohl gar seine Nase verändern, eben das Aussehen jedes Menschen annehmen kann, und das paßte alles so vortrefflich für unsre Zwecke, und da wollten wir eben das Gerücht aussprengen, der falsche Baron Kata Nogi sei jener Nobody, und daraufhin solltest du auch vorbereitet werden.«
Na wartet, dachte der gar nicht lebende Nobody wiederum, ihr sollt mich noch einmal zur Genüge kennen lernen!
»Ja, wir dachten sogar daran, ob du dich nicht als dieser Nobody bei der Gräfin Urlewsky einführen könntest. Denn die schwärmt für alles Abenteuerliche und Sensationelle. Was meinst du, willst du die Rolle dieses Romanhelden in Wirklichkeit spielen?«
Jetzt hätte Nobody dem Alten so gern einmal ins Gesicht gelacht.
Nobody tritt als Baron Nogi auf, und jetzt soll der falsche Baron Nogi den echten Nobody spielen! Das war ja köstlich!
Aber Nobody war nicht sogleich bereit, das mußte er sich wenigstens noch reiflich überlegen, und vorläufig wußte er eine Ausrede.
»Da wäre doch ein großes Hindernis vorhanden.«
»Welches?«
»Wenn dieser Nobody, von dem ich jetzt zum ersten Male höre, ein so geschickter Verwandlungskünstler sein soll, der jede Maske annehmen kann, und die Gräfin Urlewsky verlangt nun einmal von mir, ich soll ...«
»Da hast du allerdings recht,« fiel ihm der alte Japaner ins Wort. »Das war ja auch nur ein Gedanke von uns, das bleibt überhaupt vollkommen dir überlassen. Die Hauptsache ist, daß du deinem Vaterlande den Kriegsplan bringst, den Rußland für die Mandschurei ausgearbeitet hat, schon in der Voraussetzung, daß es dort noch einmal mit Japan feindlich zusammentrifft. Was für einen Wert dieser Kriegsplan für uns hat, brauche ich dir, dem geschulten Taktiker, nicht erst zu sagen, und ebenso weißt du, daß der Plan nicht einfach entwendet werden oder daß man sonst eine Ahnung haben darf, ein Fremder könnte Einblick in ihn genommen haben. Dann würde einfach ein neuer Kriegsplan ausgearbeitet werden.«
»Selbstverständlich! Es muß eine geheime Kopie davon genommen werden.«
»Und dann mußt du die leidenschaftliche Gräfin so in deine Gewalt bekommen, bis sie dir gutwillig den Schlüssel zum Geheimkabinett gibt,« ergänzte der brave Japaner. »Auf jeden Fall aber gebe ich dir den Rat, dich bei ihr als so ein verwegener Abenteurer einzuführen. Sie schwärmt eben für solche Naturen, weil sie selbst eine ist. Schon mancher Abenteurer verdankt ihr sein dauerndes Glück, und es kann ihr gar kein noch so verrücktes Projekt gemacht werden, sie geht darauf ein, schießt die Kosten dazu vor.«
»Was für ein verrücktes Projekt? Kennst du ein Beispiel?«
»O ja. Da erzählen die Europäer, besonders die Spanier, von einem verschollenen Goldlande, das in Südamerika gelegen haben soll. Eldorado nennen sie es. Es sind schon viele Expeditionen aufgebrochen, um es zu suchen, natürlich immer vergebens, denn es existiert nur in der Phantasie von leichtgläubigen Köpfen, und das war auch früher, jetzt denkt niemand mehr an die wirkliche Existenz dieses fabelhaften Goldlandes. Da aber verirrt sich ein spanischer Abenteurer nach Petersburg, lernt die Gräfin Urlewsky kennen, schwatzt ihr von seinen Träumen vor — und wahrhaftig, sie gibt ihm die Mittel, daß der Schwindler eine Expedition nach Südamerika ausrüsten kann.«
»Und weiter?«
»Na, der Kerl ist gar nicht nach Südamerika gegangen, er hat das Geld in Paris verpraßt.«
»War sie da nicht von ihrer Vorliebe für solche Abenteurer kuriert?«
»Durchaus nicht. Gleich darauf fiel sie auf ganz dasselbe herein, sie gab die Mittel her, um von einem Abenteurer das sagenhafte Ophir entdecken zu lassen. Das war ebenfalls ein Schwindler. Und so hat sie schon Unsummen für solche Zwecke ausgegeben.«
»Woher nimmt sie die Mittel? Ist sie vermögend?«
»Nein. Aber die Kasse Alexei Petrofs steht ihr zur Verfügung, und der allerdings ist immens reich.«
»Ist das nicht ein Zeichen der Beschränktheit, daß sie immer wieder das Opfer von Betrügern wird?«
»Beschränktheit? Die ist nicht beschränkt! Nein, sie sagt es selbst, das macht ihr Vergnügen, sie liebt solche unternehmungslustige Personen, welche ihrer nüchternen Mitwelt Hohn sprechen, und vor Betrügern kann sich niemand schützen. Es sind doch auch nicht alle solche. Da ging einmal durch die Zeitungen die Notiz, im nördlichsten Sibirien existierten noch Mammuts, die Eingebornen erzählten von solchen haarigen Ungeheuern — und wenn die Zeitungen das auch nur nacherzählten — warum sollte es nicht möglich sein? Es gibt im nördlichen Sibirien Gegenden, die noch gänzlich unerforscht sind, und das Mammut könnte dort oben wohl noch sein Fortkommen finden. Da meldete sich bei der Gräfin Urlewsky ein junger Russe, ein Bauernbursche, aber schon ein erfahrener Bärenjäger. Der macht sich anheischig, nach jenen Gegenden zu gehn, und wenn er ein Mammut findet, es lebendig mitzubringen. — Jawohl, der Junge erhielt alles, was er zu seiner Expedition brauchte.«
»Nun, und hat er ein lebendiges Mammut mitgebracht?« lachte Nobody.
»Nein, ein lebendiges nicht, aber ein totes, noch ganz wohlerhalten. Es war in Eis eingefroren und hatte sich während Jahrtausenden konserviert. Die Hunde konnten noch das Fleisch fressen. Die Gräfin schenkte diese in der Welt einzig dastehende Seltenheit dem Petersburger Museum. Außerdem entdeckte der Junge noch ein ungeheures Lager von Mammutzähnen, besser als Elfenbein, das brachte der Regierung großen Gewinn, und das alles hat man nur dem abenteuerlichen oder sage meinetwegen verrückten Sinne dieser Gräfin zu verdanken.«
»Gut, jetzt weiß ich, mit wem ich es zu tun haben werde, und diese exzentrische Gräfin gefällt mir immer mehr. Ja, da allerdings werde auch ich als ein verwegner Abenteurer auftreten.«
»Aber nicht als Japaner!«
»Nicht als Japaner?« wiederholte Nobody verwundert.
»Das wäre zu gefährlich. Die Russen werden stets mißtrauisch gegen einen Japaner sein.«
»Als was denn aber sonst?«
»Nun, du bist doch oft genug für einen Franzosen gehalten worden. Wenn sie dich in französischer Uniform sahen, wollten es Fremde gar nicht glauben, daß du ein Japaner seist. Das ist es ja, wovon ich schon oft genug zu dir gesprochen habe. Wir aus der Kaste der Samurais haben eine außerordentliche Ähnlichkeit mit den Südfranzosen. Laß dir einen Knebelbart stehn, wie ihn alle die weißen Teufel tragen, wenn sie recht keck aussehen wollen, und mit deinem vollendeten Französisch kannst du dich getrost für einen echten Franzosen ausgeben.«
»Dann werde ich also als französischer Abenteurer auftreten, und ein Glück ist es, daß ich auch das Russische beherrsche.« Denn das hatte Nobody aus dem Baron heraushypnotisiert; solche Sachen mußte er unbedingt wissen.
»Sonst hätte man dich wohl auch nicht für solch eine Mission ausgewählt,« lachte der Alte. »Nun aber,« fuhr er ernst fort, »berichte mir zunächst über eure Fahrt auf dem ›Drachenkopf‹. Was ist da Furchtbares passiert? Haben denn nur wirklich alle Samurais ihren Tod gefunden? Berichte mir, ich werde es dann gleich weitermelden, es warten genug mit namenloser Spannung auf deinen wahren Bericht.«
Das konnte geschehen. Nobody hatte Zeit genug gehabt, um sich darauf vorzubereiten. Die Wahrheit erzählte er natürlich nicht, sondern die alte Geschichte, nur mit einer Variation und mit andern Namen.
Eben nicht die Segeljacht, sondern jener Dampfer, der ›Drachenkopf‹, welcher die vornehmen Geheimbündler aufgenommen hatte, um mit dem Piratenkapitän die Inseln der chinesischen Seeräuber zu inspizieren, war das Opfer eines Sturmes und der Brandung in unbekannter Gegend geworden, und außer Baron Nogi war kein Mann dem Tode entgangen. Nur dieser hatte sich auf eine Vogelklippe gerettet, war von dem englischen Dampfer aufgenommen worden.
Diese Schilderung war vollkommen glaubwürdig. Der alte Japaner war furchtbar erschüttert. Eine lange Pause trat ein.
»Wie gesagt,« nahm er dann wieder das Wort, »ich kann dir nur mitteilen, was ich so ungefähr gehört habe; ich soll dich nur vorbereiten. Von höherer Stelle wirst du ausführliche Instruktionen für deine Mission erhalten.«
»Instruktionen, wie ich mich der Gräfin zu nähern habe, um von ihr den Kriegsplan zu bekommen?«
Der Alte hatte das Unbehagen herausgehört.
»Mißverstehe mich doch nicht! Wie kann man dir deswegen Instruktionen erteilen? Du mußt doch noch Bestimmteres erfahren. Nein, sonst wird man dir vollkommen freie Hand lassen.«
»Wie lange habe ich Zeit, um den Kriegsplan zu kopieren?«
»Zehn Jahre.«
»Wie lange?«
»Zwanzig Jahre. Ich will damit sagen, daß die Zeit gar keine Rolle spielt, wenn du den Plan nur drei Monate eher bringst, als es zum Kriege zwischen Rußland und Japan kommt, wozu ja aber vorläufig gar kein Grund vorhanden ist. Da müssen die Russen erst die Mandschurei besetzen.«
»Und wenn ich nun meine Aufgabe gelöst habe?«
»Kommst du natürlich als Baron Kata Nogi zurück, und ich denke, der Baron Nogi wird in dem zukünftigen Kriege gegen die Russen noch eine Hauptrolle spielen.«
»Wo soll ich da inzwischen gewesen sein?«
»Das wird sich schon finden. Auch der wirkliche Nogi ist eben dem Schiffbruch entgangen, auch er hat sich auf eine einsame Insel gerettet; er braucht nicht darauf geblieben zu sein, er ist etwa von einem Schmugglerschiffe, das seine Geheimnisse zu wahren hat, aufgenommen worden, konnte nicht wieder herunter, ist irgendwo im Auslande abgesetzt worden, bis ihm endlich die Flucht und die Rückkehr in seine Heimat gelangen. Da findet sich doch stets ein Ausweg. Dann wirst du natürlich mit allen Ehren empfangen. Oder dann kann es ja auch bekannt werden, daß du es gewesen bist, der mit der Entwendung des russischen Kriegsplanes seinem Vaterlande einen unschätzbaren Dienst erwiesen hat.«
Famos, sagte sich Nobody, das paßt ja alles in die Pläne, die ich mit meinen gefangenen Japanern vorhabe!
In Gedanken versunken, malte der alte Japaner mit der Fingerspitze Kreise auf den Tisch, und sofort erriet Nobody diese Gedanken, denn es war kein Zufall, daß der Alte solche Zeichen malte, es war vielmehr eine Unvorsichtigkeit. Diese Kreise bildeten mit ein Erkennungszeichen der Geheimbündler des gelben Drachens. Hierüber hatte sich Nobody von dem hypnotisierten Japaner zur Genüge orientieren lassen, hierüber hatte er auch aus den Papieren des gesunkenen Dampfers einen tiefen Einblick gewonnen.
»Du weißt doch, daß in sechs Tagen Neumond ist,« begann da der Schatzkämmerer wieder.
»Ja, das weiß ich.«
Nobody wußte auch, was jener meinte, aber er wollte ihn lieber selbst sprechen lassen, um ja keinen Fehler zu begehn.
»Da müssen wir im Drachennest sein. Kommst du mit?«
»Vorläufig sitzt im Drachennest noch ein andrer,« lautete die etwas spöttische Antwort. Denn mit dem ›Drachennest‹ war nichts andres als die heilige Insel, die Perleninsel gemeint.
»Hast du auf dem Drachenkopfe etwas davon gehört?«
»Nein. Was?«
»Was wir vorhaben.«
»Nein.«
»Was für Vorbereitungen an der Küste von Formosa schon seit langem getroffen werden.«
»Nein, ich habe nichts darüber vernommen. Was für Vorbereitungen sind das?«
»So höre denn!«
Der Alte begann zu erzählen, und Nobody bekam allerdings etwas zu hören! Es gehörte seine ganze Selbstbeherrschung dazu, um nicht zu erschrecken, um sich nicht zu verraten.
Der alte Japaner hatte sich in Eifer geredet, zuletzt sprang er wie ein Jüngling auf, und wenn er auch mit vorsichtig gedämpfter Stimme sprach, so glühten seine Augen doch in unheimlichem Feuer, und drohend hatte er die Hand erhoben.
»Ihr Maß ist voll! Nicht lange mehr sollen die frechen Eindringlinge sich im Drachenneste wärmen können! Sie sollen den gelben Drachen kennen lernen! Und noch andre sollen ihn sehen! Ganz China soll davon erzählen, wie ein feuerspeiender Drache über das Land und über das Meer gegangen ist, und wie sein Feuer die weißen Teufel verzehrt hat, welche es gewagt haben, in die Höhle des gelben Drachen zu dringen! Dann gehört das uralte Heiligtum wieder uns.«
Von der ungewohnten Aufregung erschöpft, hatte sich der Alte wieder gesetzt, er rang nach Fassung. Nobody ließ ihm nur kurze Zeit dazu.
»Und wie ist es mit mir? Ich habe keine Lust, hier lange gefangen zu sitzen.«
»Du mußt ausbrechen.«
»Dazu brauche ich vor allen Dingen Feilen.«
»Die habe ich dir schon mitgebracht.«
Der alte Japaner blickte einmal vorsichtig nach dem Fensterchen, dann brachte er unter seinem Kaftan ein kleines Päckchen zum Vorschein und ließ es dem Sohne in die Hand gleiten. »Uhrfedersägen und Feilen, alles was du brauchst. Morgen erfährst du, wann du ausbrechen kannst.«
»Weshalb erst morgen?«
»Es müssen doch erst Vorbereitungen getroffen werden, sonst würden die Posten dich erschießen.«
»So müssen sie eingeweiht werden?«
»Natürlich.«
»Das ist gefährlich. Es wäre besser, es würde niemand weiter ins Vertrauen gezogen.«
»Das ist auch nicht nötig. Wenigstens sind es nur solche vom gelben Drachen. Es wird dafür gesorgt, daß morgen nacht nur Drachenbrüder Wache stehn; wir haben ja auch unter den gewöhnlichen Soldaten genug Anhänger zu unsrer Verfügung. Die müssen aber erst instruiert werden.«
»Wie ist hier die Örtlichkeit beschaffen?«
Der Vater konnte ihm das erklären. Das Haupthindernis war eine sechs Meter hohe Mauer. Niemand hätte sie übersteigen können, ohne von den zahlreichen Wachtposten bemerkt und von ihnen festgehalten, im Notfalle erschossen zu werden. »Doch ich muß jetzt gehn, morgen werden wir das Nähere besprechen, auch ob du noch einmal vor ein öffentliches Gericht kommen sollst, wo du alles ausführlich gestehst, so daß es das Publikum hört, damit es von deiner Schuld überzeugt ist.«
»Ist das unbedingt nötig?«
»Nein, nicht unbedingt. Deine Flucht wäre schon Beweis genug, daß du nicht der echte Baron Nogi sein kannst.«
Der Vater verabschiedete sich; zärtlich küßte er den Sohn, seinen Stolz.
Nobody war allein. Er blies die Lampe aus und lauschte. Nichts war zu hören. Der Korridor war erleuchtet, aber das durch das Fensterchen hereinfallende Licht genügte nicht, um den Raum zu erhellen.
»Ihr allmächtigen Götter,« erklang es da leise in der finstern Zelle, »ihr seid dem Manne, welcher nichts mehr zu verlieren hat, stets gnädig gewesen, und deshalb bete ich euch an, die ihr das Schicksal des Menschen in eurer Hand habt. So seid auch diesmal mit mir, daß es mir gelingt, meine Freunde noch rechtzeitig vor dem sichern Untergange zu retten!«
Nobody konnte während dieses Gebetes nicht auf den Knien gelegen haben, er mußte gehandelt haben, denn schon im nächsten Augenblick erscholl in der finstern Zelle ein leises, knirschendes Geräusch.
Der Gefangene hatte den Tisch an das Fenster gerückt und war schon dabei, die Eisenstäbe durchzusägen.
Die Sägen und Feilen waren gut, japanische Arbeit, und der alte Schatzkämmerer hatte an alles gedacht, auch ein Fläschchen mit Öl war in dem Paket gewesen.
Nobody wollte also nicht bis morgen warten. Er hatte einen triftigen Grund dazu, schon heute nacht seine Freiheit wiederzuerlangen. Was schadete es auch? Ob morgen oder heute, durch seine Flucht gab er den Beweis, daß er ein Betrüger war, und das war es ja, was man haben wollte; in der heutigen Nacht konnte er sogar einen noch viel überzeugenderen Beweis geben. Denn dort unten patrouillierten Wachtposten mit scharfgeladenen Gewehren auf und ab, und sie waren noch nicht instruiert, wohl viel Lärm zu machen, aber auf einen Flüchtling, welcher dort durch das Fenster kommen würde, nicht zu schießen, sie sollten ihm vielleicht gar noch über die Mauer helfen.
Die starken Eisenstäbe waren durchgefeilt. Die letzte Sichel des Mondes, der aber manchmal hinter einer Wolke verschwand, beleuchtete ab und zu einen geräumigen Hof, der von einer sehr hohen Mauer umschlossen war.
An der Innenseite dieser Mauer patrouillierten die Wachtposten, zwar einer vom andern weit entfernt, aber doch so, daß auf einer Seite des Gebäudes niemals nur ein einziger Soldat war.
Jetzt trat der Mond wieder hinter eine dunkle Wolke, und da hing Nobody schon außerhalb des Fensters, welches sich in der ersten Etage befand, und man hatte dem Gefangenen wohl mit Absicht eine der am niedrigsten gelegenen Zellen gegeben, morgen würde man ihn auch mit Stricken versehen haben, um sich hinablassen zu können.
Doch Nobody bedurfte ihrer nicht.
Ahnungslos wandelte ein japanischer Soldat die Mauer entlang. Da vernahm er einen dumpfen Fall. Erschrocken fuhr der Mann empor. Schon sah er etwas mit großen Sätzen auf sich zukommen; aber noch ehe er daran denken konnte, sein Gewehr herabzureißen, stand dieses Etwas schon mit dem Sprunge eines Panthers auf seinen Schultern — doch nur für einen Moment, die Schultern dienten nur als Sprungbrett — der Soldat fühlte kaum den Absprung — und mit einem mächtigen Satze war Nobody über die Mauer hinweg.
Es war das Kunststück eines Akrobaten oder eines Clowns gewesen, wie man es nur im Zirkus zu sehen bekommt.
Der japanische Soldat dachte noch immer nicht an sein Gewehr, nicht einmal daran, einen Schrei auszustoßen. Er stand wie vom Donner gerührt da und glaubte, nur eine Vision gehabt zu haben.
Nobody war auf der andern Seite zwar zusammengebrochen, schnellte aber wie eine Sprungfeder wieder empor und eilte weiter, ohne den Kopf zu verlieren.
Hinter ihm wurde es laut, Stimmen schrien, ein Gewehr krachte, jetzt donnerte auch ein Alarmschuß.
Was machte es? Das war noch hinter der Mauer; und kam er nur um die Ecke, so wollte Nobody in Sicherheit sein. Es wäre gar nicht nötig gewesen, daß von gewisser Seite schon Maßregeln getroffen wurden, den entsprungenen Gefangenen nicht wieder zu ergreifen.
Es war erst die neunte Abendstunde, und die Straßen, in denen sich Nobody bereits befand, waren noch sehr belebt; aber in dem Manne, der sich sorglos unter die Menge mischte, hätte niemand einen soeben dem Kerker Entsprungenen vermutet. Das war ja auch kein Japaner, sondern ein Europäer, dem Gesicht mit dem hervortretenden Kinn nach ganz sicher ein Engländer, und der graue Sommeranzug des Steuermanns war nicht auffallend, einen solchen trugen andre auch.
Lange hielt sich Nobody freilich nicht damit auf, so gemächlich durch die Straßen zu bummeln. Er bog in ein Seitengäßchen ein, und jetzt beflügelte er seinen Schritt. Bald hatte er den Hafen erreicht.
An einer Quaitreppe lag ein elegantes Boot, zwei Matrosen saßen darin und schienen auf jemanden zu warten.
Nobody stieg die Treppe hinab.
»Ist Lord Roger an Bord?«
»Nein, an Land.«
»Wo befindet er sich da?«
»Im englischen Klub.«
»Einer von euch rudert mich zur ›Sunbeam‹, der andre holt den Lord, er soll sofort an Bord seiner Jacht kommen.«
Nobody war schon ins Boot gesprungen. Den beiden Matrosen kam das natürlich etwas spanisch vor, sie kannten den Herrn ja gar nicht.
»Wer sind Sie denn?«
»Gehn Sie zu Lord Roger und sagen Sie ihm nur das Wort ›Labyrinth‹, dann weiß er, wer ich bin, und er wird sofort kommen! Er soll zur Überfahrt nach seiner Jacht ein andres Boot benutzen.«
»Labyrinth, schön, ich werde es mir merken!«
Der eine Matrose sprang davon, der andre ruderte den ihm fremden Mann nach der stattlichen Jacht, welche in der Mitte des Hafens lag.
Als eine Viertelstunde später Lord Hannibal sein Schiff erblickte, sah er aus dem Schornstein eine feurige Garbe auflodern, dort wurde mit Macht unter den Kesseln geheizt, ohne daß der Eigentümer der Jacht hierzu Befehl erteilt hätte. Aber der Lord wußte nun schon, wer jener fremde Herr war, von dem ihm der Matrose erzählt hatte, und wieder fünf Minuten später steuerte die ›Sunbeam‹ mit Volldampf zum Hafen von Tokio hinaus.
Die finsterste Nacht lagerte über der kleinen Felseninsel, auf welcher am Tage die vom Meeresgrunde losgerissenen Muscheln nach Perlen durchsucht wurden. Kein Licht brannte. Auch die im Hafen liegenden Fahrzeuge hatten keine Lampen angesteckt. Es war dies Befehl des Masters, welcher nicht wollte, daß vorüberkommende chinesische Dschonken — denn andre Fahrzeuge würden diese seichten Gewässer wohl kaum aufsuchen — auf diese Felseninsel aufmerksam gemacht würden.
Auch keine Wache war ausgestellt. Die zahlreichen Hunde genügten, und wenn sie sich jetzt auch zum Schütze vor dem kalten Ostwinde, welcher von Formosa herüberwehte, hinter Felsblöcke gelegt hatten, so ließen sie ihre Pflicht doch nicht außer acht.
Wehe dem Chinesen, welcher, die ihm gewährte Freiheit mißbrauchend, es gewagt hätte, die ihm angewiesene Schlafstelle zu verlassen, um an den Strand zu schleichen, denn in diesem Falle konnte er nur an Flucht denken, und sobald er sich des Nachts außerhalb der Felsenkammer zeigte, wäre er von den Bluthunden augenblicklich in Stücke zerrissen worden.
Ebenso aber zeigten die wohldressierten Tiere jedes Lichtchen an, welches sie weit draußen im Meere erblickten, sie taten es schon von selbst, aus Instinkt, weil sie nichts Fremdes in ihrem Reviere duldeten, und auch ohne Lichter hätte sich kein Fahrzeug dem Eiland unbemerkt nähern können, ihre feinen Nasen hätten es schon von weitem gewittert.
Was waren da also menschliche Wächter nötig? Man brauchte die Kraft der ausgeruhten Arbeiter am andern Tage nötig genug.
Da knurrte ein Hund drohend: plötzlich schlugen sie alle zusammen grimmig an; wie wahnsinnig stürzten sie dem Hafen zu, und fast gleichzeitig erschienen an Deck der Fahrzeuge angekleidete Matrosen und kamen aus den Felsenkammern bewaffnete Männer herbeigeeilt. Denn wenn es auch keine Wachtposten gab, so doch eine abgeteilte Wachtmannschaft, die auch unter Deck oder in ihrem Quartier immer bereit sein mußte, einen von den Hunden gemeldeten Feind zu empfangen.
So gut diese Mannschaft aber eingeschult sein mochte, so entstand in der undurchdringlichen Dunkelheit doch einige Verwirrung. Es war absolut nichts zu sehen, man wußte nicht, warum die Hunde anschlugen, ein Mann rannte gegen den andern.
»Lichter an! Die Scheinwerfer in Tätigkeit gesetzt!« ertönte das Kommando.
»Keine Lichter, keine Scheinwerfer!!« schrie eine heisere Stimme.
Ein schmetterndes Krachen folgte diesem Rufe nach, es kam von dort, wo der Hafenrand eingemauert war, aber schräg ins Wasser laufend, daß man ohne Anstrengung Boote hinein- und herausschieben konnte — dann ein Knall, ein blitzähnlicher Lichtschein erhellte für einen Augenblick die finstre Nacht — und in diesem Lichtschein hatte man dort auf jener schrägen Stelle einen Trümmerhaufen gesehen, der vorhin noch nicht dort gelegen — dann glühte dort plötzlich ein großes Kohlenfeuer, jetzt sah man deutlicher, daß der Trümmerhaufen aus verbogenen Eisenplatten bestand, das kaum noch erkennbare Wrack eines kleinen Dampfbootes, das mit großer Gewalt die schiefe Ebene hinaufgerannt und dabei aus den Fugen gegangen war, die glühenden Kohlen waren das herausgeschleuderte Kesselfeuer — dann sah man einen Mann, welcher mit jeder Hand einen Hund bei der Kehle gepackt hatte und die andern, die wütend auf ihn los wollten, durch Fußtritte von sich abzuhalten suchte ...
»Zurück, Leo — kusch dich, Arion — kennt ihr Bestien euern Herrn und Meister nicht?!«
Ja, die Bluthunde kannten ihn, und zwar nicht nur an seiner Stimme; winselnd krochen sie ihm zu Füßen, und jetzt hatten auch die Inselbewohner ihn erkannt.
»Der Master!« ging es erstaunt von Mund zu Mund.
»Ich bin's. Wo ist Mr. Zeel?«
»Hier,« meldete sich der von Nobody eingesetzte Kommandant der Insel, dem die eventuelle Verteidigung oblag, ein geborener Holländer und ehemaliger Artillerieoffizier, der als Instrukteur nach China gegangen war.
»Alle Mann in die Forts!!« schrie Nobody, den man gar nicht wiedererkannte, so aufgeregt war er. »Alle Mann an die Geschütze!! Kein Licht, kein Licht!«
Alles stob auseinander; aber die Unordnung war nur eine scheinbare. Jeder Mann eilte an seinen Posten, und so entwickelte auch Nobody nur seine höchste Schnelligkeit, trieb die Leute zur größten Eile an. Das war noch keine Aufregung.
Nobody war in ein Fort geeilt, welches mit dem zweiten telephonisch verbunden war, er gab Kommandos, und was in dem einen geschah, wurde auch in dem andern ausgeführt.
Ohne zu erklären, was für eine Gefahr denn drohe, noch weniger, wie er plötzlich hierherkäme, ließ er die sämtlichen Geschütze nach Osten richten, und zwar die Mündung nach oben, als gelte es, in einem großen Bogen zu schießen, er selbst stellte sich an ein außergewöhnlich langes, aber dünnes Rohr, welches kleine Granaten schoß, stemmte den ausgeschnittenen Bügel an der Schulter fest.
»Ich schieße zuerst!!« schrie er, und es ward auch in dem zweiten Fort gehört. »Immer zwei bis drei Meter über ...«
Doch diese Erklärung sollte nicht erfolgen.
Ein gellender Schrei des Entsetzens übertönte das Kommando.
»Der gelbe Drache, der gelbe Drache!!« heulten die aus den Felsenkammern hervorgekommenen Chinesen und warfen sich platt an den Boden, preßten das Gesicht gegen den Stein, nur um das Schreckliche nicht sehen zu müssen, was ihnen im nächsten Augenblick den Tod bringen mußte.
Aber auch die weiße Mannschaft der Insel schrie vor Schreck laut auf, und wer keinen Laut hervorbrachte, dem sträubte sich vor Entsetzen das Haar auf dem Kopfe.
Urplötzlich war vor ihnen, vielleicht hundert Meter in der Luft, eine Lichtmasse aufgetaucht, ein feuriges Ungeheuer, ein kolossaler Drache, der ein intensiv gelbes Licht ausstrahlte.
Deutlich konnte man jedes Glied an ihm erkennen, den aufgerissenen, von furchtbaren Zähnen starrenden Rachen, die glühenden, tellergroßen Augen, die mächtigen Pranken, den langen Schweif ...
Es braucht nicht näher beschrieben zu werden. Es war eben ein schreckenerregender, feuerspeiender Drache, welcher hoch in der Luft mit ziemlicher Schnelligkeit auf die Insel zuschwebte — und zwar direkt auf sie zu! Denn jetzt senkte er sich herab.
Dem gellenden Schrei war eine Todesstille gefolgt. Was nicht mit dem Gesicht auf der Erde lag, das stierte mit entgeistertem Auge zu dem Ungeheuer empor, von ihm den feurigen Tod erwartend.
»Er muß ins Meer stürzen, ehe er über der Insel schwebt, sonst sind wir verloren!!« durchdrang da Nobodys Kommandostimme die Todesstille. »Aber nicht auf den Drachen selbst schießen, zwei bis drei Meter darüber halten!!!«
Ein Feuerstrom entfuhr dem langen Geschütz, welches seinen Namen Feuerschlange mit Recht führte, das repetierende Rohr wurde von Matrosen mit Granaten bedient, ein Schuß krachte nach dem andern, und plötzlich kam das glühende Ungetüm in eine schaukelnde Bewegung.
»Getroffen! Drei Meter über den Kopf halten! Feuer!!!«
Jetzt feuerten auch andre Geschütze, man hörte ein zischendes Pfeifen in der Luft, und schnell senkte sich der Drache herab, er fiel in das Wasser. Das von ihm ausgehende Licht ward immer schwächer, bis es ganz verlöschte.
»In die Boote!! Den Scheinwerfer in Tätigkeit gesetzt!!«
Hals über Kopf stürzten die hierzu bestimmten Matrosen in die Boote, und als sie abstießen, leuchtete ihnen bereits der blendende Strahl eines elektrischen Scheinwerfers voraus.
Der Höllenspuk hatte überhaupt schon durch den Erfolg der Kanonenschüsse seine ganze Zauberkraft auf die Gemüter verloren, und ... da lag er, der Drache, im tageshellen Scheine des elektrischen Lichtes erst recht alles Märchenzaubers beraubt ... eine Theaterdekoration, ein mit Leinewand überklebtes Gerippe aus Bambusstäben, dem die Granaten und Hartkugeln übel mitgespielt hatten!
»Vorsicht!« warnte Nobody. »Unten an dem Drachen ist eine Dynamitbombe befestigt, grade genügend, um uns alle wegzublasen, wenn sie auf die Insel gefallen wäre. Ich selbst will sie versenken.«
Sein Boot mußte dicht an das Ungeheuer heranrudern, er suchte mit den Händen unter Wasser, zog sein Messer und schnitt Stricke durch.
Nur die schwere Granate hatte die hohle Figur aufrecht gehalten. Als das Gewicht versank, legte sich der Drache auf die Seite, so daß die Leute durch ein großes Loch Einblick in das Innere bekamen.
An den Bambusstäben waren überall kleine Öllämpchen von gelbem Glase angebracht. Sie waren teils von den Geschossen zersplittert worden, teils infolge des Luftdruckes verlöscht.
Außerdem war im Innern noch eine Art von Korbstuhl angebracht.
»Hier schwimmt ein Mann!« erscholl es aus einem andern Boote.
»Haltet ihn fest, bindet ihn, ehe er Selbstmord begeht!!« schrie Nobody.
»Das ist der Japaner, welcher in dem Drachen saß und uns die Bombe auf den Kopf werfen sollte, wenn der Drache über unsre Insel hinwegstrich«, setzte Nobody, sich an den in seinem Boote befindlichen Zeel wendend, erläuternd hinzu.
»Ja, durch welche Kraft aber wurde denn der Drache in der Luft gehalten und fortbewegt?« fragte der Holländer.
»Der hing einfach an einem Luftballon, und die Fortbewegungskraft war der Wind. Nur daß der Ballon gerade hierher kam, das ist nicht so einfach — diese japanischen Pfiffköpfe verstanden den Wind meisterhaft zu berechnen, dieser Ballon kommt nämlich von Formosa her, und doch verstand der Luftschiffer ihn ohne jedes Steuer und ohne jeden sonstigen Apparat ganz genau nach dieser Insel zu lenken, nur durch Berechnung aus freier Hand, wo an der Küste von Formosa er den Luftballon aufsteigen lassen mußte, um gerade hier über diese Insel hinwegzustreichen. Und zwar war es ein wirklicher Luftballon — nicht mit Gas, nur mit Luft gefüllt, die erhitzt wurde, wodurch sie sich verdünnte und so den leichten Drachen und den Mann trug.«
»Von Formosa bis hierher?« fragte der Offizier in aufrichtigem Staunen.
»Jawohl. Schließlich warum auch nicht? Die Montgolfiers hatten zuerst auch keine andern Luftballons, und die haben noch ganz andre Fahrten gemacht. Von Formosa bis hierher sind es etwa sieben Kilometer, dazu brauchte der Ballon bei diesem Winde nur eine halbe Stunde. Die Luft wurde erst stark mit einem Holzfeuer angeheizt, so daß der Ballon sehr hoch stieg, dann führten ihm die vielen Flämmchen durch eine besondere Leitung noch genügend heiße Luft zu, daß er sich in der Schwebe halten konnte. Ich bewundere nur, wie dieser Japaner so genau die Flugrichtung berechnen konnte.«
Der Offizier hätte gern gefragt, woher Nobody dies alles so genau wußte, er mußte doch selbst an Ort und Stelle gewesen sein, wo der Drachenballon aufstieg, aber er unterließ es. »Wie konnte der Drache plötzlich so aufleuchten? Erst war doch gar nichts von ihm zu bemerken?«
»Sehen Sie an jeder Glaslampe unten ein kleines, schwarzes Bündelchen? Das ist ein zusammengerolltes schwarzes Tuch. Ein Zug an einer Leine, und sämtliche Lampen sind verhüllt, und ebenso plötzlich leuchten sie wieder. Eine gerade durch ihre Einfachheit überaus ingeniöse Konstruktion. Die Brüder vom gelben Drachen haben aber auch länger denn zwei Monate daran gearbeitet, ehe sie dieses Ungeheuer, ihr Symbol, fertig hatten, welches uns mit einer Dynamitbombe beschenken sollte.«
Mr. Zeel schauerte leicht zusammen. Erst jetzt kam ihm voll und ganz zum Bewußtsein, was aus ihnen geworden, wäre Nobody nicht wie ein Schatten der Nacht im letzten Augenblicke als rettender Engel erschienen.
Denn hätte wohl jemand daran gedacht, auf den feurigen Drachen zu schießen? Es hätte überhaupt niemand auch nur einen Gedanken gefaßt. Sie waren ja alle vor Entsetzen wie gelähmt gewesen — sie wären sämtlich vom Erdboden weggefegt worden!
»Ja, wo ist denn nun aber der eigentliche Ballon?« fragte Mr. Zeel wieder.
Auch Nobody hatte schon um sich gespäht, er hob die Hand, mitten im elektrischen Lichtschein stehend, winkte, daß der Scheinwerfer vom Fort aus die weitere Meeresfläche absuchte.
Aber nichts war zu sehen.
»Von dem Winde kann er noch nicht so weit fortgetrieben worden sein. Die zerschossene Hülle hat sich vollgesaugt und ist gesunken.«
»Die seidene Hülle?«
»Seidene Hülle? Der ganze Ballon war bloß von Papier. Ja, darin haben die Japaner auch etwas los. Aber das mit dem Papier haben sie erst von den Chinesen, nur ist es von ihnen noch mehr vervollkommnet worden.«
Der schwimmende Japaner war aufgefischt und derart mit Stricken umwunden, daß er eher einem Taubündel glich als einem Menschen, in Nobodys Boot abgeliefert worden. Der erlegte Drache wurde als Trophäe ins Schlepptau genommen, es ging wieder dem Lande zu, wo jetzt, nachdem Nobody die Erlaubnis hierzu gegeben hatte, überall Lichter aufflammten.
»Das ist das Beiboot von Lord Rogers Jacht,« sagte Nobody beim Aussteigen zu Zeel, auf den Trümmerhaufen von Eisenplatten deutend, neben dem noch immer das ausgeschüttete Kesselfeuer glühte. »Ich bin nämlich zum Japaner geworden, bin auch schon in alle Mysterien des gelben Drachen eingeweiht worden, der nächstens hier seine jährliche Zusammenkunft abhalten wollte, und da mußten doch zuerst die in dem Heiligtume hausenden weißen Teufel hinausgejagt oder besser gleich vernichtet werden.
»Ich hörte also von dem Anschlage, vernahm alle Einzelheiten; in Tokio lag Lord Rogers Jacht, alles auf Verabredung, die benutzte ich, um hierherzujagen. Ich kam gerade noch zur rechten Zeit. Aber wie ich auch gefahren bin! Zuletzt mußte ich in diesen seichten Wasserstraßen das kleine Beiboot der Jacht benutzen. Kein Matrose hatte Zeit, mir nachzuspringen. Fort ging es! Wie eine Hasenjagd! Dort liegt es! Ich konnte nicht mehr stoppen, es schusselte gleich die Mauer hinauf.«
Mehr erfuhr der Offizier nicht von Nobody, und es genügte auch. Den ausführlichen Bericht würde man dereinst lesen können.
Diese Worte waren nicht von dem gefangenen Japaner vernommen worden. Auf Nobodys Geheiß hatte man ihn schon in eine der unterirdischen Felsenkammern gebracht und auf eine Matratze gelegt.
Lange brauchte er nicht zu warten, so trat Nobody ein, in seiner eigentlichen Gestalt — wenn dieser Mann eine solche hatte. Jedenfalls war er jetzt kein Japaner mehr, sondern ein Europäer. Sein kurzgeschorenes und schwarzgefärbtes Haar hatte er mit einer Mütze verdeckt.
Forschend betrachtete er den auf der Matratze liegenden Japaner, einen Mann mittleren Alters, mit sehr intelligentem Gesicht.
Jener rührte sich nicht, er schloß unter dem Blick die Augen.
»Was würden Sie tun, wenn ich Ihnen jetzt die Fesseln löste?«
Keine Antwort.
»Wer sind Sie?«
Keine Antwort. Der Japaner regte sich nicht.
»Jetu Mijako!«
Da zuckte der Gebundene zusammen und öffnete erschrocken die Augen.
»Ja, ich kenne Sie,« fuhr Nobody fort. »Sie sind Kapitän bei der Luftschifferabteilung in Nagasaki.«
Der Japaner riß die Augen noch weiter auf.
»Im übrigen sind Sie ein kühner Mann, den ich bewundere. Die unter Ihnen explodierende Dynamitbombe hätte auch Sie getötet.«
»Woher ...« Der Mann brachte kein Wort heraus, so erschrocken war er darüber, daß er beim Namen genannt wurde.
»Woher ich Sie kenne? Ich weiß noch mehr. Sie handelten auf Befehl des rechten Auges vom gelben Drachen, und dieses sogenannte rechte Auge heißt für gewöhnlich Mota Musane und ist für gewöhnlich japanischer Staatssekretär. Oder ist es nicht so?«
Jetzt prägte sich im Antlitz des Gefangenen ein förmliches Entsetzen aus, ein Stöhnen entrang sich seiner Brust. »Ein weißer Teufel, und er weiß alles!!«
»Ich weiß wahrscheinlich vom gelben Drachen noch viel mehr als Sie.«
»Ein weißer Teufel!!« wiederholte der Japaner stöhnend.
»Ja, ein weißer Teufel, aber auch ein guter Teufel,« lächelte Nobody. »Wollen Sie mir jetzt gefälligst antworten, was ich Sie frage? Geheimnisse will ich nicht von Ihnen erfahren, das habe ich nicht nötig.«
»Fragen Sie!«
»Was würden Sie tun, wenn ich jetzt Ihre Fesseln löse?«
»Dann seien Sie edel und geben Sie mir ein Messer!«
»Um sich den Leib aufzuschlitzen?«
»Ja. Ich muß!«
»Das werden Sie aber nicht tun!«
»Der Weg zur Heimat ist mir verschlossen, für mich gibt es nur noch den Tod!«
»Sie werden sich vielmehr sofort zu Mota Musane begeben und ihm melden, wie Ihre Drachenexpedition mißglückt ist.«
Für solch ein Ansinnen hatte der Japaner nur ein Lächeln.
»Und werden ein Schreiben an ihn mitnehmen,« fuhr Nobody fort.
»Was für ein Schreiben?«
»Hören Sie: ich bin der Mann, der den Krieg führt gegen die Piraten, welche harmlose Dschonken überfallen und plündern und die Besatzung niedermetzeln, und diese Piraten werde ich weiter bekämpfen. Aber ich will Frieden schließen mit dem gelben Drachen, welcher nicht will, daß England China mit Opium vergiftet, in dieser Hinsicht will ich ein Freund und Verbündeter des gelben Drachen werden, ich will auch diese Insel freiwillig zurückgeben, und die Bedingungen, unter welchen ich dies tue, sollen Sie mitnehmen und dem Staatssekretär, einem Oberhaupte des gelben Drachen, übergeben. — Haben Sie da ein Recht, aus gekränktem Ehrgeiz sich das Leben zu nehmen? Nein, Ihre erste Pflicht ist, dieses Schreiben zu überbringen. Sehen Sie das ein?«
»Wenn es so ist, ja,« erklang es ohne Zögern.
»Gut, und ich traue Ihnen. Haben Sie Waffen bei sich?«
Der Japaner blieb die Antwort schuldig.
»Ihr Schweigen ist auch schon eine Bejahung. Aber antworten Sie offen! Haben Sie Waffen bei sich?«
»Ja.«
Nobody zog sein Messer. »Ich zeige Ihnen dadurch Vertrauen, daß ich Ihnen die Banden löse, ohne Ihnen vorher die Waffen zu nehmen. Sie könnten mich töten; aber Sie würden einen Freund des gelben Drachen töten.«
Er durchschnitt die Stricke. »Sie sind ein freier Mann, Sie sind mein Gast!«
Der Japaner stand auf und dehnte die Glieder. —
Noch in derselben Nacht wurde er von Matrosen in einem Boote nach einer der Küste von Formosa nahen Felseninsel gebracht, von welcher aus er sich den auf ihn wartenden Mitgliedern des gelben Drachen bemerkbar machen konnte.
»Nun weißt du alles.«
Nobody sagte dies zu Lord Hannibal Roger, während sich dessen Jacht auf der Rückfahrt nach Tokio befand.
»Und was tust du jetzt?«
»Jetzt melde ich mich wieder als Baron Nogi zur Stelle. Natürlich nicht öffentlich. Baron Nogi ist ja tot, und ich bin als Betrüger entlarvt. Ich suche einfach meinen Vater auf, den alten Nogi, und von dem werde ich schon erfahren, an wen ich mich zu wenden habe, um weitere Instruktionen zu erhalten.«
»Wo willst du aber unterdessen gewesen sein?«
»Einfach auf der Flucht vor Verfolgern. Da erfinde ich schon irgend ein Märchen.«
»Da läufst du immer noch einmal Gefahr, als Pseudo-Baron entlarvt zu werden.«
»Sei ohne Sorge um mich! Ich habe die Feuerprobe bestanden — auch die Wasserprobe.«
»Und dann begibst du dich nach Petersburg?«
»Nein. Zunächst müßte ich mir einen Vollbart stehen lassen, und während dieser Zeit soll ich, soviel ich bis jetzt von dem gehört habe, was alles mit mir geplant ist, eine Reise als Kundschafter durch die Mandschurei machen, also wollen wir sagen, nach Petersburg den Landweg einschlagen. Diese Kundschaftstour durch die Mandschurei hängt natürlich eng mit jenem Kriegsplan zusammen, den ich erbeuten soll. Aber ich werde das nicht tun.«
»Was sonst?«
»Zunächst, wie ich dir schon gesagt habe, lasse ich mir wohl Ratschläge und Vorschläge erteilen, aber keine direkten Instruktionen, ich muß immer ganz freie Hand haben, und das ist mir ja auch schon zugesichert worden. Die Reise durch die Mandschurei freilich muß ich wohl machen, die trete ich auch an, dann aber ... werde ich verschwinden. Eines Tages wird man den Baron Nogi irgendwo als Leiche finden — oder doch seinen Tod bestätigen hören.«
Verständnislos blickte Lord Hannibal den Sprecher an.
»Höre ich recht? Nachdem du schon den echten Nogi hast aus der Welt verschwinden lassen, willst du nun auch als falscher Baron Nogi sterben? Nein, so ist es nicht — du bist ja eigentlich der echte Baron Nogi — oder eigentlich nicht — also du willst nun auch der falsche Pseudo-Baron Nogi ... mir wird ganz konfus im Kopfe.«
»Ja, die Sache wird immer komplizierter,« lachte Nobody. »Die Hauptsache ist die: ich lasse mich als Baron Kata Nogi durch die Mandschurei nach Petersburg schicken, werde aber mein Ziel nicht erreichen, sondern unterwegs verunglücken und dafür Sorge tragen, daß mein Tod denen, die mich geschickt haben, und in deren Auftrag ich sonst handle, bekannt wird.«
Der Lord staunte immer mehr.
»So willst du überhaupt gar nicht nach Petersburg?«
»Doch. Ich werde der Gräfin Urlewsky die Kur schneiden, werde den Kriegsplan erbeuten — aber nicht als Baron Nogi.«
»Als wer denn sonst?«
»Als irgend ein andrer Mensch, nur nicht als Baron Nogi.«
»Aber warum denn nur nicht?«
»Dazu habe ich meine besondern Gründe, die ich dir gleich offenbaren werde. Zunächst jedoch etwas andres, wobei du mir behilflich sein sollst! Kurzum, ich habe einen triftigen Grund, daß ich als Baron Nogi auf der Reise nach Petersburg tödlich verunglücke, um dann in Petersburg wieder als ein andrer auftreten zu können. Meinen Tod müßte auch Sayadamona erfahren. Das ließe sich nicht ändern. Aber das möchte ich dem armen Weibe nicht antun. Ich will die beiden wieder vereinen, den jungen Baron auch wieder mit seinen Kindern. Verstehst du?«
»Ganz und gar nicht.«
»Weil du ein Schwachkopf bist,« sagte Nobody, und die Freundschaft zwischen den beiden ging wohl schon so weit, daß er so sprechen durfte, und der englische Lord hatte gegen diesen ›Schwachkopf‹ auch gar nichts einzuwenden.
»Du weißt doch, was ich mit den sieben Japanern vorhabe,« fuhr Nobody fort.
»Das hast du mir ausführlich genug erzählt.«
»Nun wirst du die Güte haben, während ich mich meinen Vorgesetzten zur Disposition stelle, dich meiner Frau und der vierundzwanzig Kinder zu bemächtigen, die ganze Gesellschaft nach den Schwefelinseln zu bringen und sie gleichzeitig mit den sieben Japanern in den hohlen Berg zu sperren.«
Lord Roger sprang auf.
»Hölle und Teufel, sprichst du denn nur im Delirium?! Was hast du nun wieder vor? Was soll ich tun?«
»Dich meiner Frau und meiner vierundzwanzig Kinder bemächtigen,« wiederholte Nobody gleichmütig, »und sie mit dem echten Gatten und Vater wieder vereinen. Was ist weiter dabei? Du gibst ihnen einen Schlaftrunk ein, den ich dir präparieren werde, sie erwachen erst wieder in dem ummauertem Paradiese und werden die sieben Japaner vorfinden, die ich, wenn ich selbst nicht zugegen sein kann, gleichzeitig von Mr. Hawsken durch ein Stichwort aus ihrem hypnotischen Schlafe erwecken lasse, und dann ist die ganze Familie wieder hübsch zusammen — und hat außerdem noch sechs kräftige Männer als Gesellschafter, die der großen Familie in ihrer ummauerten Lage weiterhelfen können.«
»Ja, was um Gottes willen soll denn aber nun daraus werden?« rief der Lord. »Die erzählen sich doch nun alles!«
»Natürlich erzählen sie sich alles.«
»Und das stimmt doch alles nicht!«
»Was stimmt nicht?«
»Nun, zum Beispiel — der Baron Nogi erzählt doch jetzt seiner Frau, daß er gar nicht in Tokio gewesen ist, und Sayadamona versichert ihm, daß er sie und ihre beiden Kinder aus dem Wasser gerettet hat, wovon jenem gar nichts bewußt ist. Wo um Gottes willen soll denn das nur hinaus?!«
Nobody schnalzte verächtlich mit den Fingern.
»Mir ganz gleichgültig. Ende gut, alles gut!«
»Aber das nimmt kein gutes Ende! Die müssen ja auf der Stelle wahnsinnig werden!«
»Und ich versichere dir: sie werden nicht wahnsinnig — auf der Stelle nicht und später nicht! Bedenke doch nur: die aus ihrem langen, hypnotischen Schlafe erwachten Japaner haben ja überhaupt gar keine Ahnung vom ›Wo bin‹; — wenn sie sich noch auf etwas entsinnen können, so ist es das, daß der eiserne Dampfer, auf dem sie sich befanden, von einer hölzernen Dschonke in den Grund gerammt wurde, denn ich habe sie sofort, als sie aus dem Wasser gefischt wurden, in hypnotischen Schlaf versetzt.
»Nun sehen sie sich plötzlich in einem Paradiese, das von einer himmelhohen Mauer umschlossen ist, sehen ganz fremde Tiere und Bäume, sehen eine Frau und eine Menge Kinder, in denen der eine Japaner seine eignen erkennt — i, die denken ja, sie sind gestorben und befinden sich jetzt im Paradiese des Jenseits! Es sieht nur etwas anders aus, als ihnen die Buddha-Religion erzählt hat.«
»Und Sayadamona?«
»Die denkt ganz genau dasselbe. Die befindet sich ja jetzt schon in einem Traume. Nimm doch nur an, was die arme Frau in letzter Zeit alles durchgemacht hat! Erst kommt ihr Mann nicht wieder von der gefährlichen Segelpartie nach Hause, dann fällt sie ins Wasser, ihr Mann rettet sie, dann soll das gar nicht ihr Mann sein, dann ist er es doch wieder, dann ist er es immer wieder nicht, er bricht doch aus dem Gefängnis aus, dazwischen einmal seekrank ... i, die weiß ja schon jetzt nicht mehr, wo ihr der Kopf steht, die wird glücklich sein, wenn sie erst im Himmel ist ...«
Nobody wurde plötzlich tiefsinnig. »Da möchte ich wahrhaftig dabeisein, wenn die alle zusammen erwachen,« murmelte er vor sich hin. »Wenn die Kinder jetzt verlangen, Papa Nogi soll mit ihnen im Himmel Schinkenklopfen spielen, was da Papa Nogi für ein Gesicht machen wird ...«
Aufblickend schnalzte Nobody wieder mit den Fingern.
»Gleichgültig, es wird gemacht! So dumm sind die Japaner nicht, daß sie nicht schnell genug merken, daß sie noch nicht im Nirwana sind, sondern noch auf der Erde; das Rätsel müssen sie ergründen, deshalb begehn sie auch keinen Selbstmord, das ist mir vorläufig die Hauptsache, und ferner, daß ich das nicht auf dem Gewissen habe; der unschuldigen Frau und den Kindern den Gatten und Vater geraubt zu haben. Ich bin eben ein Gemütsmensch.«
»Was nun Sayadamona und die Kinder anbetrifft,« fuhr Nobody nachdenklich fort,»so will ich bei denen noch eine besondere Vorsicht gebrauchen, um ihnen die letzte Zeit ihres irdischen Daseins wunderbar erscheinen zu lassen. Es wäre mir, als dem vermeintlichen Baron Nogi, ja ein leichtes, sie nach den Schwefelinseln zu locken, aber ich möchte gar nicht mehr mit ihnen in Berührung kommen, auch ihr Verschwinden aus dieser Welt muß sensationell sein. Und ich habe schon meinen Plan. Sayadamona wird nach wie vor, wenn das Wetter schön ist, ihre tägliche Spazierfahrt mit den Kindern auf der Bucht machen ...«
»Nachdem ihr das Unglück passiert ist?« fiel der Lord ein.
»Wenn du daran zweifelst, dann kennst du die Japaner schlecht. Diese Gondelpartien gehören überhaupt zur Anstandspflicht jeder vornehmen Japanerin, so wie es bei jedem gebildeten, bessersituierten Europäer Anstandspflicht ist, aller drei bis vier Wochen ein frisches Hemd anzuziehen ...«
»Oho!!« lachte Lord Hannibal.
»Unterbrich mich nicht immer, zügele deine Zunge, sonst binde ich sie dir fest!« warnte Nobody, der heute ausgezeichneter Laune zu sein schien. »Ja — von was sprachen wir gleich? — ach so, von den Fixsternen. Ja, mein lieber Hannibal, da bin ich nicht deiner Ansicht, daß unser Sonnensystem ...«
»Da mußt du doch erlauben, daß ich dich nochmals unterbreche,« lachte der andre wieder, »wir sprachen nicht von Fixsternen und Sonnensystemen, sondern von Sayadamona und ihren Kindern.«
»Ach so, richtig. Ja, ich kann sie und sämtliche Kinder wohl auch noch etwas weiter aufs Meer hinauslocken, das kann ich schon noch, vielleicht eine Vergnügungsfahrt nach einer Insel, und da plötzlich muß ein japanischer Pirat kommen, so ein Frauenseeräuber oder Seefrauenräuber, der kapert sie, packt sie, trichtert der ganzen Gesellschaft meinen Schlaftrunk ein — und wenn sie erwachen, denken sie, der Kerl hat sie abgemorkst, jetzt sind sie im Paradies — schrumm.«
»Hm,« brummte der Lord, »mir kommt die Sache etwas spanisch vor; aber du hast schon verrücktere Ideen gehabt, und dann, wenn du sie wirklich ausgeführt hattest, waren sie immer gut gewesen. — Da mußt du aber erst einen japanischen Frauenseeräuber oder Seefrauenräuber dazu finden.«
»Habe ich schon gefunden.«
»Aber keinen echten.«
»Einen ganz waschechten. Du kennst ihn sogar gut.«
»Ich soll ihn kennen?«
»Sogar sehr gut.«
»Wie heißt er denn?«
»Lord Hannibal Roger heißt er, und dort sitzt er,« sagte Nobody, in den Spiegel deutend, daß sich der Lord selber sah. »Na, nun tue mal bloß nicht so! Mit deiner zerknutschten Krawatte siehst du nicht viel anders aus, als ein Seebandit, und gewaschen scheinst du dich heute morgen auch noch nicht zu haben.«
»Und du scheinst heute morgen in recht vergnügter Stimmung zu sein.«
»Mein Gott, ich bin froh, daß mir gestern nacht nicht die große Dynamitbombe auf den Kopf gefallen ist. Soll man da nicht vergnügt sein? Also du wirst die Rolle dieses japanischen Seeräubers übernehmen, wirst deine Matrosen maskieren, und damit basta!«
Nobody setzte seinen Plan weiter auseinander, und Lord Hannibal griff sich während des Zuhörens mehrmals an seine zerknutschte Halsbinde.
»Du, das kann gefährlich werden,« meinte er dann.
»Wenn's nicht wäre, dann machte es ja gar keinen Spaß.«
»Ja, wenn ich aber dabei gefaßt werde?«
»Dann geschähe dir Tölpel ganz recht.«
»Dann macht man mich einen Kopf kürzer.«
»Und das geschähe dir ebenfalls ganz recht. Was machte das überhaupt? Du wirst immer wieder geboren.«
»Du, an diesen Zauber glaube ich nicht.«
»Du hast aber daran zu glauben!!« donnerte Nobody ihn an. »Wenn du in meinem Auftrage die Rolle eines japanischen Seeräubers spielst, dann bist du eben auch ein Japaner, dann bist du auch ein Buddhist, und als solcher hast du an eine Wiedergeburt zu glauben, das ist deine verfluchte Pflicht und Schuldigkeit, und deshalb hast du dir auch ganz ruhig den Kopf abhacken zu lassen, ohne hinterher noch eine Beschwerde anzubringen. Verstanden?!«
»Ich gehorche,« murmelte Lord Hannibal dumpf und sank wie gebrochen in seinen Stuhl zurück — aber nicht etwa, daß ihn Nobody hypnotisiert hätte.
So ging das zwischen den beiden Freunden noch eine Weile weiter, das war so ihre gewöhnliche Weise, wenn sie sich unterhielten. Denn bei Lord Hannibal Roger war es ja ganz selbstverständlich, daß er auf so etwas sofort einging.
Dann kam Nobody auf das ursprüngliche Thema zurück.
»Warum ich nicht als Baron Nogi nach Petersburg gehn will, und weshalb ich dann als Baron Nogi meinen Tod finden muß? Hierzu habe ich die verschiedensten Gründe. Ich will dir nur die drei handgreiflichsten anführen, die feinern würdest du doch nicht verstehn.
»Erstens: ich habe keine Lust, auf Schusters Rappen die ganze Mandschurei zu durchqueren, was die von mir verlangen werden, das kann ich später vielleicht einmal machen, wenn ich erst die Kopie des Kriegsplanes in der Tasche habe, aber jetzt halte ich solch eine Kundschaftsreise überhaupt zu verfrüht. Vielleicht können noch Jahrzehnte vergehn, ehe es zwischen Rußland und Japan zum unausbleiblichen Kriege kommt, und wer weiß, wie es dann in der Mandschurei aussieht. Dann schießen die Tungusen die jetzt noch ihre Fitschepfeile haben, vielleicht schon mit elektrischen Kanonen ...«
»Oder mit elektrischen Fitschepfeilen,« ergänzte der Lord.
»Zweitens: Als Baron Nogi, von dem hier bekannt ist, was er in Petersburg treibt und beabsichtigt, könnte mir auf die Finger gepaßt werden, und das behagt mir nicht. Und nun drittens ... das ist die Hauptsache!«
Nobody lehnte sich in dem Stuhle zurück, schlug die Beine übereinander, kreuzte die Arme und nahm eine sehr gravitätische Haltung an, warf sogar die Nase etwas in die Luft.
»Sieh, Hannibal,« fuhr er dann fort, »es ist dir doch bekannt, daß ich unwiderstehlich bin.«
»Manchmal auch unausstehlich. Meinst du, daß dir kein Weib widerstehn kann?«
»Ja, das behaupte ich sogar.«
»Na, na, senke die Nase nur wieder etwas! Beweise von dieser deiner Unwiderstehlichkeit habe ich wenigstens noch nicht viel zu sehen bekommen.«
»Und ich gehe jede Wette mit ein, daß mir am dritten Tage, nachdem ich Petersburg betreten habe, diese Gräfin Anita Urlewsky zu Füßen liegt.«
»Das soll sie ja wohl so ziemlich bei jedem Abenteurer tun, wie du mir schon erzählt hast. Die Hauptsache aber ist, daß du von ihr die Kopie des Kriegsplanes bekommst.«
»Ich gehe jede Wette mit ein, daß ich am dritten Tage auch den Kriegsplan von ihr habe.«
»Gut, wetten,« sagte der Engländer sofort. »Ich glaube nicht, daß es so schnell geht. Was gilt die Wette?«
»Nein, lassen wir das! Ich bin meiner Sache zu sicher, und da zu wetten, ist nicht fair. Außerdem hat die Sache einen bösen Haken.«
»Welchen?«
»Ich habe schon eine Frau, und an dieser habe ich genug — übergenug!«
»Daran aber hättest du zuvor denken sollen, ehe du dich auf dieses Abenteuer einließt.«
»Und ich habe auch noch eine andre an meinem Halse hängen, du weißt, wen ich meine — Margarete. Dann bekäme ich noch eine dritte: Diese kapriziöse Gräfin Urlewsky verliebt sich in mich, dann werde ich die auch nicht wieder los. Außerdem mag ich das meiner Frau nicht antun, denn mit der Gräfin müßte ich doch kräftig poussieren, um ihr den Kriegsplan abzulocken. Trotzdem aber will ich sie auf meine Insel haben, denn nach allem, was ich von ihr gehört habe, gefällt mir diese Gräfin, die muß eine der Unsrigen werden.«
»Ja, wie läßt sich das aber alles miteinander vereinen?«
»Da muß einfach ein andrer von uns die Rolle des glühenden Liebhabers übernehmen, und ich stecke dahinter, daß alles klappt.«
»Das ginge!« rief der Lord. »Wen würdest du dazu vorschlagen? An wen denkst du?«
»Ich habe meinen Mann schon dazu bestimmt.«
»Wer ist es?«
»Dort sitzt er.« Nobody deutete wiederum in den Wandspiegel, daß Lord Roger sich selber sah.
»Alfred, ich bitte dich ...«
»Ja, Hannibal, das hilft dir alles nichts — mein Entschluß ist ganz bestimmt gefaßt, und du wirst ihn mir nicht zerstören: Du mußt die Gräfin Urlewsky heiraten! Basta!«
Noch faßte Lord Roger diesen befehlerischen Vorschlag nur als Scherz auf.
»Nun, auf eine kleine Liaison käme es mir nicht an. Es soll doch ein recht hübsches, ansehnliches Weib sein!«
»Liaison?« tat aber Nobody entrüstet. »Du hörst doch, daß sie auf unsre Insel soll! Dann kann sie mir auch ruhig den Kriegsplan ausliefern, dann gehört sie eben nicht mehr Rußland an, sondern sie gehört zu uns, und wir werden einst zu Japan halten. Und du sprichst von einer Liaison? Auf unsrer Insel? Du, da kämst du aber bei meiner Frau schön an!«
»Na, Alfred,« begann Hannibal jetzt zu lächeln, »du verlangst doch nicht etwa, daß ich die Gräfin Urlewsky heiraten soll?«
»Und warum denn nicht?«
»So eine Abenteurerin!«
»Und was bist denn du?!« wurde Nobody jetzt grob.
Da richtete sich der junge Lord stolz empor.
»Weißt du, wer ich bin?«
»Na, wer denn?«
»Ich bin ein englischer Lord und Peer!«
»Weiter nischt? Und weißt du, wer ich bin?«
»Ein hinausgeschmissener Prinz.«
»Jawohl, und das ist etwas ganz andres als ein englischer Lord, denn dafür, daß du's bist, kannst du gar nichts, in die Lordschaft bist du ohne Verdienste hineingeboren worden, mir aber hat es Mühe genug gekostet, ehe man mich aus meiner Herrlichkeit hinauswarf!«
Der Lord lachte. Es war überhaupt sehr die Frage, ob seine stolze Entrüstung vorhin ernst gewesen war. Dann aber schüttelte er den Kopf, an dessen Schläfen sich das Haar bedenklich lichtete.
»Nee, Alfred, nee — wenn ich durch den Niagarastrudel schwimmen soll, dir zuliebe will ich's tun — aber heiraten? — nee, Alfred, nee — ich habe meine Haare in Ehren verloren!«
»Hannibal, sei kein Frosch,« begann Nobody wieder. »Du mußt mich doch nun kennen. Wenn ich so etwas vorhabe, dann mache ich doch auch etwas ganz Besonderes daraus. Die leitenden Personen, welche mich zum bestimmten Zwecke nach Petersburg schicken, denken, ich soll mich der Gräfin als liebegirrender Schwerenöter nähern, als galanter Ritter ohne Furcht und Tadel und so weiter und so weiter, bis ich sie besiegt habe und mit ihr machen kann, was ich will. Aber das ist doch für mich nichts. Das kann jeder, der nur ein bißchen das Zeug in sich hat. So eine Liebesgeschichte mit endlichem Sieg kann man in jedem Romane lesen, aber ein Nobody wird das ganz anders anfangen. Das muß etwas Großartiges, etwas Sensationelles, Phänomenales, Pyramidales werden, wie es die Welt noch nicht gesehen hat. Abenteuer muß sich an Abenteuer reihen, daß ich dann später etwas für meine Zeitung zu erzählen habe — und darauf kommt es mir nämlich hauptsächlich an. Nun höre zu, was ich vorhabe!«
Nobody begann seine Pläne dem Freunde auseinanderzusetzen, und dieser lauschte wie ein Mäuschen, und immer mehr leuchteten die sonst so kalten Augen des phlegmatischen Lords auf, und wenn er manchmal den Sprecher unterbrach, so waren es Rufe der Begeisterung.
»Wahrhaftig, das ist endlich einmal etwas in diesem langweiligen Leben, das machen wir!!« rief er zuletzt enthusiastisch.
»Na, sagte ich es nicht, daß du ein Frosch bist? Du mußt nur erst einmal galvanisiert werden.«
Gleich darauf aber wurde der Lord wieder nachdenklich.
»Also nur als mein Diener willst du dabei auftreten?«
»Nur als der gehorsame Diener des verrückten Lord Roger.«
»Aber im Grunde genommen bist du doch der Hauptmacher und auch in Wirklichkeit immer die handelnde Person.«
»Natürlich, du hast nichts weiter zu tun, als mir nur zu befehlen, und was du mir zu befehlen hast, sage ich dir erst.«
»Gesetzt aber nun den Fall, diese Gräfin, von der du mir ein immer sympathischeres Bild entwirfst, tut es mir wirklich an, ich hätte wirklich starke Absichten auf sie ... nun bist aber doch du da, der eigentliche Herkules — da muß sich die Neigung der Gräfin doch ganz natürlich dir zuwenden. Wie willst du denn das nur verhindern?«
Nobody stand auf. »Warte eine Minute! Etwas Maskengarderobe habe ich ja auch hier an Bord. Ich will dir wenigstens ein ungefähres Bild davon geben, wie ich mich der Gräfin präsentieren werde.«
Er ging hinaus, kam, wie versprochen, schon nach einer Minute wieder herein, ein vollkommen andrer. Nobody hatte sich seinem Freunde gegenüber gezeigt, wie er in Wirklichkeit war, als ein ideal schöner Mann; von dem Japaner hatte er im Gegensatz zu seinem eigentlichen Aussehen nur noch das schwarze, kurz geschorene Haar behalten.
Wie er nun wieder hereinkam, hatte er auf dem Kopfe eine mächtige Perücke, einen Wulst von schwarzen Haaren, die sich nach allen Richtungen sträubten, so eine Frisur à la Papua, auch à la Wahnsinn genannt. Das Gesicht wurde von einem schwarzen, struppigen Barte eingerahmt, welcher aber das Kinn frei ließ.
Und nun dieses Gesicht selbst!
Es war von einer abschreckenden Häßlichkeit. Der Verwandlungskünstler, der jede Gesichtsmuskel vollkommen in der Gewalt hatte und sie beliebig bewegen konnte, verstand es, sein Kinn weit vorzuschieben. Schon dadurch erhielt das Gesicht einen tierischen Ausdruck.
Nun aber kamen noch ein Paar kleine, bösartig funkelnde Augen hinzu, dann ein Paar wulstige Bratwurstlippen, welche von einem Ohr bis zum andern zu reichen schienen ... kurz, eine Physiognomie von abschreckendster Häßlichkeit, welche gar nicht zu beschreiben ist.
Lord Roger fand einen Ausdruck dafür.
Nachdem der phlegmatische Engländer den vor ihm Stehenden zur Genüge betrachtet hatte, ohne ein Wort zu verlieren, zog er bedächtig einen goldenen Klemmer aus der Westentasche, putzte bedächtig die Gläser, setzte ihn bedächtig auf, und dann endlich kam es bedächtig aus seinem Munde:
»Alfred, du siehst gerade aus wie 'n böser Affe!«
Der böse Affe öffnete die Bratwurstlippen, fletschte die Zähne, grunzte und wackelte mit den Ohren.
»Pfui Deibel!! Höre auf, mir graut vor dir!«
Das Zähnefletschen ward eingestellt.
»Glaubst du, Hannibal, daß ich unter dieser Maske das Wohlgefallen der schönen Gräfin erregen werde?«
Lord Roger setzte lange an, ehe er Worte fand. »Alfred, wenn du mit diesem Aussehen auch nur das Herz einer fettduftenden Hottentottin betören kannst, dann ... sollst du fernerhin Lord Roger sein — und ich dein Sklave!«
An Deck liefen Schritte hin und her.
»Mylord Kapitän!« erklang es oben.
Lord Roger eilte hinaus, zu sehen, was es gäbe.
Schattenhaft verwandelte sich das Gesicht des Zurückgebliebenen, es waren nur noch die Haare des Affenmenschen, und ein Lächeln umspielte die feingeschnittenen Lippen, als Nobody wie warnend den erhobenen Zeigefinger nach der Türe schüttelte, welche sich hinter Lord Roger geschlossen hatte.
»Hannibal, Hannibal,« sagte er leise, aber jedes Wort betonend, »wenn es eine Wette gälte, so hättest du verspielt. Du willst die Frauenherzen studiert haben, aber du kennst sie noch lange nicht! Und darauf eben kommt es mir an: ich will dir einmal beweisen, wie sehr du dich irrst in den Frauenherzen — ich böser Affe, wie du mich genannt hast, will es sein, der die schöne Gräfin zwingt — bis sie dem häßlichen Affen zu Füßen liegt und ihn um seine Liebe anfleht!«
Wir wollen nicht die Ereignisse in Tokio verfolgen, sondern nur erwähnen, daß die Aufregung groß war, als es bekannt wurde, wie ein fremder Abenteurer es versucht hatte, die Rolle des auf einer Segelfahrt verunglückten Barons Kata Nogi, des Lieblings des Volkes, zu spielen.
Leider war der falsche Baron, dem sein Betrug bald geglückt wäre, seiner Strafe durch Flucht aus dem Untersuchungsgefängnisse entgangen.
Es mußte übrigens ein verwegener Mann sein, dieser Abenteurer, er hatte seine Flucht unter den schwierigsten Umständen ausgeführt, und dabei trotz aller Sicherheitsmaßregeln mit der wunderbarsten Leichtigkeit.
Natürlich, es sollte ja auch kein andrer gewesen sein als jener Nobody, der amerikanische Detektiv.
So begann man sich jetzt sogar in Japan für Nobody zu interessieren — diesem durchaus nicht zum Schaden, nur mußte er sich später von diesem falschen Verdachte, der durch eine seltsame Verkettung von Zufällen entstanden war, in Wirklichkeit aber den Tatsachen entsprach, wieder zu reinigen wissen.
Noch größer war die Aufregung in Tokio, als sich mit Blitzesschnelle die Nachricht verbreitete, daß die Baronin Sayadamona Nogi nebst sämtlichen Kindern das Opfer einer Gondelpartie geworden sei.
Sie hatte mit ihren 24 Kindern, von zwei Knechten gerudert, eine ungewöhnlich weite Bootsfahrt angetreten. Eine entfernte Insel sollte das Ziel sein! Keiner der Bootsinsassen kehrte wieder zurück.
Am andern Tage fand man auf offner See eine japanische Gondel treiben, welche als die der Baronin erkannt wurde. Von den Insassen fehlte jede Spur.
Man durfte nicht ohne Grund annehmen, daß die Baronin ein freiwilliges Ende gesucht und gefunden hatte, sie mochte ihren Mann nicht überleben, und mit sich in den Tod hatte sie ihre vaterlosen Kinder genommen — und wenn das auch einer Japanerin unähnlich sah, besonders in bezug auf die Kinder, so hatte man doch in letzter Zeit an der bedauernswerten Frau Zeichen von Schwermut bemerkt, und ein krankhafter Geist bricht alle Schranken, die ihm Erziehung auferlegt hat.
Aber es waren doch auch zwei Ruderer dabeigewesen! Diese konnte die zarte Frau doch schwerlich mit in den beabsichtigten Tod genommen haben.
Nein, hier lag ein Unglücksfall vor, der noch der Aufklärung bedurfte — aber nie aufgeklärt wurde.
Auf den Verdacht, daß ein Frauen- oder Kinderraub vorliegen könnte, kam man gar nicht. Lord Hannibal Roger hatte seine Sache als japanischer Seeräuber also sehr gut gemacht.
Rasselnd, fauchend, stöhnend fuhr der Eilzug aus dem Osten in die Bahnhofshalle ein, und sofort entwickelte sich jenes aufgeregte und aufregende Durcheinander, das stets mit der Ankunft eines Fernzuges verbunden ist. Hier in St. Petersburg aber machte es sich doppelt bemerkbar.
Schrille Pfeifensignale übertönten die Rufe der Bahnbeamten, das Krachen der aufgerissenen Coupétüren und das Geschrei, mit denen Packträger und Lohnkutscher den Reisenden ihre Dienste anboten. Dazu kam, daß den Wagen des Zuges eine wahre Musterkollektion von Volkstypen des unermeßlichen Zarenreiches entstieg, daß man neben dem schmutzigen, schlitzäugigen Baschkiren, der einmal, vielleicht zum ersten Male, die heilige Newastadt betrat, die hochelegante, französische Kokotte gewahrte, neben dem ordengeschmückten General den einfachen Dorfschulzen mit dem im Nacken glattverschnittenen Haar.
Trotzdem also Neugierige genug andres zu schauen gefunden hätten, war doch alsbald zu bemerken, daß die allgemeine Aufmerksamkeit sich auf zwei Menschen richtete, die ebenfalls dem Zuge entstiegen waren.
Es waren zwei Männer, und zwar erkannte jeder, der einmal ein illustriertes Witzblatt durchgeblättert hatte, in dem ersten den gebornen Engländer, nicht nur an der charakteristischen Reisekleidung, welche diese Nation zu tragen liebt, sondern auch an dem steifen, gemessenen Benehmen und an der unerschütterlichen Gleichgültigkeit, mit der er die gaffende Menge durchquerte. Das war der englische Lord, wie er im Buche steht.
Das leise Lächeln und das laute Gelächter aber, das sein Anblick hervorrief, erstarb, als man des Dieners ansichtig wurde, der mit der Reisetasche seines Herrn beladen, hinter diesem einherschritt.
War das überhaupt ein Mensch oder war es ein halb gezähmter Affe?
Wie ein solcher sah er wahrhaftig aus mit dem papuamäßig vom Kopfe abstehenden, buschigen Haar, dem krausenähnlichen Bart, der die wulstig aufgeworfenen Lippen des fürchterlich breiten Mundes freiließ, und vor allem mit den bösartig funkelnden Augen, die tückisch den Neugierigen ins Gesicht starrten.
War das ein Ungetüm! Gar mancher bekreuzigte sich heimlich, aber merkwürdig, trotz alles Grauens, das ihnen der Anblick dieses Tiermenschen einflößte, konnte keiner die Augen von ihm lassen. Gar manche schöne und vornehme Dame, schaute wie gebannt auf die abscheuliche Mißgeburt, von der ein geheimnisvoller Zauber auszugehn schien.
»Lord Hannibal Roger! Lord Hannibal Roger!« schrie da eine laute Stimme.
Ein uniformierter Telegraphenbeamter tauchte in dem Menschengewühl auf. In der Rechten hielt er ein zusammengefaltetes Papier hoch — eine Depesche.
Einen einzigen Blick warf der steife Engländer auf seinen häßlichen Diener. Im nächsten Moment tauchte neben dem erschrockenen Beamten ein zähnefletschendes Ungetüm auf und entriß ihm mit der plumpen Tatze das Telegramm.
Eine Sekunde später stand der Affenmensch schon wieder vor seinem Gebieter und überreichte ihm demütig das Papier.
Lord Hannibal Roger steckte es gleichmütig in die Tasche seines gelben Staubmantels — auch in St. Petersburg war es Sommer geworden — und stelzte gravitätisch davon.
Als der Telegraphenbeamte sich von seinem Schrecken erholt hatte, war das seltsame Paar bereits in dem Gewühl verschwunden. Nur hier und da tauchte noch einmal der graue Zylinder des Engländers auf. Unter dem Gelächter der Umstehenden kehrte der verblüffte Beamte in sein Bureau zurück.
»Zum Hotel Pierre le Grand!« rief vor dem Bahnhofsgebäude der häßliche Diener dem nächsten Lohnkutscher zu. Der Lord stieg ein. Der Affenmensch legte das Gepäck neben ihn, schwang sich auf den Rücksitz, und fort ging's durch die Straßen der Newastadt, bis der Wagen vor dem Gasthause oder vielmehr vor dem protzigen Palast hielt, der sich als Hotel bezeichnen ließ.
Neues Erstaunen, neues Lächeln beim Hotelpersonal, vom Direktor herunter bis zum Portier, dann neuer Schrecken beim Anblick des Dieners! Aber hier war der Name Lord Rogers bekannt. Eine ganze Reihe teurer Zimmer war auf seinen Namen von Tokio aus telegraphisch bereits bestellt, und so geleitete der Chef selbst ehrerbietig seinen schwerreichen Gast in die für ihn bestimmten Appartements. »Befehlen Euer Herrlichkeit —« dienerte dort der Direktor.
»Allein sein!« kam es kurz aus dem Munde des Lords. Der Affenmensch fletschte die Zähne, und unter vielen Verbeugungen zog sich der Hotelgewaltige zurück.
Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, griff Lord Hannibal in die Tasche, brachte das Telegramm hervor, hielt es seinem Diener hin.
»Hier, Alfred!«
Die Mißgeburt mit dem schönen Namen ließ rücksichtslos das Gepäck zu Boden fallen, nahm die Depesche, erbrach sie und überflog sie.
»That's a business! Das ist ein Geschäft!« sagte er. Gleichzeitig hatte er schon ein Kursbuch gezogen, blätterte darin, rechnete schweigend einige Sekunden.
»Das klappt! Entschuldige, Hannibal, daß ich dich für kurze Zeit allein lassen muß. Ich habe einen kleinen Weg zu besorgen.«
»Nanu!« rief Lord Roger erstaunt. »Wohin willst du denn?«
»Vorläufig nach Hamburg!« entgegnete Nobody.
»Vorläufig? Was dann?« fragte sein Freund.
Nobody zuckte die Schultern.
»Was weiß ich? Vielleicht nach Amerika, nach Kalifornien!«
»Nach Kali — for — nien?«
»Nach Kalifornien mang die Goldgräber!« erwiderte Nobody.
»Und die Urlewsky?«
»Reißt uns nicht aus!«
»Ja, mein Gott, was — was willst du denn in Hamburg? Was hast du denn so Dringendes dort zu tun?«
»O, nichts. Ich will nur einen guten alten Freund dort besuchen!«
Lord Roger machte ein unsagbar dummes Gesicht.
»Und da läßt du alles im Stich?« fragte er.
»Warum denn nicht, wenn's bezahlt wird? Doch Scherz beiseite!« fügte er hinzu. »Mr. World braucht mich. Er hat unbändige Sehnsucht nach mir. Bitte, überzeuge dich!«
Nobody reichte dem Lord die erbrochene Depesche.
Gespannt nahm derselbe sie entgegen, aber kaum hatte er einen Blick darauf geworfen, da rief er:
»Damn't! Das soll der Teufel lesen!«
»Nee, du!« erwiderte der Detektiv trocken.
»Aber ich kann's nicht. Das ist ja chiffriert!«
»Na, meinst du vielleicht, daß Mr. World ein Millionengeschäft in klaren Worten abschließt, he?«
»Ein Millionengeschäft?« wiederholte Roger, und dann setzte er hinzu: »Ich bitte dich, Alfred, kläre mich auf. Ich verstehe von alledem noch gar nichts!«
Nobody, der auch jetzt noch die Rolle als Affenmensch weiterspielte, verzog den breiten Mund zu einem häßlichen Grinsen, das ein Lächeln vorstellen sollte, nahm das Telegramm wieder an sich.
Es enthielt folgende Hieroglyphen:
»xjdspr tcmyv mkfcyq dpiuto ppvg itxwgzsnzt xhsivu cocfflbimdmd ihszk«
»Da steht ja ganz deutlich,« sagte er, »folgendes: ›Nobody sofort Hamburg Indian Bill Goldfelder suchen. Staatsauftrag World.‹ »Wenn du das nicht lesen kannst, dann laß dir dein Schulgeld wiedergeben, Hannibal!«*
* Das System der überaus schwierigen Chiffreschrift, deren sich Detektiv Nobody in Depeschen bediente, und das wohl keiner unserer Leser feststellen kann, trotzdem die Lösung gegeben ist, werden wir später an geeigneter Stelle genau und jedem verständlich mitteilen.
Lord Roger starrte seinen Freund jedoch, ohne ein Wort zu sprechen, verwundert an. Endlich murmelte er, mehr vor sich hin als zu Nobody gewendet: »Goldfelder suchen? Indian Bill? Staatsauftrag? Mir wird ganz dumm dabei im Kopfe. Soll ich da etwa wieder mit?«
»Daß du dich's nicht unterstehst!« fuhr der Detektiv auf. »Du bleibst hier, bis ich zurück bin, und daß du nichts ausplaudern darfst, das brauche ich dir wohl nicht erst zu sagen.«
»Du sprachst von einem Geschäft,« sagte Lord Roger.
»Freilich! Oder meinst du etwa, ich suchte umsonst verschwundene Goldfelder? Nee, ein Milliönchen muß da schon herausspringen!«
»Von verschwundenen Goldfeldern steht doch aber nichts in der Depesche!«
»Ist auch gar nicht nötig!« grinste Nobody.
»Woher weißt du es denn?«
»Daher!« Noboby tippte mit einem Zeigefinger an seine Stirn.
»Aber Goldfelder, die einmal entdeckt sind, können doch gar nicht wieder verschwinden!« beharrte Se. Herrlichkeit.
»Woher weißt denn du das?« versetzte jetzt der Detektiv.
»Das ist doch ganz ausgeschlossen, daß jemand, der eine Goldmine entdeckt hat, dieselbe nicht wiederfindet!«
»Sooo? Wenn du so sprichst, kannst du allerdings von derartigen Vorkommnissen nichts wissen, und da mir noch genügend Zeit bleibt, so will ich dir einige besonders markante derartige Fälle erzählen, die verbürgt und amtlich bestätigt sind.«
Nobody, der inzwischen gleich Lord Roger Platz genommen hatte, lehnte sich bequem in seinem Sessel zurück und sagte dann:
»Vor einigen Jahren erschien im Fort Hickson, in den Shawangunk-Bergen gelegen, ein Bursche, der alle Taschen voll roher Goldklumpen hatte. Er erzählte von einem Goldfelde, das er entdeckt habe, das aber so verborgen läge, daß niemand es finden könne, es sei denn durch einen wunderbaren Zufall. Man schenkte ihm natürlich keinen Glauben. Wie sollte solch ein Goldfeld den umherspionierenden Schatzgräbern verborgen bleiben können! Der Bursche machte sich noch besonders dadurch lächerlich, daß er mehrere Millionen Dollar von dem verlangte, dem er den Ort verriet. Ein Sergeant des Forts ließ sich verführen, mit dem Manne zu gehn. Ihm wurden die Augen verbunden, und fort gings. Drei Tage später kamen die beiden zurück und brachten einen Goldklumpen von hundertundsechs Pfund Gewicht mit, im Werte von zwanzigtausend Dollar. Der Sergeant konnte nicht genug von dem unermeßlichen Reichtume erzählen, den seine Augen zu schauen bekommen hatten. Ein reicher englischer Kaufmann erwarb den Goldklumpen und schickte ihn als Merkwürdigkeit nach London in das britische Museum, wo er noch jetzt zu sehen ist.*
* Diese und die folgenden Angaben beruhen auf Tatsachen.
»Nun wurde eine Expedition ausgerüstet; dem Entdecker, Mac Dudley hieß er, sollte der fünfte Teil der Ausbeute zufallen. Doch noch im Hof des Forts wurde Dudley durch den Huf eines ausschlagenden Pferdes vor die Brust getroffen, so daß er augenblicklich tot war. Der Sergeant, ein Spanier, namens Cesare Losana, erbot sich als Führer. Er hoffte, das Goldfeld wiederfinden zu können. Aber er und seine Begleiter haben monatelang umsonst gesucht, das Goldfeld war und blieb verschwunden. Losana wurde darüber wahnsinnig und starb später im Irrenhaus zu Carson im Staate Nevada.
»Ferner: An einem Julimorgen erschien in Los Angeles ein Mister Smith mit einer Anzahl Maulesel, mit Quarz beladen, das pro Tonne fünfhundert bis achthundert Dollar Gold enthielt. Der Glückliche, von allen Seiten bestürmt, die Lage der neuentdeckten Mine anzugeben, erklärte sich schließlich dazu bereit, vermochte sie jedoch trotz der genauesten Merkmale nicht wieder aufzufinden. Ein Betrug seinerseits scheint ausgeschlossen zu sein, denn aus Verzweiflung über die Fruchtlosigkeit seiner Bemühungen fiel Smith in tiefste Melancholie und hat sich selbst erhängt.
»Ein dritter Fall: Im Cheyenne River sollte eines Tages Gold entdeckt worden sein. Niemand glaubte daran. Ein Dutzend Burschen aber, die sehr geheimnisvoll taten, bildeten eine Expedition und reisten ab. Lange Zeit hörte man nichts wieder von ihnen, bis man endlich ihre skalpierten Leichname fand; neben ihnen lagen schwere Massen von Quarz, die zur Hälfte Gold enthielten. Die Unglücklichen waren auf der Rückreise überfallen und niedergemacht worden. Von wo sie das Gold geholt haben, ist bis auf den heutigen Tag ein Rätsel geblieben. In jener Gegend hat man nie welches gefunden.
»Der letzte Fall ist der seltsamste, doch einen direkten Beweis von seiner Wahrheit kann ich leider nicht erbringen. Zwei Jahre nach dem letztgeschilderten Vorfall gelangten drei Goldgräber, Galt, Ulrich und Stamfort nach mehrwöchentlichem Marsche an den Yukon. Eines Tages sahen sie einen See, in dem sich eine kleine Insel erhob, deren Quarzgestein von Gold glitzerte. Sie schwammen nach der Insel, die sie mit reinen Goldnuggets wie übersät fanden. Innerhalb sechs Wochen wollen sie 10.000 Pfund reines Gold gesammelt haben. Dann wurden sie von Indianern überfallen, Stamfort getötet, Ulrich und Galt zur Flucht gezwungen.
»Was aus Ulrich wurde, ist unbekannt. Galt erschien in völlig erschöpftem Zustande, aber, wie die Zeugen ausdrücklich versichern, in geistesnormaler Beschaffenheit in Bonners Ferry, erzählte sein Abenteuer und wollte nach dem Winter eine Expedition nach diesem Eldorado führen. Er hat es nicht wiedergefunden und lebt noch jetzt im Irrenhause von San Franzisko, von einer Insel schwatzend und mit Kieselsteinen spielend, die er für Gold hält. Alle diese verbürgten Fälle ergeben, daß es sehr wohl möglich ist, eine Goldmine zu finden und wieder zu verlieren.«
Nobody schwieg und strich dabei wie spielend über seine Hände. Die groben, plumpen Tatzen des Affenmenschen verwandelten sich — die aristokratisch feine Hand des abgedankten Prinzen kam wieder zum Vorschein.
Lord Roger achtete nicht darauf. Ihn beschäftigten die abenteuerlich klingenden Geschichten, die er eben gehört hatte.
»Wenn mir das jemand anders erzählt hätte als du,« sagte er endlich, »würde ich ihn für einen Aufschneider mit ausgezeichneter Phantasie halten — aber so! Und hier handelt es sich um ein derartiges Goldfeld, das entdeckt wurde und nicht wiedergefunden werden konnte?«
»Keinesfalls!« antwortete der Detektiv gelassen.
»Um was denn?«
»Das gehört nicht hierher. Ich kann es mir zwar denken, aber dir nichts sagen.«
»Wer ist denn dieser Indian Bill?« fragte der Lord.
»Den kennst du nicht?«
»Nein, habe noch nie von ihm gehört.«
»Aber von Buffalo Bill?«
»Vom Oberst Cody — ja.«
»Nun, Indian Bill ist gleich dem Colonel ein Westmann. Vermutlich gibt er in Hamburg mit einer Truppe Vorstellungen.«
»Du bist schon mit ihm zusammengetroffen?«
»Ja,« entgegnete Nobody kurz.
Lord Roger merkte, daß sein Freund ihm über Indian Bill keine weitere Auskunft geben würde, daher lenkte er das Gespräch auf ein andres Gebiet und fragte: »Was bedeutet denn das Wort ›Staatsauftrag
»Daß Uncle Sam Geld braucht und ich es ihm verschaffen soll.«
Nobody erhob sich. Ohne nach seiner Uhr zu sehen, wußte er, daß es Zeit war, sich nach dem Bahnhof zu begeben.
Wenige Striche mit den Fingern genügten, um seine schlanken Hände wieder in die Affentatzen zu verwandeln. Er nahm den Hut vom Tische, setzte ihn auf die Papuaperücke und wendete sich der Tür zu.
»Euer Herrlichkeit möge sich die Zeit nicht lang werden lassen,« sagte er zu dem erstaunten Lord.
Dieser sprang auf.
»Alfred!« rief er. »Du willst wirklich fort?«
»Wie du siehst!«
»Nach Hamburg?«
»Nach Hamburg,« wiederholte Nobody, und wieder verzerrte sich sein breiter Mund zu einem Grinsen.
»Nach Kalifornien?«
»Nach Kalifornien!«
»Und ich? Was soll ich sagen, wenn man mich über deinen Verbleib fragt?« stöhnte der Lord.
»Du hast dein einziges Taschentuch zu Hause gelassen, und ich muß es dir holen,« lachte Nobody, und hinaus war er.
In einer Troika fuhr er zum Bahnhof, löste die Karte, stieg in den Zug und dampfte nach Westen, um ›ein Geschäft zu machen‹, um ein ›Milliönchen‹ zu verdienen und nebenbei einem raffinierten Verbrecher auf die Spur zu kommen.
Die alte Hansastadt Hamburg hatte seit einigen Tagen ihre große ›Anziehungskraft‹ — great attraction‹, wie der Amerikaner sagt.
Indian Bill, der verwegene Westmann, über den tausend abenteuerliche Geschichten im Volke umliefen, war mit einer zahlreichen Truppe von Indianern, Cowboys, Jägern, mit Pferden und Büffeln eingetroffen und hatte auf einem freien Platze in der Nähe des altbekannten Vergnügungsortes St. Pauli seine Zelte aufgeschlagen. Vom frühen Morgen bis zum späten Abend war der eingezäunte Raum von Tausenden Neugieriger umlagert. Heute sollte die erste Vorstellung stattfinden, und in langen, schwarzen Massen strömten die Leute zu Fuß, zu Wagen und zu Pferde aus der Stadt, um derselben beizuwohnen.
Die Reiter waren besonders Sportsmen und Offiziere in Zivil und in Uniform. Sie interessierte das verwegene Reitervolk, das im Sattel aufgewachsen war, ja ganz besonders.
Der Platz war wie eine Rennbahn eingerichtet: ringsum der eingezäunte Raum für Fußgänger, in der Mitte der Sattelplatz für Reiter und Wagen, an einer Seite die Tribüne. Das bunteste Bild bot der Sattelplatz. Hier tummelten sich in besondern Hürden die halbwilden Mustangs, die freien Rosse der Prärie, dazwischen die halbnackten, phantastisch bemalten und federgeschmückten Rothäute, seltsam abstechend gegen die Herren in eleganten Sommeranzügen und gegen die Offiziere in Uniform.
In der Mitte wurde ein prachtvoller Rotschimmel, ein Hengst andalusischer Abstammung, mit dem mexikanischen Sattel belegt, daneben stand Indian Bill, umringt von Offizieren und Sportsleuten.
Der Colonel war eine auffallende Erscheinung, ein Mann, in dem jedes Weib ein Ideal von Männerschönheit erblickt hätte.
Wohl über sechs Fuß hoch und breitschultrig, besaß er doch einen schlanken Wuchs, der die Stärke der Eiche mit der Elastizität des Rohres vereinigte. Auf den breiten Schultern saß ein Kopf, wie er schöner nicht gedacht werden konnte. Der breite Rand des Hutes beschattete ein tiefbraunes Gesicht, lange kohlschwarze Locken quollen darunter hervor, bis auf den Rücken fallend, ebenso schwarz war auch der wohlgepflegte Bart, und die großen, blauen Augen blickten kühn und durchdringend. Aber merkwürdig, diesem Antlitz war ein tiefer, melancholischer Ernst eigen.
Indian Bill trug einen Anzug von schwarzem Samt, dessen Beinkleider unten fast unförmlich weit waren; statt des Kragens schlang sich ein Seidentuch lose um den muskulösen, ebenfalls tiefgebräunten Hals; die Zipfel ließen noch etwas das buntgestreifte Hemd sehen.
»Ich halte die Wette,« lächelte der Colonel, liebkosend den Hals des Rosses klopfend. »Wer von den Herren dieses Tier einmal um den Sattelplatz zu reiten vermag, dem gehört es.«
»Nicht möglich, Sie scherzen!« erklang es von allen Seiten.
»Sie können es nach der Vorstellung probieren. Ich will Ihnen erst zeigen, was Darling leisten kann.«
»Sie sprachen von einer Wette,« meinte ein Dragoneroffizier, ein Sportsman, »was sollen wir dagegen setzen?«
»Nichts als Ihre Ehre. Zwingen Sie Darling einmal um den Platz, trete ich ihn Ihnen ab. Im andern Falle bekennen Sie, ihn nicht reiten zu können.«
»Es gilt! Ich werde ihn bezwingen. Er soll einmal die Schenkel eines deutschen Offiziers zu spüren bekommen. Schonen werde ich ihn nicht, das versichre ich Ihnen.«
»Er wird Sie abwerfen.«
»Oho!«
Auf den Gesichtern der Umstehenden spiegelte sich ungläubiges Lächeln wider. Der Offizier war als der beste und tollkühnste Reiter bekannt, der nicht aus dem Sattel zu bringen war, wenn sich das Tier nicht wälzte, und der erst kürzlich die Rutschbahn in einem Steinbruch mit seinem Tier benutzt hatte, um einen Weg zu sparen.
Die Herren wetteten untereinander, die meisten hielten gegen Indian Bill.
Dieser achtete nicht mehr darauf. Er schwang sich, ohne den Steigbügel zu berühren, mit vollendeter Grazie in den Sattel seines edlen Rosses.
Die Vorstellung begann, arrangiert und beaufsichtigt von Indian Bill, der vorläufig noch nicht daran teilnahm.
Aus einer entfernt liegenden Hütte stürmten durch aufsteigende Raketen, geschwungene Tücher und Lärm erschreckt, eine Herde Büffel, hinter ihnen her gegen hundert berittene Indianer, mit Flinten, Lanzen, Pfeil und Bogen bewaffnet, in sausender Karriere, die Mustangs zu immer schnellerer Gangart antreibend. Die Indianer, mit befransten Lederhosen bekleidet, saßen auf den nackten Rücken der Rosse, nicht einmal der Steigbügel bedienten sie sich, und als Zügel benutzten sie einfache Halfter.
Ihre Haltung war durchweg eine schlechte, den Spott der des Reitens kundigen Zuschauer erweckend. Sie hingen förmlich auf den Rücken der Pferde und klammerten sich an deren Mähne fest.
Schnell hatten die Rothäute die Herde eingeholt, umzingelt, gellendes Geheul erfüllte die Luft, und nun begann ein Schauspiel, das jeden Spott verstummen ließ und auch den Mutigsten erbeben machte.
Unbekümmert um ihre eigne Person warfen sich die Reiter zwischen die höckrigen Ungetüme, Lanzen wurden geschwungen und stachen, Pfeile zischten, Gewehre krachten.
Ein Büffel nach dem andern stürzte, Pferde brachen zusammen und wälzten sich unter fürchterlichen Zuckungen am Boden. Im Nu aber waren die Reiter wieder auf den Beinen, warfen sich auf ein lebendiges Pferd, dessen Besitzer schon im Grase lag, oder sprangen vom stürzenden Roß auch gleich auf die Büffel, wie auf einer lebenden Brücke darüber hinwegeilend, dabei aber immer Pfeil auf Pfeil absendend oder die Lanze gebrauchend.
Nachdem die wilde Jagd einmal die Runde gemacht, war alles mit toten Büffeln, Pferden und Indianern bedeckt; einige der letztern schleppten sich fort, die Seite haltend, wo das mächtige Hörn eines Stieres sie getroffen hatte; reiterlose Pferde irrten umher, andre wälzten sich noch und gaben jene entsetzlichen Schmerzenslaute von sich, deren das Pferd fähig ist.
Nur wenige Zuschauer gab es, die in alledem das Spiel erkannten. Dies mußte ja blutige Wahrheit sein; Büffel, Pferde und Indianer lagen ja tot da oder waren dem Sterben nahe; eine blutende Rothaut schleppte sich mit vor Schmerz entstellten Zügen an der Barriere vorüber.
»Sind denn die wirklich tot?« flüsterte eine Dame mit stockendem Atem neben dem alles beobachtenden Indian Bill.
»Möglichst viel Büffel zu töten, ist ja eben der Zweck der Jagd, mein Fräulein,« lächelte dieser. »Auf den Verlust von Pferden kommt es nicht an; die Indianer fangen sich neue, wie Sie dann sehen werden, und einige Menschen müssen bei solchen Jagden immer das Leben lassen, das ist der Kampf ums Dasein.«
Da — auf ein unmerklich gegebenes Zeichen sprangen plötzlich alle die Totgeglaubten, Tiere und Menschen, gleichzeitig auf und trotteten wohlgemut nach ihren Stationen, die Tiere in die Hürden an die Krippen, die Indianer nach dem Sattelplatz, um mit tiefem Ernst die Friedenspfeife zu rauchen.
Nicht alles war freilich unblutig verlaufen. Einige der Westmänner zeigten blutende Risse, andre hinkten, aber das schien sie nicht im geringsten zu genieren.
Mit wunderbarer Gewandtheit hatten sie sich den tödlichen Huftritten der über sie hinwegstürmenden Pferde und Büffel zu entziehen gewußt.
Stürmischer Beifall und nicht enden wollende Bravorufe belohnten die kühnen Männer.
Der zweite Teil der Vorstellung zeigte das Einfangen, Bändigen und Zureiten wilder Pferde. Wieder raste die tolle Jagd um den Platz, diesmal hinter Mustangs her; auch die Cow-boys beteiligten sich jetzt daran; die Lassos wirbelten durch die Luft und legten sich mit unfehlbarer Sicherheit um den Hals des ausgewählten Pferdes, das Sattelpferd stand, ein Ruck, und der Gefangene wurde zu Boden geschleudert.
Im nächsten Augenblick waren des Mustangs Hufgelenke zusammengekoppelt; dabei hatte man ihm doch Zeit gelassen, daß er sich aufrichten konnte; er wurde gesattelt, die Trense ihm ins Maul gezwängt, und wenn die Koppeln durchschnitten wurden, saß der Reiter auf dem Rücken des Tieres.
Ein furchtbarer Kampf zwischen Roß und Mann begann. Doch alles Bocken und Bäumen des erstern war vergebens, der Reiter saß wie angegossen, Sporen und Peitsche gebrauchend. Das Pferd suchte zu beißen, allein stets traf die eiserne Faust des Bändigers es auf die Nüstern. Mit voller Wucht warf es sich rücklings zu Boden, im Nu stand auch der Reiter auf den Füßen, und sprang es auf, so saß er ihm wieder auf dem Rücken.
Zehnmal wälzte es sich, und zehnmal tauchte der tollkühne Pferdebändiger unbeschädigt aus der Staubwolke wieder auf.
Dann wollte das Roß entfliehen, in voller Flucht ging es dahin, immer mehr noch angetrieben. Jetzt mußte es den Kopf an dem Kugelfang zerschmettern; aber da riß der Cow-boy den breitrandigen Filzhut vom Kopf und verdeckte dem Tiere die Augen — ein gewaltiger Seitensprung, und das Hindernis war vermieden.
Nicht immer ging es so glatt vonstatten. Manchmal stürzte nicht das gefangene Tier, sondern durch den Ruck wurde der Reiter aus dem Sattel geschleudert; in mächtigem Bogen flog er durch die Luft, und doch kam er stets auf die Füße zu stehn.
Kein Akrobat konnte genauer die Umdrehung des Körpers berechnen, als ein solcher Cow-boy, und das mußte er auch, denn kam er zu Falle, so wurde er zu Tode geschleift.
Der Cow-boy aber stemmte die mit drei Zoll langen Sporen bewaffneten Hacken auf den Boden, legte sich weit hintenüber und ließ sich so weiterschleppen, daß er tiefe Furchen wie mit einem Pfluge in den Rasen zog, bis das Pferd erschöpft dastand.
Dann griff der Mann sich Hand über Hand nach ihm hin, saß ihm mit einem Sprung auf dem Rücken, nötigte ihm den spanischen Zaum, den er über der Schulter trug, ins Maul und ritt es auch ohne Sattel zu.
Der spanische Zaum ist ein Marterwerkzeug. Der Reiter ist imstande, damit dem Tiere die Kiefern zu zermalmen.
Anders versuchten es die Indianer, vielleicht noch unbarmherziger.
»Der Mann des Ostens,« heißt es in Amerika, »reitet sein Pferd, bis es zusammenbrechen will; im Westen wird es gemartert, bis es tatsächlich zusammenbricht; der Indianer aber peitscht das gestürzte Pferd wieder auf und läßt nicht eher nach, als bis es unter ihm verendet.«
Der Spott war den zuschauenden Offizieren vergangen. Derartiges konnten sie freilich nicht leisten.
Diejenigen, die gegen Indian Bill gewettet hatten, bangten für den Verlust ihrer Einsätze.
Freilich ritt der Colonel keinen eben erst gebändigten Mustang, sondern ein wohldressiertes, andalusisches Pferd. —
Dann wurden Kämpfe zwischen Indianern und Cow-boys vorgeführt. Überfälle von Auswandrern und Wagenzügen durch Indianer und ähnliches, wie es auch manchem Leser zu sehen gegönnt gewesen ist.
Hier zeigte sich wieder die außerordentliche Dressur der Pferde.
Wie sie sich kurz vorher noch als vollkommen ungebändigt erwiesen hatten, waren sie jetzt wieder die Gelehrigkeit selbst. Der auf sie gerichtete Schuß streckte sie nieder, sie wälzten sich, wieherten den Todesschrei und blieben still liegen, bis das Zeichen zum Schluß alles wieder ins Leben rief.
Noch verharrte Indian Bill auf dem Andalusier wie eine aus Erz gegossene Statue. Ein kaum merklicher Wink, ein Pfiff genügte, um alles zu ordnen und zu leiten, einer Ausschreitung Schranken zu setzen.
Dem Platze, wo Cow-boys und Indianer friedlich rauchend auf Sätteln beieinander saßen oder auf dem Boden umherlagen, schritt ein Mann zu.
Er trug einen leichten, hellen Sommeranzug und einen Strohhut. In der Rechten hielt er ein dünnes Spazierstöckchen. So glich der Fremde also ganz den geschniegelten Modeherrchen, die drüben noch den Vorführungen der Wild-Westtruppe zusahen.
Nur ins Gesicht durfte man dem Gigerl nicht blicken, denn das paßte nicht zu dem Anzug. Es war tiefgebräunt von Sonne und Luft; die Züge waren scharf, doch edel geschnitten, und die Augen blickten kühn und wagemutig. Einen Bart trug der Mann nicht. Der energisch gezeichnete Mund war frei, und seltsam stach der fast rotbraun gebrannte Nacken von dem blendend weißen Leinenkragen ab.
Musternd ließ der Mann seine Blicke über die Leute des Indian Bill schweifen, dann schien er den Gesuchten gefunden zu haben. Rasch näherte er sich demselben. Es war eine echte, verwetterte Trappergestalt, wie wir sie aus Coopers Indianererzählungen kennen. Er rauchte aus einer abgebrochnen Tonpfeife, einem ›Nasenwärmer‹, süßlich riechenden, amerikanischen Plattentabak.
Der hellgekleidete Fremde trat neben den Alten — ein Griff — er hatte die Pfeife aus dessen Munde genommen und in seinen geschoben, so stand er da — die Hände in den Hosentaschen, den Stock unter dem linken Arm.
»Hölle und Teufel!« fluchte der Trapper aufspringend.
Im nächsten Moment funkelte dem frechen Gigerl der Lauf eines ›Sixshooters‹, eines sechsschüssigen Revolvers entgegen, neben dem Bowiemesser die beliebteste Waffe der Westmänner.
»'Ne feine Sorte, Charly!« lachte der Fremde ihn an. »So, da hast du deinen Nasenwärmer wieder!«
Kaltblütig gab er dem Trapper die Pfeife zurück.
Dieser hatte die schußbereit erhobene Waffe sinken lassen.
Wie entgeistert starrte er den Sprecher an. Endlich kam es über seine Lippen:
»Bless my eyes! Wenn das nicht Cutting Knife ist, soll mich der Satan mit Haut und Haaren holen!«
»Das tut er schon, wenn's Zeit ist, alter Junge!« lachte der Fremde, den der Westmann ›Cutting Knife‹ genannt hatte, das ›schneidende Messer‹. »Brauchst übrigens nicht so zu schreien, daß alle es hören.«
»Du bist's also wirklich?« rief Charly freudestrahlend. »Wir glaubten alle, du seist tot!«
»So schnell geht's mit dem Sterben nicht!« lachte Cutting Knife.
»Bst! Nicht so laut!« warnte da der Trapper mit gedämpfter Stimme. »Wenn Indian Bill hört, daß du hier bist, würde er wohl ein ernstes Wörtchen mit dir reden!«
»Ich will aber eben zu ihm!«
»Wie? Hast du denn ganz vergessen, daß —«
»Daß er mir einst ans Leben wollte?« vollendete Cutting Knife gleichmütig.
Charly nickte stumm.
»Na, sorg' dich nur meinetwegen nicht! Ich werde auch mit Bill noch fertig. Kannst ja zusehen!«
Mit kurzem Gruße entfernte sich der seltsame Gigerl und begab sich direkt nach der Arena, wo mittlerweile ein anderes Schauspiel sich entwickelt hatte.
Mit mächtigem Satze war ein kohlschwarzer Hengst über die Barriere der Arena gesprengt und umkreiste in rasendem Laufe den weiten Platz.
Das edle Tier trug einen Damensattel, und in diesem saß Mercedes de Barrameda, die tollkühne Gefährtin Indian Bills, eine wunderbar schöne Mexikanerin.
Das mit reichen, bunten Stickereien verzierte, nur bis an das Knie reichende Kleid aus gelbem Hirschleder schloß sich eng an die graziöse, herrlich gewachsene Gestalt; der im Mokassin steckende kleine Fuß war mit einem gefährlichen Sporn bewaffnet.
Mit der Büchse auf dem Rücken, den Revolver an der Seite, den geschwungenen Lasso in der Hand, mit den wie im Sturm flatternden, schwarzen Locken glich auch sie einem jener verwegenen Cow-boys, nur daß alles von ihr mit einer unbeschreiblichen Grazie ausgeführt wurde.
Mit ihrer kleinen und doch gestählten Faust wußte sie das unbändige Roß zu regieren. Donnernder Applaus begrüßte die verwegene Reiterin.
Doch das kühne Reiterstücklein war nur ein Vorspiel gewesen. Indian Bill setzte ihr nach; nun begannen Evolutionen, bei denen sich das Haar der Zuschauer vor Entsetzen sträubte.
Diesen beiden war nichts unmöglich. Es war ihnen gleichgültig, ob sie den Sattel verloren, sie standen auf dem nackten Rücken des Pferdes, wechselten mit katzenartiger Behendigkeit die Tiere, schossen nach den ihnen gegebenen Zielen, ohne je zu fehlen; sechs Nägel, nur leicht in ein Holz gesteckt, wurden durch ebensoviel Revolverschüsse auf dreißig Meter Entfernung vom jagenden Pferde herab bis an den Kopf ins Brett getrieben, und in der Handhabung des Lassos kamen ihnen weder Cow-boys noch Indianer gleich.
Sie bestimmten, um welchen Fuß des fliehenden Pferdes sich die Schleife schlingen würde, und die Berechnung versagte nie, stets war der betreffende Fuß gefangen, mitten im Lauf traf ihn der Lasso.
Wer von den beiden dem andern an Kraft und Gewandtheit im Reiten, Schießen und Lassowerfen über war, konnte man nicht beurteilen. Auch die Cow-boys und Indianer, welche doch nichts andres kennen als derartige Übungen, staunten immer wieder über die beiden.
Wie überall, so erscholl auch auf dem Sattelplatze donnernder Zuruf, als endlich Indian Bill und Mercedes aus den Sätteln glitten.
Man umringte sie und machte ihnen Komplimente. Bill wurde nicht weniger stürmisch von den Damen bewundert, als Mercedes von den Herren.
Kühl wies sie jedoch deren Lobeserhebungen zurück.
»Wenn Sie wie ich von klein auf mit Pferden und Waffen umgegangen wären, würden Sie es mir gleichtun,« sagte sie. »Was ist das überhaupt hier auf ebnem Rasen, wo weder Felsen noch Ströme zu überwinden sind!«
»Aber auch die Cow-boys üben sich von Jugend auf in derartigen Ausführungen,« wandte jemand ein, »und ihre Leistungen verschwinden doch gegen die Ihrigen.«
»Das kommt einfach daher, weil ich einen bessern Lehrmeister gehabt habe.«
Die Vorstellung hatte stundenlang gewährt. Es war später Nachmittag, aber noch fern von Sonnenuntergang. Die Zuschauer auf den Fußwegen verliefen sich, die Herrschaften auf dem Sattelplatz blieben, auch viele der Inhaber der Tribüne begaben sich zu ihnen. In mehreren Zelten war für Erfrischungen gesorgt.
»Colonel, ich erinnere Sie an Ihre Wette,« wandte sich der Dragoneroffizier an diesen.
»Haben Sie wirklich noch Lust, Darling zu reiten?«
»Oho, Sie werden beleidigend! Ich gebe zu, keinen Mustang bändigen zu können, wohl aber einen eingerittenen Gaul zum Gehorsam zu zwingen. Er ist doch gut eingeritten?«
»Vollkommen. Darling ist ein Luxuspferd, hat nie die Freiheit gesehen, ist ja auch beschlagen.«
Der Andalusier war zuletzt bei den wildesten Manövern nicht verwendet worden, hatte sich also schon wieder verschnauft und erholt.
»Wie wollen Sie ihn gesattelt haben?«
»Englischer Sattel, Trense und Kantare, falls er daran gewöhnt ist.«
»So ist er zugeritten worden, ich reite ihn stets so, nur bei den Vorstellungen benutze ich den mexikanischen Sattel, weil der englische zu nüchtern aussieht. Und dann darf ich Sie wohl bitten, so lange Darling noch mein ist, keine Sporen zu gebrauchen!«
»Weder Sporen noch Peitsche, ich bringe ihn doch in jede gewünschte Gangart.«
Auf des Amerikaners Befehl ward der Andalusier gesattelt. Als der Cow-boy aus dem Stall heraustrat, ließ er ihn los, und lustig wiehernd trabte das edle Roß auf Indian Bill zu. Dieser ging hin und her, und das Pferd folgte ihm wie ein Lamm.
»Ich erkläre also nochmals,« nahm er dann das Wort, »wenn jemand der Herren oder Damen dieses Pferd in irgend einer Gangart von der Stelle bringt — sagen wir von hier bis nach dem dort stehenden, vielleicht fünfzig Meter entfernten Pfahl — so gehört das Pferd ihm oder ihr.«
»Sie behaupten also. Sie allein könnten das Tier reiten?«
»Auf der ganzen Welt allein ich und Senora Mercedes, nicht, weil ich es ihr besonders zugeritten habe, sondern weil sie es eben imstande ist. Sie ist mir ebenbürtig darin.«
Er wandte den Kopf nach Mercedes, welche ein leises Zischen hatte hören lassen.
»Ah so, ich habe an etwas nicht gedacht,« fuhr er fort, »es gibt noch jemanden auf der Welt, dem ich es zutraue, daß er Darling zu reiten vermag. Wir sind also unsrer drei.«
»Wer ist das?«
»Er kommt nicht in Betracht, denn er ist nicht hier.«
Es war ein großer Kreis gebildet worden, welcher noch den bezeichneten Pfahl einschloß.
Indian Bill sprang in den Sattel und ritt das Pferd schulgerecht in den verschiedensten Gangarten mehrmals im Kreise.
»Es ist kein Geheimnis dabei,« sagte er, absteigend. »Darling ist aber so empfindlich, daß er nur den Reiter trägt, an dessen Hand er den Meister erkennt. Ich habe ihn sehr verwöhnt. Senora, wollen Sie ihn reiten?«
Wie eine Feder schnellte Mercedes auf den Herrensattel, nach Damenart darauf Platz nehmend, und lenkte das prächtige Roß durch Zungenschlag und Zügel in gleicher Weise wie Bill mehrmals um den Platz.
»So, Herr Leutnant, nun kommen Sie daran!«
Der Aufgeforderte hatte schon die Sporen abgeschnallt und die Reitgerte weggeworfen. Wie er sich aufschwang und mit einem Griff die Zügel ordnete, erkannte man den vollendeten Reiter.
Atemlos harrte die Menge. Viele bedauerten bereits Indian Bill, daß er das schöne Tier verlieren würde.
Da — durch den schlanken und doch überaus kräftigen Körper des Rosses ging ein leises Zittern, das Gesicht des Leutnants färbte sich plötzlich dunkelrot — das Pferd hatte dem leisen Zügelruck und dem Druck des Schenkels nicht gehorcht.
Jetzt wandte er mehr Kraft an, man sah, wie er die Schenkel zusammenpreßte.
Darling bäumte sich, schlug aus, doch der Reiter saß fest, konnte es aber ebensowenig von der Stelle bringen. Plötzlich krümmte sich das Pferd wie ein Aal zusammen, streckte sich blitzartig aus — und der Leutnant saß mit einem unbeschreiblich verdutzten Gesicht im Grase.
»Himmeldonnerwetter, so etwas ist mir doch noch nicht passiert!« platzte er endlich unter dem schallenden Gelächter der Umstehenden heraus.
»Hat noch jemand Lust, sein Glück zu versuchen?« fragte Indian Bill.
Ein zweiter Offizier flog beim ersten Bocken aus dem Sattel, ein andrer kam überhaupt nicht zum Sitzen, er fiel gleich wieder auf der andern Seite herab, obgleich er vorher das Pferd beruhigt hatte.
»Das wäre doch der Teufel,« ließ sich ein baumlanger Mann mit Reitgamaschen vernehmen, durch sein ganzes Aussehen den Landwirt verratend, »wenn ich den Racker nicht zum Gehn brächte! Erlauben Sie?«
»Bitte, versuchen Sie es!«
»Aber das sage ich Ihnen, ich quetsche dem Vieh die Luft ab oder zerbreche ihm die Rippen!«
»Immerzu, wenn Sie es vermögen!« lächelte der Colonel.
Die Beine des neuen Reiters waren so lang, daß sich die Stiefelhacken unter dem Bauche fast berührten.
Der Mann entwickelte eine ungeheure Kraft, das Pferd keuchte, es war, als wenn sein Leib zusammengeschnürt würde, und doch brachte es den Reiter mit einer ganz neuen, blitzschnellen Bewegung aus dem Sattel, ohne sich gewälzt zu haben.
Es wurden Cow-boys und Indianer gerufen.
Sie weigerten sich anfangs, weil sie Darling doch nicht vom Fleck brächten; sie wüßten es schon, sagten sie und mußten erst durch Geldgeschenke gewonnen werden, aufzusteigen.
Da sie den glatten Sattel nicht gewöhnt waren, rutschten sie hin und her, aber abzuwerfen waren sie doch nicht. Ebensowenig aber gelang es ihnen, das Pferd auch nur einen Schritt vorwärtszubringen, obgleich man ihnen ansah, wie sie alle ihre Kraft und Kunstfertigkeit gebrauchten.
»Es ist eben ein Geheimnis dabei!« rief der Dragoner.
»Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort darauf, daß dies nicht der Fall ist,« sagte Indian Bill ernst. »Existiert noch ein Reiter, der uns drei Erwähnten gleicht, so wird Darling ihm gehorchen. Auch die Sporen können seinen Trotz nicht brechen. Er würde lieber sich verbluten und zusammenbrechen, als nur einen Schritt tun, wenn er die kundige Hand nicht fühlt. Es ist wohl genug, Herr Leutnant?«
»Ich bekenne hiermit, daß ich dieses Pferd nicht zu reiten vermag,« kam der Offizier seinem Versprechen nach.
»Führt Darling in den Stall!«
»Halt, Herr Colonel!« ließ sich da eine Stimme hören. »Ich möchte Darling reiten!«
Wie von einem elektrischen Schlage getroffen, wendete Indian Bill sich dem Sprecher zu.
Unsägliches Erstaunen prägte sich einen Moment in den dunklen Augen des Obersten aus, dann aber flackerten sie fast drohend auf.
»Cutting Knife!« kam es leise, niemandem sonst vernehmbar, über die Lippen Bills.
»Still!« gab der andre ebenso leise zurück. »Persönliches können wir später verhandeln — ich nenne mich jetzt Nobody.«
»Nobody, der Detektiv von Worlds Magazine?« rief Indian Bill, von neuem staunend.
»Nun, Herr Oberst, ist es mir erlaubt, das Pferd zu reiten?« fragte Nobody laut.
»Bitte, versuchen Sie Ihr Heil!« erwiderte der Gefragte, aber dann setzte er nochmals flüsternd hinzu: »Wozu das? Ich weiß ja, daß Sie Darling reiten können! Und dann — haben Sie Mercedes nicht gesehen?«
»Gerade ihretwegen will ich das Pferd reiten!« entgegnete Nobody ruhig, schritt zu dem Andalusier, streichelte ihm den schlanken Hals und schickte sich an, in den Sattel zu klettern.
Anders war der Vorgang nicht zu bezeichnen, denn der Unbekannte verfuhr mit einem außergewöhnlichen Phlegma.
Nachdem er sich die Steigbügel und das andre Sattelzeug nachdenklich betrachtet hatte, hob er langsam das Bein, setzte den Fuß in den Bügel, legte die Hand auf den Sattel und zog sich so bedächtig hoch.
Oben angelangt, brauchte er lange Zeit, ehe er richtig saß und die Zügel geordnet hatte. Dann blieb er ruhig und bewegungslos sitzen.
»Na, wie ein Reiter sieht der auch nicht aus!« ließen sich spöttische Stimmen im Publikum vernehmen.
Nobody rührte sich noch immer nicht, auch das Pferd stand wie eine Statue da, nur die Ohren spitzend. Anscheinend hatte ihm der Reiter noch nicht seine Absicht zu erkennen gegeben, daß er sich von diesem Platz entfernen wollte, sonst hätte er wohl schon unten gelegen.
»Los, Herr,« rief einer der Zuschauer, »zeigen Sie, mit welchem Phlegma ein Gentleman aus dem Sattel fällt, ohne an Grazie einzubüßen.«
Da griff Nobody langsam an den Hut, zog ihn, grüßte nach beiden Seiten und — ritt davon.
Indian Bill war natürlich keineswegs durch diesen Erfolg überrascht.
Seit er in dem Fremden den berühmtesten aller Westmänner, den gefürchteten Cutting Knife erkannt, hatte er ja gewußt, daß derselbe Darling bezwingen würde.
Tausenderlei Gedanken kreuzten sich in dem Kopfe des Colonels.
Der Mann dort, der eben mit elegantem Schwung aus dem Sattel sprang, war, wie er selbst gesagt hatte, Nobody, der weltbekannte Detektiv von Worlds Magazine — sollte er damals die Rolle des Cutting Knife auch nur angenommen haben, um irgend einem Verbrecher auf die Spur zu kommen, irgend ein düsteres Geheimnis zu entschleiern?
Unwillkürlich schaute Indian Bill zu der schönen Mexikanerin hinüber — doch das Gesicht derselben war vollkommen unbewegt, nur die Flügel der feinen Nase zitterten und verrieten eine heimliche, aber desto stärkere Erregung.
Begeisterter Beifall hatte den trefflichen Reiter für sein Kunststück belohnt, mit hundert Fragen stürmten Neugierige auf ihn ein — er antwortete keinem. Er warf nur einen flüchtigen Blick nach der Stelle hinüber, von wo aus Indianer und Cow-boys den Vorgang beobachtet hatten, und unmerklich nickte er Charly zu.
Indian Bill trat auf Nobody zu, Darling am Zügel führend.
»Nehmen Sie das Tier! Es gehört Ihnen!« sagte er mit zitternder Stimme.
Höflich verbeugte sich der glückliche Gewinner des edlen Rosses und führte es fort.
Wehmütig schaute Indian Bill ihm nach, doch plötzlich erweiterten sich seine Augen. »Bei Gott!« murmelte er. »Der Mann wagt viel.«
Nobody oder Cutting Knife, unter welchem Namen er den Westleuten bekannt geworden, war, schritt geradeswegs auf den Platz zu, wo Mercedes de Barrameda stand.
Hochaufgerichtet erwartete ihn die Mexikanerin.
»Gestatten Sie, schöne Senorita, daß ich Ihnen Darling als Zeichen meiner Bewunderung verehre!« sagte er laut, und leise, nur ihr verständlich, setzte er hinzu:
»Ich komme morgen zu Ihnen!«
Mercedes schien diese Worte nur wie aus weiter Ferne gehört zu haben. In ihrem bronzefarbenen Antlitz zuckte keine Muskel, kein Lächeln umspielte ihren purpurroten Mund, kein rascherer Atemzug schien ihren Busen zu bewegen. Kalt, fast verächtlich erwiderte sie endlich:
»Ich nehme die Gabe an!«
Sie ergriff die Zügel Darlings, verneigte sich leicht vor Nobody und wendete sich dann von ihm ab.
»Verflucht!« brummte der Detektiv. »Das hätte mir Freund World auch mit telegraphieren können, daß ich dieses Weib hier treffen würde. Bah, auch sie muß sich fügen!«
Eben wollte Nobody sich entfernen, da warf er noch einen Blick auf die schwarzlockige Mexikanerin.
Mercedes hatte Darling nur ein Stück abseits geführt und war dort stehn geblieben. Mit der linken Hand hielt sie die Zügel, die rechte fuhr unter das lederne Jagdhemd; als sie wieder zum Vorschein kam, umklammerte sie einen kleinen Revolver. Dicht über das eine Auge des Pferdes hielt sie die Waffe — ein Blitz — ein Knall —
Der Arm der heißblütigen Mexikanerin wurde hochgeschlagen, ihr die Waffe mit einem Griffe aus der Hand gewunden.
Nobody hatte die Absicht des Weibes erkannt und vereitelt.
Lächelnd ließ er den Revolver in die Tasche gleiten.
»Ich nehme ihn als Gegengeschenk für das Pferd!«
Eine neue Verbeugung, dann war der Detektiv in der Menge der neugierig herzudrängenden Zuschauer verschwunden, die wissen wollten, wer den Schuß abgefeuert und wem er gegolten habe.
Indian Bill hatte am Uhlenhorst eine möblierte Villa gemietet, die er mit Mercedes de Barrameda bewohnte. Doch es muß gleich hier bemerkt werden, daß er keineswegs in einem nähern Verhältnis zu der schönen Mexikanerin stand. Sie war seiner Truppe nicht beigetreten, um Geld zu verdienen, ebensowenig wie der Colonel selbst aus diesem Grunde nach Europa und speziell nach Deutschland gekommen war. Die beiden hatten sich eine Aufgabe gestellt, die sie unbedingt lösen wollten, mochten sich ihnen auch noch so große Schwierigkeiten entgegenstellen. Diese Aufgabe aber hing eng zusammen mit der Person unsers Nobody. — —
Der Eingang zu der Villa Indian Bills war ebenso wie die Arena draußen in St. Pauli den ganzen Tag über von einer Menge Neugieriger umlagert; in dem Hause selbst aber ging es zu wie in einem Bienenkorb.
Wilde Gestalten eilten sporenklirrend die Treppen hinauf und herab. Dazwischen bewegten sich würdevoll die in Decken gehüllten roten Söhne der Prärien und Urwälder. Auf dem Hofe stampfte und wieherte es. Vorsichtig schritten die unbeschlagenen Mustangs über das ungewohnte Steinpflaster, und zahlreiche Sportsleute gingen ein und aus.
Vor dem Zimmer Indian Bills stand ein Neger in bunter Livree. Er hatte die Aufgabe, unwillkommenen Besuchern den Zutritt zu seinem Herrn zu verwehren, und tat das mit der ganzen Frechheit und Unverfrorenheit seiner Rasse.
Jetzt stieg ein Herr die Treppe empor — Nobody — genau so gekleidet, genau so aussehend wie tags zuvor der Westmann Cutting Knife in modernem Straßenanzug.
Ehrerbietig grüßte der Schwarze, öffnete ohne weiteres die Tür zum Vorzimmer.
»Der Colonel erwartet Sie!«
Nobody trat ein. Der Raum war zum großen Teil angefüllt mit allerlei Gepäckstücken. Ein Tisch in der Mitte war beladen mit ganzen Stößen von Briefen, vorwiegend solchen von zarter Damenhand.
Das scharfe Auge des Detektivs sah dies auf den ersten Blick.
»Diese Weiber!« murmelte er lächelnd, dann trat er in den nächsten Raum.
Indian Bill saß am Schreibtisch, stand aber auf, als er die Schritte hörte.
Einen Moment schauten sich die beiden Männer schweigend an.
Der Colonel ergriff zuerst das Wort. »Ich erwartete Sie, Mister —«
»Nobody,« ergänzte der Detektiv.
»Gut! Es soll gelten!« erwiderte Indian Bill mit fester Stimme. »Nehmen wir Platz!«
»Halt!« sagte Nobody. »Zuerst etwas andres. Ist Ihre Rechnung mit Cutting Knife beglichen?«
Die Augen Bills blitzten auf. »Nein!« entgegnete er fast schroff.
»Sie werden ihn also zum Kampfe auf Tod und Leben herausfordern, wenn Sie ihm jemals begegnen?«
»So ist es. Ich habe es mir geschworen!«
»Gut! Das wollte ich wissen,« versetzte Nobody mit einem Gleichmut, als wenn er nicht eben dieser Cutting Knife wäre, dem Indian Bill unversöhnliche Feindschaft geschworen hatte.
»Gehn wir jetzt zum geschäftlichen Teil über! Sie wissen, weswegen ich hier bin, Colonel. Bitte, geben Sie mir die nötigen Erklärungen!«
»Well! Hören Sie!« versetzte Indian Bill. »Ich will Ihnen die Geschichte erzählen!
»Es sind jetzt sieben Jahre her,« begann er, »als ich mit einem alten Trapper, meinem langjährigen Freunde und Begleiter bei allen Abenteuern, im Sakramentotale jagte. Dieses ist sehr lang, sehr lang, ich kann die Gegend, wo wir uns befanden, nicht beschreiben, sondern nur sagen, daß es zwischen der Sierra Nevada und dem Coast Range, einem Nebengebirge der erstern war.
»Am Rio Joaquin, einem großen Nebenflusse des Sakramento, waren kurz zuvor reiche Goldfelder entdeckt worden, und so kam es, daß wir die Wildnis belebter fanden, als es sonst in dieser Gegend der Fall war. Einmal, als wir am Lagerfeuer saßen, äußerte ich mich darüber, wie seltsam es doch mit dem Goldfinden sei. Einer sucht Gold, er hält sich für einen unfehlbaren Entdecker des edlen Metalles, und er findet doch nichts, während er vielleicht über der reichsten Goldmine steht. Ein andrer, der an alles andre denkt, nur nicht an Gold, will sich eine Pfeife anbrennen, nimmt einen Stein, um Feuer zu schlagen, es springt kein Funke, dafür aber bemerkt er, daß der Stein an dem Stahl einen goldenen Strich erzeugt hat, es ist Goldquarz, und der Mann hat eine Goldmine entdeckt.
»Wir Jäger kommen doch oft genug dahin, wo noch keines andern Menschen Fuß gewesen ist, ich kenne auch die Verhältnisse, unter denen Gold zulässig ist, aber ich habe mich noch nie zum Nachgraben veranlaßt gefühlt.
»So sprach ich, und mein Freund lächelte dazu.
»›Da bin ich schon glücklicher gewesen als du‹ meinte er. ›Ich weiß eine Goldmine hier im Sakramentotale, wo mehr herauszuholen ist als alles, was man bisher in Kalifornien gefunden hat.‹
»Ich war ungläubig, der Trapper blieb bei seiner Behauptung.
»›Und warum beutest du sie denn dann nicht aus?‹ fragte ich.
»›Was soll ich mit dem Golde?‹ entgegnete er gleichgültig. ›Ich alter Mann, ich bedarf seiner nicht mehr.‹
»Da hatte er wohl recht, er konnte doch kein neues Leben mehr anfangen, der Wald und die Freiheit, ein ungebundenes Leben waren ihm alles.
»Ich selber machte mir zwar nicht besonders viel daraus, ich beschwor den Alten nicht, mir die geheime Mine zu zeigen, aber immerhin, Gold ist das wertvollste Metall der Erde, es ist direkter Besitz; je mehr ein Land davon hat, desto reicher ist es, und ich liebe mein Vaterland genug, um ihm einen Ort anzuzeigen, wo es sich bereichern kann, ganz abgesehen von den Prozenten, die dem Entdecker zufallen.
»Aber der Alte ließ sich nicht herbei, mir den Platz zu verraten. Gerade dort stände ein herrlicher Wald, sein Lieblingsrevier; wüßten die habgierigen Menschen, was sich darunter befände, würden die Bäume gar schnell fallen, und der Wald sei ihm mehr wert als alles Gold.
»Ich wollte Gewißheit haben, stellte mich ungläubig, reizte den Alten durch Widerspruch, es sei wohl nur Schwefelkies gewesen, was er für Gold gehalten, bis er endlich einwilligte, mir den Ort zu zeigen.
»Das Versprechen, niemandem weiter das Geheimnis zu verraten, nahm er mir gar nicht erst ab. Er erklärte von vornherein, daß ich den Platz nicht wiederfände, denn ich müßte mich die letzte Strecke von ihm mit verbundenen Augen führen lassen, zudem, noch des Nachts.
»Wir marschierten zwei Tage lang, bis wir eines Abends wieder ein Lagerfeuer anbrannten.
»Diese Stelle kann ich wiederfinden. Ihnen will ich nur angeben, daß es zwischen dem Rio Joaquin und dem Rio Eldorado war, am Fuße der Sierra Nevada, wo die Gegend wild zerklüftet ist.
»Als die Nacht anbrach, verband mir der Alte die Augen und führte mich fort. Ich merkte wohl, daß er mich absichtlich irreleitete, indem er unnötigerweise viele Kreise beschrieb. Schon nach einer Stunde dieser sehr beschwerlichen Wanderung nahm er mir die Binde wieder ab.
»Die Gegend, wo ich mich jetzt befand, war mir völlig fremd. Es war ein Engpaß, der sich in unzähligen andern verlief; ich hörte überall Wasserfälle herabstürzen, und über uns tobte ein Gewitter; die Blitze zeigten mir die Landschaft manchmal in unheimlicher Beleuchtung.
»Wieder nach einer Stunde Wanderung in diesem Labyrinth von Pässen verband mir der Trapper abermals die Augen, noch eine Viertelstunde auf einem halsbrecherischen Wege über Stock und Stein, dann ging es jäh bergab, immer tiefer und tiefer, bis der Trapper mich stillstehn hieß.
»Er riß mir schnell die Binde von den Augen.
»Ich mußte dieselben schließen, nicht vor dem Scheine der Fackel, welche der Alte hochhielt, sondern vor dem Glanze der Goldadern, welche dicht nebeneinander durch die Steinwände liefen.
»Es glänzte und gleißte in einer Pracht, die ich nicht beschreiben kann. Die Decke über mir enthielt ebenfalls mehr Gold als Quarz, und zu meinen Füßen lagen faustgroße Klumpen puren Goldes.
»Ich befand mich in einer Höhle; wie tief unter der Erde sie lag, weiß ich nicht. Hier trat eben die Goldader zutage, schon hier allein zeigte sie einen Durchschnitt von wenigstens dreißig Quadratmetern, und wer wußte, wie hoch sie noch nach oben hinaufreichte, in welcher Mächtigkeit sie sich noch erstreckte.
»Ich war vor Staunen außer mir. Wahrhaftig, da lernte ich kennen, welch furchtbare Macht das Gold besitzt. Es machte mich blind; ich taumelte wie ein Trunkener. Sie lachen vielleicht, aber ich behaupte, daß das Gold nicht nur Macht als Geld, sondern eine unbekannte Macht als edles Metall besitzt, und die Wünschelrute der Schatzgräber ist keine Fabel; in der dazu geeigneten Hand schlägt sie an, ich habe es selbst gesehen.
»Der Alte gestattete mir, mit dem Tomahawk von dem edlen Gestein abzuschlagen und von den losen Stücken so viel aufzuheben, wie ich wollte, damit ich später nicht an eine bloße Sinnestäuschung glaube.
»Hierauf verband er mir die Augen und führte mich ebenso wieder zurück, wie er mich hergebracht hatte.
»›Nun kannst du die Höhle suchen, das erlaube ich dir,‹ sagte er am Lagerfeuer, ›aber du wirst sie wohl nicht finden. Bei meinem Tode will ich dir die Lage angeben, nicht eher, denn den Wald sollen meine alten Augen nicht mehr unter den Äxten der Goldgräber fallen sehen.‹
»Ich blieb in der Gegend und suchte viele, viele Wochen lang. Vergebens, ich fand die Höhle nicht wieder! Wie das kommt, daß es mir, dem Waldläufer, der sonst jeden Ort wiederfindet, den er einmal gesehen, nicht gelang, das ist mir unbegreiflich. Es kommt mir vor, als wäre der Eingang zur Höhle verzaubert.
»In San Franzisko wurde mir das Gold sofort zum Börsenpreise abgekauft. Ich schwieg nicht, meine Erzählung erzeugte ungeheures Aufsehen, die goldhaltigen Quarzstücke waren ja auch ein Beweis; ich verband mich mit den besten Goldsuchern und noch einigen Trappern und begab mich abermals nach jener Gegend. Wir suchten einen Monat lang und fanden die Höhle nicht wieder. Daraufhin stellte mir die Regierung Geologen zur Verfügung, und diese sagten sogar aus, daß in jenem Gebirgsteile überhaupt gar kein Gold vorkommen könnte.
»Was wir alles getan haben, kann ich Ihnen hier nicht erzählen. Ich kam in eine üble Lage, der größte Teil der Leute zweifelte an der Glaubwürdigkeit meiner Aussagen, ja, man traute mir sogar zu, ich wollte das Geheimnis für mich behalten, um es auszubeuten, hätte es nur in der ersten Aufregung verraten und so weiter. Daß ich, der beste, in der Wildnis aufgewachsene Fährtensucher, die Höhle nicht wieder auffinden konnte, schadete meiner Ehre sehr, und ich konnte den Verdacht der Veruntreuung nicht von mir abwälzen, denn auch jener Trapper blieb verschwunden.
»Ein Jahr darauf befand ich mich wieder in San Francisco. Durch einen Streik von Fabrikarbeitern kam es zu Straßenkämpfen, ich, als Offizier der Regierung, mußte mich daran beteiligen und lernte bei einem solchen Kampfe einen Mann kennen, der sich sowohl durch Mut und Umsicht, als auch durch Menschlichkeit auszeichnete. Sein Name war Jean Matelas, und ich fühlte mich um so mehr zu ihm hingezogen, als er mir ganz auffallend ähnelte.
»Wir wurden Freunde, er erzählte mir sein Schicksal. Er sei ein Südfranzose, Schauspieler, erst seit einiger Zeit in Amerika, und es ginge ihm sehr schlecht.
»Ich unterstützte ihn auf jede Weise, teilte meine Wohnung mit ihm und ahnte nicht, was für eine Schlange ich an meinem Busen nährte.
»Eines Abends erhielt ich einen Brief von einem mir bekannten Farmer. In seiner Behausung sei ein alter Trapper gestorben, er hätte mir auf seinem Totenbette beiliegende Zeichnung vermacht, ich wisse schon, was sie bedeute, er, der Farmer, könne aus dem Ding nicht klug werden.
»Es war eine Landkarte, die Lage der Höhle angebend. Die Zeichnung sah freilich allem andern mehr ähnlich als einer Landkarte, sie war nach indianischer Weise angefertigt, für mich aber war sie vollkommen deutlich, das heißt, wenn ich mich an Ort und Stelle befand, wo wir einst am Lagerfeuer gesessen, und die Stellung des Mondes zu einer gewissen Zeit zu Hilfe nahm.
»In meiner Freude erklärte ich dieses Geheimnis Jean Matelas, der gerade zugegen war, als ich den Brief öffnete. Ich schätzte ihn als einen wirklichen Freund, hätte ihm alles, alles anvertraut.
»Ich besaß zwei Revolver, die ich mir selbst gefertigt hatte. Beide hatten hohle Kolben; ein besondrer Mechanismus öffnete dieselben. In einem dieser hohlen Revolver verbarg ich einstweilen die Zeichnung und ging nach dem Telegraphenamt, um meiner vorgesetzten Behörde in Washington zu depeschieren, daß ich jetzt imstande sei, die verschwundene Mine wiederzufinden.
»Um der Wahrheit ganz die Ehre zu geben, bemerke ich, daß Matelas nicht mehr im Zimmer war, als ich das Papier in dem Kolben verbarg.«
»Er hat trotzdem Gelegenheit gefunden, Sie dabei zu beobachten,« unterbrach Nobody hier den Erzähler.
»Vermutlich,« entgegnete dieser.
»Nein, tatsächlich, denn sonst hätte er Ihnen den Plan nicht zu stehlen vermocht.«
»Woher wissen Sie, daß er dies tat?«
»Bah, das zu erraten, ist doch nicht schwer!«
»Aber er hatte keinen Anlaß, den Diebstahl zu begehn, denn —«
»Sie hatten ihn aufgefordert, Sie nach dem Tale des Sakramento zu begleiten,« vollendete Nobody lächelnd. »Sie entfernten sich dann für kurze Zeit, und als Sie zurückkehrten, war mit dem betreffenden Revolver auch Ihr Freund Jean Matelas verschwunden.«
Indian Bill war ein echter Westmann, geübt im Auffinden kaum bemerkbarer Spuren und im Kombinieren, jetzt, aber staunte er doch über den Scharfsinn des Detektivs.
»Sie benachrichtigten die Polizei und machten sich selber an die Verfolgung des Diebes,« fuhr Nobody fort, »hatten jedoch keinen Erfolg und wurden von der Regierung mit neuem Mißtrauen beobachtet. Sie hatten dem ersten Fehler, daß Sie einem vermeintlichen Freunde Ihr Geheimnis verrieten, den zweiten hinzugefügt, daß Sie die Behörden in Washington voreilig von der neuen Wendung der Dinge in Kenntnis setzten. Was taten Sie weiter? Sie ließen vermutlich die Gegend, wo die Goldminen sich befinden mußten, unausgesetzt von Ihren Leuten beobachten.«
»Das stimmt!« bestätigte Indian Bill.
»Ich dachte es mir. Der angebliche Jean Matelas war natürlich viel zu schlau, Ihnen ins Garn zu laufen,« sagte Nobody lächelnd.
»Das Ereignis spielte sich vor fünf Jahren ab, nicht wahr?« fragte er dann.
»Woher wissen Sie das?« fragte der Colonel in neuem Erstaunen.
»Aus den Zeitungen!«
»Ah, Sie haben sich bereits über den Fall orientiert?«
Nobody beantwortete diese Frage nicht. Indian Bill hatte sich wohl dieselbe nicht richtig überlegt, sonst hätte er sie schwerlich gestellt.
»Sie haben inzwischen eine Spur des Diebes gefunden. Dieselbe führt nach Deutschland — hierher nach Hamburg — Sie wollen den Gauner noch heute nacht verhaften,« fuhr Nobody in aller Gemütsruhe fort, als handle es sich um etwas Selbstverständliches.
Der Colonel sprang auf.
»Sir, ich stehe vor einem Rätsel!«
»Der Mann, den Sie im Verdacht haben, ist hier sehr angesehen, ein Großkaufmann.«
»Sie wissen alles,« stieß Indian Bill hervor, aber der Ton, in dem er es sagte, klang durchaus nicht freudig: was in dem Colonel vorging, verriet die Frage, die er sofort an Nobody richtete: »Herr, wollen Sie mir etwa die Beute entreißen? Der Mann gehört mir, ich will ihm nicht umsonst fünf Jahre lang nachgespürt haben!«
»Wie mir!« schaltete der Detektiv ein.
Indian Bill warf ihm einen raschen Blick zu, doch auf dem ehernen Gesicht seines Besuchers war keine Spur von Spott zu bemerken.
»Herr, Sie sind Westmann gewesen, sind es noch, ich brauche Sie nicht an das oberste Gesetz zu erinnern, das bei uns gilt: Auge um Auge —«
Nobody unterbrach ihn:
»Beruhigen Sie sich, Colonel. Meine Arbeit beginnt erst dann, wenn Ihnen Jean Matelas wieder entschlüpft ist!«
»Er entgeht mir nicht, es ist unmöglich!«
»Dann wäre er ein armseliger Gauner, dessentwegen ich keinen Finger krumm machen würde,« versetzte Nobody gelassen. »Oder meinen Sie etwa, daß er nicht wüßte, weswegen Sie hierhergekommen sind, daß er auf Ihren Besuch nicht vorbereitet ist?«
»Er kann nicht ahnen, daß ich ihn als Jean Matelas erkannt habe!« rief Indian Bill doch etwas betroffen.
Nobody lachte ungeniert auf, griff in die Tasche, brachte ein Papier hervor und hielt es jenem vor die Augen.
»Was ist das?«
»Eine Schiffskarte nach New-York,« antwortete der Colonel unwillkürlich.
»So! Und nun leben Sie wohl, Sir! Wie ich den Dieb drüben fasse, das werden Sie ja in ›Worlds Magazine‹ lesen. Ich empfehle Ihnen ein Abonnement.«
Sprach's und ließ den verdutzten Indian Bill stehn, stieg in die nächste Etage und stand einige Minuten später an der Tür der Wohnung, welche Mercedes de Barrameda innehatte. Nach derselben zu fragen, hatte Nobody natürlich nicht nötig. Er öffnete sich selbst und trat ein.
In diesen Zimmern herrschte freilich große Unordnung. Das eine war mit Garderobestücken und Kostümen fast vollgepropft, männliche und weibliche voneinander getrennt, das andre enthielt so viel Sättel, Zaumzeuge, Reitpeitschen und andre zum Reitsport dienende Gegenstände, daß Nobody sich förmlich zwischen ihnen durchwinden mußte.
Auf seinem Gesicht trat der spöttische Zug stärker denn je hervor, zugleich aber lag auch etwas wie von eiserner Entschlossenheit darin.
Die Tür zum letzten Zimmer war nur angelehnt. Er klopfte mehrmals vergebens, endlich wurde von innen geöffnet.
Die schöne Mexikanerin stand ihm gegenüber — ihre Arme streckten sich ihm entgegen — so blieb sie regungslos, wie versteinert.
Dann lief ein Zucken durch ihren Körper.
»Alfred!« stöhnte sie auf. »Du kommst zu mir?!«
Nobody verharrte in düsterm Schweigen, aber aus seinen Augen schimmerte sekundenlang etwas wie Mitleid.
Mercedes erblaßte. Ihr Antlitz ward bleich, und ein tiefer Atemzug hob ihren Busen.
»Was willst du bei mir?« fragte sie endlich.
»Ich möchte damit warten, bis du ruhig geworden bist,« entgegnete Nobody, der ja die Maske des Cutting Knife mit der direkten Absicht gewählt hatte, von Indian Bill und Mercedes erkannt zu werden — gerade ihm sollte ersterer es verdanken, daß er den gestohlenen Plan der Goldminen wiedererhielt.
»Ich bin ruhig,« antwortete die Mexikanerin.
»Das ist mir lieb. Dann werden wir um so schneller zu Ende kommen!«
Er richtete sich hoch auf, schaute sie durchbohrend an und fragte ernst:
»Warum verfolgst du mich?«
»Du gehörst mir, denn ich liebe dich.«
»Und wenn ich nicht will?«
»Du mußt, du bist mein!«
»Armes Weib!«
»Du bedauerst mich?« fuhr Mercedes auf. Ihre Augen flammten ihn drohend an.
»Ich bedaure jeden Menschen, der hoffnungslos liebt,« erwiderte Nobody, »aber,« setzte er sofort hinzu, »ich verachte jeden, der dies einsieht, einsehen muß und doch die Hoffnung nicht aufgeben will!«
Die Mexikanerin erbleichte von neuem.
»Du liebst mich nicht?« fragte sie. »Nicht mehr?«
»Ich habe dich nie geliebt!«
»Du lügst!« wollte Mercedes ihm zurufen, aber sie sprach die Worte nicht aus — die Augen Nobodys hielten sie im Bann.
»Das heißt, du liebst eine andre!«
»Ich tue es!«
»Wer ist es, der zwischen mir und dir steht?«
»Das erfährst du nicht.«
»Ich werde es erfahren und dieses Hindernis zu beseitigen wissen.«
Diese Worte waren in einem solchen Tone gesprochen, daß Nobody einen Schritt zurücktrat.
»Mercedes, du bist wahnsinnig!«
»Ich bin bei klarer Vernunft.«
Er richtete sich hoch auf.
»Da du so kurz und bündig bist,« sagte er kalt, »muß ich es jetzt auch sein. Du hast mich umsonst gesucht, ich liebe eine andre. Ich bin verheiratet. Das ist mein letztes Wort.«
Mit blitzenden Augen trat sie auf ihn zu. Ihre Blicke loderten.
»Und mit diesem letzten Worte sprachst du dein und deiner Geliebten Todesurteil!« kam es zischend von ihren Lippen. »Das ist eine tödliche Beleidigung! Alfred, hüte dich vor mir! Kann ich dich nicht besitzen, sollst du auch keiner andern gehören!«
»Soll das eine Herausforderung sein?« lächelte er spöttisch.
»Ja, auf Leben und Tod!«
»Also die zweite an einem Tage!«
Er wendete sich der Tür zu.
»Du gehst wirklich?« keuchte es hinter ihm.
Nobody antwortete nicht.
In das wie eine Bildsäule dastehende Mädchen kam plötzlich Leben, eine blitzschnelle Handbewegung, der man nicht mit den Augen folgen konnte, und von ihr aus zuckte durch die Luft eine blaue Flamme zu Nobody hin.
»So lebe wohl!«
Doch auch er machte eine blitzschnelle Handbewegung und — hatte ein Stilett am Griff gefangen, das sonst sicher nicht sein Herz verfehlt hätte.
Ohne ein Wort zu sagen, schleuderte er Mercedes die Waffe vor die Füße, verbeugte sich kalt und verließ das Gemach.
Nobody hatte die Pläne des Indian Bill vollkommen durchschaut. Es wäre ihm daher ein leichtes gewesen, dieselben zu durchkreuzen und den zu verhaften, den der Colonel als Dieb der Zeichnung ausfindig gemacht hatte.
Doch das lag nicht in Nobodys Art, daß er sozusagen einen Weg betrat, den ein andrer bereits vor ihm gegangen war. Nur das Neue, das Romantisch-Abenteuerliche reizte ihn, dabei mußte es selbstverständlich einen realistischen Hintergrund haben, das Verbrechen oder das Geheimnis, was zu erforschen war.
Der vorliegenden Aufgabe aber brachte Nobody ein um so größeres Interesse entgegen, als dieselbe ihm keineswegs einen leichten Sieg über den Gegner versprach, sondern vielmehr einen aufregenden Kampf, eine Verfolgung über Ozeane und durch Länder, bis endlich die Überrumplung des Gauners erfolgen konnte, der in so überaus raffinierter Weise eine Doppelexistenz führte.
Indian Bill seinerseits hätte kein echter Westmann sein müssen, hätte er den Ruhm und die Genugtuung, den Dieb aufgespürt und gefangen zu haben, einem andern überlassen wollen. Am wenigsten sollte Cutting Knife oder Nobody, wie er sich jetzt nannte, ihm zuvorkommen.
Mit aller Vorsicht und Gewandtheit, die der Colonel sich im steten Kampfe mit feindlichen Rothäuten erworben hatte, schlich er sich nachts nach der Hürde an der Rückseite der Arena, wo sein Lieblingspferd Sunbeam, der Sonnenstrahl, stand. Ein kaum hörbarer Ruf aus Bills Munde genügte, das edle Tier zu ihm zu locken. Eine Minute später war es gesattelt und gezäumt, dann ein kurzer Befehl — es setzte über die hölzerne Umzäunung und jagte in langgestrecktem Galopp quer über die Niederung dem Flusse zu.
Indian Bill hatte sich genau orientiert. Er wußte, daß die Villa des Mannes, den er gefangennehmen wollte, einen parkähnlichen Garten besaß, der bis an den Strom reichte. Darum lenkte er Sunbeam dem Ufer desselben zu und machte etwas oberhalb der Besitzung Halt.
Die Nacht war mondlos und sehr dunkel, aber die Falkenaugen des Westmannes durchdrangen die Finsternis — nur die Elbe, die hier allerdings sehr breit war, trennte Bill noch von seinem Ziele.
Da drüben in dem reizend gelegenen, architektonisch schönen Hause wohnte der, der sich einst in San Francisco für Jean Matelas, einen Schauspieler aus Südfrankreich ausgegeben und das Vertrauen des Obersten erschlichen hatte, um dann bei erster Gelegenheit den Diebstahl des Planes über die Lage der Goldminen auszuführen.
Jetzt nannte sich der Elende Fred Overkamp und betrieb einen ausgedehnten Großhandel mit Kaffee, galt in Hamburg nicht nur für reich, sondern auch für einen tadellosen Ehrenmann.
Nobody selbst hatte festgestellt, daß kein Mensch, am wenigsten die Hamburger Polizei es für möglich gehalten hätte, daß dieser angesehene Herr ein Betrüger, ein Abenteurer, ein Hochstapler sein könnte. Ohne klare Beweise — und diese fehlten Indian Bill — war seine Verhaftung vollkommen ausgeschlossen.
Ein Westmann freilich pfeift auf die Polizei, er hilft sich selbst, und der Colonel kümmerte sich verteufelt wenig darum, daß in Europa andre Anschauungen in dieser Hinsicht herrschten als in Amerika.
Die Gegend, wo Indian Bill mit seinem Pferde hielt, war ganz einsam. Das Ufer fiel sanft ab, und das einzige vernehmbare Geräusch war das leise Rauschen und Gurgeln, mit dem der Strom seine gewaltigen Wassermassen dem nahen Meere zuführte.
Der Reiter klopfte leicht den Hals des Pferdes und raunte ihm halblaute Schmeichelworte zu. Dann lenkte er es in den Strom.
Als die Fluten die Sohlen seiner hohen Stiefel netzen wollten, machte er sich aus den Steigbügeln frei, eine Bewegung, und er stand aufrecht im Sattel.
Das Pferd begann zu schwimmen. Sicher wie auf festem Boden hielt sich Indian Bill auf dem schwankenden Rücken, das Tier am Zügel lenkend und es mit Worten anfeuernd. Nur bis an die Knöchel umspülte ihn das Wasser.
Mitten im Strome wurde das Tier von der Strömung ergriffen und fortgerissen, jedoch fort und fort feuerte der kühne Reiter es an, und das Pferd, ein vortrefflicher Schwimmer, bot alle seine Kräfte auf, der Strömung Herr zu werden.
»Schäme dich, Sunbeam!« zürnte sein Herr. »Du hast doch schon Ströme durchschwommen, in welchen der größte Stein fortgerissen wird, ohne auf den Grund zu kommen, und läßt dich von diesem Bach überwältigen!? Schwimme, Sunbeam, strenge dich an, greife aus! Ich bin es, den du hinüberträgst!«
Das Tier pustete und schnob mit weit vorgestrecktem Halse, die Nüstern fast im Wasser, und nach einigen Minuten hatte es die Strömung hinter sich und steuerte, überhäuft von Lob und Schmeichelworten, wieder dem Ziele zu, das sein auf ihm stehender Reiter angab.
Wer dieses Kunststück gesehen hätte, würde seinen Augen nicht getraut oder gemeint haben, ein Geist schritte über den Strom. Er würde sich bekreuzigt haben und davongeflohen sein.
Das Pferd erreichte, zitternd vor Anstrengung, das Ufer.
Indian Bill sprang ab, vollkommen trocken, streichelte das Tier lobend und führte es am Zügel weiter. Sie erreichten die Hinterpforte des Parkes. Der Colonel öffnete und trat sofort Abseits von der zum Hause führenden Allee unter die Bäume, wo eine undurchdringliche Finsternis herrschte.
Hier redete er dem Pferde noch einmal freundlich zu und ließ es dann allein, ohne es festzubinden oder auch nur die Zügel über einen Zweig zu hängen.
Dann schritt er allein weiter durch den Park, und die Lichter, welche ihm bald zwischen den Zweigen entgegenblitzten, waren die erleuchteten Fenster der Villa Overkamp.
Indian Bill umschlich die Mauer, die den Hof umgab.
An einer Stelle blieb er stehn, löste von den Hüften einen langen, ledernen Riemen, einen Lasso, wickelte die Schlinge um den Kopf und ließ sie fahren.
Sie flog über die Mauer, ein Ruck, und sie saß fest.
Es war kein Zufall gewesen, daß sich die Schlinge an einem Aste eines im Hofe stehenden Baumes verfangen hatte. Der Colonel hatte diesen Ast trotz der tiefsten Nacht gesehen und nach ihm die Schlinge geschleudert.
Er besann sich keinen Augenblick, duckte sich zusammen, schnellte empor, griff hoch, stemmte die Füße gegen die Mauer, griff weiter, schwebte über spitzen Glasscherben, mit denen die Brüstung bestreut war, und stand schneller drüben im Hofe, als sich dies erzählen läßt.
Da ließ sich ein drohendes Knurren vernehmen. Indian Bill wußte, daß das Haus durch einen Hund bewacht wurde, und hatte sich darauf gefaßt gemacht, von diesem angegriffen zu werden.
Blitzschnell zog er ein Messer, nahm die Klinge zwischen die Zähne und erwartete so den Angreifer. Eine riesige Dogge sprang auf ihn zu, um ihn an der Kehle zu packen. Doch es gelang ihr nicht. Noch ehe die furchtbaren Zähne ihn berührten, hatte Indian Bill die gewaltigen Pranken des Tieres mit beiden Händen gefaßt und hielt es von sich fern.
So standen sie sich gegenüber, Auge in Auge. Nicht lange dauerte es, da stieß der Hund ein klägliches Winseln aus, mehr hervorgerufen durch den glühenden Blick des Menschen, als durch die Kraft der Faust, welche die Pranken zu zermalmen drohte, und besiegt sank er zu den Füßen des Mannes nieder.
»Es hätte mir leid getan, das schöne Tier zu töten,« murmelte Bill, das Messer zwischen den Zähnen hervornehmend, wo es handbereit gewesen war, sich mit tödlichem Stoß ins Herz des Hundes zu graben.
Ohne sich um das Tier noch zu kümmern, das ihn jetzt als seinen Herrn betrachtete, erstieg der Colonel mit der größten Leichtigkeit den starken Baum, löste die Schlinge vom Ast, wickelte sich den Lasso wieder um die Hüfte, sprang herab, ohne dabei ein Geräusch zu verursachen. Er blieb erst eine Minute lauschend stehn, musterte die Hinterfront des Hauses und begab sich dann nach der Seite, wo er die Fenster erleuchtet gesehen hatte.
Es waren drei in der ersten Etage.
»Es sind noch Personen wach,« dachte Indian Bill, »und zwar befinden sie sich in diesem Zimmer, wenn es nicht zwei sind. Die Diener schlafen unten, also kann es nur die Herrschaft sein. Ich werde mich überzeugen, ob er da ist, und finde ich ihn, dann wehe ihm!«
Er warf einen Blick hinauf und hatte seinen Plan gefaßt. Die Mauer war nur scheinbar glatt; wenn man sie genauer betrachtete, so fand man, daß zwischen den Fenstern der ersten Etage und denen des Parterres eine hervortretende Verzierung hinlief. Ein andrer Mensch als Indian Bill hätte freilich nicht daran gedacht, daß es möglich sei, mittels solcher unbedeutender Stützpunkte die Wand zu erklettern.
Der Colonel aber schwang sich zuerst auf den Sims des Parterrefensters, konnte so den hervortretenden Stein ergreifen, welcher das Fenster nach oben deckte, schnellte empor, sein Knie kam auf diesen Stein zu liegen, und ehe er rückwärts überfiel, hatte er mit zwei Fingern eine der Verzierungen erfaßt. Hielt sie nicht, so stürzte er zurück, aber der Steinschmuck brach nicht, und ebensowenig lösten sich Bills eiserne Finger von ihm ab. Langsam, Zoll für Zoll, zog er sich so hoch, bis er auch das zweite Knie auf den Sims legen konnte, preßte sich an die Mauer, erfaßte mit beiden Händen die hervortretenden Blumen der steinernen Verzierung, stellte erst einen Fuß auf den Sims, dann den zweiten, und als er jetzt die Sohle des obern Fensters fassen konnte, war das Unternehmen geglückt.
Das Fenster war nicht verhangen, er konnte in den dahinterliegenden Raum hineinsehen. Vorsichtig tat er es, das Auge eben an die Scheibe bringend.
Ein leiser Ruf der Enttäuschung entschlüpfte seinen Lippen. Er hatte andres zu sehen gehofft. Dieses große Zimmer besaß drei Fenster, es war also das einzige, in welchem sich ein Mensch noch wach befinden konnte.
Von dem Licht der Hängelampe hell beleuchtet, saß eine junge Frau auf dem Sofa und las in einem Buche.
Sie war jung und von hübschen, zarten Zügen, sah aber sehr blaß aus, was durch die schwarze Kleidung noch mehr hervortrat.
Sonst war niemand im Zimmer, wie sich Bill mit einem Blick überzeugte.
Doch bald kam er zu der Ansicht, daß noch jemand erscheinen würde.
Was hätte die einsame, junge Frau wach halten sollen? Die Lektüre des Buches war sicher nicht so interessant, sie die Mitternachtsstunde vergessen zu machen, denn oft blickte sie ungeduldig auf und nach der Wanduhr, und dann glaubte der Beobachter stets, von ihren halbgeöffneten Lippen einen leisen Seufzer der Sehnsucht zu vernehmen.
Offenbar erwartete sie jemanden, und wer konnte das anders sein, als einer, der öfter hier ein- und ausging, wenn nicht der Besitzer selbst?
Indian Bill kannte die junge Frau nicht. Er war überhaupt höchlichst erstaunt, eine solche, dem ganzen Äußern nach eine Dame, hier vorzufinden. Daß Villa Overkamp eine solche beherberge, war in der ganzen Stadt keinem Menschen bekannt; der Colonel hatte sorgfältige Erkundigungen darüber eingezogen. Als er zum Fenster emporkletterte, hatte er geglaubt, den Besitzer der Villa in dem erleuchteten Zimmer zu sehen.
Die Frau schlug das Buch zu und lehnte sich müde zurück. Dann wendete sie sich halb um und drückte auf einen an der Wand befindlichen Knopf.
»Sie klingelt einem Diener,« dachte Indian Bill, »also ist doch noch jemand im Hause wach, und er muß sich in einem Gemach aufhalten, dessen Fenster nur nach einem innen gelegenen Hofe gehn oder das gar keine Fenster besitzt, es sei denn, er habe sich im Dunkeln aufgehalten.«
Ein alter Mann trat ein. »Sie wünschen, Frau Matelas?«
Es hätte nicht viel gefehlt, so wäre Indian Bill herabgestürzt.
Die Wirkung, die die Nennung dieses Namens auf ihn ausübte, war zu mächtig.
Schnell beherrschte er sich, mit angehaltnem Atem lauschte er, ohne seinen Kopf am Fenster sehen zu lassen.
»Bitte, bringe mir ein Glas Wasser!«
Der Alte ging und kam bald mit dem Gewünschten zurück.
Sie trank einen Schluck und setzte das Glas hin.
»Er bleibt so lange fort,« sagte sie niedergeschlagen.
»Der Zug kommt erst kurz nach Mitternacht an, gnädige Frau, und wenn sich Herr Matelas auch noch so beeilen würde, er könnte doch noch nicht hiersein.«
Die junge Frau schien etwas getröstet.
»Ist drüben gedeckt?«
»Alles in Ordnung, gnädige Frau. Wollen Sie etwas genießen?«
»O nein, er muß ja jeden Augenblick kommen, und sicher wird er Hunger haben. Bleibe jetzt bei mir, Daniel, ich bin so einsam.«
»Wie Sie wünschen!« Der Alte setzte sich, fühlte sich aber, wie man ihm ansah, gar nicht recht behaglich.
»Es ist schrecklich für eine Frau,« begann seine Herrin nach einer Pause, »wenn der Mann immer so reisen muß.«
»Ja, freilich, gnädige Frau, aber wenn es das Geschäft so mit sich bringt, da ist nichts dagegen zu machen. Ich glaube, Herr Matelas wird nach seiner Rückkunft länger hierbleiben.«
»Ich will es hoffen. Ach, ich bin so schrecklich vereinsamt, seit meine Kinder —«
Tränen erstickten ihre Stimme, sie führte das Taschentuch vor die Augen.
Auch der Diener sprach nicht mehr. Stumm saß er da und betrachtete mitleidig die junge, schöne, blasse Frau.
Da klingelte es.
Noch schneller als der Alte sprang sie auf; jetzt strahlte ihr Antlitz vor Glück.
»Er kommt!« jubelte sie.
Der Diener eilte hinaus, während sie, die Hand auf die wogende Brust gedrückt, regungslos in der Mitte der Stube stand, als müsse sie sich auf den kommenden freudigen Moment vorbereiten.
Ein Mann trat eilig herein, warf hastig Mantel und Hut ab und umschlang die Frau.
Wieder war der Lauscher starr vor Staunen.
Er hörte nicht die Koseworte, die bei diesem Wiedersehen gesprochen wurden, er betrachtete nur den Mann.
Das war er, der Gesuchte! Bill hatte sich nicht getäuscht.
Eine Hand des Mannes lag auf dem Rücken des Weibes, an dieser konnte der Colonel sogar die Narbe sehen, wie eine solche auch Matelas an derselben Stelle hatte, und zwar ganz ebenso aussehend.
Der Mann, in dem der Lauscher den Dieb des Planes erkannt zu haben glaubte, führte die junge Frau ins Nebenzimmer, aus dem ein Lichtschein hervordrang.
Der Diener hatte die Lampe angezündet.
Schnell duckte sich Bill, der sich schon emporgerichtet hatte und das Fensterkreuz untersuchte, wieder zusammen, denn Matelas war nochmals zurückgekommen, wobei er die Tür hinter sich zugemacht hatte.
»Einen Augenblick, ich will es mir nur etwas bequemer machen,« hatte er in das andre Zimmer gerufen.
Er wollte den Rock ausziehen, zögerte aber noch.
»Das ist ja erstickend heiß hier,« murmelte er, trat an das Fenster, unter dem sich der Lauscher befand, und öffnete die Flügel.
In diesem Augenblick legten sich zwei Hände auf seine Schultern, Indian Bill benutzte diese als Stütze und schwang sich leicht ins Zimmer.
Tödlich erschrocken war Matelas gegen einen Schrank getaumelt.
»Colonel — Sie — Sie?« stammelte er.
»Es ist gut, daß Sie mich erkennen,« entgegnete Bill leise, und der Revolver, der in seiner Hand blitzte, berührte fast die Stirn des Erschrocknen. »Keinen Widerstand, keinen Lärm — mich dauert die junge Frau.«
»Indian Bill,« murmelte der Mann wie geistesabwesend.
»Wie ist Ihr Name?«
»Ich — ich —«
Jetzt war es mit seiner Unentschlossenheit vorbei.
»Wer zum Teufel sind Sie?« stieß er hervor, aber immer noch leise, an die Frau drüben denkend. »Sie brechen hier ein? Wollen Sie rauben?«
»Ruhig! Setzen wir uns im guten auseinander!«
»Dabei soll man ruhig bleiben?«
»Sie sind Monsieur Matelas!«
»Was geht das Sie an?«
»Nehmen Sie Vernunft an, oder ich nehme keine Rücksicht mehr auf die Dame nebenan — noch hört sie uns nicht. Sie sind Monsieur Matelas?«
»Sie bedrohen mich mit der Waffe, ich muß antworten — ja denn, ich bin der, den Sie nannten.«
»Jean Matelas?«
»Und, nicht wahr, Sie entsinnen sich meiner auch noch?«
»Nein. Wer sind Sie denn? Was fällt Ihnen ein?«
»Daß Sie meinen Namen recht gut kennen, haben Sie schon vorhin bewiesen.«
»Nun ja, ich weiß, daß Sie Indian Bill, der Anführer der Indianertruppe sind, habe Ihren Vorstellungen schon selbst beigewohnt, aber was zum Teufel soll das heißen, daß Sie mich in meinem eignen Hause auf diese Weise besuchen und zur Rede setzen?«
»Wenden Sie nicht die Augen, es gibt keinen Weg zur Flucht. Eine Bewegung, und Sie sind eine Leiche!«
»Oho! Was habe ich Ihnen denn eigentlich getan?«
»Sie fragen noch? Mich wundert schon, daß Sie den Mut hatten, meinen Vorstellungen beizuwohnen.«
»Ich habe keinen Grund, Sie zu fürchten.«
»Sie stellen sich vergebens unschuldig, Monsieur Matelas, ich erkenne Sie doch wieder, trotzdem Sie jetzt anders aussehen. Sie sind Franzose?«
»Ja!«
»Wir stehn auf deutschem Boden. Monsieur Jean Matelas, ich verhafte Sie im Namen des Gesetzes der Vereinigten Staaten von Nordamerika. Sie sind mein Gefangener.«
Gleichzeitig hatte Indian Bill, den Gegner nicht aus den Augen lassend und mit dem Revolver bedrohend, ein großes Kupferschild mit der linken Hand unter dem ledernen Hemd, das er trug, hervorgerissen.
Der andre verlor seine Fassung nicht wieder.
»Ich denke, Sie sind Kunstreiter, Indianeragent oder sonst etwas, aber doch kein amerikanischer Detektiv,« lächelte er.
»Sie sehen, daß ich bevollmächtigt bin, Monsieur Jean Matelas zu verhaften.«
Dieser heftete seinen Blick auf die gravierten Worte des Kupferschildes. Es war in der Tat ein dauernder Haftbefehl, ausgestellt in Washington für den Colonel auf Jean Matelas. Ein kaum merkliches Zucken ging über die Züge des Bedrohten; Bill hatte es aber doch gesehen.
»Keinen Widerstand, Sie sind mein Gefangener!«
Drüben ließ sich die Stimme der Frau vernehmen.
»Kommst du nicht bald, Jean?«
»Nur noch ein paar Augenblicke,« entgegnete er, dann wandte er sich wieder an Bill. »Herr Colonel, Sie sind vollkommen im Irrtum. Ich heiße zwar Matelas, bin aber nie in Amerika gewesen, habe nie mit amerikanischen Gesetzen etwas zu tun gehabt.«
»Wie? Sie wagen es, mir ins Gesicht zu leugnen?«
»Ich kenne Sie nicht anders als den in Deutschland reisenden Schausteller aus Amerika, mein Herr.«
»Schade, daß Ihr Leugnen Ihnen nichts hilft, Sie bleiben mein Gefangener.«
»Darf ich wenigstens erfahren, warum Sie mich verhaften?«
»Sie wissen es selbst, wegen Diebstahls! Es dürfte Ihnen allerdings unbekannt gewesen sein, daß es kein Privateigentum war, welches Sie entwendeten, sondern Eigentum der nordamerikanischen Republik!«
»Was Sie nicht sagen! Staatseigentum soll ich gestohlen haben? Vielleicht eine Briefmarke?« höhnte Matelas. »Herr Colonel, ich glaube, Sie sind nicht recht bei Sinnen. Ich bin ja mit Ihnen noch gar nicht zusammengetroffen.«
»Ich habe keine Lust, mich mit Ihnen in einen Wortwechsel einzulassen!« entgegnete Indian Bill kurz. »Ich habe die Vollmacht, Sie zu verhaften, ich tu's hiermit. Nehmen Sie Abschied von jener Dame, wenn Sie es nicht vorziehen, sich lautlos zu entfernen. Frei gebe ich Sie keinen Augenblick mehr. Ich bin nicht umsonst jahrelang durch die ganze Welt gereist, um den Räuber meines Schatzes und meiner Ehre wiederzufinden.«
Die Frau hatte bereits wieder einmal nach Jean gerufen.
Jetzt öffnete sie die Tür, ihr ängstliches Gesicht blickte durch die Spalte, und als sie den fremden Mann mit erhobenem Revolver vor Jean stehn sah, verwandelte es sich in ein entsetztes.
Indian Bill hatte den Kopf einmal bei ihrem Eintritt zur Seite gewendet, und diesen Augenblick benutzte sein Gegner.
»Fahre zur Hölle, Wahnsinniger! Du oder ich!« In diesem Augenblick hatte er sich gebückt, um einem Schuß zu entgehn, auf den Colonel gestürzt.
Dieser ließ den Revolver fallen und packte seinen Gegner, denn lebendig wollte er ihn haben.
Ein kurzer, aber furchtbarer Ringkampf entstand, begleitet von den gellenden Hilfeschreien der Frau.
Der Westmann, an solche Kämpfe gewöhnt, hatte ein schwereres Spiel, als er geglaubt hatte. Matelas vermochte es wenigstens, ihm lange Widerstand zu leisten. Aber entwickelte er auch eine Kraft und Gewandtheit, mit der er jeden andern Gegner besiegt hätte, Indian Bill war ihm doch überlegen.
Der Verbrecher hatte jedoch eine List im Auge; er suchte den Colonel in eine Ecke zu drängen. Es gelang. Matelas griff mit dem freien Arm hinter sich, packte einen schweren, eichenen Stuhl, stieß Bill mit aller Kraft noch einmal von sich und ließ den Stuhl durch die Luft sausen.
Allein derselbe traf nicht den Kopf des Gegners, sondern fand vorher einen Widerstand. Ein Krachen und Splittern folgte, das Licht erlosch.
Der Stuhl hatte die brennende Hängelampe zerschmettert.
Die beiden Feinde rangen in der Dunkelheit weiter, stürzten, wälzten sich am Boden und merkten nicht, wie es in der Stube plötzlich wieder hell wurde, hörten auch nicht die Verzweiflungsrufe der Frau und der herbeistürmenden Diener.
Niemand konnte die Kämpfenden trennen, am Boden rollte nur ein Knäuel von verschlungenen Gliedmaßen, man hörte nur krampfhaftes Ächzen und Stöhnen. Doch nach einigen Minuten sprang Indian Bill auf, am Boden lag der mit dem Lasso gefesselte Matelas.
Der Colonel stand wie erstarrt da.
An der Wand leckten die Flammen empor, die Tür brannte.
Jetzt erst hörte er die entsetzten Rufe.
»Feuer! Feuer!« erscholl es durch das ganze Haus.
Bill sprang durch Flammen und Rauch, die Tür brach unter der Wucht seines Anpralles zusammen, er stürzte hinaus — die Treppe brannte ebenfalls schon.
Das brennende Petroleum hatte sich gerade auf die Türschwelle ergossen, war weitergeflossen und hatte alles Brennbare in der Umgebung entzündet.
Einige Minuten hatten genügt, den Brand große Dimensionen annehmen zu lassen. Der Colonel eilte zurück und stieß einen Fluch aus — der Gefangene lag nicht mehr da, nur der zerschnittene Lasso.
Bill rannte durch die Zimmerflucht, sah niemanden, kehrte um, hörte Hilferufe, eilte der Richtung zu, woher er sie vernahm, sie verstummten, dann stolperte er über einen Körper, hob ihn auf und sah die blonde Frau in seinen Armen liegen. Wieder flammte es mit furchtbarer Helligkeit auf, die Vorhänge und alle schnell brennbaren Stoffe hatten Feuer gefangen und brannten lichterloh.
Ohne sich lange zu besinnen, schwang sich Indian Bill, das vor Schreck bewußtlose Weib in den Armen, aufs Fensterbrett und sprang hinab.
Als wäre er nur von einem Stuhle aufgestanden, so eilte er elastischen Fußes weiter, durch den vom Feuer erleuchteten Park, und gelangte, ohne von den schon eindringenden Leuten angehalten zu werden, ins Freie.
»Ein Mann, der mir so lange widersteht, läßt sich nicht zum zweiten Male fangen, wenn er einmal entwischt ist. Dieses Weib ist seine Frau, sie soll mir Rechenschaft über ihn geben,« murmelte der Colonel. »Verdammt, daß dieser Nobody recht behalten hat!« Er erreichte den Platz, wo sein Pferd versteckt stand, ein Pfiff, und wiehernd kam es herbei.
Ohne die noch immer Bewußtlose aus den Armen zu lassen, schwang Bill sich in den Sattel und sprengte davon.
Am Pier lag ein kleiner Fährdampfer, wie er zur Beförderung von Personen nach den großen Passagierschiffen benutzt wird. Der Besitzer des Bootes saß auf der obersten Stufe der steinernen Treppe, scheinbar in einen Zustand zwischen Wachen und Träumen versunken.
Nur von Zeit zu Zeit richtete er sich empor und spuckte dann den Saft des Priemtabaks in hohem Bogen ins Wasser.
Daß der Mann dabei mit Anstrengung in die Nacht hineinhorchte, das hätte ihm kein Mensch angesehen, wenn einer in der Nähe gewesen wäre.
»Dammi,« brummte der Einsame, sich des Hamburger Platt bedienend, »dat's nu Tid!« und nach einer Pause setzte er hochdeutsch hinzu: »Er müßte bereits dasein, aber vermutlich hat Indian Bill fest zugegriffen, daß der Mann etwas lange braucht, um freizukommen. Die Abfahrtszeit wird er auf keinen Fall verpassen — er hätte schwerlich sonst seinen Platz im voraus belegt.
»Ah — da ist er!«
Sofort sank der Eigentümer des Fährbootes in sich zusammen, als wenn er schliefe. Er hörte die näherkommenden Schritte nicht — erst als sich eine Hand, die durch eine Narbe etwas entstellt ward, auf seine Schulter legte, fuhr er auf.
»Dammi!« fluchte er schlaftrunken.
»Ich bin's Jochen!« sagte der feingekleidete Herr, der einen eleganten Schiffskoffer bei sich führte. »Es ist etwas spät geworden, wir müssen uns beeilen, wollen wir noch zur Zeit kommen!«
An der Stimme erkannte der Schiffer den Sprecher, den er phlegmatisch grüßte.
»Wir haben noch eine Viertelstunde, Herr Overkamp!« sagte er dann.
Der Herr stieg die Treppe zum Boot hinunter, ohne zu antworten. Jochen folgte ihm, stellte sich ans Steuer, schaltete die Maschine ein, die Schraube begann ihre Umdrehungen, und das Schifflein schoß hinein in die Nacht, wand sich zwischen den schwarzen Kolossen der Überseedampfer geschickt hindurch und legte endlich neben einem derselben bei.
Ein kurzer Anruf, ein Fallreep senkte sich hernieder. Overkamp bezahlte den Schiffer, grüßte und verschwand an Bord.
Gemächlich drehte Jochen das Steuer, fuhr nach dem Pier zurück, machte das Boot fest, schritt über den Platz in ein enges Gäßchen und verschwand in einem niedrigen Hause.
Merkwürdig! Der Mann, der in dem qualmerfüllten Zimmer saß, glich dem Eintretenden aufs Haar.
»So, Jochen, da hast du dein Geld!« sagte dieser und warf den Betrag, den Overkamp ihm gezahlt hatte, auf den Tisch.
»Er ist fort?« fragte der andre.
»Ja.«
»Herr, ich verstehe Euch nicht! Warum habt Ihr Euch seiner nicht versichert? Ihr werdet ihn drüben schwerlich wiederfinden.«
Der andre erwiderte nichts. Er hatte sich abgewendet und hantierte an seinem Gesicht herum. Nach einer Weile drehte er sich wieder der Lampe zu. Jetzt war die weiße Schifferkrause, der Seemannsbart verschwunden, desgleichen die buschigen Brauen, die Krähenfüße an den Augen, die Falten in der Stirn.
Ein jugendlich schönes, edelgeschnittenes Antlitz schaute unter der gestrickten Mütze hervor.
Das war Nobody, wie ihn seine Frau kannte.
»Keine Sorge, Jochen!« sagte er. »Ich tue nichts ohne Grund! Jetzt Good bye!«
Er winkte grüßend mit der feinen Hand und ging.
Der Schiffer strich das Geld vom Tische.
»Den möchte ich ja nicht auf meinen Fersen haben,« sagte er. »Aber immerhin — eine Kieljagd ist eine lange Jagd!«
An der Pacificstrecke im Staate Missouri liegt die Station Saint Joseph, bestehend nur aus einem einzigen Häuschen, zur Hälfte Gastwirtschaft, zur Hälfte zum Post- und Telegraphendienst eingerichtet.
Die nächsten Farmen liegen weit ab; selten einmal kehren Arbeiter und Cow-boys hier ein, verbringen die Mississippischiffer hier einmal eine Nacht mit Zechen und Tanzen, sonst ist die Gastwirtschaft auf den Besucher angewiesen, der aussteigt, um die in der Nähe befindlichen Katarakte anzusehen.
Früher war Saint Joseph eine Hauptstation, weil die Passagiere hier die Dampfer verließen und den Pacificzug bestiegen, jetzt ist dies nicht mehr der Fall, der Zug hält nicht mehr, wenn Passagiere nicht vorher telegraphisch angemeldet sind oder den Zug verlassen wollen.
Es war heißer Mittag. In der weißgestrichenen Schenkstube saß der Wirt im Lehnstuhl mit über dem Bäuchlein gefalteten Händen und schnarchte, unbekümmert darum, daß die Fliegen auf seiner dicken Nase Kletterübungen machten.
War schon seine Physiognomie eine germanische, so verrieten auch die Schürze und die Holzpantoffeln den deutschen Bauer.
Auf der Bar standen Flaschen und Gläser, die Gäste, die jetzt aber fehlten, konnten sich an Tischen placieren, die Wände schmückten bunte Bilder aus dem letzten deutsch-französischen Kriege, auch Porträts von deutschen Fürsten und deren Angehörigen fehlten nicht, und so bot das Ganze den Eindruck einer deutschen Bauernschenke, man glaubte sich nicht in Amerika, noch dazu fast mitten in der Prärie zu befinden.
Eine Ausnahme machte nur ein an der Wand ausgespanntes, ziemlich räudig aussehendes Pantherfell. Darauf war ein Stück Papier befestigt mit der ewig jung bleibenden Bemerkung: »Vor vierzehn Tagen geschossen von mir selbst.«
Niemand störte die Ruhe des Schläfers. Auch die beiden Postbeamten hielten wohl in ihrem Raume Siesta.
Endlich trat ein Mann ein, der in diese Gegend paßte. Er war klein, mager und beweglich, mit funkelnden, aber freundlichen Augen, war ganz in Leder gehüllt, das Haar des Fells nach außen, was ihm ein zottiges Aussehen gab, an den Beinen langschäftige Stiefel, am Gürtel ein Jagdmesser, an der Seite eine vollgepfropfte Jagdtasche und in der einen Hand eine lange Flinte. Diese setzte er dröhnend auf den Boden, aber der Wirt wachte dadurch nicht auf.
Der Fremde betrachtete mit freudig erstaunten Blicken das Pantherfell, fuhr mit der Hand darüber und nickte befriedigt mit dem Kopfe.
Dann ging er auf den Schläfer zu und rüttelte ihn.
»He, Wirt!«
Dieser schlug langsam die Augen auf, glotzte den Fremden dumm an, murmelte etwas, schloß dis Augen wieder, wurde aber durch neues Rütteln abermals zur Besinnung gebracht.
»Guten Tag auch!« sagte er mit fettiger Stimme.
»Seid Ihr der thüringsche Gottlieb?«
»Ja, der bin ich.«
»Habt Ihr den Panther da geschossen?«
»Ja, vor vierzehn Tagen. Wer seid Ihr denn?«
»Adolf Müller heiße ich.«
»Ach, da seid Ihr wohl der, der drüben die Farm gekauft hat?«
»Ja, der bin ich.«
»Wollt sie selbst bewirtschaften?«
»Allemal. Schenkt aber erst einmal etwas ein!«
Schwerfällig, so langsam, wie er sprach, erhob sich der Wirt, schleifte sich an die Bar, goß Brandy in zwei Gläser, setzte die Wasserflasche daneben und schüttete sich den Inhalt seines Glases hinter die Binde.
Es wurde gleich an der niedrigen Bar auf Stühlen Platz genommen, in der Nähe der Quelle.
»Wann habt Ihr den Panther geschossen?« fragte Müller.
»Gestern waren's gerade vierzehn Tage.«
»Gibt's denn noch mehr hier?«
»O ja, ich denke, in der Flußniederung.«
Des Jägers Augen leuchteten auf.
»So laßt Euch doch nicht so zum Reden zwingen, Mann, erzählt mir, wie Ihr ihn geschossen habt!«
Der Wirt leerte ein neues Glas, setzte sich in Positur und räusperte sich.
»Das will ich Euch wohl erzählen,« begann er. »Ihr müßt nämlich wissen, ich bin aus Thüringen zu Hause, bei Gera. Da habe ich einen Verwandten in Pforten, das liegt auch bei Gera, man hat höchstens eine halbe Stunde zu gehn, auf einer wunderhübschen Chaussee, da sind Bäume, die hat der Fürst alle ganz komisch beschneiden lassen. Heinrich Pohl, hieß der Gärtner, der das tat, ich weiß gar nicht mehr, ob er noch lebt; was nämlich sein Bruder ist, mit dem habe ich mich manchmal geschrieben; aber der ist nun auch vor Jahrer viere gestorben; er hat sich einmal überhoben, wie er Weizensäcke aufladen tat. Da ist er in die Klinik nach Jena gekommen bein Professor Karg, dem seiner Frau die Ölmühle gehörte, die vor Jahrer sechse abgebrannt ist. Ja, da hatten die mit der Brandversicherung einen langen Prozeß, aber bezahlen mußte sie doch zuletzt ...«
»He, Gottlieb, Ihr wolltet mir doch erzählen, wie Ihr den Panther geschossen habt.«
»Ja freilich, ich komme ja gleich darauf. Was also nun mein Onkel in Pforten bei Gera ist, der hatte ein schönes Gut und einen Hof mit vier Pferden und Stücker achtzehn Kühen, und wenn sein Schwiegervater starb, hatte er auch noch was Schönes zu erwarten. Seine Frau war nämlich die Tochter vom alten Schmied in Pforten, der auch brauen durfte, aber zuletzt hatten sie's ihm verboten. Das kam nämlich so —«
Adolf Müller sprang auf, daß der Stuhl umfiel.
»Nun hab' ich's aber mit Eurem verfluchten Onkel aus Pforten bei Gera satt! Wollt Ihr mich eigentlich foppen?«
»Foppen? Nee. Erzählen will ich's Euch.«
»Wo habt Ihr denn den Panther geschossen?«
»Dort an der Flußniederung, wo die letzte Farm aufhört, da wohnt nämlich auch ein Deutscher, ich glaube, 's ist ein Sachse, der hat einen Sohn, der hat auch noch meinen Onkel aus Pforten bei Gera gekannt. Wie der nämlich ...«
»Vor vierzehn Tagen?«
»Vor vierzehn Tagen? Nee, mein Onkel ist ja schon seit Jahrer fünfe tot.«
»Gott steh mir bei, seid Ihr aber hart gesotten!«
»Ja, was wollt Ihr denn eigentlich von mir?«
»Wissen, wie Ihr den Panther aufgespürt habt,« schrie der Kleine wütend, »ich bin nämlich auch ein Pantherjäger.«
»Na ja, ich will's Euch ja auch erzählen, Ihr laßt mich ja aber nicht zu Worte kommen ...«
»Als nämlich mein Onkel aus Pforten bei Gera,« lachte eine fremde Stimme, »wissen's schon. Guten Tag!«
Es kam wieder ein Gast, ein großer, starker Mann im Reiseanzug, überhaupt anständig aussehend, mit schwarzem Vollbart.
Er hatte die Unterredung von außen durch das Fenster mit angehört.
»Wann kommt der nach San Francisco gehende Pacificzug hier vorbei?«
»Morgen früh um zehn Uhr.«
»O weh, so spät erst?«
»Wollt Ihr mit?«
»Natürlich, darum frage ich.«
»Wo kommt Ihr denn her?«
»Ihr seid furchtbar neugierig, Wirt.«
»Wo habt Ihr denn Euer Gepäck?«
»Habe keins. Ein Glas Whisky und Wasser!«
Der Fremde setzte sich und trank, die beiden andern ebenfalls.
»Wo habt Ihr denn das Pantherfell her?« fragte der Schwarze. »Habt Ihr das Tier wirklich selbst geschossen?«
»Freilich habe ich es selbst geschossen, es steht doch daran.«
»Na, das macht die Wahrheit noch nicht aus.«
»Denkt Ihr, ich lüge?«
Der Wirt sagte das nicht beleidigt, er kam überhaupt nie aus seiner Ruhe.
»Ich denke, hier gibt es gar keine Panther mehr?«
»Jawohl, da hängt ein Fell davon.«
»Sie sind Pantherjäger?« wandte sich der Fremde an Adolf Müller.
»Unten in Karolina gab's viele,« sagte dieser leichthin. »Sechzig Stück habe ich dort wenigstens erlegt.«
»Sechzig Stück? Donnerwetter, das ist viel!«
»Waren Sie schon in Südkarolina?«
»Nein, so weit hinunter bin ich noch nicht gekommen.«
»Ja, da müssen Sie hin. Meine Farm lag mitten im Walde; zuerst glaubte ich immer, es donnere in der Nacht, und wenn ich nachsah, waren's die Panther, die den Lärm machten. Da nahm ich natürlich immer meine Büchse und räumte unter ihnen auf.«
»In Südkarolina soll es auch viel Schlangen geben,« meinte der Wirt.
»Und was für welche!« bestätigte Müller. »Ich habe einmal eine Riesenschlange erlegt von vierzig Fuß Länge und drei Fuß Dicke. Sie hatte gerade einen Ochsen verschluckt, einen langhörnigen, und da wurde es mir nicht allzu schwer, sie zu töten.«
»Einen ganzen, großen Ochsen auf einmal?« staunte der Wirt, wenigstens äußerte sich sein Staunen stets dadurch, daß er seine Augen weit aufriß.
»Das ist für eine Riesenschlange weiter gar nichts. Einen Menschen verschluckt sie wie eine Pille.«
»Was wurde denn aber aus den Hörnern? Die stehn doch bald drei Meter auseinander. Die hat sie wohl vorher abgebissen?«
»Unsinn, die guckten vorn aus dem Maule. Es sah närrisch aus, das Vieh, eine gehörnte Schlange. Gerade die Hörner machten es mir leicht, sie zu fangen, sie konnte nicht durch die Büsche kriechen.«
»Ob wohl ein Mensch gleich tot ist, wenn ihn so eine Riesenschlange verschluckt?«
»Das kommt ganz darauf an. Ich habe unten in Karolina einmal eine Riesenschlange erlegt, und als ich ihr den Magen aufschnitt, was sprang da heraus? Ein Indianer frisch und munter! Zwei Tage hatte er daringesteckt, und nur ein Arm war schon etwas verdaut. Wir schüttelten uns die Hand und rauchten zusammen eine Friedenspfeife. Der Kerl lebt jetzt noch da unten.«
Der Wirt schlug mit der Faust auf den Tisch.
»Gottssakkerlot, was nicht alles in der Welt passiert, und unsereins hat keine Ahnung davon! Nun denkt man, man ist in Amerika — jawohl, gar nichts weiß man. Auf der Landkarte sieht's auch freilich kleiner aus, als es in Wirklichkeit ist.«
»Gibt's denn auch viele giftige Schlangen unten?« fragte der bärtige Fremde, dem Kleinen mit den Augen zublinzelnd.
»Besonders Klapperschlangen die schwere Menge.«
»Haben sie denn wirklich eine Klapper hinten am Schwanze?«
»Ja, und wenn sie beißen wollen, klappern sie erst. Das soll so viel heißen wie: Achtung, ich beiße!«
»Das ist aber hübsch von den Tieren.«
»'s ist so eine Angewohnheit, aus Höflichkeit tun sie's nicht. Es gibt zweierlei Arten, eine, die weniger giftig ist, und eine, die ganz furchtbar giftig ist. Wen sie beißt, der ist sofort tot, auf der Stelle. Mich hat einmal eine gebissen — na, ich danke!«
»Von den furchtbar giftigen?«
»Jawohl.«
»Hört, Ihr könnt aber schwindeln!«
»Was? Ich?« zürnte der Kleine. »Wenn ich sage, es hat mich eine Schlange gebissen, dann hat mich eine gebissen!«
»Wenn's nur kein Floh war. Ihr selbst habt ja eben gesagt, wen eine von den giftigen Klapperschlangen beißt, der ist auf der Stelle tot, und Ihr lebt ja noch. Mich macht Ihr nicht dumm. Was mein Onkel in Pforten bei Gera war ...«
»Wer hat denn gesagt, daß sie mich ins Fleisch gebissen hat?«
»Wo denn sonst hin? In die Haare?«
»Nein, in die Stiefel. Das war meine Rettung.«
»Ach so, das ist etwas andres!«
»Ja, aber nun denkt Euch! Zu Hause ziehe ich die Stiefel aus und stelle sie weg. Wie ich sie nach drei Tagen wieder anziehen will, da fallen sie mir in den Händen auseinander, das Leder war morsch wie Zunder geworden, nur durch den Schlangenbiß. So giftig sind diese Viecher.«
»So etwas kann ich auch erzählen,« ließ sich jetzt der bärtige Fremde vernehmen. »Ich war nämlich längere Zeit in Indien, als englischer Soldat, wißt Ihr, wo die gefährlichen Brillenschlangen sind ...«
»Ja, die Brillenschlangen sind noch viel giftiger als die Klapperschlangen,« stimmte Müller bei.
»Haben sie denn Brillen auf der Nase, daß sie so heißen?« fragte der Wirt.
»Freilich, wenigstens einen durchsichtigen Stein klemmen sie sich ins Auge, daß sie besser sehen können.«
»Nee, so etwas lebt doch nicht. Wie klug die Tiere aber doch manchmal auch sind! Gerade wie die Menschen. Na, was war denn nun mit der Brillenschlange?«
»Ja, da beißt mich einmal eine in meinen Waffenrock. Das hatte nichts weiter zu bedeuten. Am Abend hatten wir Appell; ich putze also meine Messingknöpfe noch einmal, und wie wir angetreten sind, da — sind die Knöpfe ganz grün angelaufen. Ich bekomme eine Strafwache. Dann putze ich meine Knöpfe wieder, und eine Stunde später sind sie wieder dick mit Grünspan bedeckt.«
»Da hat Euch einer Heringslake draufgeschmiert,« lachte der pfiffige Wirt.
»Unsinn, was ganz andres war es. Der oberste Knopf fiel zuerst ab, dann ein zweiter, das Futter fing an zu riechen, es ging wie Zunder heraus, dann lief der ganze Waffenrock, eigentlich grau, nach und nach in verschiedenen Farben an, zuerst wurde er blau, dann gelb, dann rot, immer dunkler, und als er schwarz war, da zerfiel er in Asche — alles nur durch das Schlangengift.«
Der Wirt schlug die Hände über dem Kopf zusammen.
»Nee, aber so was! Ich war auch einmal in einer Schlangenbude, in Gera auf der Vogelwiese, mein Onkel aus Pforten bei Gera nahm mich mit hin, aber so was gab's da nicht.«
Sie kamen dann auf Taschenspielerkunststücke zu sprechen, und es zeigte sich, daß der Schwarzbärtige auf diesem Gebiete Meister war.
Er ließ sich zwar nicht dazu bewegen, eine Erklärung zu geben, dagegen führte er noch mehr Kunststücke aus, eines immer wunderbarer als das andre, so daß die beiden vor Staunen Mund und Nase aufsperrten.
»Woher könnt Ihr denn das?«
Der Bärtige zuckte lächelnd die Schultern.
»Geschwindigkeit ist keine Hexerei, aber macht es mir erst einmal nach.«
»Ich glaube, Ihr seid wirklich ein Taschenspieler,« sagte der Wirt.
Der Fremde horchte hoch auf.
»Wie kommt Ihr auf den Gedanken?«
»Ich dachte nur so, weil Ihr solches Zeug könnt.«
»Ich hielt Euch eher für einen Schauspieler,« meinte Müller.
»Unsinn!« lachte der Fremde rauh.
»Na, was Feines seid Ihr.«
»Ich reise zu meinem Vergnügen.«
Da kamen Matrosen und Heizer von einem Dampfer, der gelandet hatte, um Holz einzunehmen, schnell einen Schluck zu trinken.
Der Wirt wollte ihnen erzählen, was der Fremde da ihnen vormachen könnte, aber sie achteten nicht darauf, hatten keine Zeit.
»Habt Ihr's schon gehört, Wirt? Cutting Knife ist wieder aufgetaucht, oben am Karryhock hat ihn ein Farmer erkannt.«
»Wer ist denn das?«
»Was? Das wißt Ihr nicht? Der berühmte Jäger, der vor einigen Jahren in den westlichen Staaten so viel von sich reden machte!«
»Ah so, der. Wo hat denn der bisher gesteckt?«
»Ja, was weiß ich!«
Der Fremde war bei der Nennung des Namens Cutting Knife zusammengezuckt, als wenn er ein böses Gewissen hätte.
»Wo ist denn das, Karryhock?« mischte er sich ein.
»120 Meilen stromaufwärts von hier.«
»Wer will ihn dort gesehen haben?«
»Der Farmer Black, der auch Holz für die Dampfboote schlägt. Gestern abend sprach ein Mann bei ihm vor, und weil nun Black lange in den Weststaaten gelebt und Cutting Knife oft dort zu Gesicht bekommen hat, erkannte er ihn sofort wieder, sagte es ihm auf den Kopf zu, und Cutting Knife leugnete auch nicht lange.«
»So, so! Was will denn der dort oben?«
»Wer kann's sagen? Der läßt sich nicht in seine Karten blicken.«
Der Fremde im Vollbart zog die Uhr.
»Ihr fahrt nach St. Louis?«
»Ja, flußabwärts.«
»Wann seid Ihr dort?«
»Spätestens 10 Uhr abends.«
»Ich denke, der Pacificzug geht um diese Zeit durch St. Louis?«
»Neun Uhr vierzig. Wenn wir kein Malheur unterwegs haben, treffen wir ihn immer noch. Jedenfalls ist unser Dampfer der letzte, der Anschluß hat.«
»Wußtet Ihr denn das nicht?« wendete der Fremde sich entrüstet an den Wirt.
»Freilich wußte ich das!«
»Und Ihr hättet mich bis morgen früh hier warten lassen?«
»Na, Ihr habt mich ja gar nicht gefragt.«
»Wollt Ihr mit?« rief einer der Dampfermatrosen. »Dann beeilt Euch!«
Der Schwarzbärtige war sofort bereit, hing seine Tasche um und begleitete die Leute zum Dampfer, der eben das erste Abfahrtssignal gab.
Der Bahnbeamte sah den Fremden und kam ihm nach.
»Sir, Sie wollen mit dem Dampfer fort?« fragte er.
»Ja. Sie haben doch nichts dagegen?«
»Sie haben aber schon die Fahrt nach San Francisco bezahlt.«
»Das ist meine Sache. Behalten Sie das Geld. Ich fahre lieber mit der Konkurrenzlinie.«
Der Beamte konnte nichts darauf erwidern, er wandte sich ab und telegraphierte vorläufig, daß der Zug wegen eines aufzunehmenden Passagiers nicht in St. Joseph halten sollte.
Der Wirt freilich schüttelte bedenklich den Kopf, als er hörte, daß der Fremde bereits die kostspielige Fahrt nach San Francisco bezahlt habe und nun, um einige Stunden zu sparen, mit der Konkurrenzlinie fuhr.
Nordamerika wird nämlich von mehreren Pacificlinien durchquert, die sich gegenseitig arge Konkurrenz machen, und zwar unterbieten sie sich an den Endstationen immer. Der Fahrpreis schwankt fortwährend. Steigt man aber in der Mitte der Linie auf, so zahlt man bis zur Endstation nicht nur den vollen, sondern sogar einen höhern Preis als für die ganze Fahrt. Denn, sagt sich die Bahndirektion, jetzt muß er unsern Zug benutzen, er kann nicht zur Konkurrenzbahn hinüberlaufen. Nur wo Stromverkehr ist, treten Ausnahmen ein; nicht immer aber liegen die Bahnen so nahe, wie zwischen St. Joseph und St. Louis, wo auch schon wieder die Konkurrenz in Frage kommt.
In Deutschland und in andern Ländern würde man ein solches Geschäftsprinzip als Schwindel bezeichnen, der Yankee läßt es sich gefallen.
Bemerkungen über diese sonderbare, schnelle Abreise des Fremden austauschend, blieben Müller und der Wirt noch einige Zeit zusammen, bis sich erstrer verabschiedete, um nach seiner Farm zurückzugehn.
Die Mittagssonne brannte noch immer in voller Wut auf die Erde hernieder, und der Wirt wäre bald wieder in Schlaf gesunken, wenn nicht ein neuer Gast gekommen wäre.
Auch er trug, wie es bei allen reisenden Fremden in diesen Gegenden nicht anders sein konnte, dauerhafte Jagdkleidung und Waffen. Es war ein noch junger Mann.
Der redselige Wirt fragte gleich, woher er käme und wie er hieße und was er denn hier wolle.
Fred Jenkins hieße er, wie ein Engländer sah er auch aus — er käme mit einem Dampfer von oben, sei aber ausgestiegen, um sich die Wasserfälle zu besehen, und nun wolle er mit dem Pacificzug weiter.
»Habt Ihr schon die Fahrkarte?«
»Nein, noch nicht. Der Pacific fährt doch erst morgen früh vorüber.«
»Ja, daß es aber Euch nicht so geht, wie dem Fremden vorhin. Der hatte auch schon bezahlt und wollte mit. Als jedoch ein paar Matrosen von einem Dampfer kommen, und er hört, er kann noch heute nacht von St. Louis gleich nach San Francisco, kriegt er plötzlich die Idee, da mitzufahren. Da hat er natürlich doppelt bezahlen müssen; das Geld bekommt er hier nicht wieder heraus.«
»Er hatte es vielleicht eilig.«
»Bah, die paar Stunden Unterschied machen es auch nicht aus.«
»Nun, für einen Geschäftsmann doch manchmal.«
»Ich glaube eher, es war so ein Hokuspokusmacher.«
»Was meint Ihr damit?«
»Daß er ein Taschenspieler war. Sie hätten nur sehen sollen, was der uns alles vorgemacht hat!«
Der thüringsche Gottlieb begann weitschweifig zu erzählen, während Fred Jenkins stutzte und ungeduldig mit den Fingern auf dem Tisch trommelte.
»Wie sah der Fremde denn aus?« unterbrach er endlich den Wirt.
Dieser gab eine eingehende Schilderung des Schwarzbärtigen und erwähnte auch, daß die Matrosen von Cutting Knife gesprochen hätten.
»Was sagten die Leute?« fragte Fred Jenkins. »Man hätte Cutting Knife am Karryhock gesehen?«
»Jawohl!«
»Und darum schlug der Fremde einen andern Weg ein?«
»Das hat er mir nicht gesagt.«
»Es ist gut! Wann geht der nächste Dampfer nach St. Louis?«
»Es kommen immerwährend welche vorbei, man braucht ihnen nur unten an der Holzstation mit der Flagge zu winken, dann stoppen sie.«
»Was für ein Boot war das, mit dem der Fremde fuhr?«
»Ein Passagierschnelldampfer, der ›Hurikon‹. Ihr wollt wohl auch nach St. Louis?«
»Ja doch, Mann. Wann geht der nächste Schnelldampfer nach St. Louis?«
»Heute spät abends. Nun hört doch alles auf, will der auch dorthin mit einem Male!«
»Jetzt ist es zwei Uhr,« setzte der Wirt hinzu, »um drei kommt auch noch ein kleiner Schnelldampfer vorüber, mit dem könnt Ihr aber nicht nach St. Louis fahren.«
»Warum nicht?«
»Sehr einfach, weil er nur bis nach Jefferson fährt.«
»Ah, das ist gut. Hier Eure Zeche!« Der junge Mann warf einen Dollar auf den Tisch, hing sich die Büchse um und stürmte davon, dem Stromufer zu, den Wirt in seinem Staunen zurücklassend.
Hätte der thüringsche Gottlieb sich von den Matrosen das Aussehen des berühmten Cutting Knife beschreiben lassen, dann wäre er keine Minute im Zweifel gewesen, daß er denselben vor sich habe.
Jedenfalls aber wußte nun Nobody, der sich ja unter der Maske des kühnen Westmannes verbarg, daß er auf der richtigen Fährte war.
Seine Kombinationen stimmten mit den Tatsachen überein. Der schwarzbärtige Fremde war Jean Matelas, der sich auf dem Wege befand, mit Hilfe des gestohlenen Planes die Goldminen im Sakramentotale aufzusuchen und auszubeuten. Der Betrüger konnte unmöglich wissen, daß Cutting Knife identisch sei mit dem berühmtesten aller Detektivs, wohl aber hatte er gehört, daß der Westmann in der Arena Indian Bills aufgetaucht war und glaubte nun, daß Cutting Knife von diesem zur Verfolgung ihm nachgeschickt sei.
Selbstverständlich wäre es Nobody ein leichtes gewesen, sich auf dem Wege zum Strome ein andres Aussehen zu geben und Cutting Knife wieder verschwinden zu lassen, aber er hatte seine Gründe, dies nicht zu tun.
Jean Matelas konnte ihm auf keinen Fall mehr für immer entschlüpfen. —
Am Ufer des Mississippi hausen in gewissen Entfernungen voneinander Ansiedler, die Holz fällen, es in Klötze spalten, diese aufstapeln und an Dampfer verkaufen, wenn solche Verlangen äußern, Brennmaterial einzunehmen. Zugleich setzen diese Holzhauer auch Passagiere an Bord von vorüberfahrenden Dampfern. Eine solche Station war auch hier.
Der Holzhauer hatte eben gute Geschäfte gemacht, seine Stapel verkauft und war daher redselig. Er bot Jenkins, der an Bord des nächsten Dampfers nach Jefferson wollte, seine Whiskyflasche an, trank selbst und erzählte lange Geschichten von Flußpiraten, die früher den Mississippi unsicher gemacht hatten.
Mit Vorliebe legten sie künstliche Snaks, das sind Baumstämme, die mit dem einen Ende im Stromgrund stecken, mit dem andern Ende nach oben stehn, zum Teil aber noch unter dem Wasser liegen, die gefährlichsten von allen Hindernissen, vielen Fahrzeugen Verderben bereitend. Flußpiraten schaffen an ihnen zugänglichen Stellen künstlich solche Hindernisse und bereichern sich an den Trümmern und an der Ladung der Boote, die dort scheitern.
Der Meinung des alten geschwätzigen Holzfällers nach trieben solche Flußpiraten immer noch ihr Unwesen am Mississippi, denn sonst konnten nicht so viele Schiffe, besonders Dampfer, welche die Post an Bord hatten, untergehn. Der Vater der Ströme ist ja gewaltig lang und sehr breit. Unzählige Inseln liegen in ihm verstreut, und seine Ufer sind noch an vielen Stellen von Urwald bedeckt, der den Räubern ausgezeichnete Schlupfwinkel bietet.
Nobody oder, wie wir ihn weiter nennen wollen, Fred Jenkins hörte diese Erzählung ruhig an. Endlich sah er nach der Uhr, und da tauchte auch in der Ferne die Rauchfahne des erwarteten Dampfers auf.
Der Holzhauer hißte am Maste seiner Hütte eine Flagge und machte das Boot klar, in dem der Westmann bereits saß.
»Wann passiert der ›Hurikon‹ Jefferson?« fragte er.
»Um fünf Uhr.«
»Und dieser?«
»Nach sechs Uhr.«
»Wie heißt der Kapitän?«
»Gärtner.«
»Ein Deutscher?«
»Nein, ein echter Yankee; er hat Haare auf den Zähnen.«
Desto besser! Wenn es ein Yankee war, so ließ er sich auch auf ein Geschäft ein, das Cutting Knife mit ihm vorhatte.
Der Dampfer pfiff — ein Zeichen, daß er die Flagge bemerkt habe, und fuhr langsamer. Das Boot setzte ab. Nach zehn Minuten war Fred Jenkins an Bord.
Das Deck war bei dem schönen Wetter dicht mit Passagieren besetzt, die den Ankömmling neugierig musterten. Dieser mußte, um den Fahrpreis zu entrichten, sofort zum Kapitän, einem ernsten Mann mit kalten Augen und scharfen Zügen, dem man den Yankee sofort ansah.
In der Kajüte befand sich außerdem noch ein Herr, ein schöner, hochgewachsener Mann von vielleicht vierzig Jahren, eine ungemein anziehende Erscheinung. Das Gesicht war offen und ehrlich, die Augen blickten klar und kühn — alles an ihm war Ruhe, Kraft und Überlegenheit.
»Kann ich Sie allein sprechen, Kapitän?« fragte Jenkins.
Der Mann musterte ihn scharf.
»Mein Freund, Mister Patterson, Sheriff von Jefferson,« stellte er dann den andern Herrn vor. »Ich brauche vor ihm keine Heimlichkeiten zu haben.«
Als Sheriff bezeichnet man in kleinen amerikanischen Städten den Bürgermeister, dem auch Polizeibefugnisse zustehn.
»Ah, der Sheriff von Jefferson, das ist etwas andres! Dann spreche ich gleich offen. Kapitän, ich möchte gleichzeitig mit dem vor Ihnen fahrenden Dampfer in St. Louis eintreffen.«
»Das ist nicht möglich, ich fahre nur bis Jefferson.«
»Ich komme für jeden Schaden auf, den Sie erleiden.«
»Ich folge meinen Instruktionen.«
»Wie lange bleiben Sie in Jefferson liegen?«
»Einen Tag zum Aus- und Einladen.«
»Benutzen Sie diesen Tag, den Dampfer bis nach St. Louis einzuholen. Ich zahle Ihnen, so viel Sie wollen.«
»Nein, und wenn Sie mir den Dampfer abkaufen,« sagte der Kapitän entschieden.
»Könnten Sie den ›Hurikon‹ bis nach Jefferson einholen?«
»Ja. Ich habe eine neue Maschine bekommen, fahre nur mit dreiviertel Kraft.«
»Well, so holen Sie ihn ein, ich zahle Ihnen eine Prämie von 1000 Dollar.«
»Nein.«
»Aber warum denn nur nicht?«
»Mir sind die Passagiere übergeben worden ...«
»Wenn Sie aber nicht einmal mit voller Kraft fahren!«
»Ich gehe meiner Vorschrift nach, damit basta!«
»Sind Sie ein Amerikaner?«
»Das ist es eben, ich bin kein Yankee, ich bin ein Deutscher,« entgegnete Gärtner wider Erwarten.
»Oho, das ist beleidigend für mich!« lächelte der Sheriff. »Warum wollen Sie den Dampfer eigentlich einholen?« fragte er Jenkins.
Der Kapitän verließ die Kajüte.
»Es ist ein Mann an Bord, dessen ich mich bemächtigen will.«
»Sie wollen ihn auf eigne Faust dingfest machen?«
»So ist es.«
»Ich verstehe. Doch wenn der Mann sich wirklich an Bord des ›Hurikon‹ befindet, dann überlassen Sie seine Festnahme doch mir — ich telegraphiere einfach nach Jefferson —«
»Danke sehr!« lehnte Jenkins ab. »Ich führe gern selbst aus, was ich mir vorgenommen habe!«
Der Sheriff antwortete nicht, schaute aber den Sprecher mit eigentümlich durchbohrenden Blicken an, zog ein Zeitungsblatt aus der Tasche, schlug es auseinander, reichte es Jenkins, indem er auf ein Porträt deutete.
»Kennen Sie den?«
Nobody sah sich abgebildet als Cutting Knife, und darunter stand, daß der berühmte Westmann in Hamburg bei der Truppe Indian Bills aufgetaucht sei. Ohne eine Miene zu verziehen, gab der angebliche Jenkins die Zeitung zurück.
»Ich bin es!«
»Sie verfolgen den Dieb, der dem Obersten den Plan über die Lage der Goldfelder gestohlen hat?«
»Ja!«
»Vermutet er Sie an Bord dieses Dampfers?«
»Schwerlich!«
»Gut! Ich weiß, daß es Ihnen schwer fällt, einen andern handelnd für sich eingreifen zu lassen, hier aber müssen Sie mir dies schon einmal gestatten!«
Jenkins verbeugte sich schweigend. Der Sheriff entfernte sich und begab sich zum Kapitän, unterhandelte mit demselben einige Zeit, dann ertönten Klingelsignale — die Heizer eilten an die Feuer.
Patterson kehrte zurück. Er hatte keine Ahnung von den Gedanken, die inzwischen das Hirn des Detektivs durchkreuzt hatten, und am allerwenigsten vermochte er den wahren Grund zu erraten, der Nobody bewogen hatte, einmal einen andern für sich handeln zu lassen, vielmehr ihn, ohne daß er es merkte, als Werkzeug zu benutzen.
»Alles in Ordnung!« sagte der Sheriff. »Der Kapitän garantiert, vier Meilen vor Jefferson den Dampfer eingeholt zu haben. Er hält Wort, und wenn sie sich dort an die Ventile hingen. Der ›Hurikon‹ ist ein alter Kasten, macht seine letzten Fahrten. Feuerung haben wir genug. Kommen Sie, ich stelle Sie meiner Familie vor. Sie sind ein Freund von mir, den ich in New-York kennen gelernt habe.«
Jenkins wurden zwei Damen vorgestellt. Die eine, die Gattin Pattersons, war eine Frau von dreißig bis fünfunddreißig Jahren, eine imposante Erscheinung, auf deren Antlitz Anmut und geistiger Adel thronten. Die etwa zwanzigjährige Miß Patterson, des Sheriffs Schwester, war ein reizender Lockenkopf.
Mit mütterlichem Wohlwollen bot die Missis dem Freunde ihres Gatten die Hand, das junge Mädchen fragte gleich, wie es jetzt in New-York aussehe, wo sie in Pension gewesen, und bald war ein lebhaftes Gespräch im Gange über die Annehmlichkeiten, die eine große Stadt und eine kleine Stadt böten.
Aus dem Schlot des Fahrzeuges wirbelte eine mächtige Dampfwolke empor, er spritzte einen Feuerregen aus, das Schiff erzitterte plötzlich in allen Fugen.
»Was ist das?« fragte Missis Patterson besorgt. »Wir werden uns doch nicht in eine Wettfahrt einlassen?«
»Habe keine Angst,« lachte der Sheriff, eine Orange schälend und sie mit der Schwester teilend, »Kapitän Gärtner ist kein gewinnsüchtiger Yankee, sein Ehrgeiz geht auch nicht so weit, daß er das Leben der Passagiere und sein eignes aufs Spiel setzt; er probiert nur einmal die volle Kraft der neuen Maschine. Eine Kesselexplosion ist nicht zu befürchten.«
»O, eine solche Katastrophe ist entsetzlich. Ich habe einmal als Zuschauer vom Lande aus eine mitangesehen.«
Missis Patterson schauerte zusammen und verhüllte sich die Augen mit dem Spitzentuche. »Auf dem Mississippi sollen derartige Dampferexplosionen öfter vorkommen.«
»Immer infolge von Wettfahrten. Das ist die Konkurrenz. Den Dampfer, der einmal überholt worden ist, benutzt kein Mensch mehr.«
»Ein grauenhafter Eigensinn unsrer Nation.«
»Sind Sie New-Yorker?« fragte Miß Patterson.
»Jawohl, Miß.«
»Ach, mein schönes New-York! Kennen Sie Jefferson?«
»Nein.«
»Möchten Sie es nie kennen lernen!«
»Wie? Fühlst du dich unglücklich bei uns?« fragte die Gattin des Sheriffs.
»Bei euch nicht, das wäre unmöglich,« entgegnete Miß Patterson lebhaft, zärtlich den Arm um die Schwägerin schlingend. »Ich muß mich nur erst an das Leben in einer solchen Kleinstadt gewöhnen — die Umgebung gefällt mir ja, aber —«
»Das rohe Schiffsvolk weniger, meinst du,« unterbrach sie der Bruder. »Freilich, Gentlemen mit Glacéhandschuhen sind die Leute nicht. Man muß sie eben entsprechend behandeln. Wer mit ihnen umzugehn weiß, wird auch ganz gut mit ihnen auskommen.«
Patterson entfernte sich für einen Augenblick.
Mit vor Stolz leuchtenden Augen blickte ihm die Gattin nach.
»Wenn Sie nur wüßten, Sir,« wendete sie sich an den vermeintlichen Jenkins, »was für eine schwere Stellung er hat. Oft hat man ihn von Jefferson fortlocken wollen, er hat die glänzendsten Stellen angeboten bekommen — er ist Advokat — hat sie aber alle ausgeschlagen. Er mag sich eben nicht von der Stadt, in der er geboren ist, trennen. Übrigens könnte auch kein andrer als er in Jefferson Sheriff sein. Denken Sie sich! Vor zwei Jahren wurde er als General-Sheriff nach St. Louis versetzt, doch kaum war er fort, da brach in Jefferson Mord und Totschlag aus; kein andrer Sheriff konnte die Menge im Zaum halten, man wechselte beständig, die Bürger reichten Petition nach Petition ein, sie forderten ihren alten Sheriff zurück, und zuletzt mußte man ihnen willfahren. So kamen wir wieder nach Jefferson. Man hat meinen Gatten auf den Schultern nach unsrer alten Wohnung zurückgetragen. Wissen Sie, was für eine Bedeutung Jefferson als Stadt hat?«
Jenkins wußte es.
Jefferson am Mississippi, nicht zu verwechseln mit Jefferson-City am Missouri, ist zwar nur eine kleine Stadt, aber Zentrale des Fell- und Pelzhandels für die Staaten Iowa, Illinois, Missouri, Arkansas, selbst noch für Kentucky und andre. Es besitzt einen großen Hafen, denn hier kommen die Mississippischiffer zusammen und laden aus, meist Felle, verkaufen ihre Boote und ziehen in Dampfern als Passagiere wieder stromaufwärts. Aber auch Expeditionen von Trappern reisen direkt hierher, ihre Jagdbeute zu verhandeln.
Schon längst hätte Jefferson aufgehört, solch eine Zentrale zu sein, denn das nahe St. Louis wäre ein viel besserer Handelsmarkt, wenn diese Leute nicht zäh am Althergebrachten hingen.
Die Trapper sind schon ungeschliffene Menschen, aber nun erst die Stromschiffer! Das sind alles baumlange und baumstarke Burschen, so kupferbraun gebrannt wie die Indianer, mit ebensolchen Fähigkeiten ausgerüstet, die mit der Büchse ebensogut umzugehn wissen wie ihre Kollegen zu Lande, die Trapper, und denen das mächtige Bowiemesser immer handbereit ist.
Ihr Hauptvergnügen ist, einen Liter Whisky mit einem Male auszutrinken, nach den Klängen einer womöglich verstimmten Violine zu tanzen, zu singen und zu würfeln. Wenn die Schiffer und die Trapper in Jefferson zusammenkamen und Geld in den Fingern hatten, kam es oft zu blutigen Raufereien. Da mußte freilich ein Sheriff dazwischensein, der nicht nur eine eiserne Faust und Kaltblütigkeit besaß, sondern auch allgemein beliebt war.
Über dieses Jefferson herrschte Patterson wie ein König, oder vielmehr eben wie ein Sheriff über eine kleine amerikanische Stadt. Wenn es galt, seine Autorität zu wahren, durfte er jeden niederschießen, ohne sich deswegen verantworten zu müssen; wenn er einen verurteilte, und er fürchtete Selbstbefreiung oder einen Aufruhr, weil das Volk mit dem Gefangenen sympathisierte, so rief er die Geschworenen zusammen und ließ den Schuldigen hängen, ohne zuvor die oberste Gerichtsbehörde des Staates davon in Kenntnis zu setzen.
Trotzdem fühlte sich Missis Patterson ganz glücklich in dem Städtchen. Man begegnete ihr überall mit der größten Hochachtung, der roheste Mund verstummte bei ihrer Annäherung, ein Fremder wurde sofort zur Ruhe gebracht, wenn es nicht anders ging, mit einem Faustschlag.
Miß Patterson bedauerte nur, daß ihr Gatte mit Arbeit überbürdet sei und trotzdem keine Hilfskraft anstellen wolle, da niemand ihn vertreten könne. Sein Distrikt erstrecke sich nicht allein auf die Stadt, sondern auch auf die viele Quadratmeilen umfassende Umgebung derselben; — deshalb sei er oft Tag und Nacht abwesend und käme dann auf schweißbedecktem Pferde, bis zum Tode erschöpft, daheim an. Auch Miß Patterson erzählte mehrere Geschichten, aus denen hervorging, wie sehr die Bevölkerung von Jefferson und die von auswärts kommenden Schiffer und Trapper den Sheriff verehrten.
Unter solchen Gesprächen vergingen die Stunden.
Missis Patterson wurde immer ängstlicher, der kleine Dampfer schoß wie ein Pfeil durchs Wasser. Die amerikanischen Stromdampfer fahren überhaupt mit ungeheurer Schnelligkeit, dieser aber überholte alle andern.
Die übrigen Passagiere teilten diese Ängstlichkeit nicht, auch die Damen nicht. Sie freuten sich vielmehr.
»Paßt auf,« hieß es, »wir holen noch vor Jefferson den ›Hurikon‹ ein — — da — da ist er schon — nein, das kann er noch nicht sein — jawohl, das ist er!«
Sachverständige bestätigten, daß die rauchende Nußschale dort vorn nur der ›Hurikon‹ sein könne, der Kapitän sagte es selbst, und noch war man eine Stunde von Jefferson entfernt.
Sofort sollten Wetten abgeschlossen werden, man bestürmte den Kapitän, noch schneller zu fahren, aber es war alles nicht nötig, denn dieser erklärte, sein Dampfer würde eher an der Landungsbrücke liegen als der ›Hurikon‹.
Hurras ertönten. Alles geriet in Aufregung. Jenkins nahm vorn zwischen Fässern Posto, so daß er nicht gesehen werden konnte.
Um die Aufregung, die Wut zu fassen, welche auf dem ›Hurikon‹ entstand, als man merkte, daß der so schnell aufkommende Dampfer der eine Stunde später abgegangene, noch dazu so kleine ›Orinoko‹ sei, dazu muß man selbst ein Yankee sein. Dieser läßt sich nicht überholen. Das wäre ja eine unauslöschliche Schande, eine Schmach!
Als die Passagiere hörten, das sei der ›Orinoko‹, begannen sie zu toben und bestürmten den mit bleichem Gesicht und zusammengepreßten Lippen auf der Brücke stehenden Kapitän, seine und ihre Ehre zu retten.
»Geben Sie Überdruck!« heulte man hinauf.
»Ich fuhr schon mit einer Atmosphäre Überdruck — nicht mehr.«
»Warum nicht mehr?«
»Habe kein Holz, es reicht nur bis Jefferson.«
»Nehmen Sie Holz ein,« schrie ein alter Herr, »ich bezahle es.«
»Bis dahin hat uns der ›Orinoko‹ eingeholt.«
Eingeholt! Überholt! Fürchterliche Worte!
»Schließen Sie die Ventile!«
»Sind schon geschlossen!«
»Hinein mit den Planken, mit Fässern, Kisten, Treppen und Bordwand,« schrie wieder der grauhaarige Herr, »ich bezahle es!«
»Ich auch — ich auch.«
Matrosen demolierten mit Äxten und Sägen das Schiff, was Holz war, wanderte unter den Kessel. Passagiere schleppten aus den Kajüten die Möbel herbei und warfen sie in den Heizraum hinab.
Eine förmliche Raserei bemächtigte sich aller an Bord befindlichen Personen.
Wieder arbeitete die Maschine des ›Hurikon‹ mit Überdruck. Der ›Orinoko‹ kam nicht auf; aber die Feuer eines solchen Schiffes fressen die Heizung förmlich — was war das bißchen Holz! Schnell kam der verfolgende Dampfer näher.
In nervöser Unruhe ging am Heck des ›Hurikon‹ eine junge Dame auf und ab. Ihre Lippen bebten vor Wut. Sie war die Witwe eines Farmers, und dort auf dem ›Orinoko‹ hatte sie ihre Todfeindin entdeckt.
Von der sollte sie sich überholen lassen? Nimmermehr! Sie zog ein Notizbuch hervor und rechnete. — Neben ihr saß ihre vierjährige Tochter. Das Kind verstand die Erregung nicht, die sich der Passagiere bemächtigt hatte.
Die Mutter ging nach der Kommandobrücke.
»Wie weit haben wir noch bis Jefferson?«
»Eine halbe Stunde!«
»Wenn Sie Heizmaterial hätten, könnten Sie eher dortsein als der ›Orinoko
»Ja. Bis zwei Atmosphären Überdruck kann ich's riskieren!«
»Well! Ich habe an Bord zweihundert Schinken als Frachtgut. Hinein mit ihnen ins Feuer — alle, wenn's sein muß!«
Ein lautes Bravo belohnte die Frau — ein rasender Jubel brach los.
Die Passagiere legten abermals selbst mit Hand an und beförderten die Säcke aus dem Raum, schlitzten sie auf, ließen die Schinken in den Heizraum wandern. Wieder dampfte der Schlot mächtig, das Schiff erzitterte, ein brenzlicher Geruch erfüllte die Luft.
»Hip, hip, Hurra, wir gewinnen!«
Ja, sie gewannen.
Die Maschine ächzte und pustete, die Kurbeln wirbelten herum, daß man ihrer Bewegung nicht mehr mit den Augen folgen konnte, das Schiff erzitterte, daß man sich festhalten mußte.
Die geopferten Schinken taten ihre Schuldigkeit. Die Passagiere jubelten.
Da stieg auf dem Vorderdeck zwischen den Planken ein weißes Wölkchen empor, eine Rauchsäule folgte, ein donnerndes Krachen, ein einziger, gellender Schrei, ein Bersten, eine Feuergarbe, und die Luft war angefüllt mit Trümmern und menschlichen Gliedmaßen, mit verbrühten Körpern.
Der Kessel des ›Hurikon‹ war explodiert.
Noch ein paar Sekunden, und das Schiff war spurlos verschwunden. Lieber tot, als sich überholen lassen.
Jenkins-Nobody befand sich als Gast im Hause des Mister Patterson.
Tote und Verwundete hatte man genug aufgefischt, aber Matelas war nicht darunter gewesen.
Warum nahm Nobody, der doch überzeugt war, daß der schlaue Matelas sich rechtzeitig gerettet hatte, die sofortige Verfolgung desselben nicht auf?
Er hatte sich schon eine neue Aufgabe gestellt, die er nebenbei erledigen wollte, und die sich besonders mit der Person des Sheriffs beschäftigte. Nobody kannte denselben bereits von früher, und schon seit damals hatte er einen vorläufig noch unbestimmten Verdacht gegen ihn.
Der Detektiv fühlte sich recht behaglich in dem idyllisch gelegenen, traulichen Heim. Da war nichts von amerikanischer Kälte zu bemerken. Es war alles so freundlich, so gemütlich. Missis Patterson bot jeder deutschen Hausfrau die Spitze, ob sie in der Küche wirtschaftete, die Arbeiten im Hause leitete oder am Nähtisch hinter den schneeweißen Gardinen saß.
Hier gab es keine Sorge, kein böses Wort. Auch daß keine Kinder da waren, konnte die stille Heiterkeit nicht trüben.
Mit dem Sheriff besuchte Nobody oft die Gerichtsverhandlungen, in denen es manchmal sonderbar genug zuging, er begleitete ihn auch auf die Ansiedlungen hinaus.
Eines Tages schritten beide eben der Wohnung des Sheriffs zu, da bemerkten sie beim Hafen eine große Menschenmenge, darunter auch viele Frauen und Mädchen, Gelächter und Gekreisch erscholl.
»Zum Strom mit ihm!« schrie eine rauhe Stimme. »Oder er soll uns den Hornpipe vortanzen.«
Hornpipe ist eine große, amerikanische Wasserspinne, die mit ihren langen Beinen seltsame Bewegungen ausführt. Nach ihr wird ein grotesker Tanz benannt.
»Schnell!« sagte Patterson. »Dort ist Richter Lynch in Tätigkeit!«
Die beiden Männer beschleunigten ihre Schritte.
»Platz für den Sheriff!« riefen einige Schiffer. Die Menge teilte sich.
In ihrer Mitte stand eine hagere Figur, schwarz gekleidet, ein bartloser Mann. Aus seinen Augen glühte wilder Fanatismus! Er ließ sich von den Schiffern widerstandslos hin und her zerren.
»Der Schuft will uns verbieten, die Mädchen zu küssen!« schrie jemand.
»Mos jumoth!« entgegnete der Bedrohte. »Des Todes sollt ihr sein, ihr Ehebrecher.«
»In den Strom mit ihm!«
»Platz für den Sheriff!«
»Hände weg von dem Manne!« donnerte Patterson.
Ein wüst aussehender Mensch gehorchte nicht sofort. Der Sheriff schob ihn schroff zur Seite.
Da fuhr der Kerl mit einem Wutschrei herum, hatte im Nu einen Revolver aus der Tasche gerissen, setzte ihn direkt auf Pattersons Brust und drückte ab.
Doch ebenso schnell war der Richter.
Seine Hand fuhr nach dem Gürtel — ein Bowiemesser sauste nach dem Schädel des Strolches. Nur ein Zufall rettete das Leben beider.
Der Revolver versagte, und der Mann war durch die blitzschnelle Energie seines Gegners so erschrocken, daß er, bis in die Lippen erbleichend, im gleichen Moment zurückgetaumelt war. Dadurch entging er dem Messer. Sonst wäre sein Kopf bis an den Wirbel in zwei Hälften gespalten gewesen.
»Wer ist der Mann?«
»Ein fremder Schiffer. Fort, Tom, was fällt dir ein? Das ist unser Sheriff! Du kannst von Glück sagen, Mensch! Nach wem er sonst mit dem Bowie wirft, der steht nicht mehr auf zwei Beinen. Fort, fort!«
Man schleppte den Mann fort.
»Und wer ist dieser?«
»Mos jumoth, des Todes sollt ihr sein, ihr verruchten Ehebrecher, die ihr mit fremden Weibern buhlt!« rief der schwarze Mann.
»Er predigt, wir sollen nicht ehebrechen — keine fremden Mädchen küssen — wir führen alle zur Hölle —« erklang es durcheinander.
»Das werdet ihr auch. Mos jumoth!«
»Ist er wahnsinnig?«
»Hahaha, ich wahnsinnig! Ihr, ihr seid wahnsinnig, daß ihr Gottes Gebot nicht befolgt. Steht nicht in der Bibel, 3. Buch Moses, im 20. Kapitel, Vers 10: Wer die Ehe bricht mit jemandes Weibe, der soll des Todes sterben, beide, Ehebrecher und Ehebrecherin? Steht dort nicht also? Und ihr tut es täglich, stündlich, denn wer seines Nächsten Weib ansieht, ihrer zu begehren, der hat schon die Ehe gebrochen mit ihr in seinem Herzen, und Gedanken sind vor Gott schon Taten. Darum also wendet euch ab von eurer Unzucht, oder: mos jumoth!«
Der Sheriff hatte dem Manne fest in die fanatisch glühenden Augen gesehen.
»Wer seid Ihr?«
»Ich bin die Stimme des Predigers in der Wüste. Lernt meine Worte verstehn! Mos jumoth, des Todes sollen sie sein!«
»Laßt den Mann in Ruhe, laßt ihn predigen! Kommen Sie, Jenkins!«
»Hip hip hip Hurra für unsern Sheriff!« tönte es den Fortgehenden nach. »Los denn, Mos jumoth, predige uns etwas! Wir hören zu.«
Die sektiererischen Prediger genießen in Amerika wie in England und Australien große Freiheit. Sie dürfen auf der Straße so viel predigen, wie sie wollen, der Auflauf darf nur den Verkehr nicht hemmen. Die Polizei nimmt sie sogar in Schutz. Höchstens kann es vorkommen, daß solch ein Fanatiker ins Irrenhaus gesperrt wird.
Patterson sprach nicht weiter über diesen Vorfall. Gegen seine sonstige Gewohnheit ging er schweigend und finster vor sich hinblickend dahin.
»Des Todes sollen sie sein,« murmelte er einmal.
»Ja, so heißt auf hebräisch mos jumoth,« sagte Nobody-Jenkins, der schweigend, aber mit hohem Interesse den Vorfall beobachtet hatte.
»Töteten die Juden die Ehebrecher wirklich?«
»Gewiß, sie steinigten die beiden Schuldigen unter den Rufen ›mos jumoth
»Auch das Weib, das nicht wußte, daß ihr Verführer bereits verheiratet war?«
»Nein, es fiel nur der Verachtung anheim.«
Die letzte Strecke bis zu seinem Hause war Patterson sehr unruhig. Seine Gattin, die ihm, wie gewöhnlich, entgegenkam, begrüßte er mit einem Kusse, dann begaben sich alle in den Garten und setzten sich in die Laube, um dort den Nachmittagskaffee einzunehmen. Jenkins beteiligte sich an der Unterhaltung, trotzdem seine Gedanken sich mit ganz andern Dingen beschäftigten.
Plötzlich ertönte eine schrille Stimme:
»Mos jumoth, des Todes sollen die Ehebrecher sein. Bedenkt ihr das auch?«
Am Eingange der Laube stand der Schwarzrock.
»Wie seid Ihr hier hereingekommen?« fragte der Sheriff streng.
»Bedenkt ihr das auch, daß ihr allesamt Ehebrecher und deshalb des ewigen Todes seid?«
»Bedenkt Ihr auch, daß Ihr Hausfriedensbruch begeht, wenn man Euch den Eintritt nicht erlaubt hat?«
»Laß ihn sprechen, Charly, es ist ein Geistlicher,« sagte die Missis, die wie fast alle Amerikanerinnen etwas frömmelte.
Das ließ sich der Fanatiker nicht zweimal sagen.
»Mos jumoth, des Todes sollen sie sein, die Ehebrecher! Auch ihr seid Ehebrecher. Oder leugnest du, Mensch, der du das Schwert der Gerechtigkeit in den Händen haben willst, noch nie Ehebruch begangen zu haben? Gedanken sind Taten vor Gott. Leugnest du, noch nie das Weib deines Nächsten begehrt zu haben? Mos jumoth, des Todes sollst du sein! Oder leugnest du, Mädchen, noch nie gewünscht zu haben, daß ein Mann, der schon verheiratet ist, der deine wäre? Mos jumoth, des Todes sollst du sein, denn du hast Ehebruch begangen —«
So etwas hatte man denn doch nicht erwartet.
»Halt,« unterbrach der Sheriff ihn entrüstet, »seht Ihr denn nicht, daß dies anständige Damen sind?«
»Wer ist vor Gott anständig? Wir sind allzumal Sünder. Sieh mir in die Augen, Mädchen! Kannst du leugnen, in deinem Herzen noch niemals Ehebruch begangen zu haben? Trägst du dich nicht stündlich mit unlautern Gedanken —?«
»Nun ist es aber genug,« rief Patterson, sprang auf, faßte den Fanatiker am Arm und setzte ihn vor die Tür.
»Offenbar ist dieser Bußprediger geistesgestört,« sagte er, als er zurückgekehrt war, »was soll ich mit ihm beginnen? Ein Irrenhaus haben wir in Jefferson nicht. Schaffe ich ihn über die Grenze, so kehrt er doch wieder zurück.«
»Lösen Sie ihm ein Billett für einen Dampfer nach St. Louis,« riet Jenkins, »dort hat er einen großen Wirkungskreis.«
»Wahrhaftig, das ist gut, das tue ich!«
Ein andres Thema wurde angeschlagen. »Übermorgen ist der erste Juni,« sagte Missis Patterson, »du mußt nach der Freundschaftsinsel, Charly.«
»O, ich vergesse es nicht.«
»Ach, da nimmst du mich mit!« rief Mary.
»Ich habe dir schon einmal gesagt, daß kein fremder Fuß außer dem meinen die Insel betreten darf.«
»Nimm mich wenigstens im Boote mit!«
»Auch das gestatten die Bewohner nicht. Sie pochen auf ihr Recht.«
»Was ist das, die Freundschaftsinsel?« fragte Jenkins.
»Sie kennen sie nicht? Eine Insel im Mississippi, sechs Meilen flußabwärts von hier, noch zu meinem Bezirk gehörend. Dort haust eine ganz eigenartige Kolonie. Vor etwa vierzig Jahren wohnten dort Fischer und Holzfäller, eine Familie unter sich bildend. Ein Dampfer scheiterte in der Nähe, der Präsident mit Frau und Kindern befand sich auf demselben. Sie wurden von den Inselbewohnern mit Gefahr ihres Lebens gerettet. Der Präsident gewährte ihnen eine Bitte. Da verlangten die närrischen Einsiedler, daß die Insel ihnen gehören solle, ihnen ausschließlich, daß kein Fremder den Fuß daraufsetzen dürfe, wenn sie es nicht erlaubten, auch kein Regierungsbeamter — bis in alle Ewigkeit. Das konnte der Präsident ihnen freilich nicht gewähren, selbst wenn er die Insel kaufte und ihnen schenkte. Die Regierung hat überall Zutritt. Er trug die Bitte aber dem Senat vor, und sie ward bewilligt, mit dem Zusatz, daß am 1. Juni jedes Jahres der Sheriff von Jefferson die Insel betritt, nach dem Rechten sieht und darüber an die Regierung berichtet. Das tue ich morgen.«
»Seltsam!«
»Ich finde da nichts Seltsames dabei.«
»Seit 40 Jahren also besteht das Privilegium. Wird da die Insel nicht übervölkert?«
»O nein. Nicht allen behagt das idyllische, aber eintönige Leben dort. Viele Burschen und Mädchen wandern aus, suchen anderswo Arbeit, wollen auch einmal tanzen und mit andern Menschen lustig sein.«
»Ist denn das Auswandern erlaubt?«
»Warum nicht? Ah so, Sie denken an Geheimnisse! Nein, damit ist's nichts. Es ist ein friedliches Völkchen, das auf der Insel lebt. Es ernährt sich vom Fischfang. Was sie mehr erbeuten, tauschen sie gegen andre Bedürfnisse in Jefferson aus. Den Waldbestand rühren sie nicht mehr an, mit Ausnahme zum Bedarf der eignen Feuerung. Viele arbeiten auch auswärts und kehren täglich oder die Woche einmal nach der Heimat zurück; viele sind auch Stromschiffer.«
»Immerhin kann eine solche Ansiedlung ohne Aufsicht gefährlich werden.«
»Wieso?«
»Indem sie zum Asyl für Verbrecher, zum Räuberlager wird.«
»Aber ich bitte Sie,« lachte Patterson, »etwas Unschuldigeres gibt es gar nicht. Außerdem ist ja auch noch der Sheriff von Jefferson da, das bin ich jetzt.«
»Wie sieht es denn auf der Insel aus?«
»Armselig genug. Ein kleines Dorf mitten im Walde. Kinder und Hunde in Menge. Es ist ja nichts weiter, als daß die dort Gebornen das Privilegium haben, keinen Menschen auf die Insel zu lassen.«
»Kann man nicht aufgenommen werden?«
»Dazu hat bis jetzt noch niemand Lust geäußert.«
»Auch kein Zeitungsreporter?«
»Ich glaube, sie nehmen überhaupt keinen Fremden auf.«
»Und wer ausgewandert ist —?«
»Der hat dort natürlich auch das Heimatsrecht. Möglich, daß es verjährt. Eigne Gesetze werden sie schon haben.«
»Man sagt,« meinte Mary, »die Bewohner der Freundschaftsinsel erkennen jeden der Ihren an einem geheimen Zeichen.«
»Leere Redensarten! Oder warum sollte es nicht so sein?«
»Wenn nun ein Schiffbrüchiger dort angetrieben würde?«
»Den würden sie einfach aufnehmen und in einem Boote nach Jefferson bringen. Denken Sie sich nur nichts Geheimnisvolles bei der Geschichte, Mister Jenkins!«
»Wie werden Sie nach der Insel gebracht?«
»Ein Boot mit vier Mann holt mich ab.«
Nur so ganz nebenbei erwähnte Patterson noch, daß die Bewohner der Insel auch das Recht für sich in Anspruch nähmen, angetriebene Güter von gescheiterten Flußschiffen für sich zu behalten. Dann trennte man sich.
Mr. Jenkins blieb allein im Garten zurück. Er schlenderte, scheinbar die Blumen auf den Beeten betrachtend, in den wohlgepflegten Gängen auf und nieder, dabei aber weilten seine Gedanken ausschließlich bei dem, was er über die Freundschaftsinsel gehört hatte.
»Der Sheriff wird von den Schiffern verehrt, diese rohe Bande hat Respekt vor ihm. Das tut sie vielleicht, weil er kräftig, kühn und energisch ist — vielleicht auch aus einem andern Grunde — und trifft der zu, dann kann sich Jefferson allerdings zu seinem Sheriff gratulieren. He, Nobody, wie wäre es, wenn du einmal eine Fahrt nach der privilegierten Insel machtest? Allerdings, ist sie eine Zufluchtsstätte für verbrecherisches Gesindel, dann —«
Er brach ab und trat unwillkürlich hinter ein dichtes Buschwerk.
Sheriff Patterson kam vom Hause her und ging an seinem Besucher vorüber, ohne ihn zu bemerken.
»Mos jumoth! Des Todes sollen sie sein — die Ehebrecher,« hörte Nobody seinen Gastfreund vor sich hinmurmeln. »Verflucht bis in alle Ewigkeit!«
»All right,« nickte Nobody, als jener vorüber war, »hier muß ich eingreifen, so ungern ich es tue.«
Aus dem Walde unterhalb Jeffersons trat ein hochgewachsener, breitschultriger Mann in der üblichen Tracht der Stromschiffer — hohe Stiefel, derbe Beinkleider, eine gestrickte Wolljacke und eine ebensolche Mütze.
Das Gesicht des Mannes ähnelte denen seiner Genossen, wie diese ihm, denn jeder Beruf prägt seinen Vertretern bestimmte Linien auf, an denen man sie erkennt. Hier der Mann aber verriet in jedem Zuge seines wettergebräunten Gesichtes den rohen und ungebildeten Stromschiffer, dem es bei einer Rauferei nicht auf einen Messerstich, auf einen Revolverschuß ankommt.
Schwerfällig stampfte er durch das niedere Gestrüpp, das hier das Ufer des Mississippi umsäumte. Umständlich band er ein kleines zweiriemiges Boot von der Baumwurzel los, an der es festgemacht war. Dann wälzte er, ehe er einstieg, das Priemchen aus der rechten in die linke Backe, spie den braunen Tabaksaft in weitem Bogen in das trübe Wasser, spuckte einmal in die mit hornigen Schwielen bedeckten kräftigen Hände, erfaßte die Riemen, setzte sich schwerfällig auf der Ducht zurecht. Jetzt senkte er die Riemen in die Fluten, und sofort war das Phlegma verschwunden. Der Mann war eben ganz der Flußschiffer, der sich auf dem Lande vorkommt wie eine Ente, die auch nicht darauf gehört, sondern sich nur in ihrem Element, im Wasser wohlfühlt.
»So, werter Sheriff von Jefferson,« murmelte er halblaut vor sich hin, »heute wirst du die Freundschaftsinsel betreten — als Regierungsvertreter — niemand darf ja sonst darauf — ich kalkuliere aber, mir wird auch niemand den Zutritt verwehren. Bin verdammt neugierig, was für Geheimnisse ich zu sehen bekommen werde.«
Und nach einer Pause setzte er hinzu:
»Wenn Patterson wüßte, daß er den Nobody in seinem Hause hat, würde er wohl etwas vorsichtiger sein, aber ich kann ihm nicht helfen. Der Mann kommt mir vor wie ein ausgewachsener Schurke. Er betrügt sicherlich die meisten derer, die ihm vertrauen, und das soll um der prächtigen Weiber willen ein Ende nehmen. Das Schicksal hat mich wieder einmal einen Weg geführt, den ich nicht zu betreten gedachte. Ha, was wohl Freund Roger sagen würde, wenn er den Nobody als Missisippischiffer sehen könnte!«
Nach diesem kurzen Selbstgespräch, für das er mitten im Strome keinen Lauscher zu fürchten brauchte, senkte Nobody den linken Riemen tief in die Flut und trieb so dem mit dichtem Urwald bestandenen Ufer zu.
Unmittelbar an demselben entlang ließ er dann das Boot mit der Strömung treiben. Er hielt erst an, als er unter den überhängenden Zweigen eine Art Landungsbrücke bemerkte — in den Strom gerammte Pfähle mit einem Brett darüber. Rasch schaute er stromauf und stromab, niemand war zu sehen.
Im nächsten Augenblick rauschte es in den Zweigen. Sie bogen sich auseinander und wieder zusammen. Das Boot mit Nobody war verschwunden. Es konnte selbst von der Landungsstelle aus nicht gesehen werden, trotzdem es unmittelbar daneben lag. Nobody selbst hatte sich auf dem Boden des Fahrzeuges ausgestreckt, unter den Duchten, den beiden Sitzbänken.
So verharrte er regungslos.
Er wartete auf das Boot, das den Sheriff Patterson nach der Freundschaftsinsel bringen sollte. Er sollte freilich ganz andre Dinge erleben, als er vermutet hatte. Nach wenigen Minuten ertönten Schritte. Vorsichtig hob der Lauscher den Kopf. Erstaunen prägte sich in den rohen Zügen aus. —
Auf der Landungsbrücke am Ufer des Mississippi stand ein bildschöner Knabe von vielleicht zwölf Jahren, der seine Negerabstammung nicht verleugnen konnte, eben durch seine Schönheit und durch seine wunderbar zarte, gelblich weiße Haut. Er war ein Quadrone, das heißt der Urenkel einer Negerin und eines Weißen; immer wieder hatte sich das farbige Blut mit weißem vermengt.
Alle Quadronen sind schön, besonders die weiblichen.*
* Die Abkömmlinge eines Weißen und einer Negerin sind Mulatten, eines Weißen und einer Mulattin Terzeronen, eines Weißen und einer Terzerone Quadronen usf. Alle solchen Kinder waren, auch wenn ihre Abstammung von Negern nicht mehr zu erkennen war, unfrei und Sklaven, solange die Sklaverei in Nordamerika existierte.
Er trug einen kleidsamen Jockeianzug, das Käppchen keck auf dem lockigen Kopf, an den Füßen fransenbesetzte, gelbe Reitstiefelchen, aber ohne Sporen.
Über ihm wölbte sich das Laubdach einer Eiche und schützte ihn vor der sengenden Mittagssonne.
Unmutig schlug er mit der Reitgerte Blätter ab, zog manchmal einen kuvertierten Brief unter der Bluse hervor, betrachtete ihn, steckte ihn wieder ein und stampfte vor Ungeduld mit den Füßen.
Einmal schob er den Brief mit auffallender Hast wieder unter die Bluse.
»Hierher, Kastor!« rief er mit heller Stimme. »Elender Nigger, wie lange hast du mich warten lassen!«
Ein Boot schoß heran. Der Ruderer war ein riesiger, herkulischer Neger mit mächtigem Wollschädel. Die Leinwandjacke hatte er abgelegt, er ließ sich die Sonne direkt auf die schwarze, wie Samt glänzende Haut brennen und schien sich dabei sehr wohl zu fühlen. Ein Hemd trug er nicht.
Geschickt lenkte er das Boot ans Ufer.
»Geduld, junger Herr, ist eine Tugend, in der sich jeder üben muß,« spottete er.
Der Quadrone sprang ein.
»Behalte deine Weisheitslehren für dich!«
»Das sagt Massa, nicht ich. Sachte, Pedro, mit solchen Sprüngen kommt man nicht weit, da kippt man um.«
»Du sollst mich nicht Pedro nennen, für dich bin ich der junge Herr.«
»Setzen Sie sich, junger Herr, bitte sehr, junger Herr, nehmen Sie's nicht übel, junger Herr, Sie können ins Wasser fallen, junger Herr.«
Der Quadrone zog dem Spötter ein paar Hiebe mit der Reitgerte über den nackten Rücken.
»Da, nimm erst das für deinen Hohn. Außerdem sag' ich's der Herrin, du — Nigger, elender.«
Ein böser Blick schoß aus den Augen des Gezüchtigten auf den Quadronen, die riesigen Muskeln spannten sich, aber er beherrschte sich. Er griff wieder zum Hohn.
»Nun, nun, junger Herr, mein Urenkel kann auch einmal so ein hübsches Kind werden wie Ihr.«
Pedro drohte ihm mit der Reitpeitsche.
»Wahre deine Zunge, Halunke!«
Beide verfielen in Schweigen. Dem Neger gefiel es, sich in der Sonnenglut auszuarbeiten, der Quadrone drehte sich Zigaretten und rauchte.
Sein Blick fiel auf eine eiserne, lange Kette, die im Boote lag.
»Was ist denn das?«
»Das ist meine Sklavenkette, die ich zerbrochen habe!«
»Du kannst sie als Uhrkette tragen.«
»Warum nicht, wenn Ihr mir eine Uhr schenken wollt?«
Der Quadrone zog aus Prahlerei eine prachtvolle goldene Uhr aus der Bluse und sah nach der Zeit.
»Rudere schneller, fauler Schlingel!« herrschte er dann den Neger an. »Denkst du, ich will verbraten?«
»O, es wird Euch schon bald genug kühl werden,« grinste der Riese.
»Wie meinst du?«
»In der Veranda bei der Senora, meine ich. Ob Ihr die Kette da wohl tragen könnt?«
»Sklavenketten? Bah!«
»Werdet's lernen!«
Er tat ein paar mächtige Ruderschläge, die das Boot dicht ans Ufer trieben, gerade auf ein Gebüsch zu, das seine Zweige weit übers Wasser hing.
»Du spritzt mich ja ganz voll!«
»Werdet noch nässer werden!«
Das Boot schoß unter die Zweige.
»Hund, was machst du denn, ich bin ja —«
Das Fahrzeug war in dem Dickicht verschwunden, der Quadrone brach mitten im Satz ab.
Zehn Minuten blieb das Boot in dem Versteck. Ketten rasselten, ein Gurgeln erscholl.
Dann kam es wieder zum Vorschein — die Kette war nicht mehr darin — und auch nicht mehr der Knabe.
Kastor ließ einen scheuen Blick umherschweifen. Niemand war zu sehen, nichts regte sich. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und betrachtete den Brief, den er in der Hand hielt — denselben Brief, den vorhin der Quadrone gehabt hatte.
Jetzt war ein frischer Blutfleck daran. Der Neger feuchtete den Daumen an, suchte den Flecken wegzuwischen und machte ihn nur noch häßlicher.
Kopfschüttelnd wendete er den Brief hin und her, faltete ihn dann zusammen und steckte ihn in die Tasche der baumwollnen Hose.
»Na, Massa ist es ganz egal, ob ein Stempel darauf ist oder nicht.«
Er ruderte zurück nach derselben Stelle, wo vorhin der Quadrone gestanden hatte, machte das Boot fest, stieg aus und warf sich in dem Schatten der Eiche nieder. Hier blieb er drei Stunden liegen, anscheinend schlafend. Dann stand er auf und ruderte denselben Weg zurück, verließ das Ufer und kämpfte gegen die Strömung an, auf eine Insel zu.
Lautlos hatte Nobody in seinem Versteck verharrt. Nur manchmal hob er den Kopf, um nach dem schlafenden Neger zu spähen, und erst als er diesen mit dem Boote in einer Bucht der Insel verschwinden sah, richtete er sich ganz auf.
»Ei verflucht!« brummte er vor sich hin. »Alfred, hier gibt's mehr Arbeit für dich, als du erwartet hast. — Armer Junge,« setzte er dann bedauernd hinzu, »hast deinen Hochmut teuer bezahlen müssen. Ich will aber deinen Tod wenigstens rächen!«
Sonderbar! Woher konnte Nobody denn nur wissen, daß der Quadrone tot war? Dann mußte Kastor ihn ja ermordet haben!
Langsam verließ Nobody das Boot und wand sich durch das Unterholz. Bald erreichte er den Pfad, der an der Landungsbrücke endete, er verfolgte ihn aufwärts, immer im Schütze der Büsche bleibend. So erreichte er nach kurzer Wanderung eine Anhöhe, auf der mehrere Gebäude standen.
»Hier ist Pedro gewesen. Wollen sehen, wen er besucht hat.«
Die Farm lag ganz einsam, bot aber einen saubern, wohlgepflegten Anblick, und als Nobody sich durch eine Zuckerrohrpflanzung geschlichen hatte, bemerkte er inmitten eines Rosenbeetes den Eigentümer der Besitzung, einen Mann von vielleicht fünfzig Jahren, der aber älter aussah. Sein Gesicht wies zahlreiche Falten auf, und seine Augen hatten einen träumerischen Ausdruck.
Anscheinend okulierte der Mann Rosen.
Leise wendete Nobody sich ab, schlich sich durch die Zuckerpflanzung zurück und kam in ein Baumwollenfeld. Hier fand er, was er suchte.
Zwei Knechte waren bei der Arbeit. Sie unterhielten sich, ohne den Lauscher zu bemerken.
»Hast du's gesehen, Bob, wie die Missis den Spanier mit verliebten Augen anfunkelt?« fragte der eine.
»Na und ob! 'S ist ein Teufelsweib, sitzt jetzt gewiß wieder mit dem Diego zusammen, und der Alte ist wie blind!« entgegnete der mit Bob Angeredete.
»Man täte ein gutes Werk, Billy, wenn man ihm den Star stäche!« setzte er dann hinzu.
»Wozu? Er ist ja zufrieden!«
»Aber seine Frau wüstet doch geradezu mit dem Gelde. Ich möchte wissen, woher sie alle die feinen Kleider hat.«
»Esel!« knurrte Billy verächtlich. »Hast du denn nicht gemerkt, daß sie nach der Insel fährt?«
»Aaah!« machte Bob. »Deswegen kommt auch der Junge so oft her. Ein verdammt hochnäsiger Bursche!«
Weiter hörte Nobody nichts. Er schlich bereits dem Hause zu. Dicht an demselben stand eine Laube, von blühendem Rankenwerk vollkommen überwuchert. Zusammengeduckt erreichte Nobody dieselbe und verschwand darin.
Nun konnte er sich aufrichten. Er spähte durch ein offenstehendes Fenster in ein sauber ausgestattetes Zimmer. Auf dem Sofa lag ein Mann, in dem man sofort den Spanier, zumindest den Südländer, erkannte.
Es war Diego, von dem die Knechte sich unterhalten hatten.
Ein junges, hübsches Weib trat ein, einen selbstgebacknen Kuchen auf einer Platte tragend, den sie auf den Tisch stellte und zerteilte. Sie bediente den Gast.
»Nun laßt einmal die Grillen fahren,« scherzte sie, »setzt ein fröhliches Gesicht auf, eßt und trinkt! Was wollt Ihr trinken?«
»Was Ihr habt,« war die einsilbige Antwort.
Sie brachte Fruchtwein und zwei Gläser.
»Habt keine Angst, daß den mein Alter selbst gezogen und gekeltert hat — denn seiner ist ungenießbar. Soll ich Euch Gesellschaft leisten?«
»Wenn Ihr wünscht.«
»Nein, ob Ihr es wünscht,« lachte sie.
»Mir ist es recht.«
»Puh, seid Ihr aber grob. Na wartet, dann sollt Ihr mir aber einmal beichten.«
Sie verließ die Stube, um die Mehlspuren von ihren Kleidern zu entfernen.
Diego aß von dem Kuchen, schob dann den Teller zurück und blickte durch das Fenster, durch welches man gerade eine große Insel im Mississippi sehen konnte.
Das Haus schien außer den beiden ganz menschenleer zu sein.
Da trat die Frau wieder ein und setzte sich unmittelbar neben dem Spanier aufs Sofa. Er merkte es gar nicht, so war er in Gedanken versunken.
»Nun, wie gefall' ich Euch?« fragte sie.
Verwundert blickte er auf und sah sie zerstreut an.
»Sehr gut, Missis,« murmelte er.
»So, wirklich? Das ist die erste Schmeichelei, die Ihr mir sagt. Sonst sind die Männer nicht so karg mit solchen mir gegenüber.«
»Ich bin eben anders als die übrigen Männer.«
»Das kommt mir auch so vor. Sagt, Diego, warum seid Ihr denn immer so traurig?«
»Ich habe Grund dazu.«
»Wollt Ihr Euch mir nicht anvertrauen?«
Sie legte dabei ihre Hand auf seine Schulter, aber auch das schien er nicht zu merken.
»Habt Ihr eine unglückliche Liebe?« fragte sie weiter, als er schwieg.
»Ich habe noch nie ein Weib geliebt.«
»O, o, wollt Ihr mir das etwa weismachen?«
»Ich sage es Euch.«
»Gefalle ich Euch nicht?«
»Sehr gut,« murmelte er wieder, wußte aber wohl gar nicht, was er gefragt worden war.
»Und das sagt Ihr so kalt, seht mich dabei gar nicht an?«
Was er geistesabwesend flüsterte, verstand sie nicht.
»Wißt Ihr auch, Diego, daß Ihr ein schöner Mann seid?« fuhr das Weib fort; in dem sich die Schlange regte.
»Nein.«
»Ja, das seid Ihr. Ihr gefallt mir, ich gestehe es. Gefalle ich Euch auch?«
Er musterte sie zum ersten Male mit eigentümlichem Gesichtsausdruck.
»Was sagtet Ihr, Missis Tanner?«
»Ob ich Euch gefalle, fragte ich.«
Sie hatte plötzlich seine Hand erfaßt, legte seinen Arm um ihre Taille und rückte dicht an ihn heran.
Diego erschrak.
»Missis, was tut Ihr?« flüsterte er bestürzt. »Ich glaube — Ihr Gatte ist ja dort — er kann uns sehen.«
»Bah, der sieht nichts andres als seine Bäume, und wenn man ihn mit der Nase draufdrückte. Sagt, Diego, könntet Ihr mich lieben?«
Hastig wollte er sich von ihr freimachen und aufstehn, sie aber hielt ihn mit kräftigem Arm fest. Ein girrendes Lachen tönte an sein Ohr.
»Und ich will wissen, warum du so traurig bist, ich will dich aufheitern.«
»Missis Tanner, ich beschwöre Euch ...«
»Jenny heiße ich für dich. Bist du verheiratet?«
»Nein doch — laßt mich ...«
»Du hast wirklich noch kein Weib geliebt?«
»Doch — aber unglücklich — laßt mich ...«
»Ich lasse dich nicht — ich will dich trösten — kannst du mich nicht lieben?«
Ehe er es sich versah, hatte sie seinen Kopf in beide Hände genommen und küßte ihn wiederholt auf den Mund.
Da sprang er auf, so heftig und sich dabei losreißend, daß sie zurückgeschleudert wurde. Mit purpurrotem Gesicht eilte er hinaus.
Sprachlos vor Staunen schaute ihm Jenny nach. Dann ordnete sie ihr zerzaustes Haar.
»So etwas ist mir denn doch noch nicht passiert,« murmelte sie. »Der ist ja schlimmer als der keusche Joseph. Was ist denn das eigentlich für ein Mann? Der Stockfisch!«
Nobody hatte genug gesehen. Leise, wie er gekommen, entfernte er sich und schlich sich wieder hinunter an den Strom.
Dort stieg er ins Boot und wartete, bis die Nacht hereinbrach, dann lenkte er das Fahrzeug unter den Büschen hervor und ließ sich treiben, bis er unter jenem Dickicht wieder verschwand, in das der Neger Kastor sein Boot gerudert hatte.
Etwa zehn Minuten blieb Nobody dort; als er wieder erschien, war keinerlei Erregung an ihm zu bemerken, trotzdem er einen schrecklichen Fund gemacht hatte.
Der Neger war unterdes an der Insel gelandet.
»Wo kommst du denn her, Kastor?« rief eine Stimme von oben, als er ausstieg.
Der Rufer saß im Wipfel eines großen Baumes, hatte sich dort oben mittels eines Brettes einen recht bequemen Sitz gemacht.
»Hab' für die Herrin etwas besorgt,« war die brummige Antwort.
Kastor schlug einen schmalen Weg ein, der durch den sonst schier undurchdringlichen Wald führte.
Dann lichtete sich dieser, ein Hüttendorf zeigte sich auf der Waldblöße.
Die Männer, die dort hausten, waren Stromschiffer, so aussehend wie überall am Mississippi. Sie flickten Netze oder rauchten und würfelten, Frauen arbeiteten, Kinder spielten, Hunde trieben sich umher.
»Kommt der Kapitän heute nacht?« wurde Kastor im Vorbeigehn von einem Manne gefragt.
»Weiß nicht,« knurrte der Neger.
Er ging durch das Dorf und auf ein großes Dickicht zu. Ein mannsbreiter Weg führte hinein. Es war nur eine Umzäunung, und zwar umgab sie ein hübsches, sogar stattliches, wenn auch niedriges Holzhäuschen.
Kastor streichelte die mächtige Dogge, die ihn freudig begrüßte, trat in ein Vorzimmer und durch dieses nach kurzem Anklopfen in ein zweites, größeres.
Es ist die Freundschaftsinsel, auf der wir uns befinden.
Wie wäre aber der erstaunt gewesen, der glaubte, hier in das Innere einer Fischerhütte zu treten! In diesem Zimmer atmete alles Pracht und Reichtum, den raffiniertesten Luxus, jeder Gegenstand war ein Kunstwerk von Gold, Silber, Ebenholz, Alabaster oder Seide. Die kostbarsten, chinesischen Gewebe verhüllten die Holzwände, Smyrna-Teppiche deckten den Estrich. Palmen und andre tropische Topfpflanzen, deren Erdbehälter aber unbezahlbare Vasen waren, gaben dem Ganzen zudem noch ein exotisches Aussehen.
Auf dem rotseidenen Polster eines Diwans lag ein junges, blendend schönes Weib, unverkennbar eine Spanierin, in einer Toilette, mit der sich eine Fürstin hätte sehen lassen können, verschwenderisch mit Perlen und Juwelen geschmückt. Weiß wie der Hals, Busen und der volle Arm, schimmerte es auch durch die seidenen, durchbrochenen Strümpfe.
Sie fächelte sich mit einem Straußenfederfächer Kühlung zu; matt stützte sie den mit schweren, bläulichschwarzen Flechten gezierten Kopf auf die Hand.
Beim Anklopfen hatte sie sich mit einer hastigen Bewegung etwas erhoben. Doch gleich sank sie wieder zurück.
»Ach so, er kann es ja noch nicht sein,« murmelte sie.
Kastor verneigte sich tief und blieb stehn, die Anrede erwartend.
»Ist Pedro da?«
»Nein, Herrin. Länger als drei Stunden hat Kastor auf ihn gewartet — er kam nicht.«
Wieder fuhr sie empor, ihre Augen öffneten sich erschrocken.
»Wie? Er ist nicht gekommen?«
»Nein, Herrin.«
»Ja, wo bleibt er denn?«
»Kastor weiß es nicht, Herrin.«
Ein mißtrauischer Blick traf ihn.
»Wo mag er sein?«
»Vielleicht auf der Plantage geblieben.«
»Er muß ja noch kommen, ich brauche es — warum bist du nicht dortgeblieben?«
»Ich habe Dienst, Herrin.«
»Ach so. Schicke jemanden anders hin!«
»Wir werden alle gebraucht.«
Drohend runzelte sie die Stirn.
»Schweig, schwarzer Hund! Sieh erst nach, ob jemand frei ist. Schick den Kerl fort, der faul auf der Bärenhaut liegt.«
»James hat eine Kopfwunde —«
»Gehorche, sage ich dir! Ich will, daß er hinrudert, er braucht nicht mit dem Kopf zu rudern, Pedro muß noch kommen. Ich will es!«
Ein Fächerstab zerbrach unter ihren schlanken Fingern.
»Wir gehorchen.«
»Geh!«
Der Neger entfernte sich.
»Halt! Weißt du, ob Charles — ob der Kapitän heute abend kommt?«
»Kastor weiß nichts.«
»Tölpel! Marsch fort! Aus meinen Augen, räudiger Hund!«
Der Neger verließ das Zimmer und begab sich ins Dorf.
Es war finster geworden. Einige neue Stromschiffer waren angekommen, darunter auch der Wächter, der abgelöst worden war. In einer der Hütten war ein Zechgelage veranstaltet worden. Keiner der Männer hatte eine Ahnung von dem, was mittlerweile am Strome sich ereignet hatte.
»He, holla, was für ein Boot ist das?« rief dort der auf dem Baume postierte Mann, als Nobodys Kahn in die Bucht trieb.
Ein heiseres Grunzen, wie Betrunkene es ausstoßen, antwortete.
»Goddam!« fluchte der Wächter. »Sag, wer du bist, oder ich schlage dir den Schädel ein!«
»Oho!« gröhlte Nobody, der aus dem Boote heraustorkelte, um im nächsten Augenblick mit aller Wucht gegen einen Baum zu rennen. So kräftig war der Anprall, daß der Mann zu Boden geschleudert wurde und regungslos liegen blieb.
Ein wilder Fluch erklang. Dann kletterte der Wächter von seinem luftigen Sitze hernieder und näherte sich dem Betrunkenen, beugte sich über ihn und suchte in der Dunkelheit das Gesicht zu erkennen. Sofort klammerten sich zwei Hände mit eiserner Gewalt um den Hals des Überraschten.
Er wollte einen Hilfeschrei, einen Warnungsruf ausstoßen, aber er kam nicht dazu. Seine Füße wühlten den Erdboden auf, dann ging ein Zucken durch seinen Leib. Er streckte sich und lag wie tot da.
Nobody lauschte eine kleine Weile, dann brachte er eine Taschenlaterne hervor, brannte die Kerze darin an und leuchtete dem Betäubten ins Antlitz.
»Der hat genug für diese Nacht, hinein mit ihm in die Büsche!«
Nobody nahm den Platz des Wächters ein.
Lange brauchte er nicht zu warten, da näherten sich Schritte.
»Holla, Jimmy!« rief eine rauhe Stimme.
»Holla!« gab Nobody genau in der Redeweise dessen zurück, dessen Aussehen er angenommen, dessen Kleidung er angelegt hatte.
»Was Neues vorgefallen?«
»Nichts!«
»Der Kapitän bleibt lange aus heute!«
»Verdammt lange!«
»Na, komm runter! Der lange John hat Whisky spendiert, wollte, ich hätte im Lager bleiben können.«
Nobody kletterte zur Erde, der andre nahm seinen Posten ein, und nach wenigen Minuten saß der verwegene Detektiv als Jimmy im Kreise der Stromschiffer, beteiligte sich an ihren rohen Späßen, rauchte und trank.
Da kam der Neger vom Hause her.
»He, hallo, Kastor, du mußt eins singen und tanzen.«
Der Neger nahm die gereichte Whiskyflasche, ließ den Schnaps die Kehle hinablaufen, als wenn es Wasser wäre, und war gleich bereit, seine Kunst zu zeigen.
Die Männer gruppierten sich auf Kisten und Fässern im Kreise. Kastor, der sehr heiterer Laune war, begann mit heiserer Stimme eins jener sinn- und endlosen Niggerlieder zu singen, zwischen deren Versen getanzt wird.
»Der Master ging auf den Waschbärfang O ho o! Und jedesmal nach jedem Sang, Da tanze ich Jim Crow.«
Der Tanz bestand darin, daß die Füße in mehreren Variationen gesenkt und gehoben wurden, bald die Zehen, bald die Fersen den Boden berührten, wobei der Oberkörper unbeweglich blieb.
Solchen Niggertänzern sehen nicht etwa nur Stromschiffer zu, nein, auch das gewählteste, englische oder amerikanische Publikum, im Variététheater nämlich, nach jedem dieser geistreichen Verse und nach jedem Tanz bricht es in rasenden Beifall aus, und der Deutsche fragt sich dann, ob die Zuschauer oder die ›Künstler‹ verrückt sind.
Auch die Stromschiffer klatschten wie toll und heulten vor Entzücken.
»Der Master liebt den Whisky sehr, O ho o! Und wenn ich nicht kann singen mehr, Da tanze ich Jim Crow.«
brüllte Kastor, tanzte und trank zur Erfrischung einen Schluck Schnaps. So ging es weiter, vielleicht bis zum fünfzigsten Vers, dann schlugen die Schiffer ein andres, noch lärmenderes Vergnügen vor.
Drüben lag das schöne Weib in Balltoilette auf dem Diwan und seufzte, seufzte schmachtend nur einen Namen: »Charles!«
Den Lärm hörte sie nicht.
Die Dämmerung brach an. Sie lag und seufzte.
Ein Mann, ein Stromschiffer trat ein.
»Der Kapitän kommt heute nacht,« meldete er.
Wie eine Feder schnellte sie auf.
»Er kommt, er kommt!« jubelte sie. »Charles kommt! Wann? Hast du ihn gesprochen? Wann kommt er? Wann, wann, wann? Schnell doch nur!«
»In einer halben Stunde.«
»Gut, gut. Hier — hier,« ihr Auge irrte umher, »nimm das hier, es ist nicht genug für deine Botschaft — nimm es.«
Sie nahm eine Börse von einem Tischchen und warf sie ihm zu.
»War nicht nötig! Danke, Senora!«
»Halt, warte! Hast du Pedro nicht gesehen?«
»Pedro? Den hat doch Kastor abgeholt.«
Es war zu dunkel, so entging es dem Manne, wie die Züge der Frau plötzlich erstarrten, ihre Augen Blitze schossen.
»So? Hat er ihn abgeholt?« fragte sie gleichgültig.
»Jawohl, ich habe gesehen, wie Pedro zu ihm ins Boot stieg.«
»Wo?«
»Da, wo er ihn immer abholt.«
»Wann?«
»Um die zweite Stunde mag es gewesen sein.«
»Sie fuhren zusammen?«
»Natürlich, beide. Dann kam mir das Boot aus den Augen.«
»Es ist gut.«
Der Mann ging.
Die Spanierin preßte die Hand auf den Busen und atmete tief und schwer. Dann ergriff sie eine große Hundepeitsche, raffte die Schleppe auf und begab sich hinaus, dorthin, von wo ihr wüster Lärm entgegenscholl.
Kastor produzierte sich eben als unüberwindlicher Ringkämpfer, kam aber einmal übel an. Ein kleiner Kerl bückte sich schnell, als der Riese nachlässig zugreifen wollte, und zog ihm die Beine unter dem Leibe weg.
Unter dem schallenden Gelächter der Zuschauer schlug der Neger rücklings zu Boden und schmetterte dabei mit dem Kopfe an ein Faß, so wuchtig, daß er, zudem stark berauscht, eine Weile das Aufstehn vergaß.
In diesem Augenblick erschien die Spanierin, die Hand mit der Peitsche auf dem Rücken. Nicht nur, daß sie jedenfalls hier überhaupt zu befehlen hatte, sie war an sich schon eine königliche Erscheinung.
Im Nu wich der Lärm einer Todesstille.
»Was geht hier vor?«
»O, nichts doch, wir waren etwas fröhlich —«
Diese Antwort wurde demütig und doch zugleich trotzig gegeben. Alle diese Männer hatten einen gar steifen Nacken.
Die Frau deutete ganz gebieterisch auf den noch immer daliegenden Neger.
»Bindet diesen!«
Niemand rührte sich.
»Kastor? Binden? Warum denn?«
»Bindet ihn!« herrschte sie. »Er ist ein Verräter.«
»Kastor ein Verräter?!«
»Er ist es, sage ich. Bindet ihn! Wer wagt mir zu trotzen?«
»Senora, ist es wirklich wahr?« erklang es in namenlosem Erstaunen.
Sie stampfte mit dem zierlichen Schuh die Erde.
»Wollt Ihr den Verräter binden?«
Kastor stand taumelnd auf. Einige Männer traten mit Stricken auf ihn zu. Jetzt bemerkte er das Weib, er sah, was man mit ihm vorhatte, das setzte ihn in Wut, er wehrte sich, und das veranlaßte die Männer, nun Ernst zu machen.
Auch sie waren stark; es gelang ihnen, den herkulischen Neger zu überwältigen und zu fesseln.
»Hütet euch vor dem Kapitän!« heulte Kastor, als er an Händen und Füßen gebunden war.
»Hinaus mit ihm ins Freie, bindet ihn an einen Baumstamm, mit dem Gesicht demselben zugekehrt, so, daß er aufrecht stehn kann und nicht zusammenbricht. Gehorcht mir, ich stehe hier im Namen eures Hauptmannes. Tod jedem Verräter!«
»Tod jedem Verräter!« erscholl es im Chor. Auch Nobody rief es mit.
Kastor mochte Feinde haben. Man schleifte ihn hinaus und band ihn in der vorgeschriebenen Weise an einen Baumstamm, die Hände hoch, daß er sich nicht beugen konnte, das Gesicht dem Stamme zu.
Andre blickten finster auf die Szene.
»Macht Licht!«
Fackeln wurden aus der Hütte ins Freie gebracht, auch ein großes Feuer angezündet.
Mit dämonisch funkelnden Augen trat das Weib auf den Gefangenen zu.
»Was hab' ich Euch getan, daß Ihr mich so behandelt?« knirschte dieser.
»Das wirst du gleich erfahren, du schwarzes Scheusal. Wo hast du heute meinen Pedro gelassen?«
»Weiß nicht, hab' ihn nicht gesehen, er kam nicht.«
»Er stieg nicht in dein Boot?«
»Nein, ist nicht gekommen, habe drei Stunden auf ihn gewartet.«
»Manuel, hierher!«
Der Stromschiffer, der vorhin die Meldung gebracht hatte, trat heran, aber so langsam, daß man seinen Widerwillen erkannte.
»Du hast gesehen, wie Pedro heute mittag von Kastor abgeholt worden ist, wie beide zusammen abgefahren sind. Zeuge gegen diesen schwarzen Hund!«
Manuel steckte die Hände in die Hosentaschen und schob seinen Kautabak mit der Junge in die andre Backe.
»Verdamm meine Augen, ich kann mich getäuscht haben,« sagte er ebenso langsam, wie er herbeigekommen war.
Wütend fuhr das Weib auf.
»Wie? Du ergreifst die Partei dieses Schurken?«
»Macht, was Ihr wollt, ich antworte nicht. Oder wollt Ihr mich etwa auch binden und zum Reden zwingen? Gottes Tod!«
Eine Minute stand die Spanierin da, wie eine Tigerin zum Sprunge geduckt; ihre Brust röchelte. Dann drückte sie schnell die Peitsche dem Nächststehenden in die Hand. Dieser grinste. Er hatte auch zuerst Kastor binden helfen.
»Gesteh, wohin hast du Pedro gebracht?«
»Weiß nicht, hab' ihn nicht gesehen.«
»Schlag zu!«
Dreimal sauste die Peitsche mit der rohen Lederschnur auf des Negers nackten Rücken, jedesmal eine lange Schwiele ziehend. Kastor knirschte mit den Zähnen, zuckte aber nicht.
»Wo hast du Pedro gelassen?«
Jeder Blutstropfen war aus dem schönen Gesicht der Spanierin gewichen. Jetzt sah sie schrecklich aus.
»Hört auf zu fragen!«
Neue Schläge sausten herab; das Weib trieb immer mehr an, und Kastor schwieg verstockt.
»Wahrt Euch vor dem Kapitän, er wird mich rächen!« heulte er nur einmal.
Unter den Umstehenden entstand ein unwilliges Gemurmel.
Da riß die Spanierin dem Manne die Peitsche aus der Hand.
»Du verstehst ja nicht, einen Nigger zum Geständnis zu bringen,« rief sie, »so wird es gemacht!«
Sie verstand es freilich besser. Die Hiebe zogen nicht mehr Schwielen, das Fleisch platzte auf, das Blut floß in Strömen über die schwarze Haut.
»Gesteh — gesteh!« rief Carmen bei jedem Schlag. »Wo hast du den armen Knaben gelassen?«
Der Neger war schon längst bewußtlos, aber das Weib schlug weiter.
»Ich peitsche dich tot, dich Satan!«
»Halt, wer wagt hier zu schlagen!« sagte da eine Stimme, ruhig, kalt, aber so schneidend, daß das Weib erschrocken die Peitsche sinken ließ.
In der Mitte des Kreises stand die gebietende Gestalt eines hochgewachsenen Mannes.
»Der Kapitän!« ging es flüsternd von Mund zu Mund.
»Patterson!« sagte sich Nobody, und er empfand eine tiefe Genugtuung, weil seine Vermutungen bestätigt wurden.
»Charly,« hauchte das Weib, »wo ist Pedro?«
»Carmen, du? Was geht hier vor? Du schlägst Kastor mit eigner Hand?«
Die Frau richtete sich hoch auf.
»Charles, wo ist Pedro?«
»Weiß ich's? Ich kümmere mich nicht um ihn.«
»Du lügst! Du weißt, wo er ist!«
»Er ist dein, nicht mein.«
»Du hassest ihn.«
»Bah, das Kind! Warum schlägst du Kastor?«
»Er hat Pedro im Boote abgeholt, dann ist der Knabe verschwunden.«
»Wir sprechen uns dann darüber. Geh in deine Wohnung!«
»Nicht eher, als bis du sagst, wo mein Liebling geblieben ist!«
Ihr Blick fiel auf den Neger.
Da sah sie etwas Weißes aus seiner blutgetränkten Hose hervorragen, stürzte darauf zu, zog den Brief hervor — ebenso schnell war Charles, er riß ihr den Brief aus der Hand.
Mit entgeisterten Augen starrte sie ihn an.
»Jetzt weiß ich es plötzlich,« hauchte sie. »Du hast Pedro durch Kastor ermorden lassen.«
»Geh in deine Wohnung!«
»Ja, so ist es — ermordet — aus Eifersucht!«
Er streckte die Hand nach dem Dickicht aus, das das Häuschen verbarg.
»Geh in deine Wohnung, Carmen — zum letzten Male!« sagte er ruhig, aber doch furchtbar drohend.
Sie schlug die Hände vors Gesicht, brach in Schluchzen aus und gehorchte. Es war nicht möglich, sich dieser Stimme zu widersetzen.
Charles sah ihr nach, zuckte die Achseln und wandte sich zu dem Bewußtlosen.
»Was ist hier vorgegangen?«
Man teilte ihm alles mit.
»Es ist gut. Befreit Kastor, wascht seinen Rücken mit Branntwein und Wasser, pflegt ihn aufs beste, nur gebt ihm keinen Branntwein zu trinken. Was willst du?«
Ein Mann war vor ihn hingetreten. Haß und Zorn sprachen aus seinem verwilderten Gesicht.
»Ich wollte Euch etwas sagen, Hauptmann, und ich denke, ich spreche im Namen aller meiner Kameraden,« begann er in trotzigem Tone. »Diese Weiberwirtschaft paßt uns nicht mehr. Die Carmen wird alle Tage frecher. Euch haben wir Gehorsam geschworen, aber nicht diesem verdammten Weibe, das der leibhaftige Satan selbst ist. Sie hat Kastor geschlagen, sie wird auch noch uns schlagen. Sind wir etwa Sklaven? Hahaha! Kurz und gut, entweder das Weibsbild verläßt die Insel oder ich gehe —«
»So fahre zur Hölle!«
Gleich einer blauen Flamme zuckte es von dem hochgewachsenen Manne aus auf den Sprecher zu. Dieser fuhr mit der Hand nach dem Herzen und schlug lautlos rückwärts zu Boden.
Wie gebannt standen alle da. Kein Murren, keine Bewegung.
»Gnade dir Gott, Sheriff von Jefferson!« sagte Nobody, der als Jimmy Zeuge dieser raschen Tat wurde, zu sich selber. Äußerlich blieb er vollkommen ruhig.
Gleichgültig wischte der Kapitän das blutige Bowiemesser, das er schneller als der Blitz unter der Weste hervorgerissen hatte, am Grase ab und steckte es wieder in die Scheide.
»Hip hip Hurra, für den Kapitän!« schrie plötzlich Manuel und schwenkte den Hut. »Tod jedem Verräter!«
Als wenn nichts geschehen wäre, wendete sich der Kapitän, der Charles genannt worden war, an die Umstehenden.
»Ich denke, Leute, das Boot wird heute nacht noch auf den Snak rennen, Fred ist darauf und hat mich benachrichtigt. Seid auf dem Posten!«
Sprach's und ging nach dem Häuschen.
Langsam entfernte sich auch Nobody aus dem Kreise der Schiffer und trat in den tiefen Schatten der Bäume. Dort lächelte er grimmig vor sich hin.
»Euch Schuften will ichs Handwerk legen. Ihr sollt zum letzten Male künstliche Snaks im Strome angelegt haben!«
Schlangengleich schlich er sich dem Hause zu.
Auf der Veranda unter den erleuchteten Fenstern duckte er sich nieder.
Carmen wartete auf Charles. Ihre Tränen waren versiegt, aber sie sah angegriffen aus. Trotzdem blickte sie dem Eintretenden zärtlich entgegen, obwohl sie sich ein abweisendes Äußeres geben wollte.
»Wo ist Pedro?«
»Tot,« war die gleichmütige Antwort.
»Tot — tot — o, warum hast du ihn gemordet!« schluchzte sie von neuem.
»Der Bursche paßte nicht auf die Insel, er war ein Schwätzer, ein Leichtfuß. Es war die höchste Zeit, daß wir ihn beseitigten.«
»Nein, aus Eifersucht hast du ihn ermorden lassen!« fuhr sie auf. »Du glaubtest, ich stände mit Diego in Verkehr.«
Der Lauscher draußen stutzte.
Diego, das war der Spanier auf Tanners Farm.
»Laß sehen, was in dem Briefe steht!«
Charles öffnete das mit Blut beschmierte Kuvert.
Der Brief war an Missis Tanner gerichtet. Eine Schneiderin bedauerte, das neue Kleid nicht zur rechten Zeit abliefern zu können. Man möchte sich noch einen Tag gedulden.
»Richtig, ich tat dir unrecht, Carmen.«
»Du bist schrecklich mit deiner Eifersucht, Charles. Ach, warum hat der arme Pedro dafür büßen müssen? Das kann ich dir nie, nie verzeihen!«
»Wirklich nicht?« lächelte er.
Dann wurde er sehr ernst.
»Carmen, ich habe dir schon damals gesagt, du solltest den Knaben nicht bei dir behalten. Was lag daran, ob die neunjährige Brut lebte oder nicht! Aber du bestandest darauf, und leider war ich so schwach, dir nachzugeben. Jetzt mußte ich ihn doch von dir reißen!«
»Du bist schrecklich grausam!«
»Ich will dir etwas sagen: Ich war auch auf Pedro eifersüchtig, er war mir ein Dorn im Auge.«
»Das Kind!«
»Du hast ihn geherzt und geküßt. Das konnte ich nicht ertragen.«
»Es war ja ein Kind!«
»Nein, er war kein Kind mehr!«
»Wie?«
»Ich war auf Pedro eifersüchtig — genug davon. Ha, habe ich den schönen Jungen in letzter Zeit gehaßt! Ich kenne kein Erbarmen, ich gehe geradeaus, und was mir nicht ausweicht, zertrete ich. Eine Rückkehr von diesem Wege gibt es nicht mehr!«
Sie schauerte zusammen.
»Du kannst entsetzlich sein, Charles!« flüsterte sie.
»Ja, ich kann es!«
»Du wirst auch Diego töten?«
»Wenn er noch lange hier herumschnüffelt, wird er von meiner Hand sterben!«
»Hat er eine Ahnung, daß ich hier bin?«
»Hahaha; wenn er auch nur eine Idee hätte — als ob er da noch lebte!«
»Warum hält er sich hier auf?«
»Ich weiß nicht. Er ist ein stiller Träumer. Plötzlich, wie er gekommen ist, wird er einst auch wieder von hier verschwunden sein.«
Plötzlich umarmte und küßte ihn Carmen.
»Charles, liebst du mich?«
»Wie kannst du so fragen?«
»Du warst vorhin so kurz zu mir.«
»Ich darf mir bei meinen Leuten den Respekt nicht vergeben. Du hättest Kastor nicht züchtigen sollen!«
»Sprich nicht mehr von dem schwarzen Halunken!«
»Doch! Ich muß ihn jetzt entfernen.«
»Bitte, nichts mehr von ihm!«
»Er muß auf eine andre Station. Er hat heißes Blut, er könnte sich rächen.«
»Aber, Charles!«
»Du siehst, wie besorgt ich um dich bin.«
»Und eifersüchtig! Wie kannst du glauben, daß ich den Knaben oder gar Diego noch lieben könnte!«
»Eifersucht entspringt der Liebe!«
»Sag mir, wie du mich liebst.«
Er konnte nicht besser antworten, als indem er sie heiß an sich preßte und küßte. Leidenschaftlich erwiderte die feurige Spanierin seine Liebkosungen.
»Liebst du auch nur mich?«
»O, Carmen!«
»Wenn du wüßtest, was für Qualen ich ausstehe!«
»Du bist töricht.«
»Du glaubst, eifersüchtig sein zu dürfen, mich aber schiltst du töricht, wenn ich es bin.«
»Du hast keinen Grund.«
»Mehr als du. Was treibst du in Jefferson?«
»Ich bin Beamter der Pelzgesellschaft.«
»Wenn ich wüßte, du liebtest eine andre!«
»Frage, wen du willst! Alle werden dir sagen, daß es keinen größern Weiberfeind gibt als mich.«
»Die, welche ich fragen kann, halten alle treu zu dir.«
»Warum mißtraust du mir? Könnte ich solche Liebe zu dir haben, wenn ich sie an eine andre verschwendete?«
»Nimm mich einmal mit nach Jefferson!«
»Um Gottes willen!«
»Warum nicht? In Verkleidung!«
»Gerade jetzt, da Diego da ist! Er würde dich sofort erkennen, es wäre mein Verderben.«
»So hast du stets eine Ausrede. Wenn Diego fort ist, wieder eine andre.«
»Vermißt du etwas hier?«
»Ja, dich! Du bist so selten bei mir.«
»Kann ich denn anders? Hahaha, wenn man einst erfährt, daß auf der Freundschaftsinsel eine Räuberbande haust, und daß ich ihr Hauptmann bin!«
»Kannst du denn nicht öfters bei mir sein?«
»Ich komme, so oft es möglich ist.«
»Ha, wenn ich wüßte, daß du mir untreu wärest!«
»Komisches Mädchen! Nun, was würdest du da tun?«
»Dich töten.«
»Ich bin gewohnt, dem Tode ins Auge zu schauen.«
»Dich hundertfach töten.«
»Das kannst du nicht.«
»Ich würde dich an den Pranger stellen.«
»Mich verraten meinst du?«
»Ja.«
»Du weißt doch, daß jeder, der hier auch nur auf Verrat anspielt, sterben muß,« scherzte er.
»Ja, aber auch du wärest verloren.«
»Lassen wir doch diese törichten Redereien! Jetzt ist die Zeit, jetzt müssen wir sie benutzen. Vielleicht haben wir noch diese Nacht zu tun.«
»Ein Boot soll scheitern?«
»Vielleicht.«
»O, Charles, wozu hast du mich gemacht!«
»Zu einem Räuberliebchen.«
Er zog sie an sich und küßte sie. Die beiden, die aufeinander so eifersüchtig waren, gaben sich der Liebe hin.
So verstrich eine Stunde. Da ertönte ein schriller Pfiff. Charles riß sich los und war im Nu draußen.
»Kapitän, das Boot kommt getrieben,« flüsterte ein Mann.
»Wird es richtig gelenkt?«
»Eine Meile vor der Insel muß es auf den Snak laufen, wenn Fred am Steuer steht.«
»Well, haltet alles bereit — und keine Schonung!«
Durch die Nacht ertönte ein gellender Schrei, aus mehreren Kehlen kommend, aus weiter Ferne, und dennoch konnte man noch hier ein Krachen und Bersten vernehmen.
Morgen trieben an das Ufer Wracktrümmer und Leichen, und dann hieß es: wieder ein Boot auf einen Snak gelaufen. —
Nobody war schon längst von der Veranda verschwunden.
Daß der Sheriff von Jefferson eine Doppelrolle spielte, war klar erwiesen, und ebenso, daß er das Oberhaupt einer Bande Flußpiraten war, die sicher schon eine unzählige Menge schwerster Verbrechen gegen Leben und Eigentum ihrer Mitmenschen auf dem Kerbholze hatten.
Für Nobody war dieser Patterson, der in der Stadt die Rolle des untadelhaften Ehrenmannes spielte, während er insgeheim von furchtbaren Gewissensbissen gepeinigt wurde, kein Rätsel mehr. Nicht einmal rein menschliches Interesse konnte ihm dieser Mann einflößen. Derselbe war ein Schädling, der ausgerottet werden mußte. Er war bei weitem schlimmer als jene armseligen chinesischen Seeräuber, deren Vernichtung Nobody beschlossen hatte.
Den beiden Naturen aber, die sich in Patterson verkörperten, entsprachen die beiden Frauen, die er liebte, und die seine Liebe sicher erwiderten.
Die Gattin des Sheriffs war das gute, die Geliebte des Piratenkapitäns das böse Prinzip.
Fast fühlte Nobody sich versucht, die schöne, leidenschaftliche Carmen mit Marguérite zu vergleichen, deren Charakter ebenfalls ans Dämonische grenzte.
Wehe dem Sheriff, wenn Carmen entdeckte, daß er noch eine andre neben ihr liebte, daß er sie betrogen und belogen hatte, seit er sie kannte.
»So weit soll es nicht kommen,« sagte Nobody zu sich selber, indem er sich einen Weg durch den finstern Wald suchte. »Wenn ich es vermag, sollen die beiden bedauernswerten Frauen nicht erfahren, daß sie denselben Mann, denselben blutbefleckten Verbrecher liebten. Patterson hat den Tod verdient, und wie ich ihn kenne, wird er lebend nicht in meine Hände fallen — das heißt, wenn ich es so will — verflucht!« unterbrach er sich lachend. »So geht's, wenn man nicht acht gibt. Jetzt stecke ich drin in der Patsche und kann sehen, wie ich wieder herauskomme!«
Nobody war in einen Swamp geraten, in einen jener tückischen Sümpfe, an denen die Urwälder in den Südstaaten und namentlich in der Gegend des Mississippi so reich sind. Glücklicherweise saß nur das linke Bein fest in der zähen Masse, und Nobody brachte es sofort heraus, indem er sich mit beiden Händen an einem in der Nähe stehenden Baum anklammerte.
Doch die wiedererlangte Bewegungsfreiheit hatte er mit dem Verluste des einen langschäftigen Stiefels bezahlen müssen. Nobody mußte mit einem Stiefel weitermarschieren. Das war bei der herrschenden Finsternis ein böses Stück Arbeit, denn der Boden war mit Dornen übersät, und ganz sicher hausten hier auch die überaus giftigen Klapperschlangen in Menge.
Nobody freilich dachte an keine Gefahr. Er lachte sogar. Doch sofort wurde er wieder ernst. Er durfte keine Zeit verlieren, wollte er die Strompiraten bei ihrer Arbeit überraschen.
Eine Minute blieb er stehn und orientierte sich. Dann drang er quer durch den Wald, und bald hatte er das hier steil abfallende Ufer des Mississippi erreicht.
Zur rechten Zeit! Denn eben kam stromabwärts, dicht am Lande ein Boot um die obere Ecke der Insel. Das war das Fahrzeug, das heute den Piraten zum Opfer fallen sollte.
Am Ufer stand eine jener mächtigen, amerikanischen Weiden, ein Ast erstreckte sich weit über das Wasser, gerade darunter mußte das Fährboot vorbeitreiben.
Rasch erkletterte Nobody den rauhen Stamm und balancierte wie ein Seiltänzer auf dem Ast bis ans äußerste Ende.
Als das große Boot gerade unter ihm war, machte er sich zum Sprunge bereit.
»Achtung, Leute, es kommt etwas von oben!« rief er und ließ sich hinabfallen.
Zwei Männer, die in der Mitte des Bootes gestanden und eifrig miteinander gesprochen hatten, stoben auseinander.
»Gottes Tod, Fremder!« schrie der eine zornig. »Was fällt Euch ein?«
»Mitfahren möchte ich!« lachte Nobody. »Seht, ich erspare Euch die Mühe, mich in Eurem kleinen Boote an Bord setzen zu müssen.«
»Das hätten wir auch, verdammt, nicht getan.«
»Nanu, warum denn nicht?«
»Weil wir kein Boot haben, es ist gekentert und gesunken.«
»Das ist freilich etwas andres,« lachte Nobody wieder, »dann hättet Ihr mich nicht vom Ufer holen können.«
»Ihr habt überhaupt erst zu fragen, ob Ihr mitkommen könnt oder nicht,« entgegnete der erste Sprecher, jedenfalls der Kapitän. »Das geht nicht, so mir nichts dir nichts vom Ast auf ein fremdes Schiff zu springen.«
»Ihr seid höllisch grob, guter Freund. Seht mich nur einmal an! Kann ich denn in einem Stiefel noch zwei Stunden durch den dornigen Urwald bis nach Hause marschieren?«
Jetzt erst sah man, in welcher Verfassung er sich befand, und nun mußte man doch lachen.
»In einem Stiefel! Wie ist denn das geschehen?«
Nobody erzählte eine erfundene Geschichte.
»Ja, wenn solche Greenhorns in den Wald kommen!« hieß es. »Wohin wollt Ihr denn?«
»Nach Jefferson.«
»Wir fahren aber direkt bis nach St. Louis.«
»Nun, ich denke, in Jefferson geht Ihr doch zur Nacht vor Anker.«
»Nein, das tun wir eben nicht.«
»Warum denn nicht?«
Einen andern Hafen als Jefferson gab es in der Nähe nicht, in der Nacht fahren die Boote nicht, ein offener Ankerplatz war jetzt, da der Strom geschwollen war, gefährlich.
»Wir wollen eben das Ankergeld sparen.«
»Das begreife ich nicht, die paar Dollars ...«
»Das ist unsre Sache,« war die rauhe Antwort, »wir sparen, wo wir können, und die Strömung fürchten wir nicht.«
»Da will ich Euch einen Vorschlag machen. Weil ich Euer Passagier bin, muß ich natürlich auch Passagiergeld zahlen. Für das Ankergeld bin ich gut. Einverstanden?«
Nobody wollte nur feststellen, daß seine Vermutung richtig war. Er hielt die Leute für Schmuggler.
Die Schiffer wechselten Blicke miteinander. Trotz der Dunkelheit entging es Nobody nicht, daß es verlegene Blicke waren.
»Nein, darauf lassen wir uns nicht ein, wir nehmen nichts geschenkt,« war die barsche Entgegnung des Kapitäns auf diesen wohlgemeinten Vorschlag.
»He, Fred, steure einmal so dicht ans Ufer, daß der Gentleman hinausspringen kann!«
»Geht nicht, schmeißt den Hund doch über Bord!« erklang es vom Steuer zurück.
Nobody wandte sich schnell um.
»Wo ist der Hund, von dem Ihr spracht?« fragte er drohend, fest entschlossen wie immer, sich nicht die geringste Beleidigung gefallen zu lassen.
Das Boot führte trotz der strengen Vorschrift keine Lichter, und so konnte Nobody den Mann am Steuer, also den Lotsen, nicht genau erkennen, aber er wußte ja, wen er vor sich hatte.
Wie er nun dicht vor den Kerl trat, raunte ihm dieser in sichtlicher Bestürzung zu:
»Goddam, Jimmy, was soll das? Was willst du hier?«
Nobody glich also noch immer jenem Piraten, den er durch einen Faustschlag betäubt hatte.
»Halt's Maul, Fred!« gab er grob zurück. »Du kennst mich nicht! Verstanden?«
Der Lotse nickte und murmelte etwas vor sich hin.
»Gebt Ruhe!« rief da der Kapitän. »Fred ist etwas grob, aber das soll Euch nichts kümmern. Wir haben ihn gemietet, nicht Ihr. Er ist unser Lotse. Ich will Euch etwas sagen, da Ihr nun einmal darauf seid, so bleibt zum Teufel hier. In Jefferson legen wir aber nicht an; wir ankern, wo wir wollen. Ein Boot haben wir nicht, wenn Ihr also vor St. Louis noch von Bord wollt, so müßt Ihr ein andres Fährboot oder einen Dampfer anrufen.«
Er drehte sich auf den Hacken herum und ließ Nobody stehn.
Dieser setzte sich auf eine Kiste und brannte sich eine Pfeife an.
Als aus der Luke, die zu der winzigen Kajüte führte, Licht hervorschimmerte, ging er darauf zu. Unten saß der Kapitän und schnitt Rolltabak klein.
»He, Kapitän, habt Ihr Handwerkszeug an Bord, um ein Paar Schuhe machen zu können?«
»Das habe ich natürlich, aber kein gutes Segeltuch.«
»Ich will mir auch Lederschuhe machen, Mokassins.«
»Leder erst recht nicht.«
»Aber ich habe noch einen großen Stiefel. Daraus mache ich mir zwei kleinere,« lachte Nobody, der ganz so tat, als sei er eben nur durch Zufall auf das Boot geraten.
»Könnt Ihr das?« lachte der Schiffer ebenfalls. »Dann wäret Ihr ein Mordskerl.«
Mehr als zwei Mann faßte die Kajüte nicht. Der Kapitän holte das nötige Schusterwerkzeug herbei.
Wie der Hinterwäldler alles in seiner Hütte hat, um die Bedürfnisgegenstände selbst zu fertigen, auch Kleider und Schuhe, so auch der Stromschiffer im Boot, wie der Matrose auf dem Schiff, und Nobody mußte von dem Manne für einen Schiffer gehalten werden.
Nobody hatte unterdessen seinen rechten Stiefel ausgezogen, schlitzte den Schaft von dünnem Leder auf, schnitt zu, arbeitete mit Pfriem und Nadel und benahm sich bei allem so geschickt, daß der Kapitän Ausrufe des Staunens nicht unterdrücken konnte. Noch war keine Stunde vergangen, als Nobody zwei passende und dauerhafte Mokassins an den Füßen hatte.
»Mord und Hagel,« rief der Schiffer, »bei Euch kann man aber etwas lernen! Ich glaube, Ihr seid bei den Rothäuten Schusterjunge gewesen.«
»Die sind allerdings meine Lehrmeister gewesen.«
»So geschickt und schnell habe ich noch keinen Trapper arbeiten sehen.«
»Glaub's schon. Hier, das übrige Leder gehört Euch.«
»Könnt mir auch gleich so ein Paar Mokassins machen.«
Aus dem Maßnehmen wurde vorläufig nichts, der Steuermann rief zum Festmachen, der Kapitän mußte an Deck, und Nobody folgte ihm.
Auch der Mississippi hat seine bestimmten Strömungen, besonders durch die verschiedenen Inseln erzeugt.
Die Nacht war sehr dunkel, aber Fred mußte hier förmlich jeden Wassertropfen und jeden Ast der verschiedenen Inseln kennen. Er war, eine strudelnde Strömung benutzend, scharf nach links abgebogen und so gerade hinter eine kleine Insel gekommen, an die er das Boot anlegen, nicht verankern, sondern an einen Baum festbinden wollte.
Zu diesem Manöver in finstrer Nacht gehörte die außerordentlichste Ortskenntnis, um so mehr, als die übrigen Schiffer hier gar keinen Bescheid wußten, auch nicht anders helfen konnten als durch Zureichen von Stricken und so weiter, wie Fred sie vorher angestellt hatte. Das schwierige Manöver gelang allein durch die Geschicklichkeit des Steuermannes.
Das fast zwanzig Meter lange und sehr breite Boot schwenkte herum, schoß durch einen Strudel, Büsche streiften über das Deck, dann kehrte es den Bug wieder stromabwärts. Mit einem Satz sprang Fred am Heck über Bord, scheinbar ins Wasser, in Wirklichkeit ans Land, in der Hand ein armstarkes Tau — ein Reiben, ein Ruck, und das Fahrzeug stand, von dem Tau gehalten, das der wagehalsige und kundige Lotse um ein paar Bäume geschlungen, deren Wurzeln er wohl schon öfter auf ihre Festigkeit geprüft hatte.
»Das ist hier aber eine verdammt starke Strömung, wo du uns hingebracht hast,« meinte der Kapitän besorgt und legte die Hand auf das äußerst straff gespannte Tau, »wenn die Bäume brechen, dann — ade ›Betsy‹, wir fahren mit ihr zur Hölle.«
»Die Bäume halten, für die wette ich meinen Kopf. Wenn Euer Tau nicht bricht ...«
»Es ist ein neues Manilatau, der Faden mit fünf Zentner Tragfähigkeit garantiert.«
»Hahaha, mit fünf Zentner! Einer genügt auch. So stark ist die Strömung gar nicht.«
»Ich danke! Na, wenn nur die Bäume halten!«
»Für die garantiere ich mit zehn Zentner für die Faser,« lachte der Steuermann sorglos. »Na, und was machte es auch, wenn Bäume und Taue brächen? Ich steuerte doch wieder sicher in den Strom.«
Das Wasser rauschte und schäumte ganz unheimlich unter dem Heck, das Tau erklang, wenn man darauf schlug, wie eine Stahlsaite, so straff war es gespannt. Kein Wunder, wenn die fremden Schiffer doch etwas ängstlich waren.
Nobody stand direkt neben Fred.
»Wir kennen uns also nicht!« raunte er diesem zu.
»Was willst du hier?« fragte der Pirat ebenso leise zurück.
»Ich bin tatsächlich nur durch einen Zufall hier. Der verdammte Whisky, den John spendierte —«
Er brach ab; denn der Kapitän kam näher. Sofort fragte Nobody laut:
»Wo sind wir denn hier?«
»An einer Insel,« entgegnete Fred kurz.
»Das merke ich. Ich meine, an welcher?«
»An einer Insel, um die ringsherum Wasser ist.«
»Was Ihr nicht sagt!« spottete Nobody, scheinbar seinen Ärger hinunterschluckend. »Ist hier in der Nähe nicht die Freundschaftsinsel?«
»Weiß nicht.«
»Ich denke, Ihr seid hier bekannt?«
»Bin's auch.«
»Und Ihr wißt nicht, wo sich die Freundschaftsinsel befindet?«
»Weiß es wohl, aber was geht's Euch an?« knurrte der Pirat, der den Detektiv für einen Genossen, für Jimmy hielt. Nobody drehte ihm den Rücken und ging, kam aber bald zurück und beobachtete, wie die Wachen verteilt wurden.
Ein Mann stand immer bei dem Tau Posten, die zweite Wache von 10 bis 12 wollte Fred selbst übernehmen, sonst schlief er auch an Deck, so daß er, falls etwas passierte, geweckt werden und sofort zur Stelle sein konnte.
Der Kapitän, meinte er, solle sich nur ruhig schlafen legen, Gefahr läge nicht vor, und dann könne er doch auch nichts helfen.
»Mach deine Sache gut, alter Junge!« flüsterte Nobody dem verräterischen Lotsen zu, als er sich neben demselben an Deck zum Schlafen ausstreckte.
»Ha, und vergiß nicht, mich zu wecken, falls die Reise in die Hölle losgeht — hab' keine Lust mitzufahren — hahaha — ein verdammtes Zeug dieser Gin — mein Schädel brummt wie ein gestickter Dudelsack.«
Fred knurrte eine Antwort zwischen den Zähnen hervor; der vermeintliche Jimmy aber hörte sie nicht mehr, er schnarchte bereits.
Der erste Schiffer übernahm die Wache an dem Tau, die andern suchten ihre Lagerstätten auf, teils unter, teils auf Deck, bald waren sie eingeschlafen, denn die Handhabung der mächtigen Ruderstangen, mit denen das plumpe Boot immer in der richtigen Strömung gehalten werden muß, ist äußerst anstrengend.
Es herrschte Stille. Nur das Wasser gurgelte und rauschte; die Bäume ächzten unter der Last; manchmal machte der Posten ein paar Schritte hin und her, um sich wach zu halten.
Der Mond stieg über den Wald auf und beleuchtete das friedliche Schiff. Erst jetzt war die gefährliche Lage desselben zu erkennen.
Die Strömung war hier furchtbar reißend. Weil sie von zwei Seiten kam, entstanden Strudel. Brach das Tau, dann wurde das Boot von unwiderstehlicher Gewalt fortgerissen, und dort unten tauchte im Mondenschein der Schatten einer andern Insel auf, an dieser mußte das Boot scheitern, es sei denn, die Hand des Steuermanns verstand es vorbeizubugsieren.
Dazu aber mußte man hier geboren, auf diesem Wasser aufgewachsen sein. Einem Fremden wäre es nicht gelungen.
Der Strom sah aus, als berge er Snaks genug.
Die Uhr, die der Kapitän dem ersten Wachthabenden gegeben hatte, zeigte auf zehn. Mit einem Seufzer der Befriedigung weckte er Fred, der sofort auf den Beinen war.
»Was gibt's?«
»All right. Zehn Uhr.«
»Na, hat der Manila gehalten?« lachte der Steuermann leise. »Seht, ihr Hasenherzen, wir liegen doch noch fest, und die Strömung nimmt jetzt ab.«
»Ich dächte, sie würde eher stärker.«
»Unsinn, das muß ich besser wissen. Geht nur schlafen!«
Der Mann entfernte sich.
Fred bog sich über Bord und lauschte dem Rauschen des Wassers, prüfte das Tau mit der Hand, nickte befriedigt und ließ dann seine Augen über Deck schweifen, bis sie auf Jimmy haften blieben. Dieser lag im Schatten einer langen Kiste, der Lotse konnte ihn aber deutlich sehen. Seine Brust hob sich regelmäßig im Schlafe, die geschlossenen Augen waren nach dem Steuerruder gerichtet.
Wieder nickte der Kerl, und ein widriges Grinsen umspielte seinen Mund.
Eine Stunde verstrich. Unbeweglich stand Fred da, seine Augen auf die ferne Insel geheftet. Er schien zu lauschen, oft legte er die Hand an das Ohr, blickte wieder nach der Uhr.
Ein ferner Dampfer verkündete die elfte Stunde. Da schlich sich Fred auf den Zehenspitzen zu dem vermeintlichen Genossen und beugte sich über ihn.
Derselbe schlief fest.
»So fahre auch du mit in den Tod!« murmelte der Räuber zwischen den Zähnen hervor.
Er wandte sich um; ein Messer blitzte in seiner Hand; mit schnellen Schritten stand er am Heck; die haarscharfe Klinge fuhr über das zum Springen gespannte Tau.
Einige Fäden waren zerschnitten, das genügte. Andre platzten jetzt von selbst, das Schiff bekam einen Ruck. Aber das Tau hielt dennoch.
Da senkte sich das Messer abermals.
»Schuft, was hast du vor?« zischte es dem Manne ins Ohr.
Wie vom Blitz getroffen fuhr Fred herum.
»Jimmy!« stieß er hervor. »Hölle, Tod und Teufel, was fällt dir ein? Willst du uns die Kerle auf den Hals locken?«
»Verdammt! Bist du verrückt geworden?«
Nobody hatte den Elenden mit eiserner Faust gepackt, entwand ihm das Messer und schleuderte es in den Strom.
Ein verzweifeltes Ringen entstand. Der Flußpirat war ein Riese an Kraft, doch einem Nobody konnte er natürlich nicht widerstehn. Schritte eilten über Deck. Die Bootsbesatzung war erwacht und kam herbei.
Fred heulte vor Wut.
Da krachte es wie ein Kanonenschuß, das Tau war gerissen. Wie ein Pfeil schoß das Boot plötzlich davon; die am äußersten Rande stehenden Männer bekamen einen Stoß, sie konnten sich nicht halten, eng umschlungen stürzten beide über Bord, und mit dem Schreie des Steuermanns vermischte sich der Ruf des Entsetzens der gesamten Besatzung, denn sie sah sich rettungslos dem Tode preisgegeben.
Auch noch im Wasser, von dem sie fortgerissen wurden, hielten sich die beiden Kämpfenden umfaßt.
»Laß los, Jimmy!« keuchte Fred, dessen Hals von den würgenden Händen des Detektivs umklammert ward.
»Gleich!« antwortete Nobody mit grausamer Ruhe.
Er löste die rechte Hand, hob sie empor und schmetterte sie nieder auf den Schädel des Flußpiraten.
Lautlos trieb der Mann auf den Fluten dahin. Nobody aber ward ebenfalls von der Strömung mit reißender Schnelligkeit fortgerissen.
Ein Baumstamm schwamm vorüber. Er hielt sich an demselben fest, es gelang ihm, durchzukommen, ohne gequetscht zu werden. Etwas Dunkles tauchte vor ihm auf, es war die Insel, auf die er zutrieb.
Da, wieder ein gellender Schrei, nicht weit von ihm entfernt, ein Krachen und Malmen — das Boot war von seinem Schicksal ereilt worden. Auch die Schiffer rangen jetzt mit der Strömung.
Nobody merkte, daß er an der Insel vorbeigetrieben wurde, er ließ den Baumstamm fahren, verließ sich nur auf seine Schwimmkunst, rang und kämpfte, er kam gegen die Strömungen und wurde in ein Wirrnis von Ästen und Zweigen geschleudert, das festen Grund hatte, denn das Wasser brach sich daran. Mit unsäglichen Schwierigkeiten arbeitete er sich durch und hatte endlich festen Boden erreicht.
»Wilm, bist du's?« rief leise eine Stimme in seiner Nähe.
Nobody antwortete nicht. Trotzdem er gewiß war, daß er auch jetzt noch von den Flußpiraten für Jimmy gehalten werden würde, wollte er sich doch nicht hier treffen lassen. Sie brauchten nicht zu wissen, daß er auf dem Boote gewesen war.
»Wilm, was machst du denn da? Kriechst wohl wie ein Waschbär im Dickicht herum?«
»Ich? Ich sitze hier auf meinem Baume!« entgegnete eine andre Stimme.
»Was war denn das, was eben durch das Gebüsch brach? Alle Teufel, doch nicht etwa einer von dem Boote, der sich gerettet hat?!« setzte der Sprecher erschrocken hinzu.
»Unsinn, das ist weit links von hier gescheitert. Ein Biber wird's gewesen sein, er ist im Schlafe erschreckt worden.«
»Gibt's denn hier Biber?«
»Der Kapitän läßt sie schonen, er will sie selbst jagen. Laß doch jetzt den dummen Schnack! Verdammt, der Fred hat seine Sache diesmal schlecht gemacht. Ich sagte es aber gleich, die Strömung ist zu stark, er kann das Boot nicht auf den Snak zwingen.«
»Na, der Kapitän wird schön toben.«
»Bah, der verzieht keine Miene! Der hat ein Herz von Stahl, und sein Blut ist kälter als Eis. Aber uns geht eine schöne Beute verloren.«
»Womit war denn das Boot beladen?«
»Weißt du das nicht?«
»Ich bin ja erst vorhin gekommen, man schickte mich gleich auf Posten hierher.«
»Ach so! Mit Rum und Zucker war's befrachtet, außerdem führte es noch einige Tonnen Opium versteckt, die nach St. Louis geschafft werden sollten. Wenn uns die in die Finger gekommen wären, kamen auf jeden wenigstens 1000 Dollar.«
»Wohin hättet ihr denn die Ladung verkauft?«
»Nach New-York. Dort ist stets Nachfrage nach Opium. Ich glaube, in den New-Yorker Gesellschaften wird ebensoviel Opium geraucht wie in China. Verdammt, daß Fred das Boot nicht besser gesteuert hat!«
»Habt ihr viel Beute in der letzten Zeit gemacht?«
»Es geht. Neulich ließ Dan ein Boot mit Wollwaren und Seide auf den Snak laufen.«
»Merken sie denn in Jefferson gar nicht, daß es doch seltsam ist, wie gerade immer bei der Insel so viele Boote scheitern?«
»Merken? Hahaha! Sie wissen ja nicht, wo der Snak sitzt; am Morgen sieht man stromabwärts nur Trümmer und noch einige Kisten treiben, die uns entgangen sind. Hier und da liefern wir auch einmal einiges Frachtgut ab, um den Schein zu wahren.
»Nein, mein Wilm, wir haben nichts zu fürchten. Wer hier in die Strömung stürzt, der kommt lebendig nicht wieder heraus, und wer an unsre Insel getrieben wird, dem klopfen wir den Schädel ein, dazu sitzen wir hier oben, und was hat denn das weiter zu bedeuten, wenn einer am Leben bliebe? Es ist eben ein Unglück geschehen, das Boot ist auf einen Snak gerannt. Außerdem haben alle die Schiffer, die in der Nacht hier draußen ankern, sowieso ein böses Gewissen. Denen stellen wir unsre Lotsen, die sie dann ins Garn locken. Verrat brauchen wir unter uns nicht zu fürchten, so lange wir unsern Kapitän haben. Der führt ein eisernes Kommando, und das feinste dabei ist ja, daß niemand die Insel betreten darf, das ist nun einmal unser Privilegium. Hahaha, wenn die wüßten, was das hier für ein sauberes Nest ist!«
Nobody fand hier also bestätigt, was er schon vermutet hatte.
Die Piraten schickten in entfernte Städte stromaufwärts Männer, welche sich an fremde Boote als Lotsen verdingten, und womöglich suchten sie solche auf, welche aus irgend einem Grunde des Nachts lieber im offnen Strome ankerten als in einem Hafen. Diese lockten sie in die Nähe der Freundschaftsinsel und ließen sie auf einen Snak laufen, vielleicht auf einen künstlichen, vielleicht gab es deren mehrere hier.
Der alte Holzfäller hatte doch recht gehabt.
Nobody war Zeuge gewesen, wie es solch ein Lotse anfing. Er ließ das Tau reißen, tat scheinbar seine Pflicht als Steuermann, lenkte das Boot aber eben auf den Snak, so daß es eine Beute der Inselpiraten wurde. Er selbst wußte nicht, wie er sich retten konnte. Die übrigen ertranken entweder oder sie trieben auf die Insel zu und wurden dort getötet, oder sie überlebten den Unglücksfall und konnten von weiter nichts erzählen, als daß sie eben gescheitert wären. Wer wußte, wie lange die Räuber schon ihr Unwesen trieben!
Ja, wie war aber das? Das war doch keine abgesonderte Kolonie! Die Bewohner durften auswandern, verdingten sich als Stromschiffer, als Tagelöhner auf Farmen, sie wohnten auch in Jefferson.
Es war eben eine weitverzweigte Räuberbande, die von dieser Insel ausging, hier ihr Zentrum hatte. Vielleicht breitete sich das Netz über den ganzen Mississippi aus, vielleicht noch weiter.
Jedes Geräusch vermeidend, schlich sich der verwegene Detektiv unmittelbar an den beiden Wächtern vorbei ein Stück landeinwärts — dort blieb er stehn.
»So!« sagte er. »Jetzt weiß ich genug. Jetzt habe ich nicht mehr nötig, mich länger als Jimmy aufzuspielen — ich will es nicht. Patterson wird noch auf der Insel sein, und ich will ihm direkt entgegentreten als Fred Jenkins, als Cutting Knife, wie er mich kennt. Er soll nicht sagen dürfen, daß ich ihn aus dem Hinterhalt überwältigt habe, und daß ich den offnen Kampf mit ihm fürchte. Vielleicht ist er vernünftig und macht selber ein Ende, wenn er sein Treiben entdeckt sieht!«
Wahrhaftig, der Mann muß noch geboren werden, der einem Nobody an Kühnheit und Unerschrockenheit gleichkommt!
Er hatte es in seiner Hand, unerkannt als Jimmy die Freundschaftsinsel zu verlassen, den Sheriff Patterson nach dessen Rückkehr nach Jefferson zu verhaften und das Räubernest auszuheben, und er zog es vor, dem Führer der Flußpiraten als Fred Jenkins unbewaffnet entgegenzutreten und ihn wegen seines verruchten Treibens zur Rede zu stellen.
War das nicht gleichbedeutend mit einem selbstgewählten Tode?
Für jeden andern, für Nobody nicht. Er kannte nunmehr den Charakter Pattersons durch und durch — wie genau, das wird sofort bewiesen werden.
Rasch bearbeitete Nobody sein Gesicht. Der Mond leuchtete ihm, als er in den kleinen Taschenspiegel schaute.
Das war wieder ganz der berühmteste aller Westmänner, Cutting Knife.
Geräuschlos schlich Nobody davon. Ein Glück, daß er nicht mehr die schweren Stiefel, sondern leichte Mokassins an den Füßen hatte. Es gehörte freilich sein Auge dazu, um sich in der Dunkelheit zwischen den Bäumen zurechtzufinden. Kein Ast knackte, kein dürres Laub raschelte unter seinen Füßen.
Rechts von ihm hatten die beiden Wächter auf Bäumen gesessen, so hielt auch er sich zuerst rechts.
Er erreichte einen bewaldeten Hügel, den er achtlos übersteigen wollte.
Aber nein, das war kein natürlicher Hügel. Er war so glatt, als wäre er künstlich aufgeführt; nach dem Wasser zu fiel er allmählich ab, nach dem Lande zu ziemlich steil. Keine Unebenheit war zu bemerken, der Kamm gerade wie mit einer Schnur gezogen. Nobody fühlte auch ein Flechtwerk aus Ästen.
Das war ja eine — eine — das war ja gar nicht möglich ...
Er war in ein Loch getreten, das schräg in den Boden führte, er fühlte etwas Hartes, Rundes unter dem Fuße, griff daran und — betastete mit der Hand die Mündung einer Kanone von etwa sechszölligem Kaliber.
Die Piraten hatten auf der Insel für alle Fälle sogar Befestigungen angelegt.
Nobody fand noch weitere Geschützmündungen, noch weitere solcher Hügelbatterien, vielleicht war die ganze Insel mit ihnen umgeben, aber den Zugang zum Innern konnte er in der Dunkelheit nicht entdecken.
Dagegen überzeugte er sich, daß dieser Hügel auf beiden Seiten durch schier undurchdringliches Dickicht eingeschlossen war, sowohl nach dem Wasser als nach dem Lande zu.
Mit dieser Entdeckung vorläufig zufrieden, drang Nobody weiter ins Innere der Insel vor: ein schmaler Pfad erleichterte sein Vorhaben, bald sah er Lichtchen in der Ferne flackern; beim Näherkommen erkannte er das Hüttendorf.
Er wagte sich so weit vor, um das Ganze überschauen zu können.
Die Männer saßen noch in Gruppen an Feuern zusammen, rauchten, tranken und unterhielten sich. Es ging sehr aufgeregt zu, entschieden herrschte allgemeiner Unwille über etwas — natürlich über den ungeschickten Fred, der ihnen eine reiche Beute hatte entgehn lassen.
Nobody hatte hier nichts mehr zu suchen. Er wendete sich dem Hause zu, in dem er vorhin die Szene zwischen Charles und Carmen beobachtet hatte.
Jetzt drang aus einem andern Raume Lichtschein ins Freie.
Sofort war Nobody unter den Fenstern, kniete nieder und hob den Kopf so weit, daß er eben in das Zimmer hineinspähen konnte.
Es war einfach eingerichtet, enthielt zwei Stühle, ein Feldbett, einen Schreibtisch, Bücherregale, voll besetzt, Aktenbündel, die Wände waren mit kostbaren und seltnen Waffen dicht behängt.
Er lauschte. Alles war still.
Wie eine Feder schnellte er empor, und ohne das Fensterbrett berührt zu haben, stand er im Zimmer. Da ertönten hastige Schritte.
Wenn die Person am Fenster vorbeiging und ihn bemerkte!
Nobodys Blick fiel auf einen Vorhang, der einen Verschlag abtrennte. Mit einem zweiten Schritt stand er dahinter und sah in dem Licht, das durch die grüne Gardine fiel, daß er sich in einem Baderaume befand.
Da öffnete sich die Tür zu dem Arbeitszimmer, und Carmen trat ein, gefolgt von einem Stromschiffer.
»Komm hier herein, Maurice,« sagte die Dame hastig, »hier sind wir ungestört.«
Nobody sah durch den dünnen Vorhang alles, doch er selbst konnte nicht gewahrt werden, so lange die Portiere nicht zur Seite geschlagen wurde.
Carmen schloß die an den Fenstern befindlichen massiven Holzflügel, desgleichen die Tür.
»Was willst du Heimliches mit mir sprechen?« wandte sich das Weib an den Mann.
Der Angeredete war wie die Stromschiffer gekleidet, aber schlanker und zierlicher gebaut als die Mississippibootsleute, seine Züge trugen ein französisches Gepräge. Jetzt war sein sonst hübsches Gesicht finster, vor Leidenschaft fast verzerrt, und seine Augen glühten unheimlich.
»Rächen will ich mich!« zischte er.
»Rächen?« wiederholte Carmen erstaunt.
»Mein Bruder ist ermordet worden.«
»Ah, so! Ja, er starb durch des Hauptmanns Hand, weil er mit Verrat drohte,« erwiderte sie gleichgültig.
»Ich habe mir alles erzählen lassen, als ich vorhin zurückkam und nur das Grab meines Bruders wiederfand. Er sprach nicht von Verrat, er wollte sich nur keinem Weibe fügen, denn Ihr, Senora, habt einen der Unsrigen ...«
»Laß das!« unterbrach sie ihn wegwerfend. »Er widersetzte sich mir. Man hat dem Kapitän Gehorsam geschworen, er hat befohlen, mir zu gehorchen. Ungehorsam ist Verrat, Tod dem Verräter, also mußte dein Bruder sterben.«
»Tod dem Verräter!« wiederholte Maurice. »Das ist unser einziges Gesetz. Wohlan, nimm dort den Dolch und stoß ihn mir ins Herz — denn — ich — ich — will zum Verräter werden!«
Vor dem sich hoch aufrichtenden Manne trat Carmen bestürzt einen Schritt zurück.
»Du willst zum Verräter werden und gestehst das vorher so offen?«
»Aus Rache werde ich Euch und alles verraten.«
Blitzschnell hatte das Weib einen Dolch von der Wand gerissen und ihn auf des Mannes Brust gezückt.
»Und Ihr sollt mir dabei helfen,« sagte er in diesem Augenblick.
Der Dolch wurde gesenkt.
»Ich?«
»Ich will Euch Enthüllungen über den Kapitän machen.«
»Aaah!« hauchte sie. »Enthüllungen!«
»Er hintergeht Euch, und uns hat er befohlen, Euch zu belügen, Senora!«
Sie bog den Oberkörper vor, ihre Augen funkelten.
»Hüte dich, Maurice — aus dir spricht die Rache.«
»Aber auch die Wahrheit — Ihr sollt prüfen.«
»Nun? Sprich leiser!«
»Der Streit, dem mein Bruder zum Opfer fiel, entstand wegen Kastors. Ihr ließt ihn züchtigen.«
»Ich züchtigte den schwarzen Schurken selbst.«
»Kastor sollte den Knaben, den Ihr liebt, von Tanners Farm abholen. Er aber kam allein zurück und meldete Euch, Pedro habe ihn umsonst warten lassen.«
»Warum erzählst du mir das alles?«
»Kastor belog Euch, belog Euch auf des Kapitäns Befehl. Er hat Pedro ermordet, wiederum auf des Kapitäns Geheiß.«
Triumphierend hatte Maurice gesprochen, doch Carmen lächelte nur spöttisch.
»Kannst du mir nichts Besseres erzählen? Das weiß ich.«
Dennoch behielt der Mann seine triumphierende Miene bei.
»Ihr verschwendet Eure Liebe an einen Unwürdigen,« sagte er.
Des Weibes Augen flammten in verzehrendem Feuer auf.
»Was sagst du da?« kam es zischend von ihren Lippen.
»Daß er Euch nur vorheuchelt, Euch allein zu lieben.«
»Er — liebt — mich — nicht — allein? Wen sonst?«
»Als Charly Euch hierherbrachte und Euch Liebe schwor, war er bereits verheiratet — und zwar sehr glücklich.«
»War — verheiratet?«
»Und ist es noch jetzt in Jefferson und liebt seine Frau mehr als Euch, denn bei ihr ist er immer.«
Der Stachel saß.
Erst schien Carmen zusammenbrechen zu wollen, dann trat sie wieder mit gezücktem Dolch auf Maurice zu. Man erkannte sie nicht mehr.
»Das ist dein Tod — wenn du nicht die Wahrheit beweisen kannst,« keuchte sie.
»Ich kann es.«
»Wie?«
»Überzeugt Euch doch selbst von seinem Glück an der Seite seiner Frau. So schön wie Ihr ist sie freilich nicht, aber still, häuslich, freundlich —«
»Genug — genug — ja — ich will mich überzeugen — Maurice — bring mich an Land!«
»Ich gehorche!«
»Ich — ja — ich will — du bringst mich an Land — zu ihm — zu seiner Frau —«
»Sehr gern.«
»Jetzt — geh!«
Maurice verneigte sich und ging. Er hatte seinen Bruder furchtbar gerächt.
Carmen brach mit einem dumpfen Schrei zusammen und blieb bewegungslos auf dem Teppich liegen.
Nobody hätte jetzt sein Versteck verlassen können, aber er blieb. Mehr als zuvor verlangte ihn danach, dem Manne Auge in Auge entgegenzutreten, dessen Untergang so nahe bevorstand.
Nach geraumer Zeit erhob sich das schöne Weib. Es warf einen wilden, irren Blick umher; dann verließ es das Zimmer.
Eine Minute später öffnete sich die Tür wieder.
Der Sheriff Patterson, der Hauptmann der Piraten trat ein.
Sofort schlug Nobody den Vorhang zurück.
»Ah — welches Zusammentreffen! Mister Jenkins! Cutting Knife!« kam es von den Lippen des Überraschten. Sein Gesicht hatte sich verdüstert. Mit gespanntem Revolver trat er vor Nobody hin.
»Mister Jenkins — vor Ihnen steht nicht Charles Patterson, der Sheriff von Jefferson, dessen Gastfreundschaft Sie genossen, sondern Sie befinden sich in der Gewalt des Herrn dieser Insel, der zugleich Kapitän einer Piratenbande ist.«
»Das ist ganz dasselbe.«
»Es ist nicht dasselbe. Als Sheriff würde ich die Gastfreundschaft nicht schänden.«
»So können Sie sich zerteilen?«
»Ich kann es!« entgegnete Patterson mit Nachdruck. »Genug davon — jetzt wenigstens. Sie werden mir Rede und Antwort stehn, sonst ist es Ihr Tod!«
»Ich habe keinen Grund, zu schweigen!«
»Ich verlange die Wahrheit zu hören.«
»Sie sollen sie zu hören bekommen.«
»Bei der ersten Unwahrheit, die Sie sprechen, zerschmettre ich Ihnen den Kopf.«
»Ich hoffe, Sie überzeugen sich erst, ob ich auch wirklich gelogen habe.«
Der Kapitän lächelte flüchtig.
»Wenn es nicht eben Sie wären, würde ich Sie Ihren Antworten nach für einen Prahlhans oder für einen Tollhäusler halten. Wie sind Sie auf die Insel gekommen?«
»Im Boote,« entgegnete Cutting Knife. »Ich saß als Jimmy vorhin mit drüben am Lagerfeuer.«
»Als Jimmy?« wiederholte Patterson in maßlosem Erstaunen. »Herr, wo ist Jimmy?«
»Er liegt gefesselt und geknebelt am Ufer.«
Des Kapitäns Augen funkelten drohend.
»Herr, Sie sind nicht der, für den Sie sich ausgeben! Sie sind nicht Cutting Knife!«
»Ich bin's! Sie sehen es!«
»Wie konnten Sie als —«
»Genug! Ich will Sie nicht länger täuschen. Das Schicksal führte mich mit Ihnen zusammen. Es wollte, daß ich Ihrem Treiben ein Ende bereitete, und dieses ist gekommen.«
Eine gebietende Handbewegung hinderte den Piratenkapitän am Reden.
»Still! Jetzt spreche ich. Sehen Sie her!«
Der Westmann Cutting Knife wendete sich halb zur Seite, strich sich mit den Händen über das Gesicht, nahm die wassertriefende Schiffermütze vom Haupte und wendete sich Patterson wieder zu.
Leichenblaß taumelte derselbe zurück.
»Nobody! Der berühmte Nobody!« kam es ächzend aus seiner Brust.
Das Bild des Detektivs war in den ganzen Vereinigten Staaten bekannt. Er trat ja nur ganz selten in seiner wahren Gestalt auf. Jetzt zeigte er sie.
»Ich bin's,« sagte er einfach, und dann setzte er hinzu:
»Glauben Sie nun, daß Ihr Ende gekommen ist, Mister Patterson?«
Dieser hatte sich bereits wieder gefaßt. Ein schneller Blick überzeugte ihn, daß Nobody waffenlos war.
»Sie sind allein auf die Insel gekommen?«
»Ja.«
»Sie wissen, daß Sie damit Ihr Todesurteil sprechen?«
Nobody lächelte.
Patterson stutzte, sann nach und fragte dann:
»Sie waren früher auch jener Cutting Knife, als der Sie mir auf dem Dampfer entgegentraten?«
»Der war ich.«
»Eine Art von Lederstrumpf, der Held von Jugendgeschichten?«
»Ganz richtig.«
»Von Ihnen ging die Sage, daß Sie unüberwindlich wären. Niemand könne Sie lebendig fangen.«
»Das war keine Sage, das war so.«
»Jetzt sind Sie aber mein Gefangener.«
Wieder lächelte Nobody. Es wäre ihm ein leichtes gewesen, einen Revolver von der Wand zu reißen. Er tat es nicht. Er war auch so seines Sieges sicher.
»Patterson,« sagte er langsam, jedes Wort betonend, »Patterson, versuchen Sie nicht, gegen das Schicksal anzukämpfen! Sie entgehn ihm nicht!«
»Ich töte Sie!«
»Das tun Sie nicht! Die nächste Kugel, die Ihren Revolver verläßt, ist für Sie selbst bestimmt.
»Denken Sie an Ihre Frau, Mann!« fuhr Nobody eindringlich fort. »Retten Sie dieselbe vor der drohenden Schmach. Lohnen Sie so viel Liebe nicht mit Undank! Patterson, hören Sie mich! Ich gebe Ihnen drei Tage Zeit, Ihre Angelegenheiten zu ordnen — mehr nicht — dann machen Sie ein Ende oder ich vernichte Sie!«
So sprach der Mann, der waffenlos dem Piratenkapitän gegenüberstand, auf dessen Wink die Räuber herbeieilen mußten!
Schweigend starrte Patterson zu Boden. Da — der Revolver entfiel seinen Fingern! Aufstöhnend schlug der Unselige die Hände vors Gesicht.
»Sie verachten mich?« fragte er schluchzend.
»Ich bemitleide Sie!«
»Und Sie gönnen mir drei Tage Frist?«
»Ich sagte es!«
Wieder trat eine Pause ein, dann stieß der Piratenkapitän hervor:
»Gut! Es sei! Ich füge mich dem Schicksal. Nur eine Bitte habe ich noch: Hören Sie meine Beichte.«
»Gern! Setzen wir uns!«
Nobody sagte es ohne jede Genugtuung. Dieser Sieg bereitete ihm wenig Freude. Fast verwünschte er die Stunde, da er den Vorsatz gefaßt hatte, dem Manne, der so gebrochen auf dem Stuhle saß, die Maske vom Gesicht zu reißen.
»Sprechen Sie, Patterson! Erleichtern Sie Ihr Herz!«
Noch einmal zögerte der Sheriff, dann begann er:
»Ich bin der Sohn von wohlhabenden Eltern und habe eine sehr gute Erziehung genossen. So weit ich jedoch zurückdenken kann, hat sich stets in mir eine Doppelnatur offenbart, in mir waren zwei Wesen vereinigt, ein Engel und ein Teufel, die nie miteinander kämpften, ganz gut nebeneinander lebten, nur, daß sich der Engel immer öffentlich zeigte, während der Teufel verborgen blieb und nur im geheimen sich bemerkbar machte.
»Ich war ein Musterkind: artig, fleißig, ein guter Kamerad, kein Spielverderber und mit großen Talenten ausgestattet. Nie habe ich meinen Eltern Ärger bereitet, nur Freude, meine Lehrer lobten mich bis in den Himmel wegen meiner Fortschritte und Sittsamkeit. Dennoch aber war ich eigentlich ein wilder Knabe. In meiner Freizeit war ich einer der tollsten; das liebt man ja aber eben an einem Jungen. Böse Streiche dagegen habe ich nie gemacht, das heißt, es ward nichts davon bekannt; denn im Grunde genommen war ich schon als Kind ein ganz verdorbener Bösewicht, der log, stahl und kein größeres Vergnügen kannte, als Tiere zu quälen, überhaupt Schaden anzustiften. Nur machte ich es so geschickt und so heimlich, daß mich niemals jemand dabei erwischte.
»Das wäre ja nun nichts weiter, ich wäre eben ein durchtriebener Schlingel gewesen, das war ich jedoch keineswegs. Lügen zum Beispiel war mir etwas Entsetzliches. Ich konnte nicht lügen, brachte es nicht fertig, ich mußte es gestehn, wenn ich etwas wirklich getan hatte, und ein Mensch, der als Lügner überführt würde, war mir ein Abscheu. Dennoch log ich. Das ist ein Widerspruch, aber nur ein scheinbarer. Ich log niemals zu meinem Vorteil, sondern ich log, um zu lügen, zu meinem Vergnügen. Zum Beispiel fiel es mir mit einem Male ein, zu behaupten, gestern da oder dort gewesen zu sein, dies und jenes gesehen zu haben, ohne jeden Grund, ich mußte es tun und benahm mich dabei so geschickt, daß mich niemals jemand der Lüge hätte überführen können. Das war dann ein Triumph für mich, den ich nicht beschreiben kann. Aber zu lügen, wenn ich etwas verbrochen hatte, das fiel mir nicht ein, obgleich mich Strafe erwartete. Mit einem Wort, ich gefiel mir schon als Kind darin, die Leute zu mystifizieren, und das wurde zu meiner zweiten Natur, wenn ich nicht schon von allem Anfang an so veranlagt war.
»Ebenso besaß ich alle andern schlechten Leidenschaften. So zum Beispiel stahl ich etwas, nicht zu meinem Nutzen, sondern um es wegzuwerfen; ich betrog, um mich an der Dummheit der andern zu ergötzen, daß sie es nicht merkten, und wie gesagt, quälte ich mit Vorliebe Tiere. Ich wußte wohl, ich tat unrecht, aber ich konnte nicht anders, mein Dämon war mächtiger als ich.
»Sie verstehn mich recht, Sir. Was ich tat, das waren keine Vergehen, welche dem Egoismus entsprangen, sondern das beruhte alles auf Manie.
»Nebenbei bemerkt, las ich mit Vorliebe Räubergeschichten, verschlang sie, immer heimlich, und was ich gelesen, darüber dachte ich nach, malte die Geschichte weiter aus: das hättest du noch geschickter angefangen als dieser Spitzbube, dich hätten sie nicht erwischt, das hätte er so und so machen müssen, und das und jenes hätte er doch auch noch gleich mitnehmen können.
»Ich war im Geiste schon ein abgefeimter Einbrecher und Raubmörder, der es in Wirklichkeit hätte mit jedem aufnehmen können. Das offenbarte sich auch einmal bei einer Gelegenheit. Mein Vater unterhielt sich mit einigen Herren über finanzielle Spekulationen auf dem Weltmarkte. Ich, ein zwölfjähriger Junge, hörte zu, hatte sonst noch nie von so etwas vernommen. Plötzlich kam ich eifrig zu meinem Vater gelaufen und sagte: ›Aber das braucht man doch nur so und so zu machen, man telegraphiert an die Londoner Bank, dann müssen sie hier in New-York das Geld doch auch ohne Vorzeigen des Wechsels auszahlen.‹
»Die Herren waren zuerst sprachlos vor Staunen. Ich hatte nämlich einen Schwindlerkniff entdeckt, der bisher nur noch nicht benutzt worden war. Man hätte die New-Yorker oder die Londoner Bank um jede Summe prellen können.
»Da nahm mich ein alter Herr zwischen die Knie — ich vergesse das nicht — sah mir lange und forschend in die Augen und sagte dann zu meinem Vater: ›Ihr Sohn wird entweder einmal ein berühmter Mann oder ein großer Bösewicht!‹ Man lachte über den Scherz. Der Mann hatte aber recht und doch wiederum unrecht.
»Wurde ich schließlich kein berühmter Mann, so lag das daran, weil ich in Jefferson Sheriff bleiben wollte, aus guten Gründen, und hier überhaupt nicht entbehrt werden konnte. Das Zeug hatte ich in mir; wenn ich gewollt hätte, ich wäre schon längst Präsident. Zugleich aber war ich auch ein Verbrecher.
»Mein Vater hielt es für selbstverständlich, daß ich Advokat wurde, ich hatte die besten Anlagen dazu. Ich kam als Jüngling nach New-York, war fleißig, gewissenhaft, kurz, wiederum ein Muster für meine Mitstudierenden, und ergab mich dennoch den sinnlosesten Ausschweifungen, aber niemand erfuhr etwas davon. Dann schickte mich mein Vater mit gefülltem Geldbeutel auf Reisen. Ich besuchte ganz Europa, lernte viel Nützliches und noch mehr Schlechtes.
»Jefferson ist meine Heimat. Hier kannte mich jeder Stromschiffer, alle hatten den Knaben lieb, der zum Vergnügen durch den Mississippi schwamm, und als er als geprüfter Mann zurückkehrte und die Stelle des Sheriffs gerade frei war, wurde er einstimmig dazu gewählt. Ich hatte ein Mädchen kennen gelernt, schön und reich, es wurde mein Weib, Ellen, und ich war sehr glücklich.
»Am ersten Juni jedes Jahres mußte ich die Freundschaftsinsel kontrollieren.
»Schon beim ersten Besuch fiel mir mancherlei auf, beim zweiten wußte ich, daß die Bewohner mehr vom Stromraub lebten als vom Fischfang.
»Das heißt, sie waren noch keine Piraten. Sie erbeuteten nur schwimmendes Gut, das sie eigentlich hätten ausliefern sollen, und taten nichts, die vielen, gefährlichen Snaks auszurotten, die um die Insel herum lagen, und auf denen so viele Boote scheiterten, erstatteten auch davon keine Meldung.
»Schurken waren sie also doch schon — Gelegenheitsdiebe.
»Ich dachte ebenso, wie Sie mir gestern sagten: eine Insel, kein Fremder darf sie betreten außer mir, die Bewohner gelten für harmlos, ich, ein Ehrenmann und Bösewicht zugleich, den Kopf angefüllt mit Räubergeschichten — da lag die Versuchung sehr nahe. Ich organisierte eine richtige Räuberbande, wurde ihr Hauptmann, und von nun an begann mein Doppelleben erst recht.
»Bald war ich in Jefferson der hochangesehene, ehrenhafte Sheriff, bald auf der Freundschaftsinsel der Räuberhauptmann, vor dessen Blick der Mutigste zitterte. Ich machte die Leute zu vollkommenen Piraten, zu Bluthunden. Den Gescheiterten schnitten wir die Kehle durch und versenkten sie mit Ketten im Strome. Unsre Beute war unermeßlich. Die Verbindung gewann immer größere Dimensionen. Wir nahmen Verbrecher auf. Die Insel ward ein Asyl für Mörder und freigelassene Sträflinge. Wenn sie auch nicht direkt darauf wohnten, so gehörten sie doch zu meiner Bande, arbeiteten uns in die Hände, verdingten sich als Lotsen und ließen die Boote an unsrer Insel scheitern.
»Doch ich will nicht von meinen Erfolgen sprechen. Was mich anbetrifft, so kann ich mich noch jetzt nicht verstehn. Ich war eben ein Mensch, der sich zerteilen konnte. In Jefferson war ich wirklich ein braver Mann, wußte fast selbst nicht, daß ich ein Räuber sei, und auf der Insel war ich der größte Wüterich. Seit ich aber einmal einen Menschen getötet hatte, konnte ich nicht oft genug Blut fließen sehen, auch das Morden wurde bei mir zur Manie, es war mir eine Lust, den Stahl meinem Nächsten in die Brust zu bohren. Auf einer Ferienreise, die ich ohne meine Frau unternahm, war ich in Spanien und sah dort Carmen.«
»Sie war verlobt mit einem gewissen Diego?« fragte Nobody.
»Ja,« nickte Patterson, ohne daß er über diese sonderbare Frage stutzte.
»Sie folgte Ihnen freiwillig und verließ jenen, trotzdem Sie ihr offen bekannten, daß Sie das Haupt einer Räuberbande seien?«
Jetzt blickte der gebeugte Mann doch auf. Er staunte über diese scharfsinnige Vermutung, und Nobody wußte nun genug. Er fragte weiter:
»Sie ließen sich zum Schein mit ihr trauen, nachdem Sie ihr verschwiegen hatten, daß Sie bereits verheiratet seien, und das war ein großer Fehler in Ihren Berechnungen, Sheriff, denn einem wahrhaft liebenden Weibe kann nicht auf die Dauer verborgen bleiben, daß es sich mit einer andern in das Herz des Geliebten teilen muß. Patterson, denken Sie an den Straßenprediger, der gestern in Jefferson auftauchte!«
»Mos jumoth!« stöhnte der Sheriff. »Sie sollen des Todes sein!«
Er stützte das Haupt auf beide Hände und brütete vor sich hin.
Nobody ließ ihn eine Zeitlang ungestört, aber er mußte noch verschiedenes erfahren, was ihm für den schlimmsten Fall von Wichtigkeit war. Er wollte wenigstens aus dem Munde des Piratenkapitäns bestätigt hören, daß er richtig kombiniert hatte.
»Patterson,« begann Nobody, »ich muß noch einige Aufklärungen von Ihnen erbitten. Ich werde Sie nicht groß belästigen. Sie brauchen nicht zu antworten, wenn meine Vermutungen richtig sind, nur wenn ich irre. Die Insel ist befestigt, mit Bastionen versehen und mit Kanonen armiert. Dieselben stammen aus einem an Ihrer Insel gescheiterten Boote, das die Geschütze während eines der letzten Kriege in Südamerika dorthinschmuggeln wollte?«
Patterson nickte.
»Proviant und Munition haben Sie genügend hier, um auch eine längere Belagerung aushalten zu können — das läßt sich ja denken, denn Sie mußten mit allen Möglichkeiten rechnen. Nun noch eins! Missis Tanner — Jenny Tanner —«
»Wie? Die kennen Sie auch bereits?«
Nobody lächelte, aber ohne jede Selbstüberhebung.
»Sie nahm, sozusagen als Probierdame, die von Carmen bestellten Kleider an,« fuhr er dann fort. »Sie kannte die Geheimnisse der Insel. Ja? Gut! Jener Pedro, den Sie durch den Neger Kastor ermorden ließen, war das Kind eines Schiffbrüchigen. Es ward hier angetrieben und sollte getötet werden, wie alle andern Unglücklichen, denen dies widerfuhr; Carmen aber bat für ihn, und so blieb er am Leben, ward ihr Liebling.«
Der Sheriff nickte.
»Das andre weiß ich,« sagte Nobody, »ebenso, daß Sie den Mörder noch gestern abend niederschossen. Wir sind fertig, Patterson — halten Sie Ihr Wort! Ich verlasse jetzt die Insel.«
Er wandte sich zum Gehn, da sprang der Piratenkapitän auf.
»Herr,« rief er, »Sie scheiden, ohne mir die Hand zu reichen?« Und furchtbar drohend, ganz so, wie er zu seinen verbrecherischen Genossen zu reden gewöhnt war, fuhr er fort: »Hüten Sie sich! Wenn Sie mich verachten, halte ich mein Wort nicht. Ein Lump fragt nicht danach, ob er ein gegebenes Versprechen bricht.«
Nobody drehte sich schweigend um. Ein langer, ernster Blick traf den Erregten.
»Ich bin kein Bußprediger, Mister Patterson,« versetzte er. »Ich gab Ihnen bereits meine Hand. Sorgen Sie dafür, daß ich es nicht zu bereuen brauche. Denken Sie an Ihre Frau, an Ihre Schwester!«
Da brach der Piratenhäuptling abermals zusammen. Nobody entfernte sich ungehindert.
Während sich diese Szenen auf der Freundschaftsinsel abspielten, hatte sich über dem Haupte des schwermütigen Spaniers, der auf Tanners Farm lebte, ein düsteres Unwetter zusammengezogen.
Diego war lange nicht zurückgekommen. Erst am späten Nachmittag fand er sich wieder ein. Jenny hatte sich vorgenommen, ihn recht kühl zu empfangen, ihn überhaupt fernerhin abweisend zu behandeln, aber sein Zustand reizte ihre Neugier, ihn auszuforschen.
Der Spanier war offenbar ins Wasser gefallen, seine Sachen waren naß, trugen Lehmspuren, waren etwas zerrissen, und außerdem zeigten Gesicht, Hals und Hände Kratzwunden.
»Was ist denn mit Euch geschehen, Senor?« fragte Jenny.
»Ich bin unterwegs verunglückt,« lächelte Diego, aber es klang verstört, und er sah bleich aus. »Ich bin über einen Baumstamm gesprungen, ohne zu wissen, was dahinter war, und fiel in einen Sumpf und zugleich in einen Dornbusch.«
»Na, zieht Euch nur gleich um!« —
Es war am folgenden Morgen.
Jenny sortierte mit der alten Magd in der Küche Wäsche und ließ sie von andern Mägden nach den Vorratskammern bringen.
Diego saß am Fenster und las.
Da näherten sich dem Hause zwei fremde Männer, die einen in eine Decke gehüllten Gegenstand trugen. Es waren Fischer aus Jefferson.
»Mister Tanner! Wo ist Mister Tanner?« rief der eine. »Heraus, Leute! Hier ist ein Mord geschehen!«
Unter Schreckensrufen eilte alles hinaus.
»Ist das nicht der Junge, der auf diese Farm gehört?«
Die Männer hatten ihre Last niedergelegt und die Decke zurückgeschlagen. Ein schöner Knabe zeigte sich, im Jockeianzug, tot, das Gesicht von Kratzwunden übel zugerichtet, die Kleider zerrissen.
»Pedro!« erklang es einstimmig entsetzt.
Auch Diego hatte einen Schreckensruf ausgestoßen.
»Wo habt ihr ihn gefunden?«
»Am Ufer. Er schwamm unter einem über dem Wasser hängenden Busch, war mit den Kleidern in den Ästen hängen geblieben.«
Jenny war die erste, die sich von ihrem Entsetzen erholte.
»Niemand rühre den Toten an!« befahl sie. »Tragt ihn nur aus der Sonne dort in den Schatten. Schnell, Berty, sattle ein Pferd und reite nach Jefferson! Der Sheriff soll sofort herkommen! Erzähle ihm das, was du hier gesehen hast.«
Der Neger ritt in gestreckter Karriere fort.
Unterdessen steckten die Hausbewohner die Köpfe zusammen und flüsterten und blickten nach der Leiche unter dem Baume.
Ein Knecht hielt bei ihr Wache; er wehrte Diego, sich ihr ganz zu nähern, denn auch dieser blieb bei dem Toten, ihn mit sichtlich großem Schmerz und gefalteten Händen betrachtend. Auf welche Weise hatte Pedro seinen Tod gefunden? War er verunglückt? Hatte er Kastor nicht getroffen? Wo war der Neger?
Der Spanier ahnte nicht, daß er von den Bewohnern der Farm mit mißtrauischen Blicken beobachtet ward.
In Jenny war plötzlich wieder die Erinnerung daran aufgetaucht, daß Diego sie verschmäht hatte.
Eine unersättliche Rachsucht bemächtigte sich der Seele der koketten Frau, und plötzlich murmelte sie halblaut vor sich hin, doch so, daß die Umstehenden es hören konnten:
»Diego hat den Knaben getötet!«
Aller Augen richteten sich entsetzt auf sie. Sie merkte es, und flüsternd schilderte sie nun, wie oft der Spanier mit dem Knaben allein spazieren gegangen, wie zärtlich er stets mit ihm gewesen sei.
Sie erging sich in dunklen Andeutungen, und der Giftsame, den das Weib ausstreute, ging auf.
»Gebt acht auf den Spanier, daß er nicht entspringt,« hieß es flüsternd.
Man beobachtete Diego, doch noch mußte die Ankunft des Richters abgewartet werden.
Dieser kam erst nach zwei Stunden, der Bote hatte ihn getroffen, als er eben von nächtlichem Ritt nach Hause gekommen war. In seiner Begleitung waren der Arzt von Jefferson und zwei Konstabler, sowie ein Fremder — Nobody.
In Pattersons ruhigen Zügen malte sich weder Schreck noch Mitleid, als er an die Leiche des Knaben trat, der auch noch im Tode, obgleich er schon bald zwanzig Stunden im Wasser gelegen hatte, und trotz der Verletzungen schön war. Während der Arzt die Untersuchung begann und den Leichnam entkleiden ließ, wurde dem Sheriff erzählt, wie die beiden Schiffer ihn gefunden hätten.
»Wann ist Pedro zum letzten Male auf der Farm gesehen worden?« wandte er sich an die Umstehenden.
»Gestern mittag so gegen zwölf hat er die Farm verlassen,« ergriff Jenny das Wort, sich die Augen trocknend. »Er wollte sich von Kastor nach der Freundschaftsinsel rudern lassen.«
»War Kastor hier bei ihm?«
»Nein, er sollte Pedro an der großen Eiche abholen.«
»Wo ist der Neger?«
»Ich weiß nicht, er ist noch nicht wiedergekommen. Aber er läßt sich auch nicht jeden Tag bei uns sehen, er arbeitet hier nur manchmal so bei Gelegenheit. Senor Diego kann Euch vielleicht mehr sagen.«
Nobody, der den Sheriff begleitet hatte, nicht etwa, weil er denselben beobachten wollte, sondern weil er dies stets getan hatte, so lange er der Gast Pattersons war, und es aufgefallen wäre, wenn er bei einem so wichtigen Fall daheimgeblieben wäre, verriet ebenfalls durch keine Miene, daß er die nähern Umstände der grausigen Tat kannte.
Selbstverständlich beschloß er, dem Sheriff kein Hindernis in den Weg zu legen, falls dieser vorläufig die Leute über den wahren Mörder täuschen wollte.
Sollte Diego, wie es den Anschein hatte, auf Anregung der eifersüchtigen Farmersfrau verhaftet werden, so konnte doch von seiner Verurteilung keine Rede sein. Da war denn immer noch Nobody da. Patterson aber spielte seine Rolle vortrefflich, Nobody mußte ihn insgeheim bewundern.
Daß ihm selber eine noch größere Bewunderung gebührte, weil er diesen Schurken entlarvt hatte und für immer unschädlich machen wollte, das kam dem Detektiven nicht in den Sinn.
Der Sheriff befragte inzwischen Diego eindringlich.
Dieser erweckte durch seine immer noch zunehmende Verlegenheit den Verdacht der Täterschaft — niemand zweifelte daran, niemand erhob Einspruch, als Patterson ihm die Hand auf die Schulter legte und sagte:
»Senor Diego, Sie sind mein Gefangener!«
»Ich bin unschuldig!« hauchte der Spanier.
Nobody erhob keinen Einspruch. Er regte nicht einmal an, daß man die Angaben des Verhafteten auf ihre Wahrheit prüfen sollte. Er hatte seine guten Gründe dazu. Er ahnte die kommenden Ereignisse voraus.
Der Spanier wurde als Gefangener nach Jefferson geführt, verhaftet wegen des Verdachtes, an einem Knaben einen Lustmord begangen zu haben. —
Ganz Jefferson war sowieso schon in Aufregung.
Heute nacht war wiederum ein großes Stromboot, beladen mit kostbaren Stoffen, darunter auch Seide, gescheitert. Wo, wußte man nicht, jedenfalls stromaufwärts von der Freundschaftsinsel, denn die Bewohner derselben hatten Leichen und einige geborgene Kisten gebracht, die der Eigentümer natürlich gegen schweres Geld auslösen mußte. Niemand in Jefferson ahnte noch die Wahrheit.
Alles hatten jene wohl auch nicht ausgeliefert.
Noch standen die Stromschiffer in Gruppen zusammen und disputierten über den Unglücksfall, als ein Gerücht auftauchte — man wußte nicht woher — das mit Blitzesschnelle von Mund zu Mund ging und die furchtbarste Aufregung hervorbrachte. Jener fremde Spanier, der sich seit einiger Zeit in Jefferson und in der Umgebung umhertrieb, sich zuletzt auch auf Tanners Farm aufhielt, hätte an Pedro einen Lustmord begangen.
Wilde Flüche wurden laut, die Hände fuhren nach verborgenen Waffen; das spanische Element tat gut daran, sich nicht auf den Straßen sehen zu lassen, spanische Trinkstuben und Geschäfte wurden geschlossen.
Der Quadrone war überall bekannt und beliebt, man hatte den schönen Knaben gern gehabt wegen seines trotzigen Übermutes. Eben, weil er ein Quadrone war, wandte sich der Haß doppelt gegen die Spanier.
Bekanntlich entbrannte der Krieg zwischen den Nord- und Südstaaten Amerikas wegen der Sklavenfrage. Gerade hier in der Gegend von Jefferson war ein Zentrum der nordischen Union gewesen, welche die Neger frei haben wollte.
Der Süden dagegen und ganz besonders die Spanier glaubten, und sie glauben es zum Teil noch jetzt, daß die Neger überhaupt keine Menschen seien, nur willenlose Werkzeuge, zur Sklaverei geboren, und dasselbe gilt von allen, die auch nur einen Tropfen Negerblut in ihren Adern haben.
Nun war Pedro ein Quadrone, ein Spanier hatte ihn ermordet! Das erforderte Rache, nicht nur eine einfache Strafe des Gerichtes. Richter Lynch lebte noch! Man entsann sich auch plötzlich, wie scheu Diego herumgeschlichen war, wie er sich von allen Festlichkeiten fernhielt, wie er jedem Weibe ängstlich aus dem Wege ging, ja, man erzählte sich auch noch andre Geschichten, besonders Dirnen, an denen es in Jefferson nicht fehlte, wußten allerlei von ihm.
Der Sheriff traf ein. Einige Männer, die außer den beiden Konstablern den Sicherheitsdienst verrichteten, hatten sich ihm angeschlossen, um den Gefangenen vor der voraussichtlichen Wut des Volkes zu schützen.
Man sah es ihnen an, wie ungern sie ihres Amtes walteten.
Und die Empörung blieb nicht aus. Die Männer rotteten sich zusammen, folgten dem Zuge, umschwärmten ihn unter drohenden Ausrufen.
»An den nächsten Baum mit dem verfluchten Spanier! — Lyncht den Knabenschänder! — Freie Bürger, laßt ihr euch das gefallen? — Nieder mit den Spaniern!« So klang es durcheinander; am meisten lärmten die Weiber, auf Diego mit den Fingern zeigend, vor ihm ausspuckend.
Dieser schritt fessellos in der Mitte, den Kopf tief auf die Brust geneigt, wirklich einem Schuldigen gleichend.
Nur die Gegenwart des Sheriffs hielt das Volk ab, die Konstabler mit Gewalt auseinanderzutreiben und an dem Gefangenen seine Wut auszulassen. Man wußte, daß der Sheriff nicht mit sich spaßen ließ.
Trotzdem nahm die Situation einen immer drohenderen Charakter an.
»Ruhe, Leute!« übertönte Pattersons sonore, mächtige Stimme den Lärm. »Dieser Mann ist wegen eines Verdachtes verhaftet. Es muß erst bewiesen werden, daß er die Tat begangen hat. Wollt ihr, Bürger, einen Mann ohne Verurteilung hängen?«
Die Ansicht teilte sich.
Die einen schrien: Hoch lebe Richter Lynch! Nieder mit dem Knabenschänder! Er hat es doch getan, er ist ein Spanier. Er wird uns entwischen! Die andern jubelten dem Sheriff zu und verlangten das Zusammentreten des Gerichts, und gerade die Leute, die dieses forderten, waren besonders rohe und verwahrloste Menschen, was der beobachtende Nobody sofort bemerkte.
Der Verhaftete ward in das stark gebaute Gefängnis gebracht, welches von der Menge belagert wurde. Die sorgte schon dafür, daß er nicht entsprang.
Patterson betrat sein Haus, mit ihm Nobody.
Nach einigen Stunden verließen beide es wieder, um sich nach dem Building zu begeben, wo sich inzwischen die Jury versammelt haben mußte.
Patterson verabschiedete sich freundlich von seiner Gattin. Er hatte die ganze Zeit allein in seinem Zimmer gesessen.
Missis Patterson wollte eben ihren häuslichen Arbeiten nachgehn, da ward die Tür geöffnet.
»Gott sei Dank, Mary, daß du kommst ...«
Nein, das war die Schwägerin nicht.
Auf der Schwelle stand ein junger Mann. Oder war's ein Knabe, der die Kleider eines Erwachsenen angezogen hatte? Eine ganz seltsame Erscheinung!
Er war klein, der Anzug schlotterte um den Körper, die Beinkleider waren hoch aufgekrempelt, die Hände verschwanden völlig in den Ärmeln, der Hut war tief in die Stirn gerutscht. Was man von dem Gesicht noch sehen konnte, war wieder merkwürdig: ein wunderbar kleiner, zierlicher Mund, überhaupt alles so fein und zart, das Näschen, die Ohren! Der Teint war wie Milch und Blut, das Antlitz war weiß und zart wie frisch gefallener Schnee, aber auf jeder Wange zeichnete sich scharf ein großer, roter Fleck ab.
Die großen, schönen Augen, in denen es unsicher flackerte, musterten die Hausfrau mit dem Ausdruck der größten Spannung.
»Wohnt Mister Patterson hier?« fragte eine weiche, bebende Stimme.
»Ja, aber er ist zur Gerichtssitzung.«
»Nicht wahr, er ist doch der Sheriff von Jefferson?«
»Jawohl. Wünschen Sie etwas von ihm?«
»Ja — nein — wenn Sie Missis Patterson sind?«
»Die bin ich.«
»Die Frau des Sheriffs?«
»Ja.«
»Des Sheriffs, welcher am ersten Juni stets auf die Freundschaftsinsel kommt?«
Die Frau war selbst so mit ihren eignen Gedanken beschäftigt, daß sie die Merkwürdigkeit der Fragen gar nicht beachtete.
»Jawohl.«
»Und das ist seine Wohnung?«
»Natürlich.«
»Sie lieben Ihren Mann wohl recht sehr?«
»Und ob ich ihn liebe!« Jetzt blickte Missis Patterson doch erstaunt auf. »Was wünschen Sie eigentlich?«
»O — nichts — ich fragte nur so. Also Mister Patterson ist in der Gerichtssitzung?«
»Ja, heute wird das Urteil über Diego gesprochen.«
»Danke sehr, ich will hingehn und ...«
Die letzten Worte erstarben in einem unverständlichen Murmeln. Noch einen langen Blick durch das Zimmer gleiten lassend, noch einen stechenden auf die Frau werfend, entfernte sich der junge Mann, der sich so seltsam benahm.
Das Building war ein niedriges Gebäude, nur einen einzigen großen Saal bildend. Er war dichtgedrängt voll, meist von Stromschiffern und Trappern. Ein abgegrenzter Teil war für Bürger von Jefferson reserviert. Alles stand, nur die Geschworenen nicht, welche die Bänke an der Hinterwand einnahmen. Niemand trug eine Amtstracht, nicht einmal das Sonntagsgewand.
Wie sie von der Arbeit kamen, so pflegten die Leute jetzt ihres Ehrenamtes.
Die Verhandlung war im besten Gange. Es wurden lange Reden gehalten, aber kurzer Prozeß gemacht.
Vor dem Richter stand zwischen zwei Konstablern Diego, so niedergeschlagen wie immer, einfach seine Unschuld beteuernd.
»Sie erlauben wohl, ich bin so klein,« sagte da hinter einem riesigen Stromschiffer ein feines Stimmchen.
Der Riese drehte sich um, sah den zarten, kleinen Wicht, dessen Gesicht unter dem Hute fast verschwand, und trat lachend zur Seite.
Das Wort ›ich bin so klein‹ wirkte immer so humoristisch, daß jeder dem neugierigen Kerlchen Platz machte.
So kam er in die erste Reihe.
»Sie erlauben, wo ist denn der Sheriff?« wandte er sich dann an den Nachbar.
»Ihr seid wohl fremd hier? Dort steht er ja.«
»Der?!« Die Augen des Kleinen verschlangen Patterson.
Nur einer der Anwesenden kannte den Kleinen.
Nobody stand in einer Ecke, und leise murmelte er vor sich hin:
»So ist sie doch gekommen. Carmen hat sich überzeugt, daß der geliebte Mann sie schnöde betrog. Die Katastrophe, die ich ahnte, bricht herein. Ich werde sie nicht aufhalten. Man soll dem Schicksal nicht gebieten wollen. Ich würde es am wenigsten tun!«
So sprach der Mann, der für so viele Menschen, die von den Pfaden des Gesetzes abgewichen waren, selber zum vernichtenden Schicksal geworden war!
Wer vermöchte die Widersprüche zu lösen, die in der Seele Nobodys lebten!
Das Urteil Diegos war schon so gut wie gesprochen.
»Mister Diego,« fragte der Sheriff eben, »gestehn Sie, an dem Knaben Pedro einen Lustmord begangen zu haben?«
Da geschah etwas, was niemand erwartet hatte — es war ein Donnerschlag aus heiterm Himmel.
»Er ist unschuldig!« schrie eine gellende Stimme. »Bürger der Vereinigten Staaten, dort, der Sheriff ist der Hauptmann einer Piratenbande, die auf der Freundschaftsinsel haust — und ich bin sein Weib! Charles, hahaha!!«
Eine Totenstille folgte dem gellenden Gelächter. Alles blickte auf den kleinen Mann, der auf den Sheriff deutete.
Diesem quollen die Augen aus den Höhlen. »Carmen!«
Es war nur gehaucht worden, dieses Wort, und doch hatte jeder es vernommen.
»Ja, Carmen! Tod dem Verräter!«
»Tod dem Verräter!« schrie auch der Sheriff plötzlich.
Was sich jetzt entspann, ist nicht so schnell zu erzählen, wie es sich zutrug.
»Carmen!« schrie in diesem Augenblick Diego.
»Verrat!« donnerte der Sheriff. »Her zu mir, Piraten, zu eurem Kapitän! Alles ist verloren, Tod über sie alle, besetzt die Boote!«
Alles dies geschah gleichzeitig, in einem Moment.
In des Sheriffs Hand blitzten zwei Revolver, er schoß in die Menge.
Als erstes Opfer fiel Carmen.
Eine unbeschreibliche Verwirrung entstand.
Die einen standen in lähmendem Entsetzen da, die andern zogen Revolver, eilten zum Kapitän und schossen die, welche zurückblieben, wie Schlachtvieh nieder.
Undurchdringlicher Pulverrauch füllte im Nu den Saal. Pfiffe, Wehrufe, Wutgebrüll klangen durcheinander.
Nobody stand noch an der Wand. Da — eine Kugel riß ihm den Hut vom Kopfe, eine zweite streifte seinen Arm — der Sheriff feuerte auf ihn.
Nobody war unbewaffnet.
»Schuft!« murmelte er. »Du willst es nicht anders!«
Im Nu war er im Freien.
»Nach dem Hafen,« schrie er und sprang vor. »Verlegt den Piraten den Weg nach den Booten!«
Noch wußte niemand, was denn das bedeute.
Dem Verwegensten sträubte sich das Haar vor Entsetzen. Man glaubte einen bösen Traum zu haben.
Die Flußräuber drängten durch die Hintertür, die nach dem Hafen führte. Sie stürzten durch die Straße, an der Spitze der Sheriff. Alles wurde niedergeschossen, was ihnen in den Weg kam; sie drehten sich im Laufen um und feuerten zurück, obgleich ihnen niemand folgte. Es war eine furchtbare Menschenschlächterei. Wer war Freund? Wer war Feind? Nur die Schießenden kannten sich untereinander. Piraten? Wo waren Piraten? Was schossen die denn? War denn der Sheriff plötzlich toll geworden?
Vier große Boote stießen ab, voll besetzt mit Männern, welche sich mit Macht in die Riemen legten. Wie Pfeile schossen die Fahrzeuge über das Wasser. Es waren mindestens achtzig Mann.
Nobody war in eine Menge eingekeilt, er konnte sich nicht rühren. Er wußte, daß er die Fliehenden nicht aufhalten konnte.
Da stürzte ein alter Trapper mit flatternden weißen Haaren vor, stieß einen Wutschrei aus.
»Er hat meinen Jungen ermordet!«
Der Mann hob die einläufige Büchse hoch, zielte einen Augenblick und schoß.
Hohnlachend winkte Patterson mit der Hand.
»Ihr oder wir! Wir sind Piraten, ich bin der Hauptmann. Meine Kriegserklärung habe ich gegeben. Cutting Knife, jetzt wollen wir sehen, wer Sieger bleibt, du oder ich!«
Nobody antwortete nicht. Er achtete nicht darauf, daß die Menge fast ehrfurchtsvoll den Namen des berühmten Westmannes, wiederholte.
Die Boote verschwanden hinter der Insel.
Was nun?
Die ganze Stadt, das heißt, was darin zurückgeblieben war, befand sich in einer Art Betäubung.
Jene Männer dort gehörten doch gar nicht zur Freundschaftsinsel? Sie hatten in der Stadt Frauen und Kinder.
Da ertönte Nobodys Stimme, jedem hörbar.
»Zurück! Räumt den Platz! Die Piraten haben Kanonen auf der Insel. Sie werden unter Euch feuern!«
Ungläubig starrte man ihn an.
Woher wollte er das wissen? War er denn auf der Insel gewesen?
Da stieg auf dieser ein Wölkchen auf, ein donnernder Schall, eine Kugel tanzte über das Wasser. Gleichzeitig wurde an einem hohen Maste eine rote Flagge gehißt — die Piratenflagge.
Wieder lähmendes Entsetzen!
Das zweite Wölkchen, der zweite Donner, die Verwirrung war unbeschreiblich.
»Zurück in die Stadt!« rief Nobody, und jetzt gehorchte man ihm.
Der alte Trapper bildete den Anlaß dazu.
»Tut, was der Fremde will. Es ist Cutting Knife! Ich kenne ihn!«
Zum zweiten Male ward der Name des berühmten Westmannes genannt, und abermals wiederholten ihn tausend Stimmen.
»Er soll uns gegen die Schufte führen! Wir müssen das Räubernest vernichten!« Unter diesen Rufen wälzte sich die Menge in die Stadt zurück.
Nobody berief mehrere der erfahrensten Männer zu sich ins Building. Dort schilderte er ihnen kurz, wie die Verhältnisse auf der Insel lagen, und dann entwickelte er seinen Plan.
Die staunende Bewunderung, die man dem verwegenen Manne dafür zollte, daß er die Insel allein betreten hatte, ward noch überboten durch die, die dem von ihm entworfenen Plan gebührte.
»Führe uns, Cutting Knife! Wir folgen dir!« schrien die Männer, und die Menge draußen stimmte in den Ruf ein. Dann zerstreute sie sich. Alles in der Stadt und auf der Insel blieb still bis zum Abend.
Als die Finsternis tief genug war, bewegte sich eine Schar kühner Männer unter der Führung Nobodys am Ufer des Mississippi stromaufwärts.
Auf ein Zeichen machten alle Halt. Die Bowiemesser wurden gezogen. Man hieb Strauchwerk ab und verband es derart, daß es jenen Büschen glich, die fast ununterbrochen auf dem mächtigen Strome dahintreiben.
Nach kurzer Zeit war alles bereit.
Mit flüsternder Stimme gab Nobody noch einmal seine Anweisungen, dann glitt er als erster ins Wasser, verborgen hinter dem grünen Blätterwerk, an dem er eine Doppelbüchse befestigt hatte, sowie den Patronengürtel.
Die Strömung war reißend. Sie führte den kühnen Mann sofort mit sich hinweg; aber Nobody war nicht umsonst als Cutting Knife der berühmteste Westmann. Er ward bald Herr über die Flut und konnte seine ganze Aufmerksamkeit der Gegend vor ihm zuwenden.
Lautlos folgten ihm in gleicher Weise die andern Männer.
Es war eine ganz gefährliche Schwimmtour.
Verbarg das Wasser einen Baumstamm, der im Boden wurzelte, die Spitze nach oben, also einen Snak, so wurde der Leib des Schwimmers aufgeschlitzt, und an den Küsten der Insel sollten künstliche Snaks gelegt worden sein. Da hieß es ganz flach schwimmen.
Außerdem kam eine Menge Treibholz, das mit Quetschungen drohte, und schließlich die Landung — das allergefährlichste.
Etwas Großes, Dunkles tauchte auf — die Freundschaftsinsel! Nobody hatte richtig gesteuert.
Mit rasender Geschwindigkeit sauste er darauf zu; jetzt passierte er Treibholz; er wand sich hindurch, geriet zwischen schon angetriebenes Dickicht und saß fest. Eine Zeitlang blieb er still liegen. Nichts war zu hören als das Rauschen der Strömung. Da faßte er mit der einen Hand die Büchse und den Patronengürtel am Riemen und zog sich mit der andern Hand vorwärts. So kam er aus dem Wasser und auf schwimmende Baumstämme zu liegen.
Ein Glück, daß es so dunkel war, sonst hätte ihn ein hier aufgestellter Posten schon aus weiter Ferne bemerken können! Er setzte, immer liegend und rutschend, seinen Weg fort und erreichte das feste Land.
Hier war kein Busch, kein Unterholz, kein Baum mehr, alles nur Grasboden.
Nobody hatte eben mit der dunklen Nacht gerechnet. Nur heute war es möglich gewesen, solch ein Unternehmen zu wagen. Er mußte liegen bleiben, mindestens noch eine halbe Stunde, bis die andern kamen. Wer dann noch nicht da war, kam überhaupt nicht.
»Still, hörst du nichts?« flüsterte eine Stimme.
»Ein Busch ist wieder angetrieben,« entgegnete eine andre, »oben hat's neulich Sturm gegeben, daher kommen jetzt so viele Büsche an.«
Es war natürlich, daß hier Posten aufgestellt worden waren.
Der Lauscher lag am Ufer, aber ganz dicht am Wasser.
»Wenn sich die aus Jefferson nun in solchen Büschen versteckten und sich so heranschmuggelten?« fragte die erste Stimme wieder.
»Unsinn, bei der Strömung! Die würden nicht schlecht Wasser zu schlucken bekommen.«
»Nun, ich hab's einmal gesehen, wie sich Indianer so an eine Insel treiben ließen, auf der ihre Feinde versteckt lagen.«
»Ja, aber hier geht das nicht. Lehre mich doch den Mississippi nicht kennen.«
Jetzt hätten die andern schon hier sein können, aber kein Busch trieb an.
Eine Zeitlang schwiegen die beiden.
»Wir sitzen hier wirklich wie in einer Mausefalle,« begann dann der eine wieder.
»So schlimm ist es nicht. Wir haben draußen unsre Spione, und wenn wir merken, daß man ernstlich gegen uns vorgeht, dann rücken wir aus. Halten kann uns niemand. Aber so eilig haben wir es nicht; ehe die zur Besinnung kommen, kann noch lange Zeit vergehn, und Proviant haben wir für mindestens ein Jahr.«
»Ich möchte doch, ich wäre erst fort von hier.«
»Du, sage das — nicht so laut! Du hast auch dem Kapitän beigestimmt, hierzubleiben und erst zuzusehen, was die drüben anfangen, und wie sie Mund und Nase aufsperren, wenn wir sie mit Granaten bombardieren.«
»Du willst mich gar anzeigen?«
»Das nicht, aber der Kapitän hat feine Ohren.«
»Teufel, was ist das? Da kriecht etwas!«
Auch Nobody bemerkte, teils zu seinem Schrecken, teils zu seiner Freude, daß sich neben ihm ein dunkler Gegenstand bewegte.
Das war ein Mensch, ein Trapper, der gelandet war!
»Faß ihn, faß ihn — ein Spion!«
Zwei Gestalten stürzten aus der Nacht hervor. Der am Boden liegende Körper sprang auf, ebenso schnell war Nobody, er schnellte vor, nur ein einziger Schrei, zwei Menschen lagen bewußtlos am Boden — die beiden Wachen.
»Diego!« flüsterte Nobody, namenlos überrascht.
»Ich bin's.«
»Wie seid Ihr hierhergekommen? Wo sind die Trapper?«
»Ich weiß nicht.«
So hastig wie das Gespräch auch geführt würde, es war keine Zeit, es fortzusetzen. Die Rufe und der Schrei waren gehört worden. Schritte und Stimmen kamen näher.
Im Nu hatte Nobody seinen Plan gefaßt.
»Auseinander!« schrie er und sprang davon.
Auf der Insel wurde es lebendig; ein furchtbarer Tumult entstand, Nobody hörte Kommandos, ja, er glaubte sogar, Pattersons Stimme unterscheiden zu können. Da kam es auch hinter ihm heran. Es krachte in den Büschen.
Die Trapper aus Jefferson waren da.
»Her zu mir!« schrie Nobody. »Hier ist die Pulverkammer. Wir müssen sie besetzen.«
Er kannte dieselbe von seinem ersten Besuche auf der Insel her, und sofort sprang er auf die Erdböschung, hinter der die Munition der Piraten verborgen war. In demselben Moment leuchtete es grell auf. Im Scheine von Fackeln erkannte Nobody den Piratenkapitän. Dieser aber achtete zunächst nicht auf ihn.
Wie entgeistert starrte Patterson den Mann an, der mit erhobenem Revolver ihm gegenüberstand.
»Diego!« tönte ein Schrei durch die Nacht.
»Ich bin's! Stirb, Frauenräuber, Mädchenverführer!«
Zwei Schüsse krachten zu gleicher Zeit. Dann war es, als wenn die Erde zusammenstürzte. Ein furchtbares Dröhnen erscholl.
Nobody ward rückwärts zu Boden geschleudert und fühlte einen brennenden Schmerz an der Schulter. Das Bewußtsein verlor er keine Sekunde. Sofort war er wieder aufgesprungen und spähte umher.
Er konnte nichts erkennen, denn dichter Pulverdampf wogte über der Insel, und dazu kam die Finsternis der Nacht.
»Es ist zu Ende!« murmelte Nobody. »Die Explosion, die ich verhindern wollte, ist doch erfolgt. Der wahnwitzige Spanier hat direkt in die Pulverkammer geschossen. Meine Tätigkeit hier ist zu Ende. Die Überlebenden werden sich in Jefferson zusammenfinden!«
Ohne zu zögern, stürzte Nobody sich in den Strom und ließ sich der Stadt zutreiben. —
Es ist hier kein Raum, die Ereignisse zu schildern, die dem nächtlichen Kampfe folgten. Nur das sei erwähnt, daß die wenigen unverwundeten Piraten, ihres Führers beraubt, noch in der Nacht entflohen, um ihr Treiben anderwärts fortzusetzen. Die Gattin Pattersons erfuhr nie, daß sie schmählich betrogen worden war, daß sie einen Verbrecher geliebt hatte, sie war wahnsinnig geworden. Mary aber, des Sheriffs Schwester, endete ihr Dasein durch Gift, als sie die fürchterliche Klarheit erlangte. Jenny Tanner endlich war seit der Verhaftung Diegos spurlos aus der Gegend verschwunden.
Nobody selbst entzog sich den Dankesbezeugungen der Bürgerschaft von Jefferson. Er wollte den Ort noch am folgenden Tage verlassen, um Jean Matelas nach San Francisco zu folgen. Vorher aber sollte er noch eine unerwartete Begegnung haben.
Er betrat das Krankenhaus, um zu sehen, wieviel seiner Begleiter nach der Freundschaftsinsel dort lägen. Seine eigne Verwundung, eine Quetschung, war ganz unbedeutend. Von einem Krankenzimmer trat er ins andre. Die Augen der Verwundeten leuchteten, wenn Cutting Knife ihnen Worte der Anerkennung für ihre Tapferkeit sagte. Sie galten diesen Männern mehr, als einem europäischen Krieger ein Orden.
Nobody betrat die letzte Stube. Hier lag ein Mann auf einem Lager, das derart eingerichtet war, daß er ganz mit Riemen festgeschnallt werden konnte.
Ein kleiner, dicker Kerl war's. Er war wirklich vollständig gefesselt. Nur die Hände waren noch beweglich. Sie hielten ein Zeitungsblatt. Der Mund stand offen und ward nur von Zeit zu Zeit mit hörbarem Knall geschlossen.
Der sonderbare Kranke schaute auf.
Sein Gesicht verklärte sich, als er den Eintretenden erkannte.
»Guten Tag, Mister Nobody!« rief er freudestrahlend.
»Ich bin Cutting Knife!«
»Jawohl, weiß schon. Sind hinter dem Matelas her, sind trotzdem der Nobody,« erwiderte der Dicke. »Schade, daß ich festgebunden bin! Ich kann schon wieder mehr, trainiere mich eben — werden mich bald einweihen können.«
Nobody mußte innerlich lachen über den komischen Kauz, den er zuletzt ganz unerwartet an Bord des ›Stag‹ getroffen hatte, der ihn selber in der Maske des Barons Kata Nogi an Bord nahm.
Die Manie dieses Cerberus Mojan, von Nobody den spiritistischen Apport zu lernen und den berühmten Detektiv überall, an allen möglichen und unmöglichen Orten zu suchen, schien jedoch seit der letzten Begegnung noch viel schlimmer geworden zu sein.
Was bedeuteten aber die gepolsterten Riemen, mittels deren der kleine Dicke an das Lager festgebunden war?
»Sie sind doch Mister Nobody,« beharrte Cerberus Mojan, »wenn Sie jetzt auch als Cutting Knife auftreten. Warten Sie nur eine Minute, bis mein Wärter kommt oder, bitte, klingeln Sie selbst einmal nach ihm. Dort an der Wand ist die Klingel! Der Mann soll mich losbinden, dann werde ich Ihnen zeigen, daß ich schon bedeutende Fortschritte gemacht habe!«
»Bedaure, Sir,« entgegnete Nobody höflich, »ich bin leider wirklich kein andrer als Cutting Knife.«
»Wahrhaftig?«
»Ganz sicher!«
»Schade!« seufzte der gefesselte Cerberus. »Ich freute mich schon so, daß Sie mich nun endlich in die Geheimnisse des spiritistischen Abtritts einweihen würden.«
»Ich?« fragte der angebliche Cutting Knife.
»Ja, Sie, das heißt, wenn Sie der Teufelskerl, der Nobody wären.«
»Nun, vielleicht treffen Sie ihn noch.«
»Hoffentlich! Werde aber wieder tüchtig aufpassen müssen, damit er mir nicht entgeht.«
»Und vor allem gesund werden!« meinte Nobody. »Denn Sie sind anscheinend schwer erkrankt — verwundet — wie?«
»Verwundet?« wiederholte Cerberus. »Wissen Sie denn nicht, daß hier das Zimmer für Hundswütige ist?«
»Für Tollwutkranke?«
»Na und ob! Ich habe eben einen Anfall überstanden — brauchen keine Angst zu haben, daß ich beiße, ich warne allemal erst meine Umgebung, und außerdem bin ich hier festgeschnallt —«
»Aber, Mister —«
»Cerberus Mojan, Schmieröl, Schwefel, Schokolade,« schnarrte der Dicke. »Kennen doch die Firma? Wollen Sie mir nicht eine Tonne Schwefel abkaufen oder ein Fäßchen Schmieröl?« Er machte eine Bewegung, als wollte er sein Notizbuch hervorziehen, konnte aber die Arme nicht bewegen. »Ach so — ich bin ja festgeschnallt!«
Nobody lachte herzlich. Er durfte das ja, er mußte es sogar, um seiner Rolle als Cutting Knife treu zu bleiben.
»Erlauben Sie, was soll ich denn mit dem Zeuge anfangen?«
»Na, wenn Sie keinen Schwefel und kein Schmieröl brauchen können, dann kaufen Sie einen Zentner Schokolade!«
»Wozu?«
»Zum Essen!« schnaubte Cerberus. »Zum Kochen! Zum Trinken! Wenn Sie mal von Indianern überfallen werden, und Sie werfen den Kerls Schokoladentafeln an die Schädel, da tut man Ihnen sicher nichts!«
»So, so! Das muß ich mir merken und werde es gelegentlich probieren.«
»Also einen Zentner Schokolade?« schmunzelte der Dicke.
»Warten Sie noch! Erzählen Sie mir lieber erst, wie Sie von der Tollwut erfaßt wurden.«
»Ja, das ist allerdings hochinteressant. Das hängt aber mit dem Nobody zusammen —«
»Da bin ich wirklich gespannt!«
»Na, da müssen Sie wissen, daß ich ihn beinahe erwischt hätte — auf einem Dampfer — drüben bei den japanischen Inseln — da kam ein Schiffbrüchiger an Bord — Baron Kata Nogi — der konnte doch der Nobody sein — ich glaube, er war es auch — aber weil ich noch nicht alle Kunststücke konnte, da gab er sich nicht zu erkennen.«
»Es ist aber auch verteufelt schwer, was er alles verlangt.«
»Sagen Sie mal, Mister Cutting Knife, können Sie auf dem Kopfe stehn? Können Sie Ihr Taschentuch fressen? Nicht? Ich kann's! Nur das andre kann ich noch nicht. Das Taschentuch an die Fersen legen und mich rückwärts so weit niederbeugen, daß ich es mit den Zähnen fassen kann!«
»Das muß allerdings sehr schwierig sein,« sagte Nobody.
Cerberus seufzte betrübt.
»Aber lernen werde ich's doch. Ich habe mich nämlich an einen japanischen Zauberdoktor gewandt, die können alles, und der sagte mir, nachdem er mich eingehend untersucht hatte, daß ich erst gesund werden müßte, ehe ich die Rückenbeuge fertig brächte —«
»Von der Tollwut?« lachte Nobody. »Wie sind Sie denn zu der gekommen? Haben Sie sie schon lange?«
»Das ist's ja eben. Beinahe dreißig Jahre.«
»Was? Sie sind seit dreißig Jahren wutkrank?«
»Jawohl!«
»Und das haben Sie jetzt erst gemerkt?«
»Freilich. Der Japaner hat mich daran erinnert. Hören Sie nur zu! Denken Sie, vor etwa dreißig Jahren habe ich einmal einen kleinen Köter von einem Strolch gekauft, der die merkwürdige Eigenschaft besaß, Bier zu saufen ...«
»Der Strolch?«
»Unsinn, den Hund meine ich. Zuerst soff er Wasser, dann aber plötzlich nicht mehr, er rührte Wasser nicht mehr an und trank keinen Tropfen mehr. Ich paßte, auf und erwischte ihn eines Tages, wie er hinüber in die Brauerei läuft — mein Bruder besitzt in San Francisco eine Brauerei — und aus einem Holznapfe, in den aus einem lecken Faß Bier läuft, dasselbe säuft. Da erzählen mir die Brauburschen, daß der Köter jeden Tag hinüberkommt und alles ihm zugängliche Bier säuft; die Brauer machen es sich natürlich zum Jux und geben ihm noch extra welches. Ich hatte nun auch meinen Spaß daran, gab ihm Bier, soviel er wollte, und da kam es denn oft genug vor, daß das Vieh besoffen wie eine Radehacke war. Dann stand ihm allemal der Schaum vorm Maule, es torkelte, schnappte, heulte, kollerte herum, rollte mit den Augen und so weiter.«
»Das Tier war eben betrunken.«
»Jawohl, das dachte ich mir damals auch, weiter nichts ...«
»Deutsche Studenten halten sich oft genug Hunde, die Bier saufen.«
»Mein Köter soff aber überhaupt kein Wasser.«
»Weil er genug Bier bekam.«
»Herr, trauen Sie der Erfahrung eines alten Mannes, der am Rande des Grabes steht: hundstoll war das Vieh, darum wollte es kein Wasser saufen, so steht die Sache. Das aber wußte ich damals eben nicht. Da beißt mich das Tier eines Tages, als es wieder so herumtorkelt und Schaum vor der Schnauze hat, in die Hand, nicht derb, nur ein bißchen, daß ich es gar nicht beachte. Ich lache darüber. Gut, die Sache geht ihren Gang. Die kleine Wunde heilt, mein Hund fällt eines schönen Tages in seiner vermeintlichen Besoffenheit in einen Braubottich und wird zu Mus zerkocht. Nur die Knöchelchen hat man wiedergefunden; da war aber das Bier schon längst getrunken.«
»Es muß gut geschmeckt haben.«
»Warum nicht? Hundebouillon soll sehr gesund sein. Beschwerden sind nicht eingelaufen, im Gegenteil, der Porter wurde sehr gelobt. Im Laufe der Zeit wurde ich sehr krank. Ich bin überhaupt ein geplagter Mann. Zuerst bekam ich Kopfschmerzen, daraus wurde Ohrensausen, das ging in die Knie und wurde Rheumatismus, der zog sich in die Nase und bildete sich zu einem Polypen aus, der auf die Wanderung ging, sich im Leibe herumfraß, wobei er natürlich täglich an Gewicht zunahm, bis er sich zuletzt nahe dem Herzen festgesetzt hatte, wo er jetzt noch sitzt und gemütlich weiterfrißt. Dazu gesellten sich erst ein, dann zwei Bandwürmer, die sich ganz unglaublich vermehrten; ein Schweinebraten brachte mir eine Legion Trichinen in den Leib — kurz, mein ganzes Leben bestand und besteht noch jetzt in einem unaufhörlichen Kampfe gegen Polypen, Bandwürmer, Trichinen und andre Tiere, die sich in meinem Leibe ein Stelldichein geben.«
»Das alles haben Sie aber erst von dem japanischen Arzte erfahren?« lachte Nobody.
»Freilich! Was ich sonst noch durchgemacht habe, damit will ich Sie verschonen. Erwähnen will ich nur noch Hühneraugen, Eingeweideverschlingung, Nasenbluten, Tuberkulose, Hexenschuß, Lungenschwindsucht, Darmbrüche, Haarausfall, Rippenfellentzündung, Pusteln auf dem Rücken, Diphtheritis — es ist einfach schrecklich, was ich leiden muß, und jeden Morgen staune ich, daß ich die Sonne noch sehe. Wenn man so mit Krankheiten behaftet ist, wundert man sich nicht, wenn sich gewisse Symptome zeigen, als da sind: heftiger Durst, Arbeitsunlust, langer Schlaf, Heißhunger, unmäßiges Gähnen, Einschlafen der Beine, Husten, Niesen und so weiter. Jetzt auf einmal fängt der Japaner auch noch an und redet von der Hundswut! Besondere Kennzeichen: Heftiger Durst, aber Abscheu vor Wasser, Gestalt und Gesichtszüge verfallen, Müdigkeit, Husten, sogar Erbrechen, Speichelfluß und vor allen Dingen öftere Wutanfälle. Herr, du meine Güte, ich denke, mich rührt der Schlag! Das paßte ja alles auf mich! Ich habe nämlich einen furchtbaren Widerwillen gegen Wasser, nicht beim Waschen oder Baden, sondern nur beim Trinken. Wein, Bier, Schnaps, alles, alles kann ich trinken, literweise, eimerweise, ohne abzusetzen. Aber Wasser? Bring' ich nicht hinunter, wenn nicht mindestens zur Hälfte Kognak oder so etwas Ähnliches darin ist. Und das treibe ich nun schon seit bald dreißig Jahren.«
»Es ist entsetzlich!«
»Nicht wahr? Und merke nichts davon, reise in der ganzen Welt herum und halte mich für kerngesund!«
»Schrecklich!«
»Mein Durst war und ist auch jetzt manchmal so groß, daß ich meine zwanzig halbe Liter vom stärksten Porter trinke, ohne aufzustehn, und stehe ich dann endlich auf, so habe ich immer noch Durst, ich trinke also noch ein paar Maß Ale, das ist leichter — ist nichts, der Durst wird nur noch größer, zwei, drei Flaschen Wein tun's auch nicht. Gewöhnlich verläßt mich dann die Besinnung — früher dachte ich, ich hätte einen kleinen Rausch gefangen — aber es ist eben ein Ohnmachtsanfall, ein Symptom der Hundswut. Erwache ich dann am Morgen, so plagt mich stets Kopfweh und schon wieder der schreckliche Durst. Neben meinem Bett steht die Wasserflasche. Glauben Sie, ich brächte es fertig, einzuschenken und Wasser zu trinken?«
»Wirklich nicht?«
»Gott bewahre, Pale-Ale muß es sein, das hat am meisten Kohlensäure, danach stößt es einen so hübsch auf. Das ist aber noch lange nicht alles. Da ist nun der Speichelfluß. An dem leide ich nämlich auch schrecklich, ohne daß ich es bisher sonderlich beachtete. Gehe ich da zum Beispiel einmal an einem Hotel vorbei, sitzt hinter der großen Fensterscheibe ein Herr und ißt gebratene Wachteln. Ich sage Ihnen, Sir, ob Sie es glauben oder nicht, das Wasser schoß mir gleich eimerweise im Munde zusammen. Und solche gefährliche Symptome übersieht man nun in seiner Leichtfertigkeit! Das beste Zeichen aber, daß ich von einem tollen Hunde gebissen worden bin, sind meine Anfälle von Wut und Tobsucht. Bin ich nicht ein ganz anständiger Mensch?«
»Gewiß doch, Mister Mojan!«
»Habe ich Sie schon einmal beleidigt?«
»Wie sollten Sie?«
»Habe ich Sie jetzt schon einmal einen Büffel, ein Rabenaas, einen Ochsenfrosch genannt oder so etwas Ähnliches?«
»Mit keiner Andeutung.«
»Auch nicht ein vorsündflutliches Riesenschwein?«
»Auch das nicht.«
»Nun sollten Sie sehen und hören, wenn ich meinen Wutanfall bekomme. Da werfe ich mit Titulaturen um mich, die mir sonst gar nicht in den Sinn kommen, fluche, tobe und möchte alles kurz und klein schlagen. Sie werden's schon noch an mir erleben. Erst hielt ich es nur für Jähzorn — jawohl, Tobsucht ist es, der Ausbruch der Hundswut, die mir vor dreißig Jahren eingeimpft worden ist. Da hörte ich von dem berühmten Cutting Knife —«
»Also von mir?«
»Ja, und daß Sie hinter einem Diebe her seien, der die Pläne von Goldfeldern gestohlen hat. Aha, dachte ich, das ist der Nobody, und wenn du auch noch schwerkrank bist, hin mußt du doch. Ich also schleunigst von Tokio nach San Francisco, von dort hierher — natürlich mit meinem Neffen Leckebald zusammen —«
»Mit wem reisten Sie?«
»Mit meinem Neffen.«
»Wie heißt der?«
»Leckebald.«
»Merkwürdiger Name!« dachte Nobody.
»Sehen Sie, Sie sind schwerhörig. Leckebald könnte nun bald kommen, mich abzuschnallen. Mein Wutanfall wiederholt sich nicht so bald. Das merke ich nämlich allemal zuvor und warne. Ich könnte beißen, wissen Sie, und mein Biß steckt natürlich an.«
»Sie beißen?«
»Na und wie! Ich habe mich schon immer gewundert, warum ich stets meine Zigarrenspitzen durchbeiße. Nun weiß ich, woher das kommt.«
Ein hübscher Junge von etwa fünf Jahren trat ein, rund wie eine Tonne, mit Backen wie ein Posaunenengel; wenn der sich bückte, mußten die Höschen platzen.
»Soll ich dich losschnallen, Lecke-Onkel?«
»Jawohl, Leckebald, schnalle mich sorglos ab, ich tue keinem Menschen mehr etwas.«
Bald waren die Riemen und Bänder von den kleinen, fetten Gliedern gelöst.
Mister Mojan legte seine Hand auf den lockigen Kopf des Kindes. Stolz leuchtete aus seinen Augen.
»Jawohl, das ist mein Neffe — und mein Erbe, Erbe der Weltfirma Cerberus Mojan. Ich bin nämlich unverheiratet. Gott soll mich bewahren, daß ich heirate! Eine Frau ist die schlimmste Krankheit, die man sich auf den Hals laden kann — die ist chronisch. Sage dem Herrn, wie du heißt!«
»Leckebald.«
»Deinen richtigen Namen.«
»Lecke-Balduin.«
»Weiter.«
»Lecke-Mojan.«
»Aus welcher Stadt bist du?«
»Aus Lecke-San Francisco.«
»Hören Sie, wie klug mein Neffe schon ist! Wie alt bist du?«
»Fünf Lecke-Jahre.«
»Wo warst du denn jetzt?«
»Bei der Lecke-Schwester!«
»Erlauben Sie,« sagte Nobody, unter Tränen lachend, »warum setzt der Junge denn vor jedes Wort ›Lecke
»Nicht vor jedes Wort, nur vor die Hauptwörter. Wissen Sie, der Junge stottert ein bißchen; bei jedem groß geschriebenen Wort stolpert die Zunge, wenn er aber das Wort ›Lecke‹ davorsetzt, dann bringt er's gleich heraus. Das ist nur so eine Angewohnheit.«
»Der arme Junge!« bedauerte Nobody.
»Arm? Was? Arm? Der ist mein Erbe.«
»Ich meine, das tut mir sehr leid.«
»Ich verstehe Sie nicht. Wenn er so einen Onkel hat, wie ich, da kann er sich sein Stottern leisten. Nicht wahr, mein Leckebald, lecke du nur ruhig weiter. Andre sagen vor jedem Wort äh, äh, oder goddam oder bloody, und du setzt deine Lecke davor. Passen Sie auf, wie gescheit der Junge schon ist. Leckebald, wer ist der reichste Mann?«
»Mein Lecke-Onkel.«
»Wie heißt der?«
»Lecke-Cerberus Lecke-Mojan.«
»Womit handelt der?«
»Mit Lecke-Schmieröl, Lecke-Schwefel, Lecke-Schokolade.«
»Der Junge weiß einfach alles. Wie hoch wird das jährliche Einkommen deines Onkels geschätzt?«
»Auf hu — hu — hu ...«
»Hundert kannst du klein schreiben, tausend meinetwegen groß.«
»Auf hundert Lecke-Tausend Dollar,« platzte der Junge heraus.
»Wieviel in bar wirst du erben?«
»Vier Lecke-Millionen.«
»Was sonst noch?«
»Eine Lecke-Papiermühle.«
»Weiter.«
»Eine Lecke-Seifenfabrik.«
»Ich will ihn nicht alles herbeten lassen, sonst könnten Sie glauben, ich wollte protzen. Ich will Ihnen nur zeigen, wie enorm gescheit der Junge ist.«
»Kolossal!«
»Nicht wahr? Eigentlich sieht er etwas dumm aus, aber er ist es nicht im geringsten. Blicken Sie ihm einmal ins Auge!«
Nobody tat es.
»Merken Sie nichts?«
»Nein.«
»Gar nichts?«
»Er hat schöne, blaue Augen.«
»Den Hundewurm hat er im Auge.«
»Was?«
»Leckebald, was hast du im Kopfe?«
»Einen Lecke-Hundewurm.«
»Ja, so ist's. Er hat einmal einen Hund geküßt, da ist ihm ein Hundewurm durchs Auge in den Kopf gekrochen.«
»Woher wissen Sie das?«
»Woher? Woher? Aus meiner Erfahrung. Ich hatte nämlich auch schon einmal einen Hundewurm, habe ihn aber mit Rizinusöl wieder herausbekommen. Die Zuckerkrankheit hat er auch.«
»Wer?«
»Hier, der hier.«
»Ich habe die Lecke-Zuckerkrankheit,« bestätigte der Kleine.
»Daher wird er auch so dick. Ob er die Schwindsucht hat, weiß ich noch nicht recht, zur Vorsicht lasse ich ihn täglich zwei Stunden heiße, trockene Luft inhalieren.«
Nobody staunte. Dieser Cerberus Mojan hatte seit seinem Aufenthalte in Ägypten und den Abenteuern mit Jochen Puttfarken entschieden Fortschritte in der Verrücktheit gemacht. Es sollte noch besser kommen.
»Wie kamen Sie denn aber in das Krankenhaus?« fragte er.
»Wie? Nun, darf denn ein Hundswütiger draußen herumlaufen? Seit ich weiß, wie schwer krank ich bin, gehe ich in jeder Stadt ins Krankenhaus!«
Eine Glocke ertönte.
»Schon wieder essen,« seufzte Mojan, »und ich habe so gar keinen Appetit. Sie erlauben doch, Mister, daß wir unsre Mahlzeit in Ihrer Gegenwart einnehmen, wenn Sie uns noch mit derselben beehren wollen?«
»Bitte sehr!«
»Im Saale mag ich nämlich nicht speisen, es ist mir schrecklich, zuzusehen, wenn die gefräßigen Menschen so über das Essen herfallen und schlingen. Im übrigen brauchen Sie keine Angst zu haben, ich beiße Sie nicht. Ich fühle es stets im voraus, wenn es kommt, und lasse mich festschnallen. Dann freilich geht's los, ich rase und schnappe um mich, daß es nur so eine Art hat.«
Zwei Anstaltswärter trugen auf, Mojan und Leckebald setzten sich und aßen: zuerst Suppe und einige leichte Vorspeisen, dann etwas Massives, Beefsteak, dann Zwischenspeisen, verschiedene Sorten Braten, dann Fisch und Geflügel, dazu Kompott und Salat, zuletzt Torte, Eis, Früchte und schließlich auch noch Butterbrot und Käse.
Mojan aß, wie man sagt, wie ein Scheunendrescher, dabei klagte er fortwährend über Appetitlosigkeit, die ihm jede Tafelfreude verderbe, auch Leckebald leckte ganz hübsch, er fütterte seinen Hundewurm mit.
Der Onkel trank erst leichte, dann feurige Weine, der Neffe schenkte sich fleißig aus einer dickbauchigen Flasche eine hellgelbe Flüssigkeit ein und goß sie stets mit einem Zuge hinter.
Nobody war zum Mitessen aufgefordert worden, aber er hatte dankend abgelehnt. Er blieb trotzdem, um dieses spaßige Kerlchen noch weiter kennen zu lernen. Er wollte sich, ehe er von Jefferson schied, einen Scherz mit Cerberus Mojan machen, gleichzeitig aber versuchen, den Mann von seiner törichten Manie zu kurieren.
»Daß Ihr Neffe nur nicht zu viel trinkt,« meinte er einmal.
»Das schadet nichts, das ist gesund.«
»So eine ganze Flasche muß ihm doch in den Kopf steigen.«
»In den Kopf steigen?«
»Was für Wein ist denn das?«
»Wein? Hahaha, das ist doch Rizinusöl!«
Mojan war fertig, band die Serviette ab, aber nur, um sie mit einem andern Zipfel in die Halsbinde zu stecken.
Wie er immer zu dem aufwartenden Diener sehr höflich gewesen war, so wandte er sich auch jetzt freundlich an ihn.
»Bitte, Sir, nun fehlt nur noch meine spezielle Nachspeise.«
»Sie wünschen, Mister?«
»Um meinen Feuerpudding bitte ich. Ich hatte ihn für mich allein bestellt, der Junge soll das heiße Zeug nicht essen.«
»Aber — Mister Mojan — ich weiß nicht — das Menü ist alle — und die Köchin ...«
Cerberus zog drohend die Stirn in Falten.
»Wie? Habe ich Ihnen heute morgen nicht das Rezept zu dem Feuerpudding eigenhändig aufgeschrieben?«
Der Diener fuhr mit der einen Hand hinters Ohr, mit der andern in die Brusttasche.
»Das Rezept habe ich noch hier,« sagte er kleinlaut.
»Was, nicht abgegeben?«
»Ich hab's — vergessen.«
Wie von einer Natter gestochen fuhr der Dicke auf.
»Ha, ich kriege ihn — jetzt kommt's,« keuchte er. »Sie — Sie — Sie Brüllaffe — Sie Mantelpavian — lassen Sie sich im zoologischen Garten ausstellen — Sie Wiedehopf, stinkiger — vergessen — vergessen — da hört doch alles auf — meinen Feuerpudding zu vergessen — ich steche Ihnen die Gabel in den Bauch, daß Sie Ihre Eingeweide auseinanderfitzen können — Sie voll Jauche gefülltes Känguruh — Sie sind ja dümmer als — als — als wir alle zusammengenommen — Sie noch gar nicht entdeckter Mistkäfer — gehn Sie weg — gehn Sie weg — ich beiße Sie ...«
So wütend Mojan auch war, Furcht vor dem Tobsüchtigen schien man nicht zu haben.
Der Diener stand nur unter seiner Schuld zusammengeknickt da, Leckebald tauchte eine Pfirsiche in Rizinusöl und verzehrte sie, und Nobody lächelte.
»In wieviel Minuten ist der Flammenpudding fertig?«
»In zwanzig Minuten.«
»Wenn er dann nicht auf dem Tisch steht, in hellen Flammen — dann — dann — ich beiße sie alle, alle, die Köchin auch — daß sie hundswütig werden — in zwanzig Minuten — so lange warte ich noch mit meinem Tobsuchtsanfall — fort, Sie zerfressene Heringsfratze — Sie choleraverseuchter Hungerlappen!«
Der Diener schoß zur Tür hinaus, Mojan schnappte nach Atem, wischte sich den Schweiß von der Stirn und sah nach der Uhr.
»Zwanzig Minuten warte ich noch, dann aber bricht bei mir die Hundswut aus, länger schiebe ich sie nicht auf. Das ist gesundheitsschädlich!«
In zwanzig Minuten stand denn auch die Eierspeise auf dem Tisch. Mojan zündete den darübergegossenen Likör an, ließ ihn eine Weile brennen und verzehrte dann das so bereitete Gericht mit Behagen.
»So, nun kann der Wutausbruch losgehn,« sagte er befriedigt, sich den Mund wischend. »Passen Sie auf, Mister, jetzt können Sie etwas erleben, wie ich tobe und um mich schnappe. Daß niemand meinem Mund zu nahe kommt, besonders nicht, wenn Schaum davorsteht! Schnallt mich fest!«
Er legte sich nieder, die Hände über dem Bauch gefaltet, und wurde so festgeschnallt.
Leckebald leckte unterdessen die Teller ab.
Nachdem sich die Wärter entfernt hatten, erklärte Mojan noch, wie sich die Tollwut bei ihm äußern würde, und schloß die Augen.
»Passen Sie auf, jetzt geht's gleich los!«
Nobody blieb noch im Zimmer. Aber der biedere Dicke begann nicht zu toben, nicht mit den Händen in der Luft herumzugreifen, nicht zu schnappen und die Zähne zu weisen, auch kein Schaum trat ihm vor den Mund, dagegen dauerte es nicht lange, so fing er auf eine fürchterliche Weise an zu schnarchen.
Es war, als wenn ein halbes Dutzend Sägemühlen sich in voller Tätigkeit befänden. Und dabei blieb es.
Leckebald hatte die Teller mit der Zunge poliert und schlich auf den Zehenspitzen zu Nobody.
»Jetzt tobt Lecke-Onkel.«
»Macht er das immer so?«
»Jedesmal nach dem Lecke-Essen. Leckebald geht nach der — der — Lecke-Küche, die — die Lecke-Köchin sagt, ich sei ein — ein Lecke-Leckermaul und — und — gibt mir immer Lecke-Leckerbissen. Heute — heute hat sie noch Lecke-Pfannkuchen, und — und Leckebald hat noch solchen Lecke-Hunger.«
»Gott segne deine Studia, mein Junge!«
Leckebald ging nach der Küche, um sich noch richtig sattzuessen.
Nobody verließ ebenfalls das Zimmer. Er suchte den Arzt des Krankenhauses auf und hatte mit dem Herrn eine lange Unterredung, die sehr lustig zu sein schien, denn die beiden lachten wiederholt laut auf und konnten sich dann allemal gar nicht wieder beruhigen.
Endlich erhob sich Nobody und betrat den Raum wieder, wo der tobsüchtige Cerberus Mojan festgebunden auf seinem Lager ruhte. Er schnarchte noch immer. Nicht lange aber, so geriet er mit dem Sägen aus dem Takt, ein Astloch war ihm im Wege, es kamen Mißtöne in die Harmonie, er verschluckte sich, leiser und leiser wurden die Töne, bis sie in einem Moll-Akkord ausklangen.
Da gähnte er und schlug die Augen auf.
»Aaaah! Glücklich wieder einen Tobsuchtsanfall überstanden. Nun, wie war's? Sind Sie immer hier geblieben?«
»Ja, es war einfach schrecklich.«
»Habe ich mich gewälzt?«
»Sie versuchten die Fesseln zu sprengen.«
»Sehen Sie! Habe ich um mich geschnappt?«
»Ich bekam ordentlich Angst.«
»Die brauchen Sie nicht zu haben, die Riemen halten. Wie war's denn mit dem Schaum?«
»Wie Schlagsahne stand er Ihnen vorm Mund.«
»Und giftig ist diese Schlagsahne, sage ich Ihnen! Die dürfte niemand auf die Schokolade tun. Habe ich gebrüllt?«
»Es klang wie die Posaunen am jüngsten Gericht.«
»Wie lange wahrte denn der Anfall?«
»Gute zwei Stunden.«
»Nun denken Sie einmal, und solche Anfälle habe ich täglich zweimal, einen nach dem Frühstück und einen nach dem Mittagessen! Nach dem Kaffeetrinken, so gegen fünf, habe ich auch noch Neigung, in Tobsucht zu fallen, aber die unterdrücke ich stets. Ein Glück, daß ich wenigstens des Nachts gut schlafen kann, sonst käme ich noch ganz auf den Hund. Abmagern tue ich ja ganz schrecklich. Finden Sie nicht, daß ich schon wieder etwas magerer geworden bin?«
»Ich habe es gleich bemerkt.«
»Und was ich bei solchen Tobsuchtsanfällen für merkwürdige Visionen habe! Das geht auf keine Kuhhaut. So war mir jetzt gerade, als ob ich mich in einem Wald befände, aber das waren keine Bäume, sondern Gaslaternen, an denen Kokosnüsse wuchsen. Eine pflücke ich ab, so groß wie eine Kegelkugel, stecke sie in den Mund, knacke sie auf, und was ist darin? Lauter Trichinen, Myriaden von Trichinen, es kribbelt und wiebelt nur so darin. Ich aber fahre mit einem Löffel hinein, um sie zu essen, mit einem Male aber sind's keine Trichinen mehr, sondern gebratene Wachteln. Weiter ging's nicht. Es ist gerade, als ob man solchen Unsinn träume. Das ist's ja aber eben, das sind die Visionen, von denen der Hundswütige geplagt wird. Wo ist denn Leckebald?«
»Der wollte studieren gehn.«
»Studieren? So? Wohin denn?«
»In die Küche, vielleicht auch zur Lecke-Schwester.«
»Das macht er recht. So ein Junge, will studieren! Ja, ein kluger Junge ist er, davon machen Sie sich keinen Begriff. Als wir einmal im zoologischen Garten sind und vor einem Käfig stehn, in dem eine ungeheure Riesenschildkröte ist, da sagt Leckebald plötzlich: ›Du, Onkel, das ist wohl eine Elefantenlaus?‹ Ich erkläre ihm, daß es eine Riesenschildkröte ist. ›Nein, das ist eine Elefantenlaus‹, behauptet aber Leckebald, packt mich am Rockfittich und schleift mich nach dem Elefantenstall.
»Dort hängt ein Bild an der Wand mit einem Tier darauf, das ganz wie eine große Schildkröte aussieht, und darunter steht: ›Elefantenlaus, tausendmal vergrößert.‹
»Ich hatte es ihm gezeigt, und Leckebald hatte es sich gemerkt. Es ist einfach großartig, was der für einen Verstehstemich im Kopfe hat.
»Wie wir zum Beispiel vor einem Gorilla stehn, schreit er mit einem Male: ›Du, Onkel, da sitzt ja Nick Daniel ohne Hemd!‹ Nick ist nämlich mein Nachbar, der wirklich so ein Affengesicht hat.
»Hören Sie, wie der Junge gescheit ist! Ich hätt's vergessen. Junge, du mußt Arzt werden.«
Leckebald hatte sich mittlerweile wieder ins Zimmer geschlichen.
»Ach nein.«
»Was willst du denn sonst werden?«
»Kon — Kon — Kon ...«
»Na, was denn? Konteradmiral?«
»Nee, Lecke-Konditor.«
»Ach was, Kuchen kannst du dir genug kaufen, Geld bekommst du ja einmal. Junge, du mußt Künstler werden. Leckebald hat nämlich außerordentliches Talent; wenn der ein Stück Kreide in die Hände kriegt, schmiert er alle Wände voll. Nicht etwa so wie andre Kinder, nein, man kann ganz genau unterscheiden, ob's einen Menschen oder eine Lokomotive vorstellen soll. Also Künstler mußt du auf alle Fälle werden, Leckebald, das heißt nur so aus nobler Passion, zum Zeitvertreib.«
Plötzlich verstummte Cerberus. Er begann schrecklich zu stöhnen und sich zu winden, purpurrot im Gesicht.
»Mein Magen! Mein Magen!«
»Lassen Sie ihn sich doch einmal herausschneiden!« meinte Nobody ernsthaft.
»Sie haben gut reden, Sie täten's auch nicht. Überlegt habe ich mir die Sache auch schon, aber da ist mir etwas eingefallen, was ich in einer Zeitung gelesen habe. Da haben sie auch einem Manne den Magen aufgeschlitzt, der Arzt nimmt bei der Sezierung und Reinigung eine Prise, macht seine Sache, setzt den Magen wieder hinein, flickt den Bauch zusammen, und die Geschichte ist gut.
»Mit einem Male findet der Arzt seine silberne Schnupftabaksdose nicht, kehrt alles um, die Dose ist fort.
»Nach einigen Jahren stirbt der Mann, nicht etwa infolge der Magenoperation, nein, am Delirium.
»Der Magen soll aufgemacht werden, um zu sehen, ob die Wände vom Schnaps recht angegriffen sind. Derselbe Arzt ist wieder dabei.
»Was findet man darin? Eine silberne Schnupftabaksdose. Der Arzt hatte sie aus Versehen in den Magen gelegt, und da war sie dringeblieben.«
»Und der Schnupftabak?« lachte Nobody.
»Noch ganz frisch, die Dose schloß gut, nur sie selbst war von der Magensäure etwas angegangen. Der Arzt bot gleich seinen Kollegen eine Prise an. Der Mann hat also jahrelang eine gefüllte Schnupftabaksdose mit sich im Bauche herumgetragen.
»Sehen Sie, so etwas könnte bei mir auch passieren, und deshalb lasse ich es lieber bleiben. Schließlich legt der Arzt aus Versehen eine Dynamitpatrone in meinen Magen und näht ihn zusammen — oder gar eine Spieluhr, die ein Jahr lang geht und aller Stunden die Nationalhymne spielt. Brrr, nein, da behalte ich lieber meine Polypen!«
Die gewaltige Überladung des Magens machte aber doch noch einmal ihre Wirkung geltend. Mr. Cerberus Mojan schlief wieder ein und schnarchte gewaltig. Sofort eilte Nobody hinaus und kehrte mit dem Arzte und einigen Lazarettgehilfen zurück. Ein geheimnisvolles Treiben begann in der Krankenstube, unterbrochen von Kichern und Flüstern.
Endlich erwachte der Dicke wieder. Er blickte verstört um sich.
Auf seinem Leibe war es ihm so naßkalt, vor seinem Bett, auf dem er wie immer festgeschnallt lag, stand der Arzt, die Hemdsärmel hoch aufgekrempelt, ein blutiges Messer in der Hand und machte ein sehr ernstes Gesicht.
»Was — was — ist denn los?« stotterte Mojan.
»Mister Mojan, wie befinden Sie sich?« fragte der Doktor.
»Ich? Ich danke. So lala. Habe ich recht getobt?«
»Nein, Sie waren chloroformiert.«
»Ich — chloroformiert? Warum denn?«
»Sie haben nicht ohne Grund über Magenschmerzen geklagt.«
»Das tue ich nie.«
»Ich wußte es, die Sache stand sehr schlimm mit Ihnen, und — Mister Mojan, fassen Sie sich, erschrecken Sie nicht — ich habe Ihnen den Magen herausgenommen!«
Das sonst rote Gesicht des Dicken wurde kreideweiß; er schloß die Augen und stöhnte.
»Ich hole mir Ihre Erlaubnis nachträglich. Meine Pflicht, Sie am Leben zu erhalten, gebot es mir.«
»Meinen — Magen — will — ich — wieder haben!« flüsterte der Operierte.
»Er wird gereinigt.«
»Mir — ist — so — leer — im — Bauche.«
»Interessiert es Sie denn gar nicht, zu erfahren, wie Ihr Inneres aussieht?«
Cerberus blinzelte, sah etwas Blutiges vor sich, schloß die Augen schnell wieder und schlug sie dann ganz auf. Ein aufgeschnittener, sehr großer Magen, frisch und blutig, ward ihm vorgehalten.
»Das — ist — das ist — mein Magen?«
»Das ist Ihr Magen!«
»O — o — mir wird schlecht — einen Whisky muß ich trinken.«
»Sie vergessen ganz, daß Sie keinen Magen mehr im Leibe haben. Der Whisky würde, direkt zwischen die Eingeweide laufen.«
»Richtig — richtig!«
»Und diese verbrennen.«
»Nein — nein — ich mag keinen Whisky!«
»Außerdem habe ich Ihre Speiseröhre von innen verstopft.«
»Verstopft — womit?«
»Mit einem Gummistöpsel.«
»Ah — ich sterbe!«
»Nein, Sie werden nicht sterben!«
»Ich fühl's!« hauchte Cerberus. »Um was wetten wir?«
»An dieser Operation werden Sie nicht sterben.«
»Garantieren Sie mir?«
»Ja. Mit meinem Kopfe.«
»Gut — gut — aber — aber — vergessen Sie nicht — den Gummistöpsel — wieder herauszunehmen.«
»Seien Sie ohne Sorge!«
»Und — und — nichts mit in den Magen aus Versehen hineinnähen.«
»Was denn?«
»Keine — Schnupftabaksdose!«
»So etwas passiert mir nicht!«
»Keine englische Spieluhr.«
»Torheit.«
»Und — den Gummipfropfen nicht vergessen.«
»Nein, beruhigen Sie sich! Ihr Magen freilich befindet sich in einem abscheulichen Zustande.«
»Ich ahnte es.«
»Der Inhalt war haarsträubend.«
»Haar — Haar — Haare waren darin?«
»Noch ganz andre Dinge. Sie hatten ganz recht mit Ihrer Behauptung, wir haben alles gefunden. Wollen Sie sich den Inhalt nicht einmal ansehen?«
Mojan blickte nach dem Tisch, er sah darauf Becken mit blutigem Inhalt stehn.
»Zuerst dieser Polyp — er ist bereits tot.«
Der Dicke schauderte zusammen.
So ein Vieh da, wie ihm vorgehalten wurde, hatte er noch nie gesehen. Aber auch der gelehrteste Naturforscher hätte das Tier nicht klassifizieren können, wenn er der Sache nicht auf den Grund ging. Es war eine faustgroße, weiche Kugel, in allen Farben schillernd, mit Saugarmen und mit einem Kopfe, aus dem rote Augen und ein großes Maul mit spitzen Zähnen hervorsahen.
Dem Leser darf verraten werden, daß es ein toter Tintenfisch war, mit verschiedenen Farben übergossen. An ihm war eine kleine Kartoffel befestigt, die zum Kopf bearbeitet worden war.
»Ja, das ist er — der Polyp,« flüsterte Mojan mit schwacher Stimme, »so habe ich ihn mir vorgestellt — nur nicht so groß!«
»Darf ich ihn dem Museum vermachen?«
»Meinetwegen — aber mit meinem Namen — in Cerberus Mojans Magen gefunden. Also — er war doch nicht mehr am Herzen?«
»Nein, im Magen! Er war eben dabei, ein Beefsteak zu verzehren, das Sie zu zerkleinern schon die Freundlichkeit gehabt hatten.«
»So eine Canaille. Wie kam er denn in den Magen?«
»Durch die Magenwand!«
»Da muß doch aber — ein Loch darin sein?«
»Und was für eins! Hier, sehen Sie!«
»Heilt das zu?«
»Natürlich, wenn der Magen erst wieder im Leibe angenäht ist. Es kommt ein Pflaster darauf. Numero zwei: ein Bandwurm, 72 Meter 86 Zentimeter 11 Millimeter lang.«
Vor Mojans Augen ward ein endloses, nasses Band mehrmals durch die Stube gespannt.
»Bald 73 — Meter — so ein Vieh!«
»Ich habe schon größere gesehen.«
»War er denn — in meinem Magen?«
»Natürlich.«
»Ich denke — Bandwürmer sind — nur in den Eingeweiden?«
»Ach so, ja, nur die hintern Hälften waren darin, die Köpfe staken in den Eingeweiden. Wir bekamen sie aber heraus.«
»Die — die — Köpfe ...?«
»Drei Stück liegen hier. Der zweite ist etwa 60 Meter lang, der dritte 40 Meter.«
»Drei Stück auf einmal!« stöhnte Cerberus.
»Wollen Sie sie sich als Andenken aufbewahren? Etwa in Spiritus aufsetzen?«
»Nein — danke — hängen Sie sich — die Bandwürmer — an die Uhrkette! Haben Sie — Trichinen?«
»Ich? Nein. Sie aber auch nicht.«
»Keine gefunden?«
»Keine Spur davon!«
»Trichinen sind auch nicht — im Magen.«
»Ich habe mir auch erlaubt, Ihnen ein Stückchen Muskel aus dem linken Oberarm zu schneiden und dasselbe mikroskopisch zu untersuchen. Ich versichere Sie, daß Sie keine einzige Trichine im Körper haben.«
»Ein Stückchen Muskel — ausgeschnitten!« wimmerte der Dicke.
»Es ist bereits wieder eingenäht, und die Wunde wird narbenlos heilen — natürlich nur, wenn Sie sich danach halten.«
Mojan spürte plötzlich einen brennenden Schmerz am Arm.
»Ferner haben wir dies in Ihrem Magen gefunden.«
Eine verrostete Haarnadel ward ihm vorgehalten.
»Eine Haarnadel! — Wie kommt denn die hinein?«
»Das frage ich Sie auch.«
»Und verrostet!«
»Nein, von der Magensäure zerfressen.«
»Haarnadeln im Bauch — o, diese verfluchten Weiber!« stöhnte Mojan.
»Wissen Sie nicht, daß Sie einmal eine Haarnadel aus Versehen verschluckt haben?«
»Nein — ja — wie lange mag ich sie schon im Magen haben?«
»Der Zerstörung durch die Magensäure nach schließe ich auf zehn bis zwölf Wochen.«
»Es kann stimmen — vor drei Monaten — ja — ist Leckebald in der Stube?«
»Nein.«
»Gut — braucht es auch nicht zu hören — vor drei Monaten — die Miß Betty — vom Ballett — das Frauenzimmer hatte so viel Haarnadeln auf dem Kopfe — da mag ich eine verschluckt haben — ohne daß ich es wußte — na, wenn ich aber erst wieder nach San Francisco komme — das heißt lebendig!«
»Durch das Aufschneiden des Magens und Herausnehmen des unverdaulichen Inhaltes habe ich Ihr Leben um mindestens zehn Jahre verlängert. Haben Ihnen denn die Sachen nicht recht viel Schmerzen gemacht?«
»Sie wissen es ja — und was für welche!«
»Zum Beispiel diese Hosenknöpfe, die sich in einer Falte des Magens festgeklemmt hatten.«
»Diese — Hosen — Hosen — Hosen im Magen,« stotterte Mojan.
»Nein, ein ganzes Paar Hosen nicht, nur zwei Hosenknöpfe sind es.«
»Das genügt auch schon.«
»Sie haben eine sehr weite Speiseröhre, müssen das Essen sehr sorgsam zerkleinern.«
»Werde — werde — mir — eine Mahlmaschine anschaffen.«
»Ihre Zähne genügen auch. Nun fand sich in Ihrem Magen noch dieser Schlüssel, jedenfalls ein Hausschlüssel.«
Mit weit aufgerissenen Augen starrte Mojan den mächtigen, verrosteten Schlüssel an.
»Ein — ein — Hausschlüssel! Deshalb war's mir immer so schwer im Magen!«
»Das kann ich mir denken! Wie kommt der Schlüssel in Ihren Magen?«
»Ich weiß nicht — ja — ich erinnere mich — konnte einmal des Nachts den Hausschlüssel nicht finden — und hatte ihn doch eingesteckt.«
»Waren Sie betrunken?«
»Nein — ein bißchen.«
»Sehen Sie, und da haben Sie den Hausschlüssel, anstatt in das Schlüsselloch, in Ihren Mund gesteckt und wie eine Stange Spargel hinuntergeschluckt. Wie lange ist das schon her?«
»Vier Jahre.«
»So sieht er auch aus. Nun ist bloß dieses noch ...«
»Immer noch etwas? Mein Gott, mein Gott, hast du mich denn nur ganz und gar verlassen?!«
»Danken Sie lieber Gott, daß er mir eingab, Ihnen den Magen aufzuschneiden! Also, nun noch eine durchlöcherte Scheibe und ein Ring, sowie ein röhrenähnlicher Gegenstand aus Horn.«
»Eine ganze Maschinerie!«
»So schlimm ist es nicht. Es hat zu einem sogenannten Nutsch oder Zulp oder Lutscher gehört. Den Gummi haben Sie verdaut. Lutschen Sie denn?«
»Ich? Nein — nein — niemals.«
»Es kann auch nicht anders sein, als daß Sie ihn schon als Kind verschluckt haben.«
»So ist es.«
»Demnach tragen Sie den Lutscher länger als vierzig Jahre im Magen mit sich herum.«
»O, diese verdammten Lutscher — ich habe es doch immer gesagt — darum war es mir manchmal so weichlich im Magen.«
»Nun können Sie desto glücklicher sein. Ihr Magen ist jetzt wieder wie der eines neugebornen Kindes — nur etwas größer.«
»Sonst war nichts weiter darin?«
»Nein.«
»Gar nichts weiter?«
»Hat Ihnen das nicht genügt?«
»Keine Schnupftabaksdose?«
»Nein, Sie Unzufriedener.«
»Keine volle Tintenflasche? Ich hatte nämlich früher die Angewohnheit, an der Feder zu lecken.«
»Ich glaube, Sie können noch scherzen. Die Operation ist noch nicht vorüber.«
»Was? Noch immer nicht?« schrie Mojan erschrocken.
»Der Magen muß doch erst wieder hineingesetzt werden! Oder wollen Sie lieber ohne Magen herumlaufen?«
»Um Gottes willen nicht,« kreischte der Gefolterte, »setzen Sie ihn ein — setzen Sie ihn ein — aber vergessen Sie nicht, vorher den Gummipfropfen herauszunehmen!«
»So schnell geht das nicht, mein Freund. Einige Stunden müssen Sie sich ohne Magen behelfen.«
»Einige Stunden! Ohne Magen! Warum denn nur? Mir ist schon so furchtbar leer im Bauche.«
»Der Magen muß natürlich erst gereinigt werden, naß mit Bürste, Sand, Seife und Soda, dann wird er in den Rauchfang zum Trocknen gehängt, dann wird er noch einmal angefeuchtet, und ich nähe die Löcher zusammen, schließlich wird er mindestens zwei Stunden in Karbol gelegt — zum Desinfizieren. Dann erst werde ich ihn wieder kunstgerecht annähen.«
»Mein Gott, mein Gott,« jammerte Mojan, »so furchtbar lange!«
»Versuchen Sie einstweilen zu schlafen.«
»Ich kann nicht! Und nähen Sie ihn nur ja nicht verkehrt an, das Unterste zu oberst.«
»Seien Sie ohne Sorge, auf so etwas verstehe ich mich.«
»Und den Gummipfropfen ...«
»Den nehme ich vorher heraus, verlassen Sie sich darauf!«
»Sonst könnte ich ja gar nichts mehr essen und trinken.«
»Ja, mein lieber Herr, mit Essen und Trinken müssen Sie sich überhaupt in der nächsten Zeit äußerst vorsehen, sonst garantiere ich für nichts. Ihr Magen wird natürlich zuerst äußerst empfindlich sein. Nur etwas zu viel, etwas Scharfes — und ein Blutsturz wäre die nächste Folge; dann würden die Nahtwunden in Brand geraten, der Magen in Fäulnis übergehn und schließlich ...«
»Hören Sie auf — hören Sie auf!« lispelte Mojan mit schwacher Stimme, und ein Zittern ging durch seinen Körper.
Der Arzt hatte seine Sachen, den Magen und die blutigen Reliquien eingepackt und verließ das Zimmer.
Stumm und bleich lag Mojan da — wie ein geprellter Frosch. Auf Nobodys Fragen antwortete er nicht.
Nur als Leckebald hereinkam, fand er einmal die Sprache wieder.
Er richtete die Augen mit traurigem Ausdruck auf den mit offnem Munde und gespreizten Fingern dastehenden Jungen.
»Dein armer Onkel hat keinen Magen mehr.«
»Ach, nee — die — die — die Lecke-Schwester hat mir wirklich nichts vorgelogen?«
»Was sagte sie denn?«
»Sie hätten meinen Lecke-Onkel geschlachtet.«
»Es ist wirklich so.«
»Und dabei hat sie furchtbar gelacht.«
»Diese Canaille!«
Infolge der Seelenabspannung schlief Mojan bald ein, vergaß aber sogar das Schnarchen.
Nobody harrte auch jetzt noch bei ihm aus. Er hatte den Arzt überredet, den Scherz auszuführen, weil er hoffte, Cerberus Mojan würde infolge der Komödie von seinen krankhaften Vorstellungen geheilt werden. Schließlich trug ja auch Noboby mit an diesen schuld, denn er hatte durch Puttfarken doch zuerst den Dicken zu dem Wahne gebracht, daß der Erlernung des spiritistischen Apports allerlei Leibesübungen vorausgehn müßten. Daß Mojan so ganz verrückt werden würde, hatte Nobody freilich nicht ahnen können. Jedenfalls wollte er versuchen, ihn zu kurieren.
Cerberus Mojan erwachte nach mehrstündigem Schlafe und sah zu seinem Erstaunen abermals, außer Cutting Knife, den Arzt an seinem Lager stehn. Derselbe reichte ihm lächelnd die Hand.
»Ich gratuliere, Mister Mojan!«
»Wozu denn?«
»Der Magen ist wieder an Ort und Stelle.«
Ein Lächeln huschte über das Vollmondgesicht.
»Drum — mir ist auch nicht mehr so leer im Bauche,« lispelte er. »Alles gut gegangen?«
»All right!«
»Haben Sie mich chloroformiert?«
»Sie befanden sich in Narkose.«
»Richtig angenäht?«
»So, wie der Magen bei einem gesunden Menschen liegen muß.«
»Haben Sie den Darm nicht anzunähen vergessen?«
»Im Gegenteil, habe ihn angenäht.«
»Und der Gummipfropfen?«
»Ist herausgenommen.«
»Nichts im Magen liegen lassen?«
»Nichts.«
Dann bekam Mojan Vorschriften wegen seiner Diät: einige Tage überhaupt nichts essen, keinen Bissen, nur hier und da einen Löffel lauwarmes Wasser.
Später etwas körperliche Bewegung, die sich mit der Zeit steigerte: Freiübungen, Treppensteigen, Holzhacken und ähnliches, aber auch schon einige flüssige Nahrung. Übermäßig essen oder verschlingen, wie früher, durfte er sein ganzes Leben lang nichts wieder, das wäre sein sofortiger Tod, und außerdem befände er sich dann immer in Gefahr, wieder solche unverdauliche Gegenstände zu verschlucken.
Mojan sagte zu allem ja. Als er zum ersten Male aufstand, überzeugte er sich, daß sein Leib und der linke Oberarm mit Bandagen umwickelt waren. Die Wunden bekam er niemals zu sehen, denn meist wurden sie ihm im Schlafe verbunden, oder er war dabei doch festgeschnallt.
Drei Tage lang erhielt er wirklich keinen Bissen zu essen, nichts als lauwarmes Wasser, und der Hunger, der sich einstellte, ist begreiflich.
Aber Mojan verlangte nach keinem Essen, trotzdem er tatsächlich sehr abmagerte. Sein Bauch fiel mit rapider Geschwindigkeit ein, sein fettstrotzendes Gesicht bekam Falten. Gefährlich für seine Gesundheit war diese Pferdekur nicht, der Arzt beobachtete ihn sorgsam. Die eiserne Natur des Dicken hätte noch etwas ganz andres ausgehalten.
Nach drei Tagen bekam er wieder kleine Rationen — und Mojan fühlte sich plötzlich wirklich gesund. So geschmeckt hatte es ihm noch niemals in seinem ganzen Leben. Auch von der Hundswut war er kuriert. Man hatte es ihm versichert, und er glaubte es, denn er fühlte sich so ungemein wohl.
Nobody, der schon am Tage der vorgeblichen Operation abgereist war, erhielt unter dem Namen Cutting Knife ein Telegramm nach San Francisco — folgenden Inhalts:
»Cerberus Mojan vollständig geheilt, ist bereits unterwegs, Nobody zu suchen. Leckebald bei ihm!«
Da lachte Nobody und sagte:
»Ich bin neugierig, wo ich den närrischen Kauz wiedertreffen werde, und was für neue Mucken er sich dann angewöhnt haben wird!«
Im Tale des Sakramentostromes, der sich bei San Francisco ins Meer ergießt, liegt das Städtchen Quincy.
Früher hat man dort Gold gefunden, da war der Ort, wie alle seinesgleichen, wie durch Zauberei aus dem Boden gewachsen, hatte sich zu rascher Blüte entwickelt und war nach der Ausbeutung der Goldminen wieder in ein Nichts zurückgesunken. Gegenwärtig ist es nur noch ein Flecken, in dem die ringsum wohnenden Arbeiter, Cow-boys und Trapper zusammenkommen, um ihr Geld zu verjubeln; Abgesandte eines Indianerstammes finden sich einmal ein, hier Vorräte einzutauschen, sonst ist Quincy auch der Aufenthalt vieler Abenteurer, welche auf die Gelegenheit warten, sich einer Expedition anzuschließen, die auf die Suche nach neuen Goldfeldern geht.
Das Goldfieber ist in Kalifornien ja noch längst nicht erloschen, noch immer kann man dort sein Glück machen, etwa so, wie man in einer Lotterie von 100.000 Losen das große Los ziehen kann.
Es ist eben nicht nötig, deshalb nach Kalifornien zu gehn.
Die Ankunft eines Fremden, der etwas Besseres war, erregte im Orte große Spannung, und bald hatte sich denn auch die Kunde verbreitet, der Mann wolle eine Goldsucherexpedition ausrüsten.
In Scharen stellten sich allerlei Leute bei ihm ein: Händler, Juden oder pfiffige Yankees, welche die Ausrüstung besorgen wollten, Gelichter aller Art bot sich zur Begleitung an und rühmte seine Vorzüge. Der eine hatte schon eine Goldexpedition mit Erfolg begleitet, der andre schon eine geführt, wieder einer verstand alle Dialekte der umwohnenden Indianer, der vierte pries seine Treue und Unerschrockenheit an, der fünfte seine Kochkunst und so weiter.
Die meisten pochten auf ihr Glück, denn das gehört zum Goldgraben, auch wenn man das Goldfeld schon gefunden hat. Aber das: »Wie hoch ist mein Anteil dabei?« war immer die Hauptsache.
Als es dann hieß, der Fremde wisse noch gar nicht, ob überhaupt ein Goldfeld hier existiere, er hätte nur einmal etwas davon erzählen hören, erkaltete bei vielen schon der Eifer. Diese Leute wußten ja am besten, daß in der Gegend nichts mehr zu finden war.
Nur die, denen der Lohn an sich genügte, weil sie sonst hungerten, drängten sich herbei, und außerdem noch Menschen einer ganz besondern Gattung, welche etwa mit unsern Erfindern und Patentmachern zu vergleichen sind.
Meist waren es aber hier ganz heruntergekommene Subjekte.
Der Fremde allerdings war kein Greenhorn, kein Neuling auf dem Gebiete des Goldsuchens, und auch in der Gegend war er nicht zum ersten Male.
Nur dem Umstande, daß die eigentlichen Westmänner, die Pelzjäger, Fallensteller und Trapper die von Goldgräbern bewohnten Niederlassungen nicht zu betreten pflegten, weil sie mit dem Gesindel nichts zu tun haben wollten, hatte der Ankömmling es zu danken, daß er nicht sofort als Cutting Knife erkannt wurde.
Nobody war von San Francisco aus nach Quincy gekommen, um dort seine Begleiter für die Entdeckungsfahrt auszuwählen. Er trat mit allem Vorbedacht als der berühmte Westmann auf.
Es braucht ja nicht erst gesagt zu werden, daß es ihm sonst eine Kleinigkeit gewesen wäre, sein Aussehen derart zu verändern, daß weder Jean Matelas, noch sonst jemand, der ein Interesse an seiner Person hatte, ihn erkannte.
Zu dem Entschlusse, auch hier als Cutting Knife aufzutreten, war Nobody aus folgenden Gründen gekommen.
Daß Jean Matelas bei der Dampferkatastrophe auf dem Mississippi mit dem Leben davongekommen war, stand für Nobody fest, ebenso, daß der Dieb die Pläne über die Goldfelder immer wohl verborgen bei sich trug, und daß er bereits die Gegend zwischen dem San Joaquin und dem Sakramento durchstreift hatte, ohne bisher den geheimnisvollen Platz gefunden zu haben.
Der raffinierte Verbrecher hatte ferner aus den Zeitungen erfahren, daß Cutting Knife in Jefferson geblieben war, dort das Treiben der Flußpiraten enthüllt und ihm ein Ende bereitet hatte. Daraus schloß Jean Matelas, daß er von seinem Verfolger für tot gehalten wurde, war aber jedenfalls vorsichtig genug gewesen, auf der Reise nach San Francisco oder erst dort sich ein möglichst verändertes Aussehen zu geben. Denn Cutting Knife mußte unter allen Umständen nach Kalifornien kommen, um, auch ohne daß er die Pläne zurückerbeutet hatte, nach den Goldfeldern zu suchen.
Jean Matelas, der kein Westmann war und aus der Karte, die der alte Trapper nach indianischer Manier entworfen hatte, nicht klug werden konnte, wollte sich dann unerkannt an die Fersen Cutting Knifes heften, sich vielleicht sogar in seine Expedition anwerben lassen. Kamen sie in eine Gegend, auf welche die Angaben des Planes paßten, dann wollte er sich heimlich von seinen Gefährten trennen und auf eigne Faust weiterforschen.
Mittel und Wege, die letztern zu vernichten, daß keiner von ihnen aus der Wildnis zurückkehrte, würden sich an Ort und Stelle schon finden lassen.
Nobody aber erriet mit dem ihm eignen Scharfsinn nicht nur diesen Plan des Diebes, sondern baute auch den seinen darauf auf. Er wußte ganz genau, daß er Jean Matelas bestimmt erkennen würde, mochte derselbe sich auch noch so gut verkleidet haben. Er wollte ihn unter die Schar seiner Begleiter aufnehmen. Dadurch, und zwar nur dadurch, ward es ihm möglich, den Schurken stets im Auge zu behalten und im gegebenen Falle unschädlich zu machen.
Daß Jean Matelas seinen Verfolger und die Männer, die diesen begleiteten, aus dem Wege zu räumen, zu töten suchen würde, das war für Nobody nur ein Reiz mehr, das Abenteuer zu wagen.
Jean Matelas wollte den vermeintlichen Cutting Knife überlisten und ahnte nicht, daß dieser den Dieb in der eignen Schlinge zu fangen beabsichtigte.
Es wird sich alsbald herausstellen, wie schlau Nobody kombiniert hatte, wie er Jean Matelas vollkommen durchschaute, und wie gut es war, daß er noch immer als Cutting Knife auftrat.
Wäre Nobody, das muß noch gesagt werden, als ein andrer nach Quincy gekommen, dann hätte Jean Matelas sich ihm keinesfalls ohne weiteres genähert, hätte im Gegenteile neuen Verdacht geschöpft und wäre zur Vorsicht gemahnt worden. Der durchtriebene Verbrecher glaubte sich eben an Schlauheit dem Westmann Cutting Knife nicht nur gewachsen, sondern noch überlegen. Gerade das sollte ihm zum Verderben gereichen.
Nobody machte also gar kein Hehl daraus, daß er nach unermeßlich reichen Goldfeldern suchen wollte, nur gab er stets vor, daß er nichts Bestimmtes darüber wüßte, ob dieselben wirklich existierten oder nicht. Von Indian Bill erwähnte er nichts. Jean Matelas nahm ja ohnehin an, daß Cutting Knife im Auftrage des Colonels hier sei.
Eines Tages ließ sich ein Spanier angeblich in einer wichtigen Angelegenheit bei Cutting Knife melden.
Der Kerl sah furchtbar schmutzig und zerlumpt aus, seine Kleidung bestand nur aus einem Paar niedergetretener Schuhe, Hosen und dem Poncho, das heißt einer Decke, in die er ein Loch geschnitten hatte, durch das er den Kopf steckte. Ein Hemd hatte er nicht mehr auf dem Leibe.
»Ihr wißt, daß sich hier ein Goldfeld befindet, Senor?« fragte er geheimnisvoll.
»Ich vermute es.«
»Woher?«
»Das ist meine Sache!«
»Wißt Ihr den Weg dahin?«
»Den will ich eben suchen.«
»Kennt Ihr die Gegend?«
»Ungefähr.«
»Würdet Ihr sie wiedererkennen?«
»Sprecht, was Ihr eigentlich wollt!«
»Ich weiß nämlich, daß sich im Sakramentotale ein großes Goldfeld befindet.«
»Ah, Ihr wißt es?«
»Ich habe den Ort geträumt,« entgegnete der Spanier triumphierend.
»Erzählt!« sagte Cutting Knife.
»Jawohl, erzählt — damit Ihr dann hingeht, das Gold auflest und ich das Nachsehen habe. Was für eine Prämie gebt Ihr mir und welchen Anteil am Gewinn?«
»Träume sind Schäume. Ich verlange Beweise.«
»Die will ich geben, indem ich Euch hinführe. Erst versprecht mir meinen Anteil schriftlich.«
»Nichts da! Macht, daß Ihr hinauskommt!«
»Halt, hört mich erst an! Die heilige Jungfrau ist mir im Traume erschienen und hat zu mir gesprochen: Fernando, ich liebe dich, denn du wandelst im Gebot des Herrn, welcher ist mein Sohn. Gehe hin nach dem Sakramentotale, die und die Richtung, da und dahin, dort wirst du ein Gebirge finden, so und so aussehend, wende dich da und dahin, dort siehst du einen Baum, zu der und der Gattung gehörend, so und so aussehend — dort laß graben, Fernando, und ich will dich mit den Gütern der Erde segnen, Geliebter des Herrn. Nun?«
»Geliebter des Herrn,« entgegnete Nobody spöttisch, »da und da, dort und dort, so und so, der und der — das ist mir alles etwas zu ungenau.«
»Gebt mir 10.000 Dollar, und ich bezeichne Euch den Ort auf das genaueste.«
»Sam, wirf den Senor hinaus!« befahl Nobody einem Neger, den er als Diener gemietet hatte.
Dieser streifelte die Hemdärmel auf.
»Halt, ich will Euch andre Beweise geben ...«
»Erst laßt mich sprechen! Warum geht Ihr denn nicht selbst hin, wenn Ihr den Ort so genau wißt, und grabt das Gold aus?«
»Das ist eben der Haken: Ich selbst darf den Schatz nie heben, die heilige Madonna befiehlt mir, es einen andern für mich tun zu lassen, sonst würde ich zum Beispiel Pferdemist statt Gold finden.«
»Höchst merkwürdig!«
»Allerdings, aber es ist wahr. Die heilige Jungfrau ist mir nämlich schon zweimal im Traum erschienen.
»Das erstemal erschien sie mir, als ich noch ein Kind war, und sagte: da und da hat jemand hundert Peseta vergraben. Er soll sie nicht behalten, denn er ist ein Gottloser. Dich aber liebe ich, Fernando, weil du ein frommes Kind bist. Aber grabe nicht selbst, sondern laß deinen Freund den Schatz heben, beschreibe ihm den Ort, gib ihm etwas davon ab, und für das andre kaufst du dir schöne Kleider und Kandiszucker. Ich jedoch gehorchte nicht, ich war mißtrauisch und grub selbst nach, und was fand ich? Knochen, die ein Hund dort verscharrt, hatte. Das war meine Strafe. Die Madonna hatte die hundert Peseta in Knochen verwandelt. Oder kann sie das etwa nicht?«
»Und das zweitemal?«
»Sie sagte mir, ich sollte einen Schatz auf einem Friedhof heben, wieder durch einen andern, und wiederum flößte mir das Mißtrauen ein. Den Ort fand ich, den eisernen Topf auch, aber anstatt der versprochenen, darin enthaltenen spanischen Goldmünzen nur eingelegte Pfeffergurken. Nun ist die heilige Jungfrau mir zum dritten und letzten Male erschienen. Wollt Ihr mir die Prämie zahlen?«
»Nein.«
»Senor, bedenkt, so wahr, wie ich hier stehe ...«
»Sam, wirf den Gentleman hinaus!«
Als der Neger jetzt Ernst machte, entfernte sich der Spanier schnell.
Derartige Szenen erlebte Nobody zu Dutzenden.
Von einem Goldfelde konnte ihm niemand direkte Beweise bringen, er mußte sich auf sich allein verlassen, sich einfach nach den Angaben des Colonels richten und seinem Spürsinn vertrauen.
Die Gegenden, die er durchstreifen wollte, waren wüst und menschenleer. Wild gab es dort kaum noch. So mußte er eine vollständige Expedition ausrüsten, reichlich mit Lebensmitteln versehen und aus Männern bestehend, die vor einem Kampfe mit räuberischen Indianern nicht zurückschreckten und darin bewandert waren.
Endlich hatte er eine genügende Anzahl Abenteurer um sich versammelt, auf die er sich verlassen zu können glaubte.
In einem Schuppen standen Maultiere, die das umfangreiche Gepäck tragen sollten, sowie Pferde.
Am nächsten Tage wollte Nobody aufbrechen, als ihn wieder ein Mann zu sprechen wünschte.
Nobody ließ ihn ohne weiteres vor sich.
»Jetzt kommt er! Das ist mein Mann!« sagte er zu sich selber. »Er hat bis zum letzten Augenblick gewartet. Bin neugierig, als was er auftreten wird!«
Ein großer, kräftig gebauter Mann in zerlumpter Kleidung trat ein, das braune Gesicht bartlos bis auf einen goldblonden Seemannsbart, eine sogenannte Schifferkrause; in merkwürdigem Gegensatz dazu standen die dunklen Augen. Das Haupthaar und die Brauen waren jedoch ebenfalls blond.
Gleichmütig schaute Nobody auf. Dabei aber ließ er einen raschen Blick über die linke Hand des Mannes gleiten und sah, was jedem andern entgangen wäre, daß eine Narbe auf dem Rücken derselben durch einen wahrscheinlich aus Pflanzensäften hergestellten braunen Farbton und etwas Schmutz ziemlich gut verdeckt war.
»So ein Tölpel,« sagte der Detektiv zu sich selber. »Er muß mich für schrecklich dumm halten. Fast möchte ich dadurch die Lust an dem Abenteuer verlieren. Wenn ich den Kerl festnehme, finde ich sicherlich den gestohlenen Plan bei ihm und kann dann in aller Gemütsruhe nach den Goldfeldern suchen. Bah, ich will doch sehen, wie er es anfängt, mich hinters Licht zu führen!«
Daß Nobody im Begriff war, einen Mann unter die Schar seiner Begleiter aufzunehmen, der gegebenenfalls vor einem Meuchelmorde nicht zurückschrecken würde, beachtete er nicht eine Sekunde.
»Was wollt Ihr?« fragte er.
»Mich Eurer Expedition anschließen.«
»Alle Stellen sind bereits besetzt.«
»Nehmt mich mit,« bat der Mann, »mir geht's so schlecht!«
»Tut mir leid.«
»Ich bin Koch, habe in Hotelküchen gekocht, Ihr sollt mit mir zufrieden sein.«
»Ein Koch wäre das letzte, was ich brauchte,« lachte Nobody.
»Ich kann aus einer Stiefelsohle ein Beefsteak machen.«
»Alle Achtung vor Eurer Kochkunst, aber eines Koches bedarf ich nicht. Unser Marsch geht durch die unwirtliche Wildnis.«
»Ihr nehmt doch Proviant mit.«
»Ja, getrocknetes Fleisch und Hartbrot.«
»Ich verstehe aus den Überresten Brissoletts zu machen.«
»Schon gut. Hier habt Ihr einen Dollar.«
Der Mann nahm ihn und zog dann aus dem Hosenbein ein langes, dünnes, schwarzes Stäbchen hervor.
»Vielleicht könnt Ihr mich aber doch brauchen. Wißt Ihr, was das ist?«
»Ein Stück Fischbein.«
»Nein. Glaubt Ihr an Hexerei?«
»Durchaus nicht.«
»Schade, sonst könnte ich Euch behilflich sein.«
»Womit?«
»Das ist eine Wünschelrute.«
»Was Ihr sagt!«
»Sie schlägt an, wenn unter mir Wasser, Kohle oder Gold ist.«
»Dann grabt nur da, wo sie anschlägt. Hat sie schon angeschlagen?«
»Oftmals.«
»Nun, und?«
»Ich habe nie etwas gefunden,« war die treuherzige Antwort.
»Ihr habt nachgegraben?«
»Ja, und nie etwas gefunden, keine Kohle, keinen Schatz, auch nie eine Goldader, höchstens etwas Wasser, aber das ist ja überall.«
»Da seht Ihr doch, daß das Schwindel ist.«
»Die Rute schlägt aber an.«
»Das ist Tatsache?«
»Ich schwöre es.«
»Warum fandet Ihr denn da nichts?«
»Weil ich nie tief genug graben konnte. Hätte ich etwa eine Gesellschaft veranlassen können, weiter zu graben, so würde man Kohle oder Gold gefunden haben. Das Gold kann ja sehr, sehr tief liegen, wie tief, weiß ich nicht, das sagt mir die Rute nicht, und eine hochliegende Ader oder einen Schatz habe ich eben nie gefunden.«
»Habt Ihr denn von Eurer Wünschelrute niemals jemandem etwas mitgeteilt?«
»Doch, aber man lachte mich aus.«
Der Mann zögerte. »Einmal schlug sie auch an — ich grub — aber — aber — da fand ich nur ein Stück altes Bleirohr.«
»Ich will mit Euch eine Probe machen, und wenn Eure Rute anschlägt, so nehme ich Euch mit.«
»Sie wird anschlagen, wenn wirklich etwas unter mir liegt. Führt mich mit verbundenen Augen herum! Glaubt Ihr überhaupt daran?«
»Ich glaube daran.«
»Dann seid Ihr der erste, der dies tut.«
Das Anschlagen der sogenannten Wünschelrute gehört nicht ins Gebiet der Zauberei oder des Aberglaubens, es ist eine Tatsache, welche die Wissenschaft schon längst anerkannt hat, und für uns, die wir im Zeitalter der Elektrizität leben, gar kein Wunder mehr. Die Wissenschaft spricht natürlich nicht von einer Wünschelrute, sondern von einem Elektrometer, und überhaupt ist die lange Rute nur ein Hilfsmittel, um die Erregung der Nerven deutlicher zum Ausdruck zu bringen.
Man unterscheidet positive und negative Elektrizität, welche sich stets zu vereinigen suchen, so zum Beispiel beim Gewitter durch den Blitz. In allem, was existiert, ist positive und negative Elektrizität vereinigt, also auch im Menschen, in jedem Tiere. Es gibt wenig Menschen, die einen Kork zwischen die Zähne nehmen können, ohne ein unangenehmes Gefühl zu haben. Die meisten sind überhaupt nicht zu bewegen, darauf zu beißen, sie schaudern davor zurück. Vielen Kindern ist es unmöglich, mit den heutzutage aufgekommenen Steinbaukästen zu spielen. Sie schreien, sie wollen die Steine nicht anfassen, man weiß nicht warum. Aber auch Erwachsenen geht es manchmal so; besonders bei Frauen bemerkt man öfters, daß sie solche Steine mit Zeichen des Abscheues wegwerfen. Das alles sind Folgen einer Entstehung von elektrischen Strömen durch bloße Berührung. Bei sehr sensitiven Personen, das heißt, bei Leuten mit sehr feinen Nerven, äußert sich die Wirkung schon von weitem, gewöhnlich, ohne daß sie es merken, und solche Personen sind gar nicht so selten.
Der italienische Gelehrte Amoretti hat zuerst eine völlige, fast erschöpfende Theorie dieser Erscheinung aufgestellt und sie durch Experimente als richtig bewiesen. Einen hierzu gefertigten Apparat nennt man das Elektrometer, da aber die eigentliche Wünschelrute der Mensch selbst ist, so nennt man ihn, wenn solcher männlichen Geschlechts ist, der Bequemlichkeit halber ›den Elektrometer‹, eine Frau würde ›die Elektrometer‹ genannt werden. Die Rute, aus Metall, Fischbein, trocknem oder grünem Holz bestehend, dient also nur zum bessern Markieren der Nervenerregung, sowie zum Ausstrahlen des elektrischen Stromes durch die Spitze, wie beim Blitzableiter auf dem Dache.
Die Elektrizität der Metalle kann negativ oder positiv sein. Negativ sind zum Beispiel Gold, Silber, Kupfer, Eisen, Zinn, Blei, Steinkohle, Petroleum, auch Wasser. Positiv: Edelsteine, vor allen Dingen Diamanten, Braunkohle, Schwefel und andre Mineralien.
Die dafür empfängliche Person trägt die Wünschelrute, am besten eine grüne Rute, schräg gesenkt, ohne mit ihr den Boden zu berühren. Wenn die Spitze zu zittern anfängt, sich hebt und senkt, sogar auf den Boden aufschlägt, so befindet sich unter den Füßen in der Erde etwas, das positive oder negative Elektrizität ausstrahlt: entgegengesetzte Elektrizität strömt aus dem menschlichen Körper und sucht sich mit der andern zu vereinigen. Ein Betrug kann leicht ausgeschlossen werden. Die Person trägt ein Thermometer in der Hand, und sobald die Rute anschlägt, muß das Quecksilber infolge größerer Wärmeentwicklung um einige Grad steigen. Bekommt der Betreffende einen Kompaß in die Hand, so muß die Nadel ganz bedeutend abweichen.
Nun gilt es zu untersuchen, was der Gegenstand unter den Füßen ist. Aus der Gegend, der Beschaffenheit des Erdbodens und so weiter vermutet man Kohle, Eisen oder Wasser. Man gibt dem Elektrometer ein Stück Kohle in die Hand — die Rute schlägt weniger, bei Eisen auch. Kohle und Eisen werden dem Menschen in die Hand gegeben — die Rute zittert nur noch. Kohle und Eisen enthält der Boden also nicht. Jetzt taucht man ein Leinwandläppchen — keine Baumwolle — ins Wasser und gibt dies dem Elektrometer in die Hand. Die Rute wird sich heftiger denn je bewegen, den Boden vielleicht sogar peitschen, und man wird Wasser finden.
Man sieht, die Vorsuche müssen sehr sorgsam angestellt werden, viele Erfahrung und Ehrlichkeit des Elektrometers ist nötig, und schließlich — wo ist das Gold, welches etwa angezeigt wird? Es kann viele Kilometer unter der Erde liegen, es kann in einer Verbindung auftreten, nur ein einzelnes Goldstückchen sein, zufällig dorthin geraten, statt der mächtigen Goldader findet man einen unter dem Staube liegenden Goldring, auf den die Rute heftig schlug.
Übrigens ist der Erfolg der sogenannten Wünschelrute in neuester Zeit glänzend bestätigt worden. Algier besitzt große Wüsteneien. Im Volke ging die Sage, darunter flössen Wasserströme. Ingenieure ließen es sich angelegen sein, danach zu forschen, obgleich die ganze Gegend gar nicht dafür sprach, gruben und bohrten und fanden nichts und verwünschten den Volksaberglauben. Ein junger, französischer Ingenieur aber machte den Versuch mit dem Elektrometer, die Rute schlug an, er bestimmte schon im voraus die Wasserläufe, ließ sich durch die Tiefe, nicht abschrecken und fand unterirdische Ströme. Da diese jetzt ausgenutzt werden, dürften sich die meisten Gegenden des südlichen Algiers bald in blühende Gefilde umwandeln. —
Nobody kannte das alles seit langem, und überzeugt von dem Vorhandensein geheimnisvoller, noch nicht erklärter Naturkräfte, glaubte er auch an die Wünschelrute.
Seine Meinung über Jean Matelas änderte sich.
Der Mann fing es ganz gescheit an, Aufnahme in die Expedition zu finden. Er schien sogar die Gedanken Nobodys in gewissem Sinne erraten zu haben; denn dieser war bereits entschlossen gewesen, sich der Wünschelrute beim Aufsuchen der Goldfelder mit zu bedienen.
›Na, warte, Freundchen,‹ dachte er, ›mich fängst du doch nicht, aber mitkommen sollst du!‹
»Wie nennt Ihr Euch?« fragte er.
»Joe Bertram!«
»Ihr könnt also kochen?«
»Vorzüglich!«
»Seit wann wißt Ihr, daß die Wünschelrute in Eurer Hand sich bewegt?«
»Schon seit langer Zeit!«
»Ihr seid mit einer Prüfung Eurer Fähigkeit einverstanden?«
»Jawohl. Prüft mich!«
»So geht hinaus, laßt Euch zu essen geben und haltet Euch bereit, auf meinen Ruf zu erscheinen!«
Der Mann, Jean Matelas also, entfernte sich. Er hatte durch keine Miene verraten, daß er den vor ihm Stehenden kannte. Er spielte seine angenommene Rolle gut, und seine List wäre ihm sicher geglückt, wenn er es eben nicht mit Nobody zu tun gehabt hätte.
Dieser schritt schweigend mehrmals durch das Zimmer — dann hatte er seinen Plan gefaßt. Er rief Sam, befahl ihm, den Fremden daran zu hindern, daß er ins Freie blicken könne, begab sich hinaus und machte sich an verschiedenen Stellen der Umgegend kurze Zeit zu schaffen.
Bald kehrte er zurück und rief Joe Bertram zu sich. Sam mußte sie begleiten.
Die Augen geradeaus gerichtet, die Spitze des Fischbeinstabes etwas über dem Boden in vorgestreckter Hand, folgte Bertram dem vorausgehenden Nobody.
Plötzlich blieb der Mann stehn.
»Die Rute schlägt.«
Allerdings bewegte sich das Stöckchen heftig, berührte auch manchmal den Boden.
Nobody gab dem Manne nacheinander ein Goldstück, eine Silbermünze und einen Eisennagel in die Hand.
Die Rute bewegte sich nicht mehr; kaum aber hatte Nobody ihm eine Bleikugel in die Hand gegeben, als die Rute den Boden förmlich peitschte.
»Es stimmt! Bravo! Ich habe ein Stück Blei hier vergraben.«
So glückten sämtliche Versuche bis auf einen.
Nobody führte Bertram mehrmals über einen Platz, wo er etwas vergraben hatte — die Rute schlug nicht an.
»Fühlt Ihr denn gar nichts?«
»Gar nichts.«
Er gab ihm ein Goldstück in die Hand.
»Aber jetzt?«
»Auch nichts.«
Da Nobody an dieser Stelle eine gleiche Münze vergraben hatte, warf er selbst die Erde auf — er fand nichts — das Goldstück war mittlerweile von unbekannter Hand gestohlen worden.
Die Wünschelrute hatte die Probe glänzend bestanden. Joe Bertram ward in die Gesellschaft aufgenommen. Er triumphierte insgeheim, und Nobody hütete sich wohlweislich, ihn darin zu stören.
Die Expedition brach auf, und Joe Bertram erwies sich als vortrefflicher Koch. Er bereitete aus den mitgenommenen Konserven schmackhafte Speisen, und zwar mit Hilfe von Kräutern, die er selbst suchte, sobald die Gesellschaft sich irgendwo gelagert hatte.
Am fünften Tage nach dem Aufbruch erreichte der Zug die Gegend, in der Indian Bill damals mit dem alten Trapper geweilt hatte.
Nobody erkannte sie sofort an verschiedenen Merkmalen, von denen kein andrer Mensch außer dem Colonel etwas wissen konnte und schärfer als zuvor beobachtete er den angeblichen Joe Bertram.
Derselbe war jedoch auf seiner Hut. Er tat seine Pflicht als Koch, und willig nahm er die Wünschelrute zur Hand, wenn sein Herr ihm das befahl.
Indian Bill war von hier aus nur etwa eine Stunde weit durch den alten Trapper geführt worden. Die Goldfelder mußten also in unmittelbarer Nähe liegen.
»Ich muß sie entdecken, auch ohne daß ich mich nach dem Plane orientieren kann. Das scheint ja sowieso nicht leicht zu sein, denn sonst hätte Matelas schon längst den größten Teil der Schätze in Sicherheit gebracht. Freilich, was ihm nicht möglich war, würde mir sofort mit Hilfe der Zeichnung gelingen, doch wozu bin ich denn Nobody? Es wird bedeutend besser klingen, wenn in ›Worlds Magazine‹ steht, ich fand das Gold ohne Plan, nahm den Dieb erst nachträglich gefangen, als wenn es heißt, ich fing den Dieb, nahm ihm den Plan ab und entdeckte nach seiner Anweisung die verschwundenen Goldschätze! Also los, Nobody! Zeige, was du kannst!«
Vergebens durchstreifte er jedoch mit Joe Bertram und Sam die ganze Gegend. Man fand keine Goldfelder. Niemand aus der Gesellschaft ahnte, daß der vermeintliche Cutting Knife, Nobody, den Dieb dadurch nur vollständig sicher machen wollte.
In Wahrheit hatte Nobody schon die wichtigste Entdeckung gemacht — er hatte den herrlichen Wald gefunden, den der alte Trapper so geliebt!
Oftmals entfernte Nobody sich allein aus dem Lager. Einen Vorwand fand er immer, selbst Bertram, Matelas, konnte keinen Argwohn deswegen fassen. Er fühlte sich übrigens ja immer noch schon im voraus als Sieger über Cutting Knife.
Einmal, als man sich zeitig in einer gebirgigen Gegend gelagert hatte, sah Nobody in der Ferne eine wilde, kalifornische Ziege weiden, eines jener prächtigen Exemplare mit langen, weißen Haaren und gewaltigen Hörnern, dem Steinbock ähnlich.
Sofort beschloß Nobody die Jagd auf das Tier, um eine neue Durchforschung der Gegend vornehmen zu können.
Der Bock witterte ihn zwar, doch war er sich über die Anwesenheit des Feindes noch im unklaren, er floh nicht, sondern zog sich nur langsam zurück, so daß ihm Nobody kriechend folgen konnte, ohne aber zum Schuß zu kommen.
Es ging über Felsabhänge und grasige Plateaus hinweg, und auf einem solchen sah das scheue Tier den Gewehrlauf in der Sonne blitzen — in mächtigen Sätzen floh es davon.
Nobody glaubte, ihm nochmals den Weg abschneiden zu können; in rasender Geschwindigkeit sauste er rutschend einen Abhang hinunter, er erblickte das Tier wieder, wie es über eine Spalte setzte, dann war es verschwunden.
Sofort eilte Nobody hin und bemerkte, daß der Bock seine Flucht in eine Kluft genommen hatte, die gar nicht aussah, als hätte sie eine Fortsetzung, denn im Hintergrund erhob sich die Wand. Trotzdem mußte ein Ausgang vorhanden sein, denn das Tier war nirgends mehr zu erblicken.
Nachdem Nobody daher die Spalte übersprungen hatte, drang er in die Kluft ein und entdeckte bald einen schmalen Paß, so eng, daß ein Mann sich eben noch hindurchzwängen konnte.
Das war die Gegend, in der allein die Goldfelder liegen konnten. Sollte er ihre Entdeckung nur dem Zufall verdanken, der das flüchtende Wild gerade hierher geführt hatte? Dann wäre das Weitere keine Arbeit mehr gewesen, würdig eines Nobody.
Doch nein! Gerade hier begann ja erst die eigentliche Aufgabe für ihn, denn weiter hatte ja Indian Bill auch nichts anzugeben vermocht, als daß der Trapper ihn in eine derartige Gegend geführt habe. Dann waren ihm die Augen verbunden worden.
Nobody drang vorwärts. Bald erweiterte sich die Schlucht, andre Pässe zweigten nach links und rechts ab, es war ein förmliches Labyrinth. Da breitete sich plötzlich vor Nobody, umgeben von himmelhohen Felswänden, ein liebliches Tal aus, in dessen Mitte sich ein herrlicher Wald erhob.
Wie hatte der alte Trapper gesagt? Er wolle nicht, daß die Axt der habgierigen Goldsucher seinen Lieblingswald zerstöre. Die Felsmauern ringsum waren nicht die Abhänge eines Plateaus, sondern schlossen nur das Tal ein. Hier mußte die Höhle mit den goldnen Schätzen liegen.
Nobody kehrte in das Lager zurück, ohne von seiner Entdeckung zu sprechen.
Am nächsten Morgen aber führte er selbst seine Begleiter durch die Schlucht hinab in den Wald.
Ja, war es denn nicht gewagt, daß er den Männern den Ort zeigte? Konnten die Leute nicht, von Habgier getrieben, daran denken, ihren Führer aus dem Wege zu räumen, um das Gold für sich behalten zu können? Sie dachten nicht daran; denn wenn ihre Expedition erfolgreich war, dann mußte auf jeden von ihnen ein derartiger Gewinnanteil fallen, daß sie reiche Leute wurden.
Um den Schein zu wahren, mußte Joe Bertram mit der Wünschelrute voranschreiten. Sie zuckte nicht, bewegte sich nicht. Es ging hin und her, kreuz und quer, im Bogen, viele, viele Stunden lang — die Rute gab kein Zeichen von sich.
»Hier ist nichts, Herr,« sagte Joe, »kein Gold, kein Eisen, keine Kohle, kein Wasser, gar nichts!«
Die Versuche wurden wiederholt, indem Bertram ein Goldstück in die Hand nahm, so daß die Rute direkt auf Gold, aber nur auf dieses, anschlagen mußte, doch der Elektrometer sagte nichts.
Die Leute murrten bereits.
Nobody nahm das Goldstück wieder an sich.
Sofort schlug die Rute heftig gegen den Boden.
Man grub nach und fand eine starke Wasserader, die dem Boden als förmlicher Sprudel entsprang. Sie mußte demnach unter starkem Druck stehn.
Das Lager ward daneben aufgeschlagen.
Niemand ahnte ja, daß Joe Bertram ein Betrüger war, der die Rute nur in Tätigkeit treten ließ, wenn es ihm beliebte.
Die zwei Zelte, eins für die Goldgräber, ein kleineres für Nobody, waren aufgeschlagen und Feuer angezündet worden.
Joe Bertram wollte sich wieder einmal aus dem Lager entfernen.
Nobody rief ihn an:
»He, Joe, wohin geht Ihr?«
»Wie immer, Kräuter holen.«
»Hier wächst ja nichts!«
»Ich habe dort oben welche stehn sehen.«
»Es ist ja stockfinster. Ihr brecht den Hals!«
»Ich habe mir die Stelle genau gemerkt, in fünf Minuten bin ich wieder da.«
Er verschwand in der Nacht. Erst nach einer Viertelstunde kam er wieder, Kräuter und Wurzeln mitbringend.
Die Kessel hatten schon gekocht. Joe tat das Pflanzenwerk hinzu, ließ es noch einmal kochen und hatte bald, wie immer, ein schmackhaftes Gericht bereitet, für Nobody ein besonderes.
Das hatte dieser zuerst gar nicht gewollt; aber Joe ließ es sich nun einmal nicht nehmen, für den Führer der Expedition besonders und etwas Besseres zu kochen. Die Vorräte erlaubten es schließlich auch, und so hatte Nobody dem Eigensinn des Kochs nachgegeben.
Die Goldgräber schöpften also aus dem gemeinsamen Kessel ihre Näpfe voll und aßen. Es wurde noch eine Pfeife geraucht, dann legte man sich schlafen. Nur Sam saß eine Weile stumm da, ging oder schleppte sich darauf zu Nobody und gestand ihm, daß er krank sei.
Was sollte man hier mit einem Kranken anfangen?
Sam begann sofort nach dieser Erklärung zu wimmern, warf sich hin und krümmte sich.
»Hast du Fieber? Wo tut es dir weh?«
»Im Leib!«
Nobody ließ sich die Zunge zeigen, sich anhauchen, fühlte den Puls, der trocken und langsam schlug.
Sam heulte vor Schmerzen.
Noch einmal blickte ihm Nobody lange ins Auge. Die Pupille war merkwürdig groß.
»Fast möchte ich glauben, es wäre eine Vergiftung — etwa mit Belladonna.«
Unterdrückte Schreie erschollen, fast ebensoviel, wie es Goldgräber gab, so viel Revolver blitzten in den Händen, auf Joe gerichtet.
»Hund, du hast uns vergiftet!«
Über Goldgräber, die sich, nachdem sie den Schatz gefunden, gegenseitig töten, um nicht teilen zu müssen, gibt es zahllose Geschichten, und ob sie nun wahr oder erfunden sind — es wäre nichts Neues.
Jedenfalls hat Gift unter den Goldsuchern schon eine große Rolle gespielt.
Nobody war unvorsichtig gewesen, als er das Wort ausgesprochen hatte.
Der Koch stürzte auf ihn zu.
»Herr, schützt mich, sie wollen mich morden!«
»Unsinn;« donnerte Nobody, »wie kann Joe daran schuld sein! Er hat doch von dem Gericht mitgegessen. Fühlt sich etwa einer von Euch unwohl?«
Beschämt wurden die Waffen gesenkt.
Sam begann zu röcheln, sein Gesicht war verzerrt.
»Heißes Wasser!« gebot Nobody, öffnete die von San Francisco mitgenommene Reiseapotheke und flößte ihm Brechweinstein ein.
Heftiges Erbrechen stellte sich ein, und das half schon allein. Sam kam wieder zur Besinnung, wenn auch noch über heftige Schmerzen im Leib klagend.
»Ihr werdet von jetzt ab Eure Kräuterzutaten unterlassen, Joe,« gebot Nobody.
»Glaubt Ihr, ich wäre fähig, jemanden zu vergiften?«
»Davon ist keine Rede. Ich will es einfach nicht mehr haben.«
»Oder denkt Ihr, ich kenne nicht alle giftigen Kräuter?«
»Seid Ihr Kalifornier?«
»Geborener Kalifornier,« entgegnete Joe schnell.
»Woher?«
»Aus Santa Michaele.«
»Ach was, da bin ich ja auch her!« rief ein Goldgräber.
»Ich kam schon als kleines Kind fort — weiß nichts mehr davon,« meinte Bertram.
»Genug, ich wünsche nicht mehr, daß Ihr Kräuter und Wurzeln in das Essen tut. Es schmeckt uns auch so.«
Der Koch brummte etwas vor sich hin.
Joe Bertram hatte den ersten Versuch gemacht, die Gesellschaft aus dem Wege zu räumen. Nobody zweifelte keine Minute daran, daß Sam Gift bekommen hatte. Er stellte sich nur so, als wenn er an einen tückischen Zufall glaubte. Schärfer als je beobachtete er den Koch.
Am nächsten Tage machte Nobody einen Versuch mit dem Magneten.
Das Taschenmesser, das er bei sich führte, hatte er magnetisiert — durch Streichen mit demselben verwandelte er eine Nähnadel in eine Magnetnadel, hing sie an einem Faden auf, nahm diesen in die Hand, ein Goldstück dazu — sofort wies die Nadel nach Osten.
Das Experiment war geglückt. Nobody steckte die Nadel in das Rockfutter, das Messer in die Tasche.
Er hatte sich in geraumer Entfernung von dem Lager befunden, anscheinend ganz allein, aber er hatte sofort den hinter einem Gebüsch versteckten Joe Bertram bemerkt.
Als Nobody am nächsten Morgen erwachte, waren Taschenmesser und Nähnadel verschwunden. Er lächelte. Jetzt brauchte er die Schlinge nur noch zuzuziehen, und der Dieb, Jean Matelas, war gefangen.
Am Abend wollte der Koch sich abermals, trotz des Verbotes, aus dem Lager entfernen.
»Joe, wohin?« rief Nobody ihn an.
»Kräuter holen!«
»Ihr bleibt!«
»Ah, Euch wird das Essen nicht schmecken,« entgegnete Joe und wollte weitergehn.
Sofort war Nobody neben ihm. »Zurück, Mann! Ihr bleibt!«
»Ihr habt mich in Verdacht!« stellte Joe sich gekränkt.
»Schweigt und gehorcht! Gegen meine Befehle gibt es keine Auflehnung.«
Da legte der Koch sich neben dem Lagerfeuer nieder.
Der Marsch ward am nächsten Tage in der Richtung nach Osten fortgesetzt. Die Wünschelrute kam diesmal nicht zur Anwendung.
Da, als die Männer um eine Felswand bogen, trafen sie mit einem großen Trupp Indianer zusammen.
Alle waren zu Fuß und bewaffnet, aber nur wenige mit Gewehren, mit alten Feuersteinflinten, alle mit Federn geschmückt und bemalt, woraus Nobody erkannte, daß sie sich auf dem Kriegspfade befanden.
Die Indianer Kaliforniens, jetzt etwa noch 8000, stehn von allen Stämmen Nordamerikas auf der niedrigsten Stufe.
Nicht, daß sie ihnen an scharfen Sinnen, Kampfeslust und so weiter nachständen, aber man vermißt an ihnen alle ritterlichen Eigenschaften und Tugenden, welche jene doch wenigstens zum Teil besitzen, wie zum Beispiel Gastfreundschaft, Halten des gegebenen Wortes. Sie sind feig, hinterlistig, treulos, verräterisch und dem Trunke über alles ergeben.
Eine Feindseligkeit der Indianer war jetzt allerdings ganz ausgeschlossen, sie kannten die Wirkung der Hinterlader.
Ein mit Federn überladener Krieger trat vor, Nobody ging ihm entgegen, Zeichen des Friedens machend.
Der Häuptling redete ihn an, aber in einem Dialekte, den selbst der sprachengewandte Detektiv nicht sofort verstand. Der Indianer hatte das kaum gemerkt, als er fortfuhr:
»Die Comanchen sind Freunde des fliegenden Pfeiles.«
»Und die Comanchen sind auch meine Freunde,« erwiderte Nobody sofort in deren Sprache, »so bin ich also auch dein Freund.«
»Der fliegende Pfeil freut sich darüber.«
»Mein Bruder ist Häuptling?«
»Häuptling der Moquis,« war die stolze Antwort. »Seine Macht reicht so weit, wie die Sonne scheint.«
»Ich weiß es. Kennst du mich?«
»Wie heißt mein Bruder?«
»Cutting Knife!«
»Das schneidende Messer? Die Comanchen erzählen, Cutting Knife sei versammelt in die ewigen Jagdgründe,« sagte der Häuptling ungläubig.
»Cutting Knife steht vor dir!«
»Wo hat mein Bruder das tötende Rohr?«
Diese Frage hatte Nobody erwartet, denn für die Indianer mußten die Begriffe ›schneidendes Messer‹ und ›tötendes Rohr‹ unzertrennlich bleiben.
›Schneidendes Messer‹ nannte man den berühmten Westmann, weil die Sage von ihm ging, daß er die Gegner, die einen Kampf mit ihm wagten, zwar stets besiege, aber niemals töte. Er schnitt ihnen nur mit dem Messer ein Zeichen ins Gesicht.
Das ›tötende Rohr‹ aber war die nie ihr Ziel fehlende Winchesterbüchse Cutting Knifes. Wer sich für diesen ausgab, mußte sie besitzen.
»Hier!« antwortete also Nobody und zeigte das Gewehr.
»Beweise, daß es das tötende Rohr ist!«
Nobody blickte nach oben und sah in der Luft über sich einen Raubvogel schweben, nicht größer als ein Bussard, das heißt, von der Erde aus gesehen.
Er riß die Winchesterbüchse hoch, zielte einen Moment und drückte ab.
Sofort klappten die Flügel des Vogels in die Höhe; mit wachsender Geschwindigkeit sauste er herab, sich ungeheuer vergrößernd.
»Wah!« schrie der Häuptling und prallte zurück, desgleichen seine Krieger.
Der Vogel stürzte zwischen die Felsen; einige Indianer kletterten über die Steine und brachten einen riesigen Adler geschleppt, von wenigstens drei Meter Flügelspannweite, dem die Kugel den Kopf abgerissen hatte.
Wie hoch mußte das Tier geschwebt haben, um wie ein Bussard auszusehen!
Wie alle wilden Völker, so zollen die Indianer nicht dem Schützen, sondern dem Gewehre Bewunderung.
Der Häuptling streichelte es.
»Ha, mein Bruder hat das tötende Rohr in der Hand.«
»Und dies sind meine Krieger, sie haben ebensolche Rohre wie ich, die stets treffen.«
Nobody schoß zehnmal hintereinander aus dem Gewehr, ohne zu laden. Er hatte noch immer fünf Patronen im Magazin.
»Wir brauchen nie zu laden. Auch nicht diese Pistolen.«
Er feuerte drei Kugeln aus einem Revolver nach einem aus einer Spalte wachsenden Baum, so daß sie nebeneinander saßen.
Das Erstaunen der Indianer wuchs, nicht über den Revolver, den sie kannten, sondern über diese Treffsicherheit.
»Und so wie ich, entsenden alle meine Krieger ihre Blitze. Wir fehlen nie das Ziel. Was meint der fliegende Pfeil, könnten wir es nicht mit 1000 Indianern aufnehmen?«
Der Häuptling streichelte wieder liebevoll das Gewehr und betrachtete dann seine alte Donnerbüchse.
»Wenn der fliegende Pfeil das hätte, wäre er der Häuptling aller Häuptlinge. Der fliegende Pfeil möchte auch so ein Gewehr haben.«
»Ich bin der Häuptling der Stämme, die dort jenseits der Berge bis ans Meer wohnen,« versetzte Nobody.
»Meines Bruders Zunge ist gespalten,« erwiderte der fliegende Pfeil. »Er redet nicht die Wahrheit!«
»Der fliegende Pfeil mag sich hüten vor dem Zorn des Cutting Knife.«
»Wir sind arm und haben Hunger,« lenkte der Häuptling, in dessen Reiche die Sonne nicht unterging, ein. »Wenn mein Bruder der Häuptling aller Häuptlinge ist, wird er seine Krieger nicht verhungern lassen.«
Nobody ließ ihnen Hartbrot und Pemmikan geben, über das die Rothäute sich sofort hermachten.
»Der fliegende Pfeil hat Durst,« meinte dann der mit vollen Backen kauende Häuptling.
»Dort fließt Wasser.«
»Der fliegende Pfeil ist krank, Gin besser.«
Gin ist Wachholderschnaps, den der Häuptling wahrscheinlich sehr liebte.
»Ich habe keinen Gin.«
Der Häuptling kniete nieder, nahm einen Schluck Wasser und spuckte es wieder aus.
»Puh, schlecht. Der fliegende Pfeil und seine starken Krieger werden davon schwach und krank.«
»Ich habe keinen Gin.«
»Rum?«
»Nein.«
»Brandy?«
»Auch nicht!«
»Whisky?«
»Überhaupt gar nichts, wir führen kein Feuerwasser mit uns.«
»Schade!«
Wieder streichelte der fliegende Pfeil das Gewehr Nobodys und betrachtete dann das seine.
»Meins ist besser.«
»Ich glaube auch.«
»Ich schenke es dir, wenn du mir deins dafür gibst, dann sind der fliegende Pfeil und Cutting Knife Freunde.«
Da legte Nobody ihm die Hand auf die nackte Schulter, so fest, daß der Häuptling eine Grimasse schnitt.
»Nun will ich dir etwas sagen, fliegender Pfeil. Jetzt marschierst du geradeaus und wir geradeaus, und wenn du andre Gedanken hegst, so fahren unsre Blitze zwischen euch! Good bye!«
Nobody gab Befehl, den Weg fortzusetzen, ohne nur einmal den Kopf zu wenden, ließ seine Leute an sich vorbei und bildete den Schluß.
Auch er blickte sich nicht um, zog aber einen kleinen Spiegel aus der Tasche und beobachtete in diesem die Zurückbleibenden.
Erst sahen die Indianer den Fortziehenden nach, dann steckten sie die Köpfe zusammen, bis der Zug hinter einer Ecke verschwand.
Nobody blieb hinten. Er kannte die Rothäute Kaliforniens genau und war auf einen Überfall gefaßt.
Stundenlang ereignete sich nichts.
Da aber prasselte es plötzlich von oben herab. Steine und sogar Felsblöcke.
Die vordersten prallten entsetzt zurück; nur dadurch, daß die Blöcke zu zeitig herabgestürzt waren, entgingen sie dem Tode. Eine Sekunde später, und der ganze Zug wäre unter den Steinen begraben gewesen.
»An die Wand, mir nach!« schrie Nobody.
Gleichzeitig krachten von hintenher Schüsse; Pfeile zischten durch die Luft; dann auch von vorn. Ein überhängendes Felsstück, eine Art Grotte bildend, bot den Angegriffenen vor von oben herabgeschleuderten Steinen Schutz.
Vorläufig aber hatte nur Nobody Gelegenheit, zweimal zu schießen, nach roten Körpern, die sich hinter Felsvorsprüngen zeigten.
Schmerzensrufe verrieten, daß er getroffen hatte.
Dann war alles wieder totenstill, nur der Bach murmelte.
»Diese Canaillen, ich dachte es mir doch,« sagte Nobody. »Sie wollen uns aus dem Hinterhalt niederschießen, ehe wir sie zu sehen bekommen. Gebt acht nach beiden Seiten! Ist jemand verwundet?«
Einer der Männer hatte eine Kugel im Arm, ein andrer einen Pfeil durch den Hals. Zuerst entfernte Nobody den Pfeil und verband die Wunde. Er gab den röchelnden Mann von vornherein auf. Die Kugel entfernte er auf der Stelle. Nobody war jetzt ganz Cutting Knife, der Westmann. Auch Pferde und Maulesel zeigten Verwundungen.
Es wurde bald Abend; Nobody gedachte hier zu übernachten. Gefährlich war die Lage durchaus nicht. Von oben waren sie durch den Felsen geschützt, die beiden Seiten konnten sie mit Kugeln bestreichen.
Das Herauskommen mußte bei Nacht versucht werden, doch war vorläufig nicht daran zu denken, denn der Verwundete ging seinem Ende entgegen und war auch nicht transportfähig, selbst wenn man ihn auf ein Pferd gebunden hätte. Liegen lassen wollte Nobody den Unglücklichen selbstverständlich ebensowenig. Feuer wurden angezündet und die Wachen verteilt.
Joe Bertram, der Dieb, verhielt sich vollständig schweigsam. Nobody aber wußte, daß der Schurke gelegentlich einer seiner Streifereien auf die Moquis getroffen war und sie bewogen hatte, die Gesellschaft anzugreifen.
Es war Zeit, daß die Abrechnung erfolgte, dem Elenden die Maske vom Gesicht gerissen wurde. Nobody aber wollte einen Teil der Strafe, die er demselben zugedacht hatte, darin bestehn lassen, daß er ihm die Goldfelder zeigte, die er nicht zu finden vermocht hatte. Welche Qualen mußte dem Verbrecher der Anblick der unermeßlichen Schätze bereiten, die er vergebens zu heben gehofft hatte, während er sie nun als Gefangener zu sehen bekam.
Die Nacht verging ohne Behelligung durch die Indianer.
Gegen Morgen starb der Schwerverwundete und wurde an Ort und Stelle so feierlich begraben, wie die Verhältnisse es zuließen.
Eben war man damit fertig, als ein Indianer um die Ecke kam, ohne Waffen, einen grünen Zweig schwingend — ein Unterhändler.
Zögernd näherte er sich, manchmal zurückblickend, dann ein paar Schritte gehend, den Zweig schwingend, wieder ängstlich sich umsehend — kurz, ein Bild der Hasenherzigkeit.
»Zehntausend Augen sehen auf mich!« rief er schon von weitem. »Wenn ihr der Biberratte etwas zu leide tut, treffen euch zehntausend Pfeile und zehntausend Kugeln! Kann die Biberratte mit dem schneidenden Messer reden?«
»Die Biberratte ist sicher,« erwiderte Nobody, »das schneidende Messer tötet keinen Wehrlosen.«
Er stellte die Büchse hin, schnallte den Gürtel ab, zur Vorsicht einen Revolver einsteckend, brach ebenfalls einen grünen Zweig ab und ging dem Indianer entgegen.
Der Inhalt der zehn Minuten währenden Unterhaltung war, daß der Häuptling zehn Schießwaffen forderte, um mit einem benachbarten Stamme Krieg zu führen, denn die Bleichgesichter hätten ja die dreifache Anzahl derselben, dafür sei der fliegende Pfeil ewiger Freund des schneidenden Messers; wenn ihm aber das Geschenk, das er auch als Tribut betrachten dürfe, abgeschlagen würde, so wolle er die Blaßgesichter vernichten. Die Macht habe er dazu, weil er sich mit mehreren Stämmen verbünden habe, so daß jetzt dort hinter der Felsenecke mehr als fünftausend tapfere Krieger ständen.
Nobody wies die freche Forderung zurück.
Sie trennten sich, und es war gut, daß Nobody schnell in sein schützendes Versteck sprang, denn kaum war die Biberratte aus der Schußlinie, als von allen Seiten Pfeile schwirrten und Kugeln pfiffen, die jedoch unschädlich an die Felsenwand prallten.
Selbstverständlich hätte Nobody sich durch die Indianer nicht einen Augenblick abhalten lassen, seinen Weg fortzusetzen, wenn er allein gewesen wäre. So aber fühlte er sich verantwortlich für das Leben seiner Begleiter, und vor allem wollte er Jean Matelas nicht entschlüpfen lassen.
Früher oder später mußte dieser sich offen als Bundesgenosse der Rothäute bekennen und gemeinsame Sache mit ihnen gegen die Goldsucher machen.
Niemand außer Nobody wußte natürlich darum, daß der Verräter mitten im Lager weilte, und niemand außer Nobody ward daher gewahr, wie Joe Bertram sich in der folgenden Nacht heimlich fortschlich — zu den Indianern. Mit ihrer Hilfe wollte er den vermeintlichen Cutting Knife und dessen Begleiter vernichten. Hatte er dies erreicht, dann war es für den Schuft eine Kleinigkeit, die Moquis mitsamt dem fliegenden Pfeil durch vergifteten Branntwein in die ewigen Jagdgründe zu befördern.
Die Nacht verging ohne Zwischenfall. Die Goldsucher hatten genügend Proviant. An Wasser fehlte es ihnen auch nicht, denn die Quelle, die man erbohrt hatte, floß durch das Tal, und vor den Geschossen der Indianer schützten die Felswände
Da erscholl plötzlich von einer Seite des Engpasses her ein gellendes Geheul.
Alle griffen zu den Waffen, doch kein Angriff erfolgte.
Nobody ahnte, was das Triumphgeschrei zu bedeuten hatte.
Jean Matelas, wie wir den Dieb der Pläne nun wieder nennen wollen, hatte seine Arbeit begonnen. Er hatte den Indianern den ersten Ratschlag erteilt, wie sie die Weißen vernichten könnten, ohne sich selbst einer Gefahr auszusetzen.
Der Bach, der der erbohrten Quelle entströmte, versiegte auf einmal — zum größten Schrecken der Goldsucher.
Nobody lächelte nur, der kräftige Sprudel mußte sich, wenn man ihn verstopfen wollte, rasch wieder Bahn brechen.
Bald strömte denn auch das Wasser wieder durch die Schlucht.
Einer der Männer schöpfte sich ein Gefäß voll und wollte trinken.
»Gebt erst einem Tiere davon!« warnte Nobody. »Das Wasser könnte vergiftet sein!«
Die Probe ward gemacht. Das Wasser war nicht vergiftet.
Die Nacht brach an, ohne daß sich ein Indianer hätte sehen oder hören lassen.
Als der Mondschein nicht mehr in den Engpaß fiel, ordnete Nobody den Abmarsch an. Ohne einmal gestört zu werden, bewegte sich der Zug bis zum Morgen zwischen den schmalen Felswänden hin, und als die Sonne aufging, befand sich die Expedition wieder in dem Tale mit dem Wäldchen.
Offenbar hatten die Indianer den Versuch aufgegeben, die ›tötenden Rohre‹, die Waffen der Bleichgesichter zu erbeuten.
Jetzt machte Nobody kein Hehl mehr daraus, daß er die Goldfelder bereits gefunden hatte. Er bediente sich der Wünschelrute, nahm ein Goldstück in die Hand, und sofort schlug die Spitze heftig gegen den Boden.
»Ich habe die Goldfelder, welche Indian Bill nicht wiederzufinden vermochte, von neuem entdeckt,« sagte Nobody feierlich, »und ergreife im Namen der Vereinigten Staaten Besitz von dem Goldfelde, auf dem ich stehe.«
Wenn man auch noch kein Goldkörnchen blitzen sah, so war das doch so überzeugend gesprochen, daß die Leute von einem wahren Freudentaumel erfaßt wurden. Sie tanzten, umarmten sich, schrien hip hip Hurra und begannen planlos in der Erde herumzuhacken.
Dennoch hatte es Erfolg.
Als man etwa einen Meter tief in die Erde gedrungen war, stieß die Hacke auf etwas Hartes, noch einige Hiebe, und ein faustgroßes Stück Gold flog vor die Füße des Gräbers, einige Spatenstiche, und die glänzende Fläche einer Ader von gediegenem Gold lag vor den Augen der Leute.
Die Gemütserschütterung bei diesem Anblick war eine so heftige, daß zuerst minutenlang eine Totenstille eintrat. Dann war das Benehmen der Leute ein derartiges, wie es nur der übermäßige Genuß von Alkohol hervorruft. Wie Trunkene taumelten sie umher, vermochten die Hacken kaum noch in den zitternden Händen zu halten und führten nur schwache, unsichere Hiebe.
»Dort sind die Rothäute wieder — Vorsicht!« rief Nobody.
Auf den hohen Felswänden, an verschiedenen Stellen, sich gegen den blauen Himmel scharf markierend, standen halbnackte Gestalten und spähten ins Tal hinab.
Nobodys Ruf war gar nicht gehört worden. Und wenn die Indianer jetzt gekommen wären und die Leute beschossen hätten, diese wären schwerlich zur Besinnung gekommen. Hier befand sich ja Gold, Gold, Gold! Wenn es auch nicht direkt ihnen gehörte, so kam doch immerhin ein Anteil auf sie, der sie in einem Tage zu steinreichen Männern machen konnte.
Ein Beschießen von diesen himmelhohen Felswänden, die das Tal von allen Seiten wie einen Kessel einschlossen, war jedoch überhaupt unmöglich. Ebensowenig trug Nobodys Gewehr trotz seiner enormen Durchschlagskraft hinauf.
Die Felsen waren steil wie künstliche Mauern, ein Erklimmen war ganz unmöglich, kein Pfad führte hinauf, kein zweiter Engpaß hindurch.
Wie aber, wenn die Indianer den Zugang besetzt hielten, der so schmal war, daß nur eben ein Mann hindurch konnte, so daß man sogar die Maultiere hatte entlasten müssen, um sie hindurchzubringen?
Ein einziger Mann hätte diesen Paß gegen ein ganzes Regiment verteidigen können, bald wäre die Spalte durch Leichen verstopft gewesen.
Nun, das würde sich finden, überhaupt war es jetzt nicht möglich, mit den Leuten darüber zu sprechen.
Sie wollten Gold, Gold sehen, ihre Taschen damit füllen, ganz nutzlos, hackten immer weiter, und Nobody kam so wenigstens zur Überzeugung, daß durch das ganze Tal eine einzige Goldader lief. Wo die Hacke auch einschlug, etwa einen Meter unter der Erde, traf sie auf das gediegenste Gold. Wie dick die Schicht war, konnte man noch nicht bestimmen. Aber Indian Bill hatte ja von einer schräg hinabführenden Höhle gesprochen, deren Wände und Fußboden auch golden gewesen waren.
Nobody schickte die Leute einzeln aus, Grabversuche an den verschiedensten Stellen zu machen, behielt aber einen Haupttrupp immer zusammen. Er selbst kontrollierte die Grabversuche. Überall und überall stieß man auf Gold, und wenn dies im Tale selbst der Fall war, so mußten die dasselbe umschließenden Felsen mindestens goldhaltig sein.
Der alte Trapper hatte ganz recht gehabt; bald würde der schöne Wald dort unter den Äxten der Beutelustigen gefallen sein, und wie lange würde es noch dauern, so wurden auch diese gewaltigen Felsmassen auseinandergesprengt — das romantische Tal verwandelte sich in einen Trümmerhaufen.
Wohlan, sei es, dachte Nobody, in den Händen kunstsinniger Menschen wird dieses Gold aus Wüsteneien neue Paradiese hervorzaubern und sie mit Denkmälern unsrer Zeit schmücken.
Nobody selbst suchte nach der geheimnisvollen Höhle, und — er fand sie.
An einer Stelle der Schlucht lagen in wildem Durcheinander mächtige Steinblöcke. Es war, als habe vor langer Zeit ein Felssturz hier stattgefunden.
»Na,« sagte Nobody zu sich selber, »ich habe nun schon eine Menge Höhlen entdeckt, meist ohne viel Nutzen davon zu haben, da müßte es doch mit dem Teufel zugehn, wollte ich diese hier nicht finden!«
Prüfend ließ er seine Blicke über das steinerne Meer schweifen, stutzte eine Sekunde und trat dann auf einen mächtigen Block zu.
Nur das scharfe Auge des Detektivs hatte zu sehen vermocht, daß dieses Felsstück nicht mehr an seiner ursprünglichen Stelle lag. Es war einmal von seinem Platze gerückt worden.
Sofort stemmte Nobody die Schulter gegen den Koloß. Eine furchtbare Kraftanstrengung — die gewaltige Masse rollte zur Seite — der Eingang zur Höhle oder besser zum unterirdischen Gange war entdeckt!
Nobody rief die Leute herbei.
»Zündet trockne Äste an,« gebot er.
Der schräg hinabführende Gang, dessen Decke hier mächtige Steinplatten bildeten, in denen es auch schon von Gold flimmerte, erweiterte sich schnell, und bald standen die Männer in der geräumigen Höhle und mußten die Augen schließen vor dem Glanze, den die Fackeln von den Wänden zurückwarfen. Indian Bill hatte nicht übertrieben, im Gegenteil, er hatte bescheiden geschildert. Die Leute konnten die Goldklumpen auflesen, mit dem Meißel Tafeln und Quader nach Belieben losbrechen — hier eine Dynamitpatrone zur Explosion gebracht, und die Schätze mußten offen zutage liegen.
Auch Nobody hob solch einen Goldklumpen auf, betrachtete ihn und musterte die Wände. Dieser Goldklumpen war schon von Menschenhänden mittels eines Instrumentes losgesprengt worden, aber wann?
Zwei Möglichkeiten waren vorhanden.
Entweder betrieben einst, vor vielen Jahrhunderten, ja, vielleicht vor Jahrtausenden, die damals hochkultivierten Ureinwohner dieser Gegend den Goldbau im kleinen, den Zugang zum Bergwerk immer wieder sorgfältig versteckend, um nicht die Habgier ihrer Nachbarn zu wecken. Oder es existierte bis vor kurzer Zeit oder noch jetzt eine Person, die ab und zu hierherkam, sich damit begnügte, sich die Taschen mit Gold zu füllen und den Zugang bis zum nächsten Besuch wieder zu verschließen.
Nobody war geneigt, ersteres anzunehmen, denn frische Bruchstellen zeigten sich nicht, und Gold verliert seinen Glanz so leicht nicht. Wie dem auch sei — das Goldfeld und selbst die Höhle waren durch Nobodys Bemühungen gefunden worden.
Welche Gedanken der Anblick dieser unermeßlichen Schätze sonst in Nobody erzeugte? Wer konnte in der Seele dieses rätselhaften Mannes lesen?
»That's a business!« hatte er zu Lord Roger gesagt, nachdem er die Depesche gelesen hatte, die ihn von St. Petersburg nach Kalifornien führte, und tatsächlich hatte wohl noch nie ein Mensch ein glänzenderes Geschäft gemacht als dieses hier.
Das brachte Millionen ein!
Reichtum aber ist Macht, und mächtig mußte Nobody sein.
Schon begannen die Leute ihre Arbeit, sie schlugen Stücke ab und häuften sie auf, mit fieberhafter Gier. Nobody ließ sie einstweilen arbeiten und überlegte.
Das beste war, die Maultiere mit Gold zu beladen und nach der nächsten Stadt aufzubrechen, von wo die Regierung in Kenntnis gesetzt wurde.
Dieser Expedition eilte wieder ein Bote voraus, der die Nachricht verkündete und den Leuten Regierungsbeamte entgegenschickte. Mochten sich diese inzwischen auf eigne Rechnung bereichern, was schadete das? Es war genug Gold vorhanden.
Nobody selbst wollte dieser Bote sein und nur den Neger Sam mitnehmen. Es zog ihn mit Gewalt zurück zu der Aufgabe, die er noch in Rußland lösen wollte. Daß er noch heute Jean Matelas gefangennehmen mußte, stand fest. War dieser Schuft unschädlich gemacht, dann war es für die zurückbleibenden Goldgräber nicht schwer, sich der Angriffe durch die Indianer zu erwehren.
Schon während des Marsches hatte Nobody seine Begleiter übrigens genügend kennen gelernt, um zu wissen, daß kein einziger von ihnen, wenn er das Tal einmal verlassen hatte, sich wieder zurückfand. Als die Goldgräber sich einmal ausruhten, setzte er ihnen seinen Plan auseinander, und sie waren damit sofort einverstanden. Wenn sie nur nicht wieder von hier fort mußten!
Nobody beschloß sofort aufzubrechen, verproviantierte sich, nahm einige Goldproben mit und schlug mit Sam den Weg nach dem Ausgang des Tales ein.
Sie waren nicht weit gekommen, da riß Nobody sein Tier herum, sprang ab und warf sich hinter einen Baumstamm.
»Achtung, Sam, Indianer!« hatte er dabei gerufen.
Durch seine Schnelligkeit war er dem Pfeile entgangen, der auf ihn losgeschwirrt war. Einen zweiten fing er mit der Hand. Sein nächster Griff war nach dem Gewehr, und im Feuer brach eine Rothaut zusammen, die sich unvorsichtig da gezeigt hatte, wo der Engpaß ins Tal mündete.
Auch Sam war hinter einen Baumstamm gesprungen, das Gewehr an der Wange.
Auf dem Antlitz Nobodys erschien jenes Lächeln, das stets ein Zeichen seiner Zufriedenheit war. Es kam alles, wie er es berechnet hatte. Jean Matelas würde sich binnen kurzer Zeit in der Gewalt seines Verfolgers befinden.
»Geh zurück, Sam, und hole die Leute!« befahl Nobody. »Ich decke dich gegen etwaige Angriffe!«
Ungehindert entfernte sich der Neger und kehrte bald zurück — allein.
»Die Kerls hören auf nichts als auf den Klang des Goldes,« sagte er, sich hinter einem Ohre kratzend.
Nobody nickte. Er hatte es nicht anders erwartet.
Noch einmal prüfte er die Büchse. Sie war in Ordnung.
»Mir nach!« hörte Sam ihn rufen, dann sah er den verwegenen Mann mitten im Engpaß.
Das Winchestergewehr krachte.
Wohl ein Dutzend Indianer tauchten vor Nobody auf, aber dem fürchterlichen Schnellfeuer hielten sie nicht stand. Sie feuerten ihre Donnerbüchsen aufs Geratewohl ab, dann stoben sie in wilder Flucht davon.
Zu den Füßen Nobodys lag Jean Matelas. Eine der ersten Kugeln hatte ihn getroffen.
Die Goldgräber kamen herbeigestürzt und sahen mit Staunen den Boden des Engpasses mit toten und verwundeten Indianern bedeckt.
Auch der Neger Sam, der seinen Herrn nicht im Stiche gelassen hatte, war verwundet — das Blut floß reichlich aus einer klaffenden Kopfwunde. Er war ohnmächtig.
Nobody selbst trug ihn zum Bache, wusch die Wunde und verband sie. Dann trat er zu Jean Matelas, der ihm finster entgegenblickte, in der Hand einen Revolver.
»Revolver weg — eins, zwei —« kommandierte Nobody.
Die Waffe wurde zur Seite geschleudert.
»Ich habe verspielt, Cutting Knife,« sagte er mit einem Anflug von Galgenhumor. »Sie hatten mehr Trümpfe in der Karte als ich!«
»Sie mußten sich das vorher sagen,« entgegnete Nobody ruhig, »es wäre besser für Sie gewesen. Sie konnten sich dann auch das Bad im Mississippi ersparen!«
»Erkannten Sie mich denn sofort, als ich Ihnen als Joe Bertram meine Dienste anbot?« fragte Matelas zähneknirschend, während die Goldgräber erstaunt dieser sonderbaren Unterredung zuhörten.
Nobody lächelte.
»Hätte ich Sie sonst angenommen?«
»Zum Teufel, Sie hatten aber doch kein Interesse an meiner Person! Was kümmert Sie das, was ich mit Indian Bill zu tun hatte, wenngleich Sie sein Freund sind?«
»Was es mich kümmert?« entgegnete der Detektiv ruhig. »Sehr viel! ›Worlds Magazine‹ wollte sich das Geschäft nicht entgehn lassen, den Dieb des Planes der geheimnisvollen Goldfelder aufzufinden, und so beauftragte Mr. World mich damit!«
»Sie?« kam es tonlos über die Lippen des Verwundeten. »Wer sind Sie? Sind Sie nicht Cutting Knife?«
»Doch! Sie sehen es ja, mein Freund. Aber ich bin es nur nebenbei. Im gewöhnlichen Leben nenne ich mich — Nobody!!«
»Nobody!«
Jean Matelas rief es, und die Goldgräber wiederholten den Namen.
Jetzt wußten sie, warum sie die Goldfelder gefunden hatten, nach denen selbst ein Indian Bill jahrelang vergeblich gesucht hatte. Jetzt war es ihnen klar, wer der Verwundete war.
Ohne sich um das Erstaunen der Männer zu kümmern, kniete Nobody neben Jean Matelas nieder, zog ein Besteck hervor, entblößte die Wunde, die der Dieb an der Hüfte hatte, zog die Kugel heraus und legte einen Verband an.
Der Hüftknochen war vollkommen zerschmettert. Jean Matelas mußte für den Rest seines Lebens ein Krüppel werden. Er sagte nichts mehr, hatte auch während der schmerzvollen Operation nicht gestöhnt. Die Zähne fest aufeinandergebissen, lag er da.
»Wo haben Sie den Plan, den Sie Indian Bill stahlen?« fragte Noboby.
»Hier,« erwiderte der Verwundete und gab die gestohlene Zeichnung heraus, die ja nun keinen Wert mehr für ihn hatte.
Noboby betrachtete sie und steckte sie dann ein. Weiter hatte er nichts zu fragen. Er wußte alles andre.
Der Gefangene ward auf ein Pferd gebunden. Nobody und Sam brachten ihn nach San Francisco.
Eine lange Chiffredepesche ging nach New-York an ›Worlds Magazine‹ ab.
Am selben Tage noch erfuhr ganz Amerika die neueste Tat Nobodys. Ungeheures Aufsehen entstand.
Niemand hatte mehr an die Goldfelder gedacht, nach denen Indian Bill vor Jahren vergebens gesucht hatte — jetzt waren sie wiedergefunden.
Nobody hatte wieder einmal die Augen der ganzen zivilisierten Menschheit auf sich gelenkt. Überall war man voll von Bewunderung.
Nur eins billigte man nicht. Daß er Jean Matelas nicht an die Regierung der Vereinigten Staaten ausliefern, sondern mit nach Deutschland nehmen wollte, um ihn dort Indian Bill zu übergeben, der ebenfalls durch ein Telegramm benachrichtigt worden war.
Noch einmal, ehe wir unsern Nobody nach St. Petersburg begleiten und nach seinen eignen Aufzeichnungen schildern, wie er von der bereits erwähnten Gräfin Anita Urlewsky, der Geliebten des Fürsten Petrof, den russischen Kriegsplan gegen Japan erhält, müssen wir unsre Erzählung unterbrechen und eine Episode einschalten, die den Lesern eine lange gewünschte Erklärung bringen soll. Sie beantwortet die Frage:
_»Wie kam es, daß Nobody sich mit dem Kapitän Flederwisch verband?«^
Wie sich diese Ereignisse aneinanderreihten, und wie Nobody schließlich den verzweifelten Kapitän Flederwisch rettete, das soll in nachstehendem erzählt werden; dann erst wird auch manches erklärlich werden, was sich später in Petersburg ereignete.
Bekannt ist zwar, wie die beiden in New-York zusammentrafen, und wie sie nach dem lustigen Kampfe in der Mühle sich für immer zu gemeinsamem Tun verbündeten; aber damals kannte Nobody den Kapitän Flederwisch längst schon — ganz genau — ohne daß dieser es ahnte.
Der berühmte Detektiv hatte unerkannt an Bord des ›Frithjof‹, der Flederwisch gehörte, eine abenteuerliche Reise mitgemacht, deren Hauptzweck allerdings eine verwegene, ins große getriebene Schmuggelei war, die aber insgeheim mit deswegen unternommen wurde, um nach den unermeßlichen Goldschätzen zu forschen, die mit einem kleinen Dampfer in der Gegend der Gallopagosinseln versunken sein sollten.
Kapitän Flederwisch war seinerzeit der berühmteste Schmugglerkapitän, der Schrecken aller Hafen-Zollbehörden, der kühne Held, von dem man sich überall die verwegensten Stückchen erzählte; man wußte, daß er die Schmuggelei nicht aus schnöder Habsucht trieb, sondern einzig und allein der unzähligen Gefahren wegen, die damit verbunden waren und die wohl kein andrer Mann immer sieghaft bestanden hätte.
Die Fahrt Kapitän Flederwischs nach den Gallopagos aber war sein letztes und kühnstes Schmugglerunternehmen. Unbemerkt lenkte Nobody, der daran teilnahm, das Geschick seines spätern Freundes. Er half diesem, die versunkenen Goldschätze zu finden, zugleich aber duldete er, daß ein schweres Mißgeschick den Schmugglerkapitän betraf, daß derselbe, gerade als er seines Erfolges ganz sicher zu sein glaubte, unter dem furchtbaren Verdachte des Mordes verhaftet wurde.
»Nordsee — Mordsee,« reimt der Seemann, und in der Tat ist wohl kein Meer so verrufen bei den Schiffern aller Nationen, wie das, dessen Wogen die Küsten Jütlands, des nordwestlichen Deutschlands, Hollands und Englands bespülen, und nirgends sind die Kreuze auf den ›Friedhöfen der Namenlosen‹ so zahlreich, wie auf den friesischen Inseln und an der ›Jammerbucht‹.
Mit fahlgrauem Lichte brach wieder einmal die Nacht an. Nur das Schlagen der Schiffsglocke bewies, daß es wirklich so war, denn der dichte Nebel, der seit viermal vierundzwanzig Stunden über der See lag, bewirkte, daß die Unterschiede zwischen Nacht und Tag kaum bemerkbar waren.
Schwerfällig rollen die Wogen gegen den Bug des Seglers, der seinen Weg ins Ungewisse hinein verfolgt. Stark tropft es aus der Takelage. Gespenstisch ragen die Masten in die dicke Luft, und schon auf kurze Entfernungen sind die Männer und Gegenstände an Bord unsichtbar. Von Zeit zu Zeit dringt aus dem Nebelmeer ein dumpf brüllender Laut; die Sirene eines Dampfers heult. Stöhnend antwortet das Nebelhorn der schlankgebauten Bark dem Warnungsruf.
Erregt schreitet der Kapitän an Deck auf und nieder. Wasserdichtes Ölzeug umhüllt seine riesige Gestalt. Der Südwester ist tief in das von Wind und Wetter gerötete Antlitz gezogen, das ein blonder Bart umrahmt.
Ein kräftiger Seemannsfluch entringt sich den Lippen des Mannes.
»Steuermann!« dröhnt der Ruf über Deck.
»Kapitän!« klingt es von irgendwoher zurück. Dann taucht ganz plötzlich der Gerufene auf, ebenfalls im Ölzeug. Die beiden verschwinden in der Kajüte. Karten sind auf dem Tische ausgebreitet.
»Was meint Ihr, Steuermann, wo wir sind?«
Der Kapitän hat seinen triefenden Südwester unwirsch in eine Ecke geschleudert. Jetzt gleicht der Mann mit dem lichtblonden Haupt- und Barthaar einem jener altnordischen Wikingsrecken, und dazu paßt die breitbrüstige Gestalt.
Der Steuermann zuckt die Achseln. Dann deutet er mit dem Zeigefinger auf einen Punkt der Karte — er hätte auch einen beliebigen andern wählen dürfen, es hätte ebensogut der richtige sein können.
Da poltern Schritte die Treppe herunter. Die Kajütentür wird aufgerissen.
»Kapitän, es klart auf!« ruft der Schiffsjunge den beiden zu.
An ihm vorüber stürmen sie nach oben. Wahrhaftig! Die Nebelmassen sind in Bewegung geraten. Ein tiefer Seufzer befreit die Brust von dem darauf lastenden Druck.
»Es klart auf!«
Wer von der Besatzung abkommen kann, der drängt sich an die Reeling.
Die Blicke aller spähen voraus. Jetzt muß sich's zeigen, wo man sich befindet. Der Kapitän hat den Sextanten bereits in der Hand.
Ein Schrei ertönt — nicht freudig — nicht erschreckt — aber wie von einer schlimmen Ahnung erpreßt.
Mild leuchtet ein Feuer durch die weichenden Nebelmassen. Ein Wegweiser für die verirrten Seeleute — gleichzeitig jedoch auch ein Warner.
Es muß sich sofort erweisen, was es für diese hier bedeutet.
»Ein Feuer voraus — zwei Strich über Backbord!« schreit der Ausguck.
Kapitän und Steuermann schauen einander einen Moment an. Nicht die Furcht hat dieselben erbleichen lassen — die kennt der deutsche Seemann nicht — aber die Verantwortung.
Dort drüben die beiden Feuer reden eine eindringlich warnende Sprache.
Und kaum ist der Alarmruf verklungen, da tönt es abermals über Deck:
»Brandung voraus!«
»Ruder hart Steuerbord!« schreit der Kapitän mit voller Lungenkraft zurück.
Im Nu reißt der Mann am Steuer das Rad herum. Totenstill ist's auf dem Schiffe, nur ein fernes Donnern ist vernehmbar — dort wartet die Brandung auf ihr Opfer.
Niemand regt sich mehr. Der nächste Augenblick muß entscheiden.
Da — ein leises Knirschen — dann ein Ruck — noch einer — und jetzt der letzte.
Krachend kommen die Rahen von oben hernieder und schmettern aufs Deck, auf das die Männer geschleudert worden sind. Ein Stück der Reeling ist zum Teufel.
Fluchend springen die Leute auf.
»Wir sitzen fest!«
»'S ist keine Gefahr fürs Schiff!« sagt der Kapitän gleichmütig — wenigstens scheint es so — dann winkt er dem Steuermanne. Sie steigen abermals in die Kajüte, und nun brauchen sie nur einen Blick auf die Karte zu werfen, da wissen sie, wo sie sind.
»Schade um die Bark!« brummt der Steuermann, denn ihm macht der Kapitän nichts vor. Sie kommen im Leben nicht wieder ab von der Bank. Die Küste ist zwar nahe, eine Insel, aber zwischen ihr und den Festgesegelten wütet die Brandung, und die Wolkenwand, die im Nordwesten aufsteigt, verkündet Sturm.
»Den Raketenapparat?« fragt Jürgens halblaut.
»Geht zum Teufel, Mann! Kapitän Flederwisch hilft sich selber!« knurrt der Kapitän. Er bleibt allein, doch er setzt sich nicht dumpf grübelnd an den Tisch, sondern schreitet unruhig durch den engen Raum, und draußen donnern die Wasser gegen die Planken der Bark. So verstreicht die Zeit.
Am Strande drüben drängen sich die wetterharten Gestalten der Inselbewohner, Männer und Frauen, und seltsam hebt sich unter den letztern ein schlankes junges Mädchen im Regenmantel ab, dessen Kapuze von dem blonden, leichtgewellten Haar geglitten ist.
Das ist keine eingeborne Friesin, die sind derber gebaut als sie. Das ist feinere Art, edlere Rasse.
›Imma‹ heißt sie — genau wie die Bark drüben.
Klas Klüsen, der eben durch das Glas gelugt hat, schüttelt das Haupt, ehe er jedoch seine Entdeckung kundgibt, späht er noch einmal hinüber. Sicher muß der Mann gehn.
»Das Dunnerwedder!« Der Priem rutscht aus der rechten in die linke Backentasche. »Fräulein — das ist wahr — es ist die ›Imma‹, Kapitän Flederwisch!«
»Die ›Imma‹«
Ein breites Lächeln geht über die Gesichter der Friesen. Gutmütiger Spott liegt darin.
»Kapitän Flederwisch läßt sich nicht helfen!« sagt einer.
Sie bleiben aber trotzdem alle am Strande. Gehört hat jeder von dem verwegnen Schmugglerkapitän, aber gesehen hat ihn noch keiner. Da lohnt sich's schon, zu warten.
Nur der Lotsenkommandeur, Piet Jensen, schüttelt bedächtig den Kopf.
»Wir kriegen einen Sturm aus Nordnordwest!« sagt er, zu Imma gewendet.
Imma — ein schöner Name — die Fleißige bedeutet er — schaut den Sprecher fragend an.
»Dann kommt er ab?«
»Neeee! Er geht verloren!«
Die Schwester des Kapitäns Flederwisch versteht genug von der Seemannssprache. Sie weiß, daß Piet Jensen das Todesurteil über die Bark da drüben gesprochen hat, aber sie kennt auch ihren Bruder. Er wird nicht zu lange zögern, die Boote auszusetzen.
Was er nur in dieser Gegend zu suchen hatte?
Von allen den Leuten am Strande der Insel ist Imma die einzige, die noch nicht erfahren hat, daß ihr Bruder der berühmte Schmugglerkapitän ist.
Hui — ein Windstoß jagt heran.
Fest muß man stehn, will man nicht von ihm zu Boden geschleudert werden.
Eine Wolke von Wasserstaub oder Regen ergießt sich über die Wartenden, dann wird es wieder ganz ruhig. Jetzt aber schauen bereits viele Augen erst nach der festgelaufenen Bark, dann nach der schwarzen Wolkenwand mit fahlgelben Rändern, die fast den ganzen Nordwesthimmel einnimmt.
»Dimmi, das ist nun Zeit!« murrt Piet Jensen.
»Holt den Signalapparat!« befiehlt der Lotsenkommandeur, gerade als die zweite Bö heranbraust. »Das Rettungsboot klar!«
Die Männer, die heute am Dienste sind, eilen fort, so schnell wie ihre Kleider und ihr Phlegma es erlauben; in verhältnismäßig kurzer Zeit ist der Apparat aufgestellt.
Piet Jensen bedient ihn selbst und läßt die erste Rakete gegen den Himmel steigen, an dem die Wolken mit rasender Schnelligkeit dem Lande zutreiben.
»Braucht ihr Hilfe?«
An Bord der ›Imma‹ versteht man die Frage wohl, aber man beachtet sie gar nicht.
»Kapitän Flederwisch läßt sich nicht helfen!«
Er ist fertig mit der Berechnung, die er anstellte, während er in der Kajüte auf und nieder wanderte. Es klappt alles. Mag die Bark mitsamt der Ladung zum Teufel gehn! Wozu ist sie denn hoch versichert?
Flederwisch steigt an Deck.
Ein einziger Blick trifft die drohende Wolkenwand, der zweite schweift hinüber nach dem Strande der Insel — fast verächtlich. Des Kapitäns scharfes Auge hat ohne Zuhilfenahme eines Fernrohres erkannt, daß die Leute Vorbereitungen zu seiner Rettung treffen.
»Die Boote klar!«
Flederwisch kehrt noch einmal in die Kajüte zurück — er betritt sie zum letzten Male — eine kleine, eiserne Kassette mit den Schiffspapieren nimmt er an sich — vielleicht ist auch Geld drin. So, fertig! Leb wohl, wackere Imma! Du hättest ein rühmlicheres Ende verdient.
Ein donnerndes Krachen — ein scharfes Splittern und dann ein Heulen und Pfeifen und Sausen, als wenn die Hölle ihre sämtlichen Teufel losgelassen hätte!
Zagend tritt der Steuermann zu dem an Bord kommenden Kapitän. Es ist mit ihm nicht gut Kirschenessen, wenn er zornig ist. Aber Flederwischs männlich schönes Antlitz ist ehern und unbewegt. Es bedarf keiner Meldung. Er sieht sofort, daß die Boote verloren sind, zerschmettert beim Versuche, sie auszuschwingen.
»Der Junge ist über Bord gewaschen!« brüllt der Steuermann aus nächster Nähe dem Kapitän ins Ohr, anders kann er sich bei dem Tosen des Nordweststurms nicht verständlich machen.
Flederwisch erwidert nichts. Seemannslos! Da hilft kein Bedauern! Für die alte Mutter des Ertrunkenen wird schon gesorgt werden.
Brecher auf Brecher stürzen über Deck, die Reeling vollends zerschmetternd. Die ›Imma‹ erzittert wie in Todesangst.
Der Strand ist nicht mehr zu sehen. Zwischen ihm und der Bark wütet die kochende, brausende See. Der ›blanke Hans‹ lechzt nach neuen Opfern. Er will sich die todgeweihte Besatzung nicht entreißen lassen.
Ja, wenn der wackere Piet Jensen nicht wäre!
Die Raketen, die eine Rettungsleine zu den Schiffbrüchigen tragen sollten, sind auf halbem Wege vom Sturme ins Meer geschleudert worden. Da hilft es nichts, da muß das Rettungsboot hinaus.
Die Fischerfrauen haben die blonde Imma mit ins Dorf ziehen wollen. Sie aber hat sich verzweifelt gewehrt und ist geblieben.
Der Sturm will ihr die Kleider vom Leibe reißen, die Haare haben sich gelöst und flattern wild um das weiße Antlitz, aber sie stemmt sich fest ein.
Ihr Bruder ist in Gefahr, da darf Imma nicht eher vom Platze weichen, als bis sie den Geretteten in den Armen hält.
Sechzehn Mann haben sich die Korkgürtel um die Leiber geschnallt. Sie verteilen sich auf beide Seiten des Rettungsbootes und schieben es auf dem niedrigen Rädergestell den Strand hinab — hinein in die wildbewegten Wasser.
Jetzt rollt eine mächtige Woge heran, um die kühnen Männer mitsamt ihrer Nußschale zurückzuschleudern. Doch im Nu sind sie ins Boot gesprungen. Die mächtigen Riemen ruhen in den stählernen Fäusten.
»Ho — o — o — o!«
Der Kampf der Friesen mit ihrem Erbfeinde, mit dem ›blanken Hans‹ beginnt — und — er siegt —
Brüllend wälzt er Woge auf Woge heran.
Jetzt hebt eine das Boot auf ihre Schultern.
Es kentert, aber sofort haben die Männer die Leinen erfaßt, die rings um den Rand des Fahrzeugs laufen. Es sinkt nicht, denn die großen, mit Luft gefüllten Kammern am Bug und am Heck halten es über Wasser, und auch die Korkwesten tun ihre Schuldigkeit.
Eine neue Woge schleudert alles zusammen auf den sandigen Strand zurück.
Einen Moment verschnaufen die Friesen, dann schieben sie das Boot von neuem ins Meer — wieder erfolglos.
Achtmal versuchen sie das Wagnis, und achtmal ist ihr Heldenmut vergebens. Zähneknirschend, keuchend stehn sie am Strande, und der greise Piet Jensen schüttelt in grimmiger Drohung die Fäuste gegen die brüllende See.
Hier sind Menschenkräfte ohnmächtig, hier kann Gott allein helfen.
Imma steht wie versteinert. Sie bestürmt die Wackern nicht mit nutzlosen Bitten, aber sie kann es auch nicht verhindern, daß ihr die Tränen in großen Tropfen über die erblaßten Wangen rinnen — salzige Zähren, die sich mit der sprühenden Salzflut des Meeres vermischen. —
Woher er gekommen, wie er so plötzlich mitten unter ihnen auftauchen konnte, das hat später niemand zu sagen vermocht; sie wußten nur, daß er tags zuvor auf die Insel gekommen war.
Ein noch jugendlicher Mann war's, bartlos das edelschöne, energische Gesicht. Ein vom Regen vollkommen durchnäßter, leichter Flanellanzug umhüllte die schlanke Gestalt, und mächtig blitzten die Augen die friesischen Fischer an.
Da wußten alle, was er wollte, und ohne daß er ein Wort zu sagen brauchte, stemmten sich abermals sechzehn kraftvolle Schultern gegen das Boot.
Zum neunten Male verschwand es in der finstern Nacht, und diesmal brachte keine Woge es zum Kentern. Es war, als wenn selbst das Meer sich dem Willen des Unbekannten beugte.
Lange, ewig lange Minuten verstrichen und wurden zu Stunden.
Angstvoll spähten hundert Augenpaare in das Dunkel. Da — auf dem Rücken einer mächtigen Woge kam es heran — am Ruder, aufrecht stehend, der Unbekannte, der tapfere Held — und zwischen den Duchten, den Sitzbänken der Ruderer, kauerten die Geretteten.
Aufjauchzend eilte Imma den mutigen Rettern entgegen. Von neuem erbleichend musterte sie die Leute, die dem Boote entstiegen.
»Wo ist mein Bruder? Wo ist euer Kapitän?« schweigend deutet der Steuermann hinaus auf.
Imma versteht. Als letzter geht der Kapitän von Bord seines Schiffes oder er versinkt mit ihm.
Das zitternde Weib will eine Bitte wagen. Seine Augen begegnen denen des Fremdlings — nur eine Sekunde tauchen die Blicke ineinander, lange genug, um jedem das Bild des andern unverwischlich in die Seele zu bannen.
Imma muß unwillkürlich an St. Michael, den Drachentöter denken, dann sieht sie, wie die Männer zum zehnten Male die Todesfahrt wagen. Wieder steht am Ruder der blonde Held mit den sieghaften Augen, die seine unbeugsame Willenskraft dartun, und wieder spähen alle ins grauenhafte Dunkel.
Wieder verstreichen Stunden — und zum letzten Male kehren die Wackern zurück. Das schöne Mädchen ist in die Knie gesunken.
Triefend von Nässe schreitet der Fremdling auf sie zu. Auf seinen starken Armen trägt er einen Mann mit blutender Stirn — Kapitän Flederwisch — und läßt ihn vor Immas Füßen auf den Sand gleiten.
»Er lebt! Eine fallende Spiere traf ihn!«
Doch Imma sieht nicht auf den bewußtlosen Bruder — sie hat nur Augen für seinen Retter, und plötzlich springt sie auf.
»Ihre Hand — Sie sind verwundet!«
Das Spitzentaschentuch, das vom Regen und Spritzwasser längst durchweicht ist, zieht sie hervor, und ehe er es hindern kann, hat sie ihm die Wunde verbunden; aber kein Wort des Dankes kommt über ihre bebenden Lippen.
Ohne daß Imma weiß, was sie tut, kehrt sie zu ihrem Bruder zurück. Neben diesem kniet bereits der Steuermann, und da schlägt Kapitän Flederwisch die Augen auf.
Er erblickt Imma — er staunt — und dann fragt er:
»Wo ist er?«
Alle wissen, wen er meint, alle spähen nach dem Helden, doch der ist verschwunden, wie er gekommen.
Flederwisch ist aufgesprungen.
»Kanntest du ihn, Schwester?«
Imma schüttelt wie träumend das Haupt.
»Es war Sankt Michael!« murmelt sie.
Piet Jensen tritt zu ihnen.
»Kapitän,« sagt er geheimnisvoll, »wollt Ihr wissen, wer es war?«
Dann beugt er sich weit vor, bis sein Mund das Ohr Flederwischs erreicht.
»Es war Prinz Alfred!«
Dazu macht der Lotsenkommandeur eine Armbewegung. »Von dort drüben!« soll sie bedeuten.
»Bah!« lacht Kapitän Flederwisch. »Prinz Alfred — von dorther? Mann, ebensogut könnt Ihr ihn den Prinzen Niemand nennen. He, was meinst du, Imma, wenn wir meinen unbekannten Retter Nobody taufen? ›Wer hat Euch von der Bark geholt, Flederwisch?‹ wird man mich fragen, und ich werde antworten: ›Wer? Na, wer denn sonst als der Mister Nobody, der Prinz von dorther!‹«
Lachend beschrieb er einen Kreis in der Luft. »Komm, Schwesterlein,« sagte er dann, »ein steifer Grog wird uns gut tun!«
In den Flur eines vornehmen Privathauses in dem feinsten Viertel Londons trat ein hochgewachsener, breitschultriger, aber trotzdem schlankgebauter Mann.
Von einem Kleiderständer nahm er einen weiten Mantel und warf ihn über die Schultern, dann preßte er einen breitkrempigen Schlapphut auf die blonden, leicht gewellten Haare.
Der Kapitän Flederwisch war im Begriff, trotz der späten Nachtstunde noch einmal auszugehn. Er hatte nach dem Verlust seiner Bark ›Imma‹ sich zur Regelung der Versicherungsangelegenheit nach London begeben und wohnte dort, wie immer, im Hause seiner Tante, einer unverheirateten, sehr reichen Dame, Miß Muggridge mit Namen.
Hastig tastete der Kapitän noch einmal an seine Taschen, als wenn er sich überzeugen wollte, daß er alles zu sich gesteckt habe, was er brauchte. Dann schritt er durch den Flur bis zu einer Treppe, stieg dieselbe empor, gelangte vor eine Tür und klopfte an dieselbe.
Unmittelbar darauf öffnete er sie und trat in das Zimmer.
Der Mondschein erleuchtete es.
Von dem Bette erhob sich ein untersetzter, kräftig gebauter Mensch, ein Mulatte. Er war vollständig angekleidet, mußte also den späten Besuch noch erwartet haben.
»Bist du fertig, Manuel?« fragte Flederwisch.
Schweigend setzte der Mann eine Mütze auf.
»Ich habe viel Geld bei mir. Bist du bewaffnet?«
Ohne auch jetzt etwas zu erwidern zog Manuel aus dem Ärmel seiner Jacke ein langes, breitklingiges Messer, die Hauptwaffe der kubanischen Bevölkerung, eine Machete, mit der man ebensogut hauen, wie stechen kann.
Während er die Klinge im Mondschein funkeln ließ, grinste der Mulatte vielsagend, so daß sein weißes Wolfsgebiß sichtbar ward.
Kapitän Flederwisch nickte.
»Es ist gut,« sagte er, sich zum Gehn wendend. »Wir benützen zunächst einen Wagen, dann aber müssen wir laufen — durch Whitechapel. Niemand darf erfahren, wohin ich mich begebe, welches Haus ich betrete. Schon aus diesem Grunde mag ich mit keinem Konstabler etwas zu tun haben. Du selbst aber kommst mir nur im äußersten Notfall zu Hilfe. Verstanden?«
Manuel nickte grinsend.
»Kannst du nicht reden, schwarzes Vieh?« fuhr Flederwisch ihn an.
Doch sofort beruhigte er sich wieder.
»Wie gefällt dir unser neuer Steuermann?« fragte er den Mulatten.
Diesmal brummte der Gefragte zwar etwas vor sich hin, aber es blieb unverständlich. Das reizte von neuem den Zorn des Kapitäns.
»Verdammt!« fluchte er. »Glaubst du, ich wüßte nicht, daß du den Mann nicht ausstehn kannst, daß du ihn haßt? Er sieht dir zu ehrlich aus. Du hältst ihn für einen Aufpasser, den ich mir selbst auf den Nacken gesetzt habe. Hahaha! So dumm ist Kapitän Flederwisch nicht. Ich sage dir, Manuel, der Kerl ist zu gebrauchen. Denke an die ›Imma‹, wie wir festsaßen und er uns Mann für Mann von Bord holte!«
»Und wie Eure Schwester ihm die Hand verband!« murrte der Mulatte.
»Hund, was willst du damit andeuten?«
»Andeuten? Sie liebt ihn!«
Der blonde Riese machte eine Bewegung, als wollte er den Frechen mit einem Faustschlag niederschmettern. Plötzlich aber lachte er laut auf.
»Desto besser, wenn du recht hättest! Desto eher würde er Gefallen an unserm Treiben finden — und eine feine Hand an Bord ist er. Jetzt aber merke dir, du Rabenvieh! Wenn du noch einmal eine solche Andeutung fallen laßt, wie eben, dann prügle ich dich räudigen Hund windelweich. Vorwärts! Komm!«
Der Mulatte mußte wirklich eine Hundeseele besitzen. Sein Gesicht war grimmig wie das eines Bullenbeißers, aber treuherzig blickten die Augen seinen Herrn an, und dabei zitterte er, weil dieser ihn hart anfuhr.
Sie verließen die Kammer und das Haus. Es war eine finstre Februarnacht, die Straße schneelos und trocken. Flederwisch ging nach dem nächsten Droschkenhalteplatz, nahm aber nicht ein Hansom, den schnellen, zweirädrigen Wagen, den der geschäftige Engländer benutzt, sondern eines der seltenen, geschlossenen Fuhrwerke mit vier Rädern, das Kab.
»Aldgate Station,« gab er dem Kutscher an.
Manuel stieg nach ihm ein.
Es war eine sehr lange Fahrt. Durch die zugezogenen Fenster drang der brausende Lärm der Londoner Straßen an das Ohr der Schweigenden, dann wieder umgab sie manchmal ein Grabesstille, nur die Pferdehufe klapperten auf dem Holz- oder Asphaltpflaster, wenn der Wagen eines jener zahllosen, stillen Squares passierte, die, wie einsame Inseln im brandenden Weltmeer, in der Riesenstadt verstreut liegen.
Stumm lehnte Flederwisch in einer Ecke; das im Dunkeln glühende Auge des Mulatten war unverwandt auf ihn gerichtet.
Der Wagen hielt. Das lärmende Gewoge an der Aldgate Station, an der Grenze zwischen der City und Whitechapel gelegen, umgab die Aussteigenden. Das verrufene Whitechapel, wo sich alles zusammenfindet, was die Sechsmillionenstadt an Elend und Laster auszustoßen hat, ist bekannt. Allerdings darf man sich nicht ein ganzes Viertel der Armut vorstellen.
Den Hut tief in die Augen gedrückt, überschritt Flederwisch stationenweise die von vier doppelten Wagenreihen belebte Hauptstraße, die elektrisch beleuchtete Whitechapelroad, noch ein Kampf mit einer sich stauenden Menschenmenge, und er verschwand in einer finstern Court, einem Durchgange, einem der Schauplätze der Taten eines Jack des Aufschlitzers.
Als er den Gang auf der andern Seite verließ, hatte sich die Szenerie total geändert. Enge Gassen, in denen sich zwei Menschen kaum ausweichen können, armselige Hütten, eine Totenstille, dann wieder keifende Stimmen, wüstes Lärmen; dann wieder zehnstöckige Lagerhäuser und dazwischen immer eine Spelunke, drinnen an der Bar zechende Bettlergestalten, draußen johlende Männer und sich prügelnde Weiber.
Noch einige Wendungen, und die Schnapsatmosphäre wurde von einem Teergeruch verdrängt. Flederwisch befand sich in der gefährlichsten Gegend Londons, zwischen der Dockstreet oder dem Highway und dem St. Katharinendock liegend, am Tage sehr rege durch den Hafenverkehr belebt, am Abend der Sammelpunkt des schlimmsten Gesindels. Die Matrosen, welche sich von den hier gebotenen Genüssen angezogen fühlen, bilden noch das bessere Publikum; das andre, die eigentliche Einwohnerschaft dieses Viertels, besteht ausschließlich aus Dirnen aller Nationen und deren Zuhältern. Wehe, wer hier auch nur eine Messinguhrkette zeigt! Er kann sicher sein, sie nicht wieder herauszubringen, wenn er überhaupt selbst lebendig wieder herauskommt. Ein Londoner wagt sich gar nicht in diese Mördergrube; nur den Konstabler zwingt die Pflicht, die Gassen abzuschreiten; der gewandte Detektiv treibt sich verkleidet hier herum, die eine Hand am Revolver, in der andern den Totschläger.
Eine wildjohlende Bande von Männern kam die Straße herauf. Plötzlich verstummte der englische Gassenhauer, und im Nu war der Mulatte an Flederwischs Seite.
»Sie haben es auf uns abgesehen,« flüsterte er, und seine Faust verschwand im Ärmel.
»Es sind englische Matrosen, mit denen werde ich fertig,« war die gleichgültige Antwort. Der Kapitän schritt weiter, Manuel wieder einige Schritte hinter ihm, die Augen vor Mordlust funkelnd.
Die Matrosen hatten sich verabredet, sie henkelten sich ein, daß sie die hier ziemlich breite Gasse versperrten. Flederwisch mußte vor ihnen stehn bleiben.
»Nun, was soll das?«
»Die Schleuse ist geschlossen, wie Ihr seht,« lachte ein breitschultriger, untersetzter Kerl. »Ein Shilling Zoll, dann kommt Ihr durch.«
Die schlimmste Sorte war das nicht. Es war nur eine rohe Art von Bettelei, die Burschen hatten kein Geld mehr zum Trinken.
»Und wenn ich den Shilling verweigere?«
»Dann müßt Ihr einen Gang mit mir machen, und daß Ihr's gleich wißt: Ich bin Bob Ned, der Championboxer von England.«
Das klang schon eher wie eine Drohung. Was tun? Hier war es das beste, nachzugeben. Flederwisch griff also in das Seitentäschchen des Mantels und drückte dem Matrosen ein Goldstück in die Hand.
Verdutzt betrachtete es der Mann.
»Eine Guinee! Hallo, Platz für den Gentleman, das ist ein wirklicher Gentleman, ein hip hip Hurra für ihn!«
Der Weg durch die brüllenden Matrosen war frei. Aber der Kapitän hatte das Goldstück nicht gegeben, um sich freizukaufen. Hier zeigte sich sein Charakter von einer andern Seite.
»Nein, mein Junge, so billig kommst du nicht davon. Erst sollst du mir beweisen, daß du wirklich ein Championboxer bist.«
Er nahm den Mantel ab und warf ihn dem sich an die Häuserwand schmiegenden Mulatten zu, welcher von jenen noch gar nicht bemerkt worden war. Der Matrose kannte etwas von Edelmut. Er weigerte sich anfangs; schließlich zog er aber doch die Jacke aus.
Der Kampf begann, und bereits nach fünf Sekunden schmetterte Flederwischs Faust dem Gegner zwischen die Augen, daß er wie ein gefällter Stier zu Boden stürzte und stöhnend und mit Blut bedeckt liegen blieb. Der Sieger brauchte nicht zu fürchten, daß sich nun die Kameraden auf ihn stürzen würden. Die Unparteilichkeit in allem, was Zweikampf heißt, ist dem englischen Volke in Fleisch und Blut übergegangen und bildet wenigstens eine Tugend selbst der verkommensten Klassen.
Die Gleichgültigkeit, mit welcher sich Flederwisch von dem Mulatten den Mantel umhängen ließ und seinen Weg fortsetzte, als wäre nichts geschehen, war erkünstelt, denn er hatte plötzlich einen ganz andern, federnden Gang angenommen, welcher seinen innern Stolz verriet.
»Bei dem bist du einmal an den Unrechten gekommen, Bob; aber wer hätte das dem auch zugetraut, — und erst gibt er uns ein ganzes Pfund,« hörte er hinter sich noch sagen, und das war es, was der Kapitän hören wollte. Und je mehr seine Brust vor Eitelkeit schwoll, desto demütiger schlich Manuel hinter ihm drein.
Vor einem baufälligen Häuschen, dessen verhangene Parterrefenster hell erleuchtet waren, blieb Flederwisch stehn und ließ den eisernen Klopfer ertönen.
»Ich habe es mir anders überlegt, du kommst mit hinauf,« sagte er zu dem Mulatten.
Eine ältere, geputzte und geschminkte Frau öffnete. Ohne ein Wort zu verlieren, ging der Kapitän, von dem Bootsmann gefolgt, an ihr vorüber, an einigen Türen vorbei, hinter denen Gläserklingen, Singen und Kreischen erscholl, stieg eine winklige Treppe hinauf, immer an vielen Türen vorbei, eine zweite Treppe, die ihn auf den durch eine Öllampe erleuchteten Bodenraum brachte, und klopfte an der einzigen Tür, die sich hier oben befand und einen Verschlag verschloß.
Der Öffnende war ein altes, dürres Männchen mit Habichtsnase und Geieraugen, in einen zerfetzten Schlafrock gehüllt.
»Da sind Sie ja, Kapitän,« sagte seine Fistelstimme, die wie ein Kichern klang. »Und wer ist das?« setzte er mißtrauisch hinzu.
»Mein Bootsmann, weiß alles,« war die lakonische Antwort.
»All right, kommt herein!«
Ein kleines Zimmer mit schiefer Vorderwand, eben nur ein Verschlag mit hölzernen Wänden, erbärmlich möbliert, nahm sie auf. Ein Schreibsekretär war der einzige Gegenstand, der nicht vor Altersschwäche zusammenzubrechen drohte. Auf dem wurmstichigen Tische stand die brennende Petroleumlampe, daneben lag ein Revolver.
Es war eine seltsame Szene, welche den Besuch einleitete. Ohne ein Wort zu sprechen, ging Flederwisch mit zwei großen, hastigen Schritten an den Tisch, nahm den Revolver, betrachtete ihn von allen Seiten, erst im Stehn, dann setzte er sich auf den ächzenden Stuhl und brachte die Waffe dicht ans Licht, drehte sie immer wieder in den Händen, hielt sie dicht vor die Augen und wieder weit von sich ab — kurz, er besichtigte sie mit einer Sorgfalt, als prüfe er einen kostbaren Diamanten auf seinen Wert oder eine nicht zu ersetzende Urkunde auf ihre Echtheit, und doch war es nur ein ganz einfacher, dicker, kurzläufiger Revolver, neu, die blanken Teile leicht eingefettet, der Kolben mit zinnernen Figuren ausgelegt, eine ganz billige Waffe, das Stück vielleicht sechs Mark im deutschen Ladenpreis. Flederwisch ließ ihn repetieren, visierte und drückte los, stand auf, prüfte ihn auf seine Handlichkeit, steckte ihn in die verschiedenen Taschen, wie sich diese bauschten, riß ihn heraus, tat, als schösse er, setzte die Mündung sogar mit einer raschen Bewegung gegen die eigne Schläfe.
»Schraubenzieher!« sagte er kurz.
Den hatte der Alte schon in der Tasche des Schlafrocks. Mit zitternden Fingern löste Flederwisch die Schrauben, unterzog die einzelnen Teile einer eingehenden Prüfung, setzte den Revolver wieder zusammen und legte ihn endlich tief aufatmend auf den Tisch.
Während dieses Vorganges hatte der Mulatte unbeweglich wie eine Statue in einer Ecke gestanden, der Alte auf dem ungemachten Bette gesessen und dem Prüfenden zugeschaut. Als dieser jetzt fertig war und sich die Blicke beider begegneten, lag etwas wie Feierlichkeit in ihren Mienen und in der stummen Pause.
»Nun?« fragte der Alte.
»Wenn alle so sind?«
»Einer wie der andre, alles eine Maschinenarbeit. Ist's das rechte Format?«
»Ja, das ist's, gerade das beliebte, um es verborgen bei sich zu tragen und im rechten Moment den Kopf seines Nächsten zu zerschmettern. Ich kenne den Geschmack dort. Kostenpunkt?«
»Zehn Pfund das Gros, die handliche Verpackung in Zentnerkisten extra ein Shilling drei Pence, frei ans Schiff.«
Von neuem betrachtete Flederwisch den Revolver. Er tat es wohl nur, um seine furchtbare Aufregung niederzukämpfen, seine Hände zitterten noch mehr als vorhin.
»Wie sie's so billig machen können?« kicherte der Alte. »Die Menge tut's; aus den Fabrikarbeitern schinden sie's heraus. Aber ohne mich hätten Sie's auch nicht so billig bekommen.«
»Wenn sie alle so sind,« murmelte der Kapitän nochmals.
»Ich garantiere dafür. Es ist doch mein eigner Schaden, wenn's nicht so wäre. Die Fabrik ist reell.«
»Woher kommen sie?«
»Das bleibt meine Sache, wie ich Ihnen schon oft gesagt habe.«
»Hm, 's ist zwar kein ›made in Germany‹ darauf, aber sie kommen doch aus Deutschland. Wieviel und bis wann können sie geliefert werden?«
»In sechs Wochen, so viel Sie wollen. Tausend Tonnen? Sagen wir rund: zwei Millionen.«
»Zwei Millionen, abgemacht!« erwiderte Flederwisch, und es klang wie ein Ächzen.
Der Alte brachte Papier und Schreibzeug herbei und schrieb Zahlen; der Kapitän rechnete ebenfalls in seinem Notizbuche.
»Hundertundvierzigtausend einhundertneununddreißig Pfund Sterling,« sagte er, und der andre bestätigte es.
Es war ein Geschäft von drei Millionen Mark, nicht zu groß für eine ganze Schiffsladung, da kommen oft noch ganz andre Zahlen zur Berechnung, aber ungeheuerlich groß war es für diese Umgebung, und seltsam, wie das Geschäft abgeschlossen wurde.
Wieder war eine feierliche Pause eingetreten, die beiden sahen sich nur an.
»Und was nehmen Sie fürs Schieben, Davis?« ergriff Flederwisch leise wieder das Wort.
»Das wissen Sie: fünfundzwanzig Prozent vom Zoll. Ein Piaster steht auf den Revolver, das sind nach jetzigem Kurse gerade vier Shilling. Hunderttausend Pfund Sterling, ein Viertel davon bar Anzahlung, die ausgemachte Bürgschaft, und Sie haben sich überhaupt um nichts mehr zu kümmern.«
»Abgemacht,« seufzte Flederwisch erleichtert auf.
»Haben Sie's mit? Ich brauche Geld, ich muß den Fabrikanten bezahlen.«
»Bah, das wird bei Ihnen nicht so eilig sein. Ja, ich habe es mit.«
»Junger Mann, solch eine kolossale Schiebung habe ich noch nicht gemacht,« sagte der Alte, und es lag ein Staunen in seinem Tone, das sonst gar nicht zu dem ausgetrockneten Männchen passen wollte; übrigens setzte er auch gleich wieder phlegmatisch hinzu: »Na, wenn Sie die Dinger loswerden können, mir soll's recht sein.«
»Mit Leichtigkeit. Rechnen Sie aus, Südamerika hat zirka siebzig Millionen Einwohner! Wieviel Kinder werden dort jährlich geboren, kein Mensch ist dort ohne Waffe, und das Rätsel ist gelöst.«
»Trotzdem, 's ist viel. Wo wollen Sie die Dinger an Land schmuggeln?«
»Das geht nun eigentlich wieder Sie nichts an, Davis. Von Schmuggeln ist überhaupt keine Rede, es geschieht mit der Erlaubnis einer hochwohllöblichen Regierung.«
»Das machen Sie mir altem Mann nicht weis, ich kenne die Verhältnisse dort unten auch. Diese verhungerten Regierungen lassen zwei Millionen Dollar nicht ohne weiteres fahren. Ja, wenn ein Krieg in Aussicht wäre! Aber davon ist jetzt keine Rede.«
»Was heißt dort unten Regierung?« entgegnete Flederwisch achselzuckend. »Heute Republik, morgen Monarchie, übermorgen Anarchie. Wer dreist ist und Geld hat zum Bestechen, wird Präsident, und wer noch kecker ist und noch mehr Geld hat, wirft diesen hinaus und setzt sich als Kaiser auf den Thron. Na, Davis, Ihnen kann ich es ja sagen, eine Krähe hackt der andern kein Auge aus: solch einen Mann mit Gelüsten nach der Krone gibt es in Quito, einen portugiesischen Kaufmann, der von seiner klugen, englischen Schwiegermama geleitet wird; wahrscheinlich stecken auch noch andre dahinter, englische Kapitalisten und Börsenjobber. Er hat der Regierung die Guanofelder als Pfand abgenommen, hat daher jetzt die Macht in Händen, und ihm liefere ich die Revolver. 'S ist so gerade die richtige Fasson, sie in einem Volkshaufen, wenn so bei der Wahl Mann an Mann steht, aus der Tasche zu reißen und loszuknattern. Und die Rebellion geht weiter. Vielleicht gibt es bald ein vereinigtes Kaiserreich von Kolumbia, Ecuador und Peru.«
»Glück zu!« sagte Davis, der sich wenig für diese Politik zu interessieren schien. »Also Sie meinen, Sie könnten die Kisten gleich so ohne weiteres ohne Zoll an Land schaffen?«
»Nein, nein, das geht nicht. Ich brauche auch noch Deckung, zweihundert Tonnen habe ich noch frei. Das andre, was ich bekommen habe, ist leichter Papierkram, kann ich nicht dazu benutzen. Was schlagen Sie vor?«
»Daß Sie die Fracht nicht als Revolver versichern, kann ich mir lebhaft denken, sonst brauchten Sie mich nicht,« kicherte Davis. »Nach Südamerika? Hm, da gehn am besten Waffen, Oberhemden und Champagner.«
»Unsinn, gerade darauf steht ja der höchste Zoll. Eisengut muß es natürlich sein, nicht ganz zollfrei, sonst sind die Schnüffelhunde nicht zufrieden, wenn sie gar nichts Verzollbares finden.«
Der Alte erhob sich, schlurfte an den Sekretär und entnahm einem Schubfache ein gewöhnliches Türschloß mit daranhängendem Schlüssel. Es trug in einem Stempel den lächerlichen, sich aber an allen guten, billigen Bedarfsartikeln Englands in verschiedenen Variationen wiederholenden Vermerk: Englisches Fabrikat, gemacht in Deutschland.
»Werden Sie das los?«
»Famos, das geht!« rief Flederwisch erfreut. »In sechs Wochen zweihundert Tonnen?«
Auch dieses Geschäft wurde gemacht, die Fracht für das neue Schiff war besorgt. Die beiden besprachen noch, wie und besonders in welcher Reihenfolge die Kisten an das im St. Katharinendock liegende Schiff herangefahren werden sollten, welches geheime Merkmal die Revolverkisten von denen mit den Türschlössern unterschied.
»Nun aber die Anzahlung und die Bürgschaft,« drängte Davis.
Flederwisch zog aus der Brusttasche ein dünnes Päckchen, und während der Alte es in Empfang nahm und jede der vierundzwanzig Tausendpfundnoten prüfend durch die Finger gleiten ließ, bedeckte der Kapitän den ganzen Tisch aus einer andern Tasche mit Zehnpfundnoten, einige Goldstücke hinzufügend.
Immer noch stand Manuel wie eine eherne Statue in der dunklen Ecke. Nur seine Augen bewegten sich, bald blickten sie glühend nach dem Tisch, wo eine halbe Million aufgezählt wurde, bald funkelten sie nach dem Sekretär hinüber, welcher den Schatz aufnahm, bald rollten sie durch die ganze Stube, daß manchmal fast nur das Weiße sichtbar war.
Da zog Flederwisch noch ein Papier hervor, und wieder bebten seine Hände. Kein Wort wurde gesprochen. Der Alte las und nickte zufrieden, die Feder ging von einem zum andern, es wurde geschrieben und unterzeichnet.
Es war eine sehr kalte Februarnacht, das Zimmer ungeheizt, und doch mußte sich der Kapitän immer die dicken Schweißtropfen von der Stirn wischen.
Das ganze Vermögen der Lady Muggridge, seine zukünftige Erbschaft war es, welche er verpfändet hatte, und sie mußte ihm ganz sicher sein, sonst hätte dieser alte Mann sie nicht als Bürgschaft angenommen. Was aber hätte wohl die gute Tante gesagt, wenn sie es erfahren? Nun, vielleicht wäre sie mit dem spekulanten Neffen zufrieden gewesen, der es ja nur tat, um dadurch noch mehr Geld zu gewinnen.
Auch dieses kostbare Papier wanderte in den Schreibsekretär, verfolgt von des Mulatten im Dunkeln glühenden Augen.
Flederwisch hatte sich beruhigt.
»Sie bewahren das viele Geld und die Papiere einfach so in dem alten Holzschrank auf?« fragte er.
»Das Geld bleibt nicht lange drin, geht schon morgen wieder weg, und die Dokumente liegen dort sicher. Warum auch nicht?«
»Na, ich danke! Sie wohnen hier in einer netten Gesellschaft!«
»Sicherer als in jedem andern Hause, die Mädels unten sind die besten Wächter, die schlafen nur am Tage, wenn niemand einbricht. O, sie haben's schon ein paarmal versucht, bei mir hereinzukommen. Aber die Mädels haben es immer gleich gemerkt, wenn jemand auf dem Dache herumkroch, und so leicht geht das auch nicht.«
Der Mulatte fand diese Angelegenheit so interessant, daß er sich schnell umwandte und durch das kleine Fenster spähte. Doch nur einen Blick hatte er hinausgeworfen, dann stand er wieder regungslos wie zuvor da.
»Und wenn's mal brennen sollte,« fuhr der Alte gleichmütig fort, »die paar Papiere sind mit einem Griff in meinen Händen, und verbrenne ich, na, dann mag auch der Plunder verbrennen. Meine Erben kenne ich gar nicht.«
»Den Teufel auch!« fuhr Flederwisch auf. »Dann verbrennen meine fünfundzwanzigtausend Pfund mit, und ich sitze mit dem dicken Kopfe und mit meinem leeren Schiffe in einer schönen Lage da!«
»Ohne Sorge, junger Mann, die nötigen Briefe schreibe ich noch heute abend, und Ihr Geld wird gleich morgen früh in Sicherheit gebracht, wie ich schon sagte. Daß ich's noch heute nacht auf die Post trage, können Sie nicht verlangen, also brauchen Sie nur diese Nacht einmal unruhig zu schlafen, das ist das einzige Risiko, und ein solches muß doch bei so einer Sache sein, sonst machte sie gleich jeder nach!«
Der Alte hatte wohl scherzhaft gesprochen, aber der Kapitän ging nicht darauf ein.
»Weiß nicht,« meinte er, »wenn ich so ein alter, einsamer Mann wäre, der immer große Summen bei sich hat, möchte ich doch nicht hier wohnen. Überdies könnten Sie sich auch ein anständigeres Quartier nehmen, daß man nicht bei Nacht und Nebel zu Ihnen schleichen muß!«
»Ja, Sie sind auch eine Ausnahme. Ich kann mich nicht allein nach Ihnen richten. Die Kapitäne, mit denen ich solche Schiebereien mache, sind sonst alles derbe, vierschrötige Kerle, die in so ein Haus passen und einmal unten einkehren. Was kann ich dafür, daß Sie ein Gentleman sind?«
»Dafür machen Sie aber auch mit mir andre Geschäfte. Es ist schon gut, Sie sind ein filziger Geizhals, Davis. Das Haus bildet allein da unten eine Goldgrube, und ich möchte wissen, was Sie schon zusammengescharrt haben. Dabei leben Sie von Wasser und Brot. Oder haben Sie mir einen Kognak anzubieten?«
»Nein,« kicherte der Alte, »da müssen Sie hinuntergehn. Oder soll ich Ihnen einen heraufholen? Ein Shilling das Gläschen.«
»Lassen Sie nur! Wenn ich bloß wüßte, wie Sie zu den Verbindungen gekommen sind, daß Sie heute einen ganzen Dampfer mit Essig befrachten können, und derweilen sind Spirituosen in den Fässern, und morgen eine ganze Schiffsladung zollfreie Nägel liefern, und wenn man sie auspackt, sind es Uhren geworden. Sollte man denn glauben, daß in dieser armseligen Spelunke Aufträge ein- und auslaufen und über Summen abgeschlossen wird, welche das Herz manches großen Bankiers erzittern machten?«
Flederwisch blickte sich in der Dachkammer um, und als er über der Tür den Spruch: »Gott segne deinen Eingang« las, lachte er laut auf.
»Jeder Mensch hat seine Profession,« meinte Davis, »und versteht er sie, ist nüchtern und kein Spieler, so bringt er es zu etwas. Ich verstehe mich darauf, Schiffsfrachten zu vertauschen, und ich begreife wieder nicht, wie Sie es fertig bringen können, zwanzigtausend Zentnerkisten unbemerkt an Land zu schmuggeln. Ich war in meinen jungen Jahren auch draußen auf See, habe auch bei Nacht und Nebel Spirituosen fässerweise nach Long Island gepascht und ein schönes Geld dabei verdient, versorge ja manchen Kapitän mit geeigneter Ware, aber daß man die Sache so im großen betreiben kann, das haben Sie mir erst mit der ›Imma‹ gezeigt. Und nun gar zwei Millionen Revolver! Wenn Sie nur einen Shilling am Stück verdienen! Aber Sie stecken doch den ganzen Zoll in Ihre Tasche! Mann, Kapitän, Sie müssen doch schon längst ein vielfacher Millionär sein?!«
Flederwisch hatte sich achselzuckend erhoben, ohne eine Antwort zu haben, er fühlte den lauernden Blick, der diese Frage begleitete, und wieder färbte sich sein Antlitz vor innerer Aufregung dunkelrot.
»Wenn Sie in Südamerika sind,« ließ sich des Alten Fistelstimme wieder vernehmen, »können Sie sich ja gleich die Tonne Gold ehrlich verdienen.«
»Was schwafeln Sie da?«
»Vielleicht finden Sie das Goldschiff.«
»Welches Goldschiff?«
»Haben Sie die Abendzeitungen noch nicht gelesen?«
»Nein.«
»Ein kleiner mexikanischer Dampfer wird vermißt, von Accapulco nach Panama, mit fünfzig Tonnen ausgeschmolzenen Goldbarren an Bord.«
»Alle Wetter!« flüsterte Flederwisch und sank auf den Stuhl zurück.
»Das Gold ist von der englischen Münze zusammengekauft worden, aus Kalifornien, Mexiko und überallher, war bezahlt, wurde in Accapulco als einfaches Frachtgut auf einem mexikanischen Dampfer aufgegeben, sollte nach Panama gehn, von dort über den Isthmus nach Portobello, wo schon ein englisches Kriegsschiff zum Empfange bereit lag. Das Schiff ist einfach weg, schon seit vier Tagen ist es überfällig, und man kann hier keine Hoffnung mehr haben, sonst würde man nicht hunderttausend Pfund — das sollen zwei Prozent sein — schon dem zusichern, der nur eine Mitteilung macht, wo das Schiff geblieben ist.«
Der Kapitän stierte vor sich hin und wühlte mit den Fingern im Haar.
»Wieviel sind fünfzig Tonnen wert?«
»Berechnen Sie es sich doch aus den zwei Prozent: fünf Millionen Pfund Sterling! Es muß sehr feines Gold sein, fertig zum Prägen. Klingt sehr viel, aber für die englische Münze ist das eine Kleinigkeit.«
»Fünf Millionen Pfund Sterling — hundert Millionen Mark — sie liegen vielleicht auf dem Meeresgrund! Was sich überhaupt da unten für Schätze angehäuft haben mögen! Davis, ich möchte nur vierundzwanzig Stunden ein Walfisch sein, ich wollte mir die Backentaschen tüchtig vollstopfen. Haben Sie die Zeitung hier?«
»Nein, die ist unten. Wahr ist es aber, alle Spalten stehn voll davon, sonst hätte ich's nur für die Phantasie eines Zeitungsschreibers gehalten; denn das will mir gar nicht in den Kopf, daß solch ein Schatz als gewöhnliches Frachtgut verschickt wird. Sind die denn verrückt?«
»Das verstehn Sie nicht, so wird es in Amerika immer gemacht. Das Washingtoner Schatzamt zum Beispiel schickt Gold- und Silbersummen stets als ordinäres Frachtgut, manchmal mit der Begleitung eines Bankbeamten, manchmal auch ohne den, oft Hunderte von Millionen, Banknoten gehn in einfachen Briefen fort, die Erfahrung hat gelehrt, daß dies sicherer ist als die umfassendsten Vorsichtsmaßregeln, die Spitzbuben werden weniger darauf aufmerksam gemacht. Denn was ist solch einem amerikanischen Gauner unmöglich! Der stiehlt gleich einen ganzen Eisenbahnzug und ein ganzes Kriegsschiff, wenn's nur lohnend ist. Diebstähle kommen freilich trotzdem noch oft genug vor, dann aber haben meistens die Beamten ihre Hand selbst im Spiele. Haben Sie nicht die köstliche Geschichte gehört, die drüben vor Jahren passierte? Vom Schatzamt in Washington werden zwei Kisten mit Gold nach San Francisco abgeschickt, sie gehn als das Gepäck zweier Beamten mit, die sich für Bleirohrreisende ausgeben müssen, und der Inhalt der Kisten ist denn auch als Bleirohr deklariert. Sie kommen in San Francisco an, die Kisten sind unverletzt, und als sie aufgemacht werden — wissen Sie, was drin ist?«
»Steine! Die Beamten oder die Gepäckschaffner haben unterwegs das Gold durch Steine ersetzt.«
»Nein, eben Bleirohre waren drin, wie angegeben! Die Gesichter der beiden Beamten möchte ich gesehen haben, hahaha! Denn die haben das Gold sicher nicht gestohlen, der eine ist auch im größten Elend gestorben. Das Gold ist sehr einfach schon im Washingtoner Schatzamt verschwunden, die Kisten sind überhaupt mit Bleirohren vollgepackt worden, und zwar auf höhern Befehl, denn die Sache ist dann von oben totgeschwiegen worden. — Fünf Millionen Pfund Sterling! Heiliger Gott, wenn ich wüßte, wo die lägen!«
Flederwisch kam gar nicht darüber hinweg, er wühlte sich noch immer im Haar.
»Na, wenn ich das wüßte, und sie wären für mich erreichbar, ich würde mich nicht mit zwei Prozent begnügen,« sagte Davis offenherzig.
Der Kapitän stand wieder auf und reckte sich.
»Davis, haben Sie wohl eine Ahnung, was so eine kleine Insel von ein paar Quadratmeilen kostet? So etwa in der Südsee oder sonstwo, vielleicht spanisch oder holländisch — nur so ungefähr den Preis. Solche Käufe sind ja oft genug abgeschlossen worden, habe mich aber nie darum gekümmert, und da kann man sich gleich um das Hundertfache verrechnen.«
»Was davon die Elle kostet? Nein, weiß ich nicht, ich handle nicht mit Inseln. Sie wollen wohl eine Kohlenstation darauf anlegen? Das ist riskant.«
»Kohlenstation!« höhnte Flederwisch. »Eine — Insel für verhungerte Geizhälse will ich anlegen. Nein, es ist nur ein Streit mit einem Bekannten, der alles besser wissen will. — Mister Davis, in sechs Wochen liegen die Revolver und Türschlösser in vorschriftsmäßiger Verpackung im Katharinendock, oder Gottes Tod über Sie! Wenn mir noch etwas einfallen sollte oder ich habe Ihnen sonst etwas mitzuteilen, so schicke ich Ihnen dort meinen Bootsmann. Sehen Sie sich ihn an! Gute Nacht, Davis! Komm, Manuel!«
In die regungslose Statue kam Leben, sie folgte ihrem Meister.
Einsam lag die Straße da. Nach einigen Schritten blieb Flederwisch stehn und wandte sich um, sein Auge suchte das schwach erleuchtete Fenster im zweiten Stock. Ein Seufzer entstieg seiner Brust, als er die Hand wie beschwörend gegen das Haus erhob.
»Wenn doch die Baracke in Flammen aufginge, und du mit, verfluchter Wucherer!«
»Amen!« erklang es hinter ihm. »Heute nacht noch, Kapitän?«
Wie vom Blitz getroffen drehte Flederwisch sich um und blickte in das grinsende Gesicht des Mulatten.
»Um Gottes willen,« sagte er tödlich erschrocken, »Mensch, da würden ja meine fünfundzwanzigtausend Pfund mit verbrennen, für nichts und wieder nichts! Aber wahrhaftig,« setzte er gezwungen lachend hinzu, »das war ein frommer Wunsch von mir!«
Er setzte seinen Weg fort, sein lebender Schatten folgte ihm lautlos.
Der Morgen brach an. Das auch während der Nacht nie ersterbende Leben in den Straßen der Riesenstadt setzte wieder mit voller Wucht ein. Aber alle die Tausende, die geschäftig ihren Bureaus und Werkstätten zueilten, gönnten sich unterwegs eine kurze Rast, um den schreienden Zeitungsjungen ein Extrablatt abzukaufen.
»Ein Raubmord in der Fleetstreet!«
Ganz London sprach davon, nicht weil ein Raubmord verübt worden war und der Raubmörder nach vollbrachter Tat das Haus in Brand gesteckt hatte — das ist ja in der Riesenstadt etwas sehr Gewöhnliches — sondern weil der ›Morning Leader‹, infolge seiner dreisten Sprache eine der gelesensten Zeitungen Londons, polizeilich konfisziert worden war. Das war in dem freien England, wo man selbst den König beliebig titulieren darf, in der Tat ein bedeutendes Ereignis, und es sollte wegen eines Berichtes über diesen Mord geschehen sein. Viele Hunderte von Nummern waren aber doch herausgekommen. Diese wurden jetzt von den glücklichen Besitzern auf der Straße verauktioniert, wie in England die Zeitungen ja überhaupt nur auf der Straße verkauft werden. Wer das Blatt erstanden, las den betreffenden Bericht, erzählte natürlich seinem Nachbar nichts davon, sondern verkaufte ihm das schon in Stücke zerfallende Papier einige Pence oder auch gleich einige Shilling teuer. Daneben stand der Policeman, der heute morgen vielleicht die Stereotypplatten mit Beschlag belegt hatte. Diesen nachträglichen Verkauf aber hinderte er nicht, das war erlaubt — weil man in der Eile das Verbot dagegen vergessen hatte.
Selbstverständlich beschäftigten sich auch die andern Zeitungen mit dem Fall, aber abgesehen von einigen Widersprüchen war es immer dasselbe: Nach Mitternacht wurde die Feuerbrigade von St. Georges durch Großfeuer alarmiert. In einer der Dockstraßen brannte es. Die Dampfspritzen vom Katharinendock rückten auch mit aus. Es gelang schnell, den brennenden Dachstuhl zu löschen — niedergebrannt war das Haus demnach gar nicht — die Eindringenden fanden den Eigentümer des Hauses, den alten Davis, tot in seiner ausgebrannten Kammer liegen, den Schädel mit einem beilartigen Instrument gespalten; alle Gelder und Wertsachen waren verschwunden.
Also ein Raubmord lag vor, und der Täter hatte, um sein Verbrechen zu verdecken, Feuer angelegt. Sein Plan war ihm jedoch nicht gelungen. Jede Spur des Mörders fehlte freilich noch.
Der ›Morning Leader‹ aber begnügte sich nicht mit diesen Feststellungen. Er führte des weitern folgendes aus:
Nein, hier lag kein Raubmord vor. Er war nur fingiert worden, um dem Verdachte eine falsche Richtung zu geben. Die Kammer war ausgebrannt; was hieß das? Ein Stuhlbein hatte Feuer gefangen, der Tisch war etwas angekohlt, der Schreibsekretär noch weniger, und dazwischen lag die Leiche des alten Mannes. Das Feuer war nach oben geschlagen, der Dachstuhl brannte und rief die Feuerwehr herbei. Aber der Sekretär war vollkommen ausgeräumt worden, das war der Schwerpunkt der Sache!
Wie der mit seinem Scharfsinn prunkende Zeitungsschreiber weiter erörterte, mußte der frühere Schiffsmakler, wegen Unreellität disqualifiziert, der aber, wie bewiesen werden konnte, doch noch mit Reedereien Geschäfte machte, welche das Licht des Tages scheuten, unbedingt Bücher geführt haben, er mußte doch irgendwelche Papiere besitzen! Man fand jedoch in dem Schreibsekretär und in dem ganzen Raume nicht ein einziges Zettelchen Papier, dagegen war bemerkt, leider nicht beachtet worden, daß in dem offnen Kamin, neben dem die Lampe mit zerbrochenem Ballon stand, ein großer Haufen von verbranntem Papier gelegen hatte.
Nicht ein Dieb, dem es um Geld und Wertsachen zu tun war, sondern ein Schuldner von Davis hatte die Tat begangen oder ein andrer in dessen Auftrag, was dasselbe war. Er hatte den Alten ermordet, die Papiere, die ihm von Wert waren oder ihn belasteten, sich angeeignet, dann wollte er das Haus in Brand setzen. Falls das Feuer aber gelöscht wurde, ehe er das Werk der Vernichtung vollbracht hatte, gab er dem ganzen das Aussehen eines Raubes, nahm also auch Geld und Wertsachen mit, und schließlich verbrannte er auch noch sämtliche Bücher und Schriftstücke, die er vorfand, sie im Ofen mit Petroleum tränkend, falls diese etwas ihn Belastendes enthielten.
Dann kam noch ein Nachtrag: Henry Davis, ein sehr reicher Mann, war als schmutziger Geizhals bekannt. Das Haus, in dem er wohnte, war übel beleumdet. Die Mieterin desselben hat bereits Aussagen gemacht, die bestätigten, daß Davis im großartigsten Maßstabe Schiffs- und Frachtenschieberei und unerlaubte Geldgeschäfte betrieb. In einem seiner Geschäftsklienten oder verzweifelten Opfer hatte man also den Täter zu suchen. Sonst fehlte noch jede Spur. Die Untersuchung des Schreibsekretärs nach einem Geheimfach oder nach einem Papier hatte noch nichts ergeben. —
Die Londoner Polizei tappte im Dunkeln. Sie konnte den geschäftlichen Beziehungen, die der Ermordete gepflegt hatte, nicht nachforschen, eben weil jeder Anhaltspunkt dafür fehlte.
Wie die Kunde von dem furchtbaren Ende des alten Schiffsmaklers, mit dem er noch wenige Stunden zuvor zusammengewesen war, auf den Kapitän Flederwisch wirkte, soll sofort beschrieben werden.
Hier sei nur noch betont, daß das Geheimnis, das über dem Raubmorde lag, wohl nie aufgeklärt worden wäre, wenn nicht Nobody gerade in London geweilt hätte, um den Kapitän Flederwisch zu beobachten.
Nobody ward Zeuge der blutigen Tat. Er hatte sie vorausgeahnt. Er kannte auch den Mörder, den er keinen Augenblick aus den Augen gelassen hatte.
Das entsetzliche Drama selbst aber hatte sich so schnell abgespielt, daß der alte Davis nicht mehr gerettet werden konnte.
Nobody allein hätte also den Mordbuben der strafenden Gerechtigkeit zu überliefern vermocht. Er tat es nicht, und er hatte seine guten Gründe dafür.
Erst viel später, aber gerade zur rechten Zeit, enthüllte Nobody in ›Worlds Magazine‹, das er selbst begründete, wie unsre Leser wissen, das Geheimnis, und da freilich staunten die Londoner nicht wenig — da klang der Name Noboby abermals bewundernd von Mund zu Mund — und auch unsre Leser werden dem berühmten Detektiven ihre Bewunderung nicht versagen, wenn sie erfahren, wie er noch monatelang täglich mit dem Mörder des alten Schiffsmaklers verkehrte, wie Nobody selbst mehrfach durch diesen Verbrecher in größte Lebensgefahr geriet, und in welcher dramatischen Weise er der rächenden Justiz endlich ihr Opfer überlieferte.
Das Spitzentuch, mit dem die blonde Imma ihm die Wunde an der Hand verbunden hatte, in der Tasche, fein säuberlich verwahrt in zartem Seidenpapier, wie jeder Seemann es mit derartigen Andenken tun würde, war der junge Held von der Frieseninsel nach London gekommen. Er wollte, nachdem er den berüchtigten Schmugglerkapitän Flederwisch bisher nur von fern beobachtet hatte, nunmehr in unmittelbare Beziehungen zu demselben treten, und wie schon angedeutet, gelang es ihm bereits am ersten Abend, nicht nur jenes heimliche Geschäft zu belauschen, das Flederwisch mit dem alten Davis abschloß, sondern auch die Katastrophe, der letzterer zum Opfer fiel.
Wie vom Donner gerührt saß Kapitän Flederwisch da, als er am gemeinschaftlichen Frühstückstisch beim ersten Blick in eine Zeitung die fettgedruckten Worte sah. Der ehemalige Schiffsmakler Henry Davis ermordet, seine Wohnung vollständig ausgeraubt, sein Haus niedergebrannt — mehr las Flederwisch nicht, es war zuviel für ihn, er hatte nur noch so viel Geistesgegenwart, sein Taschentuch herauszureißen und es vor das Gesicht zu halten, um mit der Entschuldigung des Nasenblutens schnell in sein Zimmer fliehen zu können.
Davis tot, alles verbrannt! Da war es ja, was er gewünscht hatte. Der starke Mann aber zitterte wie Espenlaub und warf sich stöhnend auf das Sofa.
Hatte Davis noch Zeit gefunden, das Geld für die Schmuggelware an den Lieferanten abzuführen? Wenn nicht, dann hatte Flederwisch die 25.000 Pfund Sterling unwiderruflich verloren.
Denn an wen sollte er sich halten? Etwa die Sache dem Gericht übergeben? Da wäre es vielleicht noch besser gewesen, sich an den Raubmörder zu wenden. Welche Firma war es, die die Revolver geliefert hatte? Denn selbst wenn sie schon bezahlt worden war, so wußte sie vielleicht und sehr wahrscheinlich nicht, an wen sie zu liefern waren. Alles ging durch Davis' Hände. Durch Rundfragen diese Firma ausfindig zu machen, das durfte der Kapitän gar nicht wagen, aus einem Grunde nicht, der gleich erwähnt werden soll. Sonst brauchte ja auch das Geschäft mit Davis nicht ein so heimliches gewesen zu sein.
Der Verlust der halben Million bedeutete Flederwischs pekuniären Ruin. Denn jetzt half ihm niemand mehr. Nun, dann hätte er sich, wenn es gar keinen Ausweg mehr gab, einfach eine Kugel vor den Kopf geschossen.
Wie ganz anders aber, wenn Davis vor seinem Tode die Lieferung bezahlt hatte, diese richtig ankam und alle Schuldscheine und sonstigen Papiere verbrannt waren!
Dann hatte Flederwisch mit einer halben Million eine Fracht erworben, die er schon hier in London sofort für sechs Millionen losschlagen konnte, die ihm in Südamerika, ehrlich verzollt, noch mehr einbrachte — und dann das andre! Wenn das geplante Schmuggelgeschäft ging! Doch daran wollte er jetzt gar nicht denken! Der Kopf wirbelte ihm.
Nicht also vor Angst, sondern vor Erwartung, vor furchtbarer Ungewißheit zitterte und stöhnte der Kapitän. Dabei schalt er sich einen Narren, den Bericht nicht zu Ende gelesen zu haben. Jetzt wagte er nicht mehr, in das Frühstückszimmer zurückzugehn, nach der Zeitung zu greifen, schon fürchtend, man könne ihn gleich mit dem Ermordeten — oder womöglich gar mit dem Morde selbst — in Verbindung bringen.
Als es an seine Tür klopfte, wußte er sich indes zu bezwingen.
Ein Dienstmädchen brachte die Post, darunter Zeitungen. Sie enthielten seine Erlösung wenigstens von einer Qual.
»Der ›Morning Leader‹ ist konfisziert worden,« konnte sich das Mädchen nicht enthalten, die große Neuigkeit mitzuteilen.
»Warum?«
»Weil der Schiffsmakler Davis ermordet worden ist, es hat etwas Verbotenes darin gestanden, der Milchmann hat es mir ...«
»Manuel!«
Vor dem gerufenen finstern dienstbaren Geiste entwich das Mädchen schnell ans dem Zimmer. Herr und Knecht schauten sich eine Zeitlang schweigend an, des Mulatten dicke Lippen begannen sich nach und nach zu einem Grinsen zu verziehen.
»Davis ist ermordet, sein Haus ist niedergebrannt,« brach Flederwisch endlich das Schweigen.
»Weiß es, freut mich, Ihr habt es ja gewollt,« grinste Manuel, und lauernd ruhten seine Augen auf dem erregten Kapitän.
»Schweig!« herrschte dieser ihn erregt an. »Hältst du mich etwa für solch einen Schurken, daß ich jemanden ermorden lasse? Wenn ich einmal einen Menschen ermorden wollte, dann führte ich es wenigstens selbst mit eigner Hand aus. Entweder oder! — Der ›Morning Leader‹ ist wegen eines Berichtes konfisziert worden, suche mir eine Nummer zu verschaffen, koste sie, was sie wolle. Hast du Geld? Hier, meine Börse!«
Der lauernde Ausdruck in des Mulatten Gesicht hatte sich bei den ersten Worten in ein leises Staunen verwandelt. Doch diese Veränderung war dem aufgeregten Flederwisch entgangen.
Als Manuel aus dem Zimmer ging, ließ er hinter seines Herrn Rücken verächtlich die Unterlippe hängen.
In höchster Spannung wartete Kapitän Flederwisch die Rückkehr des Mulatten ab. Die Zeit erschien ihm unerträglich lang; aber schon dämmerte eine neue Hoffnung in ihm auf, und sie ward immer kräftiger, je mehr er darüber nachdachte.
Der neue Steuermann, den Flederwisch tags zuvor für das Schiff geheuert hatte, was er erst noch kaufen wollte, hatte ihm erklärt, daß er geneigt sei, sich mit einem erheblichen Kapital, das ihm vor kurzem als Erbschaft zugefallen sei, an dem Unternehmen zu beteiligen, welches der Kapitän plante. Anfangs hatte dieser das Anerbieten schroff abgewiesen, denn er wollte niemanden außer dem Mulatten zum Mitwisser haben. Dann hatte er seine definitive Entscheidung bis heute aufgeschoben.
Das war ein großes Glück gewesen, wie Flederwisch sich jetzt sagte. Er war bereits entschlossen, das Geld seines neuen Steuermannes anzunehmen. Er konnte es brauchen, und sein Geschäftsgeheimnis wollte er trotzdem wahren.
Endlich erschien Manuel wieder. Er brachte den ›Morning Leader‹ und reichte das Blatt schweigend seinem Herrn.
Dieser deutete nach der Tür. Der Mulatte verschwand, und nun erst überflog Flederwisch hastig den Bericht, der bereits im Auszug wiedergegeben wurde.
Aus leichtbegreiflichen Gründen hatte die Kriminalpolizei diese Zeitungsnummer konfiszieren lassen. Es konnte ihr nicht gelegen kommen, daß das, was sie über den Fall erfahren hatte und dachte, in die breite Öffentlichkeit gelangte.
Flederwisch sank auf das Sofa und gab sich einem dumpfen Brüten hin.
Jetzt kamen alle, die mit Davis in geschäftlicher Beziehung gestanden hatten, in den Verdacht der Täterschaft, auch er — wenn man es herausfand! Würde dies aber noch geschehen? Von dem Verdachte des Mordes wollte er sich wohl bald reinigen; aber kam es jetzt auch nur heraus, daß er mit Davis Geschäfte gemacht, so war es mit seiner Karriere als Seemann für immer aus, er hatte sich auch als Kapitän unmöglich gemacht — hatte sich pekuniär und moralisch ruiniert.
Doch er mußte erst abwarten. Warten! Ein schreckliches Wort für diesen Mann. Er begann im Zimmer auf und ab zu rasen, er bekam wirklich Nasenbluten, und so wie er mochte jetzt noch manch andrer Mann, der mit Davis verkehrt hatte, sich der Verzweiflung hingeben und jedesmal mit stockendem Herzschlag zusammenschrecken, wenn die Haustür ging, denn es konnte ein Kriminalbeamter mit dem Verhaftbefehl sein.
Nehmen wir einstweilen schnell Kenntnis davon, was der Seemann denn eigentlich unter einer ›Schieberei‹ versteht.
Unter gewöhnlichen Verhältnissen ist es der Regierung und der Steuerbehörde ganz gleichgültig, was aus ihrem Lande exportiert wird, d. h. sie kümmert sich nicht um jeden einzelnen Fall. Nur der Eingang wird wegen des Zolles kontrolliert. Dagegen ist es manchmal dem fremden Konsul sehr von Interesse, zu wissen, was nach dem Lande, das er vertritt, abgeht.
Gesetzt den Fall, der englische Konsul in Hamburg erfährt, ein Dampfer wird mit Schießpulver nach Indien befrachtet. Wozu? Die englische Armee in Britisch-Indien braucht kein Schießpulver aus Deutschland, in Indien selbst gibt es Pulverfabriken, oder es wird aus England bezogen. Die Hindu dürfen nicht einmal Waffen tragen. Da liegt die Vermutung sehr nahe, daß es unter die Eingebornen für einen vorzubereitenden Aufstand gepascht werden soll. Ganz sauber kann die Geschichte jedenfalls nicht sein.
Die Ausfuhr hindern kann der Konsul nicht. Aber er wird sofort die Regierung seines Landes von dem Falle in Kenntnis setzen, und in Indien wird man das Schiff mit der verdächtigen Fracht beaufsichtigen oder es womöglich gleich aus allen Häfen ausweisen.
Aber der englische Konsul braucht gar nicht davon zu erfahren. Der deutsche Fabrikant, bei dem der indische Agent das Schießpulver bestellt, kümmert sich nicht darum, wohin seine Ware geht. Es muß nur ein Schiffsmakler gefunden werden, welcher die Sache in die Hand nimmt und seine vertrauten Kapitäne hat. Solch ein Schiffsmakler hat z. B. gleichzeitig noch eine Ladung Mehl nach Schweden zu besorgen. Nun vertauscht er einfach die Frachten, das Mehl geht in Pulverfässern und als Pulver designiert nach Schweden ab, wo es ohne Umstände eingelassen wird, und das Schießpulver wird als Mehl in Mehlsäcken auf das nach Indien bestimmte Schiff verladen. Obenauf kommt noch eine Schicht Säcke mit richtigem Mehl — platzt beim Verladen ein Sack, desto besser, nur kein Pulversack darf platzen — und die Sache ist all right. Das Seemannsamt, die Steuerbehörde und die Konsuln kümmern sich nicht darum, wenn den hungernden Indiern Mehl gebracht wird. Der Schiffsmakler aber hat die Frachten ›geschoben‹. Es läßt sich denken, daß hierzu ein wohlorganisiertes Heer von Agenten gehört, über die ganze Erde verteilt. Alle solche Unternehmer arbeiten eben unter einer Decke sich gegenseitig in die Hand — vielleicht teilen sie auch den Gesamtgewinn — und sind daher in der Lage, alle nur möglichen Frachten zu vertauschen. Die Folge davon ist, daß sie zu verschlagenen Betrügern werden, indem sie direkt den Schmuggel begünstigen, wofür sie sich natürlich entsprechend bezahlen lassen.
Der Schiffsmakler, welcher der einfachen Schieberei überführt ist, wird wegen falscher Buchführung, Vorspiegelung falscher Tatsachen und noch wegen andrer Vergehen bestraft und ihm die Konzession entzogen; der Kapitän, der ihm gedient, ohne daß ihm direkter Schmuggel nachgewiesen werden kann, verliert zwar nicht sein Patent, aber er findet, trotz aller sonstigen Tüchtigkeit bei keiner soliden Reederei mehr Stellung.
»Ein Gentleman wünscht den Herrn Kapitän zu sprechen,« meldete eine eintretende Dienerin.
Sofort fuhr Flederwisch zusammen.
»Ist's ein Seemann?«
»So sieht er nicht aus. Er ist im Gesellschaftsanzug,« entgegnete das Mädchen.
»Er soll eintreten!«
Eine Minute später stand der Gemeldete vor dem Kapitän.
»Sie sind's, Steuermann?« rief dieser. »Warum nannten Sie der Dienerin nicht Ihren Namen?«
Der hochgewachsene, blonde, junge Mann lächelte.
»Sie vergaß, mich darnach zu fragen,« erwiderte er leichthin.
Allerdings, wenn diesen ideal schönen Menschen ein Weib sah, dann konnte es verschiedenes vergessen. Da mußte es an andres denken, da klopfte das Herz so ungestüm, daß der Kopf nicht zur Geltung kam.
»All right!« lächelte jetzt auch Flederwisch, dann deutete er auf einen Sessel. »Nehmen Sie Platz, Herr Werner!«
Alfred Werner, so hatte sich gestern der junge Mann genannt, der den Kapitän bereits einmal aus Todesnot gerettet hatte, ließ sich in den Polsterstuhl sinken.
»Sie haben schon von dem Morde in der Fleetstreet gehört?« begann Flederwisch das Gespräch, denn der Gedanke an das grauenhafte Ereignis beherrschte ihn noch vollständig.
Das Gesicht des Steuermanns ward ernst.
»Gewiß,« sagte er ruhig. »Es wird deswegen mancher heute und die folgenden Tage keine Ruhe mehr finden.«
Der Kapitän erblaßte. Er mußte sich gewaltig zusammennehmen, um nicht aufzufahren und seinem Gegenüber zuzuschreien: ›Woher weißt du das? Hast du etwa auch schon mit Davis zu tun gehabt?‹
»Sie spielen auf die Gerüchte an, die über die geheimen Geschäfte des Ermordeten im Umlauf sind?« fragte er in Wirklichkeit, und er hoffte, daß Werner das leise Beben seiner Stimme nicht hören würde.
»Jawohl,« nickte dieser. »Übrigens ist der Täter in ganz raffinierter Weise zu Werke gegangen. Er muß mit seltener Kaltblütigkeit gehandelt haben. Jedenfalls hatte er ein großes Interesse an den spurlos verschwundenen Papieren.«
»Das stand in den Zeitungen,« bemerkte Flederwisch, um nur etwas zu sagen.
»Es kann kein Europäer gewesen sein,« fuhr der Steuermann fort.
Wieder erbleichte der Kapitän.
»Woraus schließen Sie das?« fragte er mit erzwungenem Lachen. »Sie scheinen eine ausgezeichnete kriminalistische Begabung zu besitzen.«
»Richtig, mein lieber Flederwisch,« sagte da Nobody, der ja die Rolle des Steuermanns Alfred Werner angenommen hatte, zu sich, »und du wirst bald an dir selber noch mehr von dieser Begabung erfahren.« Laut aber entgegnete er: »Nun, man kombiniert eben in solchen Fällen, und die Wildheit, mit der dieser Mord verübt ward, brachte mich zu der Überzeugung, daß nur ein Farbiger, vielleicht auch ein weißer Südländer Davis ums Leben gebracht und beraubt hat. Sie kennen ja diese heißblütigen Gesellen aus eigner Erfahrung, Kapitän. Übrigens,« fuhr er ablenkend fort, »kam ich wegen Ihrer Entscheidung in betreff der Geldangelegenheit. Wie steht es damit?«
Flederwisch schrak zusammen. Er hatte mit seinen Gedanken ganz wo anders geweilt.
Ein Farbiger sollte nach der Ansicht dieses Menschen da den Makler Davis ermordet haben? Zum Teufel, wenn Manuel —?!
»Ach, ja. Ich bestellte Sie heute. Es liegt mir nicht viel daran, aber ich möchte Ihnen gern gefällig sein — wieviel besitzen Sie denn, Mister Werner?«
»Sie meinen, wieviel die Erbschaft betrug? Hier, sehen Sie selbst!«
Er zog ein in Zeitungspapier gewickeltes Päckchen aus einer Brusttasche seines eleganten Gehrocks und reichte es dem Kapitän.
Etwas hochmütig nahm dieser es entgegen. Die paar tausend Shilling!
Trotzdem wickelte er das Papier sorgsam ab, und er merkte nicht, wie scharf sein Steuermann ihn dabei beobachtete.
Die Finger Flederwischs begannen zu zittern. Er vermochte die Banknoten, die er hielt, kaum zu zählen. Gerade fünfzig Stück waren es, jede zu tausend Pfund — fünfzigtausend Pfund — über eine Million Mark. Das mußte eine sonderbare Erbtante gewesen sein.
Am meisten aber imponierte dem Kapitän Flederwisch, wie Alfred Werner dieses beträchtliche Vermögen aus der Rocktasche gebracht hatte. Das war ein feiner Trick, den mußte er bei der ersten Gelegenheit nachmachen.
Die Erziehung Flederwischs durch Nobody begann also bereits.
»Nun, Kapitän?« fragte dieser. »Könnten Sie die Summe noch unterbringen?«
»Ja, aber, Mann, das ist doch eine Million!«
»Eben deswegen! Ich weiß wahrhaftig nichts mit dem Gelde anzufangen!«
»Kaufen Sie sich doch selbst ein Schiff!« rief Flederwisch.
»Als Steuermann?« lächelte Werner.
»Ach so! Richtig! Das geht nicht! Wie dachten Sie sich denn die Sache?«
»Ganz einfach! Sie kaufen das Schiff, das Sie im Auge haben und benutzen dazu mein Erbe, oder Sie beteiligen mich sonstwie an Ihrem nächsten Unternehmen. Wollten Sie nicht nach Südamerika?«
»Nach — Südamerika?« wiederholte Flederwisch aufs neue verwundert.
»Sprachen Sie nicht gestern davon?«
»Jawohl — es kann sein —«
»Na, also! Ich mache Ihnen keine Vorschriften. Benutzen Sie das Geld nach Belieben, Kapitän, und lassen Sie mir, bitte, rechtzeitig sagen, wann ich mich Ihnen zur Verfügung zu stellen habe.«
Flederwisch hielt die fünfzig Tausendpfundnoten noch in der Hand, aber diese zitterte nicht mehr. Er betrachtete die Summe bereits als sein Eigentum.
»Well,« sagte er nach kurzem Überlegen. »Etwas Schriftliches muß sein. Ich verstehe es nicht aufzusetzen. Kommen Sie heute nachmittag in das Bureau des Rechtsanwaltes Perkins — um vier Uhr — ich werde dort sein. Und Ihr Dienst? Der beginnt morgen früh — ich habe eine Masse Vorbereitungen zu erledigen.«
Der Steuermann verbeugte sich mit tadellosem Anstand, dann verließ er das Zimmer und das Haus.
Als er die Straße betrat, schaute er unbemerkt zu einem Fenster empor.
»Sie hat gewartet,« murmelte er leise vor sich. »Die schöne Imma hat mich wiedererkannt! Was soll daraus werden? Verraten darf ich mich nicht, und zu einer flüchtigen Tändelei ist Flederwischs Schwester doch zu gut.«
Er hatte recht. Am Fenster stand die blonde Imma und schaute mit klopfendem Herzen und wogendem Busen hinunter zu dem kühnen, herrlichen Mann, der ihr in der furchtbaren Sturmnacht den Bruder rettete. Imma hatte nach dem Unbekannten geforscht, aber sie hatte nichts über ihn zu erfahren vermocht.
Nur darüber waren sich alle Fischer einig, daß es der tüchtigste Seemann gewesen, den sie gesehen — wenn nicht ein vom Himmel zur Rettung erschienener Engel. Als dann der Pfarrer in der Kirche für die Rettung der Schiffbrüchigen einen Dankgottesdienst abhielt, legte er der Predigt die Worte unter: Wie hieß der barmherzige Samariter? Niemand weiß es, die Bibel nennt nicht seinen Namen, und er hat auch nicht seine Belohnung abgeholt.
Heute erst hatte sie ihn wiedergesehen, vorhin, als sie eben zum Fenster trat, war er plötzlich unter den Passanten aufgetaucht. Mit stockendem Herzschlag hatte Imma ihn erkannt. Sie hatte das Fenster öffnen und ihn anrufen wollen, da war er quer über die Straße herübergekommen und ins Haus getreten — in ihr Haus! Imma hatte sich nicht zu fragen getraut, zu wem er kam — vielleicht zu ihrem Bruder — sie wartete, bis er wieder gehn würde, und inzwischen erlebte sie noch einmal die Ereignisse jener Sturmnacht.
Nun endlich sah Imma ihn wieder! Sie wollte, alle Scheu vergessend, rufen, aber wie hieß er denn? Sie bog sich weit, weit aus dem Fenster, nur um ihn zu sehen — da verschwand er um die Ecke. Sie war unglücklich. Dann erschrak sie heftig, ein Arm hatte sich um ihren Leib geschlungen.
»Schwesterchen, du wirst zum Fenster hinausstürzen. Wem zuliebe riskierst du denn dein Leben?«
»Ach, Paul, du bist es — nach dir — ich habe dich nicht kommen sehen,« stammelte sie verwirrt.
»Und doch bist du vor lauter Ausspähen ganz rot geworden? Schwesterchen, Schwesterchen!« drohte er lächelnd mit dem Finger. »Nun, du brauchst nicht gleich ein beleidigtes Gesicht zu machen, du hast dich nur zu weit hinausgelehnt. Was macht Tante?«
»Sie beaufsichtigt das Decken des Mittagstisches; da sei ich nur im Wege, sagte sie. Sie gibt das Essen, nur um dein neues chinesisches Porzellanservice zu zeigen — o, und was hast du mir mitgebracht!«
Sie erfaßte mit beiden Händen die seinen.
»Das Beste, was ich finden konnte, und doch noch nicht genug für meine liebe, schöne Schwester. Hast du das riesengroße Paket endlich ausgepackt? Schade, daß ich nicht dabeisein konnte. Du erwartetest wohl, etwas ganz andres darin zu finden als nur ein kleines Brillantkollier? Ja, ich hatte es ungefähr fünfhundertmal eingewickelt. Aber ich sehe dich ja schon in Toilette, und du trägst es nicht?«
»Es ist zu wertvoll.«
»Für dich ist nichts zu wertvoll, mir nicht, und deiner ist der Schmuck jeder Fürstin würdig. Du wirst es doch anlegen, mir zuliebe?«
Eine grenzenlose Zärtlichkeit sprach aus jedem seiner Worte, aus seinen Augen, wie er ihre Hand streichelte. Es war ein schönes Bild geschwisterlicher Liebe.
Der Lebensgang des Kapitäns Flederwisch ist bereits an andrer Stelle kurz geschildert worden, hier braucht nur noch nachgetragen zu werden, was jener Matrose nicht gewußt hatte.
Paul Müller, bekannter unter dem Namen Kapitän Flederwisch, war nicht beim Steuermannsexamen hängen geblieben. Er war sogar Reserveoffizier der kaiserlichen Marine, nur machte er kein großes Aufhebens davon, so gern er auch sonst renommierte. In England gab man nicht viel auf den Offizierstitel.
Nachdem aber Pauls Vater gestorben war, hatte sich herausgestellt, daß von dem vermeintlichen großen Vermögen desselben nur noch ein verschwindend kleiner Rest vorhanden war. Den Sohn traf diese Erkenntnis jedoch weniger hart als die Tochter, die blonde Imma, die nun aus dem trauten Vaterhaus hinaus sollte in den Strudel des Lebens, um als Erzieherin ihr Brot zu verdienen. Dem Bruder wollte sie nicht zur Last fallen.
Da hatte dieser sie überredet, erst einmal einer alten Tante in London einen Besuch abzustatten.
Diese Lady Muggridge hatte über Katzen, Hunden und dem Hüten ihrer Schätze das Heiraten vergessen, entgegen ihrer Schwester in Deutschland, von der sie im Charakter ohnedies grundverschieden war. Mit fragendem Staunen empfing sie den unangemeldeten Besuch der ihr ganz unbekannten Schwesterkinder, um schon nach einer Woche über dem ritterlichen Neffen ihre Katzen vergessen zu haben. Es war dem geschmeidigen Paul ein leichtes gewesen, sich in das Herz der alten Jungfer zu schmeicheln.
Imma blieb ganz im Hause der kränklichen Dame, wenn auch nur wegen des Bruders geduldet. Dieser musterte als zweiter Steuermann auf einem englischen Kauffahrer an, wurde noch auf derselben Reise zum ersten ernannt, bestand bei seiner Rückkehr das Kapitänsexamen für große Fahrt — für einen deutschen Marineoffizier ja alles Spielerei — machte noch eine Reise als Kapitän und sah sich dann nach einem eignen Schiffe um.
Wenn er aber geglaubt, die reiche Tante würde ihm eins kaufen, so hatte er sich geirrt. In Geldangelegenheiten hörte die Herrschaft des sonst vergötterten Lieblings auf. Beerben würde er sie, das hatte sie selbst gesagt; aber bei Lebzeiten bekam er keinen Penny, das merkte er jetzt. Schließlich brachte er doch die Summe zusammen, um für billiges Geld die ›Imma‹, eine hölzerne Bark, aber ein guter Segler, kaufen zu können. Noch schwerer wurde es dem unbekannten, jungen Kapitän, eine Ladung für das Schiff zu bekommen; hatte er es doch nicht einmal versichert, weil er, wie er hochmütig sagte, so etwas gar nicht nötig habe, er tat, als könnten ihm Sturm und Klippen nichts anhaben.
Endlich gelang es ihm doch, eine Ladung wertlosen Plunders nach New-York zusammenzubringen. Da plötzlich kam der Name der ›Imma‹ und ihres Kapitäns in aller Mund. Die elende Bark hatte alle bestehenden Rekorde gebrochen. Kapitän Paul Müller war von Liverpool nach New-York in nur elf Tagen gesegelt, und zurück, vom umgesprungenen Winde begünstigt, in nur wenig längerer Zeit.
Um zu verstehn, was das bedeutet, dazu muß man ein Seemann sein, und was dies für das see- und sportliebende England heißt, einen Engländer, der einem guten Kricketspieler eine fürstliche Leibrente aussetzt und ihm ein Denkmal errichtet. Kurz, Paul wurde plötzlich mit Aufträgen überschwemmt, die ›Imma‹ wurde in den Zeitungen besprochen wie das Rennpferd, das im Derby gesiegt hat, und da dem Kapitän das fabelhafte Glück treu blieb, da es schien, als habe er dem Wind und Wetter zu befehlen, wurde sein Name weit über die Seemannskreise hinaus berühmt, so berühmt wie der eines englischen Jockeis, der nicht unter tausend Pfund in den Sattel steigt. Damals kam auch der Name Kapitän Flederwisch für ihn auf.
Bald konnte er, von Kredit unterstützt, Ladungen auf eigne Rechnung nehmen; er wurde also zugleich Handelsherr; auch hierin zeigte er wahres Genie, und noch waren nicht fünf Jahre vergangen, als Kapitän Flederwisch für einen schwerreichen Mann galt, welcher einerseits Kredit über Millionen besaß, während ihm andre Firmen nicht einen Shilling anvertraut hätten.
Wie es möglich ist, als handeltreibender Seemann so schnell in die Höhe zu kommen, und was überhaupt bei der Seefahrt verdient wird, kann hier mit kurzen Worten erläutert werden, und es ist um so interessanter, als in nicht beteiligten Kreisen darüber noch eine völlige Unkenntnis herrscht.
Nehmen wir ein Schiff von 1000 Tonnen an, das ist für einen Segler ziemlich groß, für einen Dampfer noch sehr klein. Es nimmt von Amerika nach Europa volle Fracht Kaffee, also 1000 Tonnen, die Tonne hat 20 Zentner, das sind 2 Millionen Pfund Kaffee, und wenn pro Pfund nur 1 Pfennig Fracht gerechnet wird, so erhält der Schiffseigentümer schon 20.000 Mark. In Wirklichkeit ist es aber noch mehr. Die Beköstigung der Besatzung pro Woche und Kopf kostet 5 Mark — die Schiffe haben ja alles zollfrei, sie verproviantieren sich da, wo es am billigsten ist, in Amerika kostet z. B. ein Pfund Fleisch 10 bis 15 Pfennig — die Heuer pro Monat ist durchschnittlich, die Offiziere mit eingerechnet, 80 Mark, das sind so kleine Zahlen, daß sie bei einem Dampfer gar nicht in Betracht kommen. Ein Dampfer von 1000 Tonnen braucht bei einer mittleren Geschwindigkeit von 10 Knoten, 25 deutsche Meilen die Stunde, pro Tag à 24 Stunden 15 Tonnen Kohlen, à 20 Mark, das sind bei einer zehntägigen Fahrt von England nach New-York 3000 Mark, so daß also solch ein kleiner Dampfer jedesmal innerhalb von 10 Tagen 15.000 Mark rein verdient, dabei noch ganz bescheiden gerechnet, selbst wenn er nach jeder Fahrt in Dock geht.
Die Segelschiffahrt dagegen ist mehr ein Hasardspiel. Ein Segler kann bedeutend mehr einbringen als ein Dampfer, denn bei ihm fallen täglich die 300 Mark Kohlenkosten fort; er kann dies aber wieder zusetzen, wenn sich die Fahrt durch ungünstigen Wind verzögert.
Ein eisernes oder stählernes Schiff kostet pro Tonne zu bauen 300-400 Mark, der Prozentsatz des Verdienstes wäre demnach ein ungeheuerlicher, wenn nicht eins unerwähnt gelassen worden wäre: die Versicherung von Schiff und Ladung. Die frißt alles wieder auf und sorgt dafür, daß das Kapital höchstens zehn Prozent Zinsen abwirft.
Keine Gesellschaft wird es wagen, Schiff und Fracht unversichert zu lassen, schon ein kleiner Dampfer mit Kaffee repräsentiert einen Wert von 2 Millionen Mark, welche in jeder Minute für immer verschwinden können; das könnte höchstens ein einzelner Geschäftsabenteurer tun, der va banque spielt. Und Kapitän Flederwisch tat es. Daher mußte er enorme Einnahmen haben, um so mehr, als er nur eigne Fahrten machte, d. h. nie einen kostspieligen Lotsen an Bord nahm, auf Reede ankerte und so das Ankergeld, in einigen Häfen pro Stunde 100 Mark, ersparte; er nahm Fracht auf eigne Rechnung und bezahlte bar, seine Gewinne mußten kolossal sein — aber bei einem Unglück konnte er sich ruiniert haben und andre vielleicht auch.
Denn wie es mit ihm stand, ob er eignes Geld besaß oder mit fremdem arbeitete, das wußte niemand. An Land trat er auf, als hätte er über unermeßliche Schätze zu gebieten, hatte viele noble Passionen, doch dies bedeutete alles nichts. Es handelte sich nur darum, wie dieses Hasardspiel zur See noch einmal enden würde. Jedenfalls galt der Kapitän, bereits als Engländer nationalisiert, für den besten Seemann, und der ritterliche Abenteurer hatte einen Nimbus um sich verbreitet, der ihn bald zum Volkshelden machte. Bei seiner letzten Reise mit der ›Imma‹ hatte er das Schiff einem Freunde gegenüber aus Gefälligkeit nun aber doch einmal versichert, nur für diese eine Fahrt mit 50.000 Pfund, und wieder wurde er vom Glücke verfolgt.
Er erlitt den Schiffbruch bei den westfriesischen Inseln, und die Versicherungssumme mußte ihm ausgezahlt werden.
Jetzt erst konnte und wollte Kapitän Flederwisch ins große arbeiten, und ein scheinbarer Zufall, der ihn mit dem Steuermann Alfred Werner zusammenführte, half ihm abermals zu 50.000 Pfund Sterling, da konnte er den besten Segler kaufen und auch noch die Ladung bar bezahlen.
Daß Flederwisch wenigstens zum Teil anders rechnete, ist bereits erzählt worden.
Im Privatkontor der Firma Gebrüder Higgins, der größten Schiffsbauer Londons, saßen einige Herren um einen mit Schriftstücken und Zeichnungen bedeckten Tisch. Nach lebhaftem Gespräch war jetzt eine tiefe Stille eingetreten; alle diese ältern Männer, außer den beiden Brüdern Higgins der Geschäftsführer, ein Buchhalter und einige Ingenieure, blickten mit gespanntem Schweigen, das sich unverkennbar mit Ehrfurcht paarte, auf den jungen Mann, welcher, an dem Federhalter kauend, unverwandt auf das vor ihm liegende Papier stierte, wohl ohne die Zeilen zu lesen.
Es war der Kapitän Flederwisch, aber hier trat er ganz als ›Seegigerl‹ auf.
Alles an seinem Äußern war mit geckenhafter Eitelkeit berechnet. An den Anzug aus feinstem, seidenartigen Stoffe hatte ein erster Schneider seine ganze Kunst verschwenden müssen. Unter der blendend weißen Manschette sah man ein Brillantarmband blitzen. Die Finger der kräftigen braunen, aber sorgsam gepflegten Hand waren mit kostbaren Ringen förmlich bepanzert. In dem rotseidenen Schlips stak das Meisterwerk eines Juweliers, und an den Füßen saßen zierliche Lackschuhe — kurz, Kapitän Flederwisch machte hier den Eindruck eines eitlen Gecken.
»Die Zahlungsbedingungen sind doch äußerst leichte,« ließ sich da der ältere Higgins vernehmen, »und wie gesagt, Kapitän, es ist ein Segler, wie Sie ihn noch nicht unter Ihrem Kommando gehabt haben.«
Fürwahr, wer den berühmten Kapitän Flederwisch nicht kannte, der hätte sich diesen jungen Herrn mit Lackschuhen und Armband schwerlich als wetterfesten Kapitän an Bord eines Segelschiffes vorstellen können.
Die Worte hatten ihn aus seinem Brüten geweckt. Ein geringschätziges Zischen kam über seine Lippen. Mit einer hastigen Bewegung tauchte er die Feder in die Tinte und setzte mit kräftigen Zügen seinen Namen unter den Kontrakt.
Das von der Firma Higgins auf Risikoverkauf neuerbaute Segelschiff aus Stahl, auf netto 2000 Tonnen registriert, 2600 Tonnen Kargo tragend, das die Probefahrt glänzend bestanden hatte, war durch diese Unterschrift in den Besitz des Kapitäns Flederwisch übergegangen. Der volle Preis betrug 40.000 Pfund Sterling, und nach einem zweiten Schriftstück, welches jetzt dem Käufer vorgelegt wurde, war der vierte Teil der Summe bar auszuzahlen, der Rest in gewissen Terminen zu begleichen.
Doch der junge Kapitän griff nicht wieder zur Feder, verpflichtete sich nicht wieder durch Unterschrift. Er tastete mit der Hand nach der Brusttasche und blickte zerstreut um sich. Man erwartete, daß er nunmehr sein Scheckbuch ziehen würde.
Kapitän Flederwisch aber wiederholte nur mit staunenswertem schauspielerischen Talent den imponierenden Trick, den er von seinem Steuermanne Alfred Werner gelernt hatte.
»Wo habe ich denn —«
Sein Blick fiel auf das in keinem englischen Kontor fehlende Büfett, mit den zu einem englischen Geschäftsabschluß ebenso unumgänglichen Whiskyflaschen und Gläsern besetzt.
»Bitte, Mister Long, geben Sie mir doch dort das Päckchen herüber.«
Der Genannte reichte ihm das kleine, in Zeitungspapier gewickelte Paket, welches Flederwisch bei seinem Eintritt vor zwei Stunden achtlos auf den Nebentisch gelegt, sich auch nicht wieder darum gekümmert hatte. Er löste die Umhüllung, grüne Banknoten kamen zum Vorschein, er ließ den Rand flüchtig durch die Finger schnellen und warf sie dem Chef der Firma hin.
»Vierzig Tausendpfundnoten! Der Kasten gehört mir! Zählen Sie nach!« sagte er mit affektierter Gleichgültigkeit. Dann, als ihn noch alle wieder mit jener unsichern Ehrfurcht anblickten, sprang er plötzlich auf und schlug mit der flachen Hand so auf den Tisch, daß das Tintenfaß ausspritzte. »Frithjof soll sie heißen — die Frithjof!« rief er mit kräftiger, sonorer Stimme; es klang wie hervorbrechender Jubel; so blitzte es auch in seinen Augen auf, und er mußte mehrere Gänge durch das Zimmer machen, um seiner für die englischen Geschäftsleute unbegreiflichen Erregung Herr zu werden.
Es war eine mittelgroße, schlanke, elegante Gestalt, auch der stolze, elastische Schritt war gar nicht der eines an schwankende Bretter gewöhnten Seemannes, aber wiederum verriet schon der muskulöse Hals, daß man sich in diesem Manne vollkommen täuschte, wenn man ihn allein nach seinem Äußern beurteilte.
Ruhiger kehrte er auf seinen Sitz zurück. In einer Minute war das Geschäft beendet, ein Geschäft, wie es der Schiffsbauer so kurz und glatt noch nicht abgeschlossen hatte. Denn es handelte sich dabei um fast eine Million, und dieser Mann, nachdem er einmal gesonnen war, das Schiff zu nehmen, tat jetzt, als hätte er eben eine Kleinigkeit im Laden gekauft, als wäre das Barbezahlen etwas ganz Selbstverständliches, ja, wickelte die 800.000 Shilling aus einem alten Zeitungspapier heraus!
Wie konnten die Herren auch ahnen, daß sich eine ähnliche Szene erst vor kurzem in der Wohnung Flederwischs abgespielt hatte, und daß da dieser der Erstaunte gewesen war?
»Ja, Frithjof soll sie heißen,« wiederholte der Kapitän. »Die Taufe findet erst statt, wenn das Schiff fix und fertig ausgerüstet ist. Zehntausend Pfund werde ich an seine Einrichtung nach meinem Geschmack wenden — ja, zehntausend Pfund — ich denke, in zwei Monaten, die Herren sind natürlich dazu eingeladen.«
»Frithjof?« fragte der jüngere Higgins, einige Gläser auf den Tisch setzend. »Merkwürdiger Name, habe ihn noch nie gehört! Lieben Sie Whisky, Kapitän?«
Alle diese Herren machten nicht nur auf Bildung Anspruch, sondern waren als Engländer auch wirklich gebildet, doch der stolze Engländer will von ausländischer Literatur kaum etwas wissen, und so hatte von den Anwesenden niemand auch nur etwas von der Frithjofssage gehört. Der deutsche Kapitän schien sich nicht verpflichtet zu fühlen, sie darüber zu belehren, auch war ein andres Thema angeregt worden. Fragen wurden laut, er mußte ausführlich erzählen, wie er vor einigen Wochen sein letztes Schiff, eine Bark, verloren hatte. Nur der Schiffsjunge hatte dabei seinen Tod in den Wellen gefunden.
Der Kapitän bediente sich beim Erzählen eines Tones und Ausdruckes, der ganz seinem Äußern entsprach: hochtrabend, renommierend, jedes Wort beleidigend, nämlich dadurch, daß die Zuhörer meistenteils selbst ehemalige erfahrene Seeleute waren, gegenüber dem jungen Fant überhaupt ernste, alte Männer, und ein Wunder war es nur, daß sie so andächtig bewundernd zuhörten und, wenn sie doch einmal ein Wort wagten, sich — um einen deutlichen Ausdruck zu gebrauchen — über den Mund fahren ließen. Nur Er war ein Seemann, nur Er wußte und konnte alles, die andern waren für ihn gar nichts. Und daß sich dies sogar der alte, reiche Schiffsbauer bieten ließ, daran konnte sicher nicht nur der gute Geschäftsabschluß schuld sein, noch weniger imponierten dem die Diamanten und die Lackschuhe; hier mußte etwas ganz andres vorliegen, was den englischen Herren solchen Respekt einflößte.
Der Erzähler wurde unterbrochen.
Nach kurzem Anklopfen trat ein Mann ins Zimmer, ein dunkelfarbiger Mulatte in Seemannsanzug, zwar weit über Mittelgröße, aber durch seine gedrungene Bauart, die mächtigen Schultern und den ungeheuren Stierkopf kleiner erscheinend, als er wirklich war. Er war nicht mehr jung, sein bartloses Gesicht mit der breiten Nase und den wulstigen Lippen zeigte tiefe Falten, aber dabei alles von einem steinharten Ausdruck. Wie der Mann bewegungslos an der Tür stand, die Anrede erwartend, das Auge, dessen Weißes von unzähligen blutigen Äderchen durchlaufen war, unverwandt auf den jungen Kapitän geheftet, glich er einer Statue aus Erz.
»Was gibt es, Manuel?« fragte dieser.
Mit dröhnendem Schritt seiner schweren Schuhe ging der Mulatte auf Flederwisch zu und überreichte ihm ein Kuvert. Der Kapitän erbrach es, las das Billett und lachte.
»Meine Schwester ist zu liebenswürdig, mehr noch vorsichtig,« sagte er leichthin, »sie teilt mir mit, daß meine Tante, bei der auch ich wohne, leider wohnen muß, heute mittag Tischgäste hat, und zwar auch Damen, das ›Damen‹ unterstrichen. Das heißt nämlich mit andern Worten: erscheine anständig, betrink dich nicht! Hahaha, diese Weiber!«
Er mußte gar nicht wissen, wie frivol und seiner Schwester gegenüber geringschätzend diese Worte klangen, doppelt frivol für die Ohren von englischen Gentlemen, und welchen schlechten Charakterzug er dadurch offenbarte.
Immer noch lachend, füllte er ein großes Wasserglas mit Jamaika-Rum.
»Hier, Kerl, zeige, was du verträgst!«.
Selbst die ehemaligen Seeleute, an Spirituosen gewöhnt, sahen fast mit Entsetzen, wie der Mulatte den halben Liter des furchtbar starken Getränkes, flüssiges Feuer, mit einem Zuge hintergoß, ohne eine Miene zu verziehen. Ebensowenig hatte er das Glas erhoben, etwa den Herren Gesundheit wünschend, wortlos setzte er es wieder hin; schweigend und finster stand er da.
»Ist das nicht Ihr Bootsmann, Kapitän?« fragte ein Ingenieur mit leisem Befremden.
»Mein Bootsmann! Und was für ein Kerl, was? Eine Bulldogge in Menschengestalt! Ja, ich füttere die Bestie aber auch gut, daß der Wutstoff in den Blutzellen zur Entwicklung kommt. Dorthin an die Tür stelle dich!«
Manuel gehorchte.
Sein Herr nahm vom Büfett eine große Scheibe Roastbeef und warf sie ihm mit einem »Fang!« geschickt zu; noch geschickter aber fing sie der Mulatte, nur mit den Zähnen, ohne die Hände zu benutzen, und so verschlang er das halbblutige Fleischstück hinter seinem glänzenden Wolfsgebiß.
Es war etwas dabei, was die Anwesenden äußerst unangenehm berührte. Ein Bootsmann bildet die Übergangsstufe zum Offizier, er will mit Respekt behandelt sein, der Kapitän aber behandelte den seinen wie einen Hund, und so benahm sich der Mulatte auch. Das war gar kein Mensch mehr, er erniedrigte sich selbst zum Tier. Es schien ihm sogar zu gefallen; sein Bulldoggengesicht verzerrte sich zu einem freundlichen Grinsen, und das wollte wiederum zu dem Trotz nicht passen, der sich sonst darin ausprägte. Es war eine ebenso beleidigende und abscheuliche, wie unheimliche Szene.
»Verschwinde, Kerl!« befahl jetzt Flederwisch.
Der Mulatte machte kehrt und verließ das Zimmer ohne Gruß, ohne ein Wort gesprochen zu haben. Dort, wo er gestanden, bedeckten den Boden Blutstropfen, die von seinen Lippen geflossen waren.
Es folgten noch einige geschäftliche Auseinandersetzungen, während welcher Flederwisch jetzt den Likörflaschen, sich Mischungen bereitend, trotz der Warnung seiner Schwester, wiederholt zusprach, bis ein Diener meldete, des Kapitäns Wagen sei vorgefahren.
Dieser empfahl sich mit einem »Good bye!« Die Herren aber eilten an die Fenster, von einem und demselben Gedanken beherrscht, als sie jenen in die vor dem Hause harrende Equipage steigen sahen, leichtfüßig, graziös, ganz harmonierend mit dem eleganten Gefährt, bespannt mit zwei feurigen Rossen.
»Ein seltsamer Mensch, ein vollkommenes Rätsel!« meinte der jüngere Higgins kopfschüttelnd.
»Never mind,« entgegnete der ältere Bruder, »er hat bezahlt, und ob er nun einen Scheck ausstellt oder die Tausendpfundnoten aus dem Frühstückspapier wickelt, was geht's uns an? Jedenfalls ist es ein Vergnügen, mit solch einem Manne ein Geschäft zu machen.«
Nur der erste Buchhalter, ein bejahrter, kleiner Mann mit träumerischen Augen, stand abseits und blickte gedankenvoll nach den häßlichen Blutflecken am Boden.
»Nun, was denken denn Sie von diesem deutschen Kapitän?« wandte sich lächelnd ein Ingenieur an ihn.
Der alte Buchhalter galt für einen Schwärmer und Philosophen, welcher gern über den Zweck des Daseins und die Bestimmung des Menschen nachgrübelte.
Mit einem Seufzer erwachte der Gefragte aus seinem Brüten.
»Schade, daß er kein Engländer und nicht einige Jahrhunderte früher geboren worden ist. Er wäre ein gewaltiger Held geworden.«
»Ja, ein kühner Seeräuber!« lachte der andre.
»Er ist auch jetzt ein gewaltiger Mensch,« entgegnete der Kleine feierlich, und dann setzte er leise hinzu: »Und daran wird er zugrunde gehn!«
Bevor Kapitän Flederwisch der Einladung der Lady Muggridge zum Mittagessen entsprach, ließ er sich noch zum Rechtsanwalt Washington Perkins fahren, den er in dessen Privatarbeitszimmer fand.
Perkins war auch Notar und stand in reger geschäftlicher Verbindung mit Lady Muggridge, deren Reichtümer er verwaltete. Durch die Empfehlung der Dame war er auch zu Flederwisch in Beziehungen getreten und erteilte diesem oft anscheinend uneigennützige Ratschläge in Geldangelegenheiten.
Der Rechtsanwalt war nicht gerade mit einem einnehmenden Äußern begabt. Auf zierlichen, wohlgeformten, aber viel zu dünnen Beinchen ein plumper Rumpf mit Embonpoint, auf dicken, kurzen Hals unbeweglich ein Kopf gesetzt mit zurücktretender Stirn, darüber glattgestrichen das spärliche Haar, ein nichtssagendes Gesicht, mit hervorquellenden Augen, ein Mund mit schmalen Lippen, die fast von einem Ohre bis zum andern reichten.
Der Beschreibung nach ist solch ein Froschgesicht überaus abstoßend, aber in Wirklichkeit ist es nicht der Fall, im Gegenteil, es macht meist einen gutmütigen Eindruck, und so war es auch bei Mister Perkins, obgleich die Natur sein Antlitz zum Überfluß noch mit Pockennarben entstellt hatte. Außerdem sind die Besitzer solcher Froschphysiognomien gewöhnlich Männer von großer Geisteskraft, und so blickten auch die wässerigen Augen des Rechtsanwaltes durch die Gläser der Brille recht klug in die Welt.
Er hatte dem Kapitän auch jenes Dokument ausgestellt, laut dessen er als alleiniger Erbe des Vermögens seiner alten Tante beglaubigt wurde, jenen Schein, den der ermordete Davis als Bürgschaft empfangen hatte, und der seit der Schreckensnacht mit den andern Papieren zusammen spurlos verschwunden war.
Kapitän Flederwisch hatte, wie bekannt, von seinem Steuermann Werner bar 50.000 Pfund Sterling empfangen. Ebensoviel hatte die Versicherungssumme für die ›Imma‹ betragen, und von dieser Riesensumme hatte der Kapitän doch nur 65.000 Pfund verausgabt. 10.000 Pfund wollte er noch auf die innere Ausstattung des neuen Schiffes verwenden, da blieben ihm, kleinere Nebenausgaben mitgerechnet, immer noch 20.000 Pfund, also ein recht hübsches Kapital. Trotzdem kam Flederwisch einer Anleihe wegen zu seinem Rechtsanwalt.
Ein Bureauvorsteher, den der Kapitän noch nicht hier gesehen hatte, und der allein in dem eigentlichen Geschäftsraum weilte, meldete den Besuch seinem Herrn an, dann zog er sich in das Vorderzimmer zurück. Hier eilte er sofort zur Eingangstür, verriegelte sie sonderbarerweise und lauschte dann einen Moment.
Es war alles still. Klienten waren außerhalb der Expeditionszeit nicht zu erwarten.
Leise huschte der sonderbare Bureauvorsteher zu der Türe, die ins Arbeitszimmer seines Chefs führte, beugte sich nieder, legte das eine Ohr an das Schlüsselloch und horchte.
»Dachte ich es mir doch,« murmelte er nach geraumer Zeit, »er will noch mehr Geld haben, aber daß er dafür bereit sein könnte, auf die Zumutungen des Mister Perkins einzugehn, das traue ich dem Flederwisch von einem Schmugglerkapitän denn doch nicht zu! Ha, Nobody,« fuhr der Mann nach einer kurzen Pause ebenso leise fort, »das war ein glücklicher Einfall, daß du dich probeweise von diesem Rechtsanwalt engagieren ließest!«
Ohne durch eine Miene zu verraten, daß er ihr Gespräch belauscht hatte, stand der Bureauvorsteher an seinem Pult, als die Herren die Expedition durchschritten. Der Inhalt der Unterredung aber war ein recht schwerwiegender gewesen.
»Nun, mein lieber Perkins, haben Sie das Geld aufgetrieben?«
Mit diesen Worten war Kapitän Flederwisch in das Arbeitszimmer getreten.
Langsam erhob sich der Rechtsanwalt. Er hatte den Kommenden erwartet.
»Zehntausend Pfund habe ich aufgetrieben, fünftausend verschaffe ich Ihnen bis morgen,« entgegnete seine fettige Stimme, »beides zu zehn Prozent.«
Flederwisch stieß einen Fluch aus, schleuderte den feinen Filzhut auf das Sofa und setzte sich.
»Wieder zehn Prozent! Immer zahlen und immer zahlen! Ist denn nur jeder Geldmann zum Halsabschneider geworden? In Deutschland wäre das Wucher!«
»In England nicht. Bei mäßigen Zinsen verlangt man wenigstens sichere Papiere, und wer sein Geld bei Ihnen riskiert, tut es nur gegen hohe Zinsen.«
»Ist es bei mir nicht etwa ebenso sicher?«
»Durch die Versicherung, das ist aber auch alles, und zu der mußte ich Sie erst bewegen. Daß Sie bisher Ihr Schiff nie versichert haben, hat Sie in den Ruf eines gefährlichen Spekulanten gebracht. Sie können froh sein, daß ich eine solche gewaltige Summe überhaupt noch für Sie zusammengebracht habe. Dann gibt es bei der Seefahrt auch noch andre Fälle zu bedenken. Ihre Gläubiger rechnen damit, daß sie doch einmal das leere Nachsehen haben könnten, wenn Sie sich auf etwas einließen, was das Gesetz nicht erlaubt, etwa auf einen Schmuggel ...«
Bisher hatte der sonst so stolze Flederwisch ruhig zugehört. Er mußte dem Rechtsanwalt tief verpflichtet sein, daß er es überhaupt tat. Jetzt fuhr er empor, und mit wildem, fast verstörtem Ausdruck blickte er den Sprecher an.
»Was sagen Sie da?« stieß er rauh hervor. »Was trauen Sie mir zu?«
»Nun, nun,« beschwichtigte der andre, ohne ihn anzusehen, »ich meinte ja nur, daß es eben Fälle gibt, bei denen man den ganzen Einsatz trotz der Versicherung mit einem Schlage verlieren kann. Mir fiel gerade der Schmuggel ein. Ebensogut hätte ich sagen können, wenn Sie ohne Lichter fahren — diese sind durch Zufall ausgegangen. Sie werden gerammt — weder für Ihr Schiff, noch für Ihre Ladung wird ein Penny Ersatz geleistet. Das kann bei Staatspapieren und Grundstückshypotheken doch nicht vorkommen.«
Der Kapitän hatte sich wieder beruhigt, und leise, fast wie klagend, ganz seltsam kontrastierend zu dem schönen, stolzen, kühnen Antlitz, kam es über seine Lippen:
»Sie haben recht. Aber ich — aber ich — unter welcher Arbeit, unter welchen Strapazen und Gefahren muß ich mein Geld verdienen! Ich schlage mein Leben hundertmal dafür in die Schanze; die glühende Sonne dorrt meine Knochen aus; eisige Wogen lassen mein Blut erstarren, oft lechze ich nach einem Trunk faulenden Wassers, und von Würmern zerfressenes Hartbrot ist meine Nahrung, ich arbeite, ringe und darbe — und alles, alles nur für andre!«
Perkins entgegnete auf diesen Gefühlsausbruch nichts, er wandte sich ab und griff nach den Geschäftsbüchern. Beide gingen dann dieselben durch.
Der junge Kapitän hatte wohl Ursache, einmal zu verzweifeln, aber kein Recht, zu klagen, und ebenso zeigte es sich hier, daß er auch Grund hatte, seine Geschäfte von einem Freunde, der etwas davon verstand, nicht aber von einem berufsmäßigen Bankier führen zu lassen.
Mit Schulden hatte er begonnen — das war unvermeidlich gewesen — aber die Schuldenlast war fort und fort gewachsen, trotzdem die Bücher enorme Einnahmeposten verzeichneten — die Ausgabe war immer größer gewesen. Auch Perkins war als Gläubiger stark beteiligt; selbst der Schwester kleines Kapital war mit verwendet worden, ohne deren Wissen; jetzt hatte Flederwisch eine Schuld von über einer Million und jährlich mehr als 30.000 Pfund Zinsen zu zahlen, und die wollten allerdings auch erst mit einem Schiffe verdient sein. Wiederum aber bewies die Buchung, daß die Zinsen regelmäßig und pünktlich beglichen worden waren. Es war ein rätselhaftes Gemisch von Ordnung und Liederlichkeit: große Summen verschwanden spurlos, und dabei war der Kapitän kein Spieler. Das Geld zerrann ihm eben unter den Händen.
Der Rechtsanwalt, der bisher gestanden hatte, entlastete seine dünnen Beinchen, indem er den schweren Körper auf einen Stuhl fallen ließ. Er putzte mit einem gewaltigen Taschentuche erst die Nase, dann die Brillengläser und drehte sich endlich Flederwisch zu.
»Wie soll das enden?« begann er mit väterlicher Teilnahme.
Aber der Gefragte befand sich jetzt nicht mehr in sentimentaler Stimmung. Trotzig warf er den Lockenkopf zurück und lächelte.
»Gut, sehr gut! Mit dem neuen Schiffe wird es anders! Sie werden staunen, wie ich mich ändern werde, die Frithjof faßt doppelt so viel, wie die Imma, ich werde doppelt so viel verdienen, mehr noch, ich habe ein kolossales Geschäft mit ihr vor, es macht mich zum reichen Mann. In einem Jahre ist alles gedeckt, ich verspreche es Ihnen. Passen Sie auf, was für Summen ich Ihnen abliefern werde! Bah, was haben denn die lumpigen paar tausend Pfund zu bedeuten?«
Perkins schüttelte ungläubig den Kopf.
»Ich traue Ihren guten Vorsätzen nicht mehr. Sie sind ein Geschäftsgenie, aber ein leichtsinniges, wie die Genies einmal sind. Sie haben das neue Schiff nicht zu teuer gekauft, aber wozu diese Unsummen für die innere Ausrüstung? Ihre Schiffskabine soll ein wahrer Prunksalon werden, mit Mahagoni verkleidet ...«
»Das ist mein einziges Vergnügen,« unterbrach ihn Flederwisch schnell. »Meinen Beruf verstehe ich, ich arbeite, ich scheue nichts, ich kann darben, aber dafür will ich mich auch mit etwas Komfort umgeben.«
»Dagegen will ich gar nichts sagen. Aber wozu in aller Welt diesen Luxus, den Sie mit Ihrer Mannschaft treiben?«
»Mann, das verstehn Sie nicht! Dafür habe ich die beste Mannschaft der Welt an Bord; jeder Matrose ist bei mir ein Mann vom Scheitel bis zur Sohle, ich habe sie mir einzeln zusammengeholt aus allen Erdteilen, jeder ist unbezahlbar, und durch sie eben kann ich leisten, was ich im Segeln leiste.«
»Doch, das verstehe ich als Engländer, daß Sie mit dem Geschäft den Sport verbinden ...«
»Nein, eben weil Sie ein Engländer sind, können Sie mich nicht verstehn,« unterbrach ihn Flederwisch wieder, diesmal aber aufspringend, und mit einer ganz unmotivierten Leidenschaft. »Ihr Engländer huldigt dem Sport mit Leib und Seele, ihr betet das im Derby siegende Pferd an, für euch Engländer aber ist es doch nur ein Tier, ihr taxiert nur seine Knochen, Muskeln und Sehnen. Bricht es zusammen, so wird es getötet, und eure Liebe wendet sich dem Nachfolger zu. So ist für euch die schnellste Jacht auch nichts weiter als eben eine Jacht aus Holz. Ganz anders bei mir! Mein Schiff ist nicht nur meine Freude, mein Stolz, es ist mit mir verschmolzen, ich fühle seinen Herzschlag und seine zitternde Kampfbegier, sich mit Sturm und Wogen zu messen, es erbebt unter meiner Faust wie das Roß, und auch das Schiff fühlt mit mir, und zum Schiff gehört die Mannschaft! O,« fuhr er mit wachsender Leidenschaft fort und streckte die geballte Faust empor, »in der Frithjof will ich mein Ideal verwirklichen, ein Schiff will ich schaffen, wie es die Welt noch nicht geschaut hat, ein Heldenschiff, bemannt mit Helden, und der Kühnste und der Stärkste und der Edelste ist der König ...«
Er brach kurz ab, sank zurück und strich sich das Haar aus der Stirn.
»Doch was phantasiere ich Ihnen da vor! Nicht einmal Imma versteht mich, kein Mensch, am wenigsten ein beefsteakliebender Engländer wie Sie.«
Allerdings, für Perkins waren es ganz unverständliche Worte gewesen.
»Sie sind ein Phantast,« meinte er trocken.
»Das bin ich, ich sage es ja selbst. Aber ich bin auch der Mann, mein Ideal zu verwirklichen.«
»Das wäre ja alles recht schön und gut, wenn Sie nur auf einer geordneten Unterlage aufbauten. Ich will nichts davon sagen, daß Sie die ganze Mannschaft behalten, auch wenn das ganze Schiff nichts zu tun hat, was freilich kein andrer Kapitän tut, daß Sie Gehälter zahlen, als wären die Matrosen Künstler, daß Sie sie, wenn angängig, mit wahrer Hotelkost füttern. Auch davon will ich nicht sprechen, daß Sie jetzt wieder für alle beim ersten Schneider neue, eigne Uniformen bestellt haben, daß Sie ihnen richtige Schlafsalons bauen lassen. Das sind Passionen, die Sie sich noch leisten können. Wie ich gehört habe, hat jetzt jeder auch noch ein Zweirad bekommen, damit er in Afrika oder China mit Ihnen spazieren fahren kann. Kostenpunkt: vierhundertundfünfzig Pfund, nur erstklassige Maschinen, dort liegt die Rechnung. Aber ist es denn nötig, daß Sie den Matrosen in jedem Hafen glänzende Feste geben, bei denen der Champagner in Strömen fließen soll? Muß das denn zu allem übrigen auch noch sein?«
»Jawohl, das muß sein!« entgegnete Flederwisch trotzig, wenn auch lächelnd. »Basta, meine Burschen sollen sich amüsieren, das ist nun einmal meine Freude!«
Der Rechtsanwalt schneuzte sich wieder, dann legte er die fleischige Rechte dem Kapitän vertraulich aufs Knie.
»Ich möchte mit Ihnen einmal ganz offen über Ihre Lage sprechen.«
»Ich dächte, Sie ließen es nie an der nötigen Offenheit fehlen. Nur keine Epistel mehr, bitte! Oder können Sie mir einen Vorschlag machen, wie ich meine Gläubiger mit einem Schlage loswerde? Dann höre ich gern zu.«
»Ich glaube, ich kann es.«
»Ah, das wäre?« rief Flederwisch überrascht.
Aber erst mußte er sich doch gefallen lassen, daß ihm Perkins nochmals seine bedrängte Lage auseinandersetzte. Wenn ihm jetzt jemand eine Hypothek kündigte, kam das neue Schiff sub hasta. Immer ungeduldiger wurde der Kapitän. Das wußte er alles selbst. Dann aber horchte er hoch auf, als jener fortfuhr:
»Ich habe jetzt gerade alle meine Gelder flüssig bekommen. Ich kündige sämtliche Hypotheken und stecke mein ganzes Geld in Ihr Schiff und Ihre Unternehmungen, und zwar nur zu drei Prozent, hören Sie? Zu nur drei Prozent! Dies allein bedeutet für Sie schon eine jährliche Ersparnis von siebentausend Pfund, mit der Sie mich abbezahlen. Außerdem bin ich bereit, mich mit noch einigen Tausenden zu beteiligen, denn die zweitausend Tonnen Ihres neuen Schiffes wollen auch geladen sein, und Sie operieren doch wieder auf eigne Faust, und selbst, wenn Sie ganz billige Fracht nehmen, kommen Sie unter einer halben Million nicht weg. Ich vertraue Ihrem Finanzgenie, ich beteilige mich daran, nur zu drei Prozent. Nun?«
Auf Flederwischs Gesicht trat ein seltsamer Zug hervor, ein Gemisch von Unglauben, freudigem Erstaunen und Mißtrauen. »Alle Teufel, höre ich recht? Mensch, Perkins — daß Sie dick in der Wolle sitzen, weiß ich ja — aber warum haben Sie mir diesen Vorschlag nicht schon früher gemacht?«
Der Zug der freudigen Überraschung schwand, nur der des Mißtrauens blieb, und der Kapitän irrte sich nicht — eine Gefälligkeit sollte der andern wert sein.
»Paul,« fuhr Jenkins noch vertraulicher fort, »Sie hatten Ihre Schwester erwähnt. Sie steht ganz allein in der Welt, denn Sie sind ja nie zu Hause ...«
»Bitte, Imma hat ihre Tante,« fiel Flederwisch ein, nur um einen Augenblick Zeit zu gewinnen. Er sah den Mann mit dem pockennarbigen Gesicht, den Glotzaugen und den Froschschenkeln, und daneben tauchte das liebreizende Bild seiner Schwester auf.
»Die kränkliche Dame kann ihr erst recht keine Stütze sein. Übrigens, Sie verstehn, wo ich hinaus will, also offen: Sie kennen mich, meine Verhältnisse und meinen Charakter, ich bin Ihrer Schwester in Gesellschaften begegnet, ich liebe Imma, und ich glaube, sie ist mir nicht abgeneigt, wenn ich auch noch keine Gelegenheit hatte, ihr in Worten das zu sagen, was mich seit langem für sie erfüllt ...«
Flederwisch hörte nicht mehr, was jener weiter sprach. »O, du Schuft, du willst mir meine Schwester abkaufen!« dachte er. »Du hast meine schwache Seite erkannt und willst mich daran fassen, aber meine Ehre taxierst du doch zu niedrig.«
»Wollen Sie auf meinen Vorschlag eingehn?«
»Auf was für einen Vorschlag?« erwachte der Kapitän aus seinen Gedanken.
»Daß Sie bei Ihrer Schwester mein Fürsprecher sind. Es ist selbstverständlich, daß ich für meinen zukünftigen Schwager Interesse habe und ihm helfe, wie ich kann.«
Er hatte das ›zukünftig‹ betont, und das gab den Ausschlag. Es war in der Tat kein unbilliges Verlangen, es war ein Geschäft; Perkins wußte, welch großen Einfluß Flederwisch auf die unerfahrene Schwester ausübte.
Der Kapitän erhob sich, er war Geschäftsmann und Gentleman zugleich.
»Lieber Freund,« sagte er mit möglichst herzlichem Tone, »ich habe durchaus nichts gegen Sie, es sollte mich freuen, Sie als meinen Schwager begrüßen zu können, und ich werde auch zu meiner Schwester für Sie sprechen, auf mein Wort! Doch jetzt kann ich Ihr Anerbieten erst recht nicht annehmen. Ich weiß, Sie meinen es nicht so; aber es verträgt sich nicht mit meiner Ehre; mir käme es vor, als hätte ich meine Schwester verkauft. Nichts für ungut, wir bleiben die Alten, und das Weitere wird sich finden!«
Es war zugleich sein Abschiedswort gewesen, er ging.
Der Rechtsanwalt aber stand oben mitten im Zimmer und blickte nach der Tür, welche sich hinter der eleganten Gestalt geschlossen hatte; jetzt war der gutmütige Ausdruck des Gesichts verschwunden. Die wässerigen Augen funkelten boshaft, und ein namenlos verächtlicher Zug lagerte sich um die breiten Lippen.
»Du Narr,« machte sich das, was der Mann dachte, endlich in Worten Luft, »du elender, eitler, aufgeblasener Hanswurst du! Du sagst mir, es vertrüge sich nicht mit deiner Ehre, deine Schwester zu verkaufen? Hast du, geckenhafter Abenteurer, denn überhaupt noch Ehre? Du bist noch zu etwas ganz anderm fähig! Ein Ende mit Schrecken nimmt es noch mit dir! Ich ahne, ich ahne, deine Wege gehn schon sehr dicht am Zuchthaus vorüber. Warte, wir sprechen uns wieder, wenn die Quelle, welche du in ein grundloses Loch leitest, erschöpft ist, und deine Schwester bekomme ich schließlich auch ohne dich!«
Nobody, der neue Bureauvorsteher, saß tief gebeugt über seinen Akten, und doch entging ihm kein Wort dieses Selbstgespräches.
Imma, von der hier die beiden eben in so geschäftsmäßiger Weise gesprochen hatten, führte nicht eben ein freudenreiches Dasein im Hanse der englischen Tante. Sie wußte nicht nur, daß sie bloß als Anhängsel des Lieblings geduldet wurde, sie bekam dies sogar öfter von der rücksichtslosen Dame zu hören; nun sie einmal da war, konnte sie die alte, kränkelnde Tante pflegen. Sie verdiente sich also ihr Brot schwer genug.
Auch Imma schwärmte für den schönen Bruder, den kühnen Seehelden, sie liebte ihn mit der ganzen Kraft ihrer Seele, und doch stieß eine unsichtbare Macht sie von ihm ab. Es war das Gefühl der reinen Unschuld, welche ahnend vor der mit Sünden besteckten Atmosphäre des abenteuerlichen Mannes in sich zusammenschauert, und ihre weiße Stirn brannte stets noch lange, wenn seine Lippen sie berührt hatten, sie scheute sich, ihm den unentweihten Mund zu bieten.
Ganz anders Lady Muggridge! Wenn sich Paul in London befand, mußte ihr Abgott natürlich bei ihr wohnen, und es war selbstverständlich, daß er hier als untadelhafter Gentleman auftrat. Aber die alte Jungfer forderte ihn selbst auf, zu erzählen, wie es draußen zuging, sie wollte galante Abenteuer hören, es konnte ihr nie toll genug werden, und Flederwisch konnte allerdings erzählen, und wenn Imma bei solchen Gelegenheiten auch ferngehalten wurde, ihre keuschen Ohren bekamen doch manches zu hören, was sie um des geliebten Bruders willen bis zum Tode betrübte.
Aber noch etwas gab es, was sie manchmal in Pauls Gegenwart erzittern ließ. Sie war sich ihrer Hilflosigkeit und Schwäche bewußt, und sie fühlte den mächtigen Eindruck, den der wilde Mann nicht nur auf sie, sondern fast auf jeden Menschen mit nicht ganz gestähltem Charakter ausübte. Sie bebte unter seinem Blicke, wie die Taube unter dem der Schlange, wenn diese auch gesättigt ist.
Deshalb war es ihr überaus peinlich, daß der Bruder sie überrascht hatte, als sie dem blonden Fremden nachschaute. Flederwisch aber merkte nicht, warum die Schwester so tief errötet war.
Er gab sie aus seinen Armen frei und sagte:
»Es freut mich, daß ich dich einmal allein sprechen kann. Bitte, setze dich, ich habe eine Frage — es betrifft deine und meine Zukunft.«
Erschrocken sank Imma plötzlich auf einen Stuhl. Das war einer jener Momente, da sie sich ihrer Schwäche bewußt ward, und noch mehr ihrer willenlosen Ohnmacht dem starken Bruder gegenüber. Dann befand sie sich stets wie in einem hypnotischen Banne. Sie wußte noch gar nicht, was kommen würde, aber schon jetzt schrie es in ihrem Innern: ›Nein, nein, ich tue es nicht!‹ während ihr Mund schon bereit war, zu allem ›ja‹ zu sagen.
Der Kapitän hatte erst einen Gang durchs Zimmer gemacht, ehe er sich der Schwester gegenübersetzte.
»Sieh mich nicht so angstvoll an, Imma, ich will ja nur dein Bestes, das weißt du doch. Laß uns offen miteinander reden. Wir sind doch in der Welt allein aufeinander angewiesen — vorläufig wenigstens. Also kurz gefaßt! Es hat soeben jemand bei mir um deine Hand angehalten.«
Imma legte die Hand auf das Herz, dessen Schlag plötzlich aussetzte.
»Wer?« flüsterte sie tonlos.
»Rechtsanwalt Perkins. Er glaubt deiner Neigung sicher zu sein und hofft bestimmt, dich glücklich machen zu können.«
»Ich kenne ihn gar nicht,« murmelte Imma, »aber wenn du es wünschest ...«
»Mädchen, was fällt dir denn ein?« lachte er hell auf. »Bin ich denn Herr über deinen Leib und deine Seele, daß du dich so gebärdest? Nein, ich wünsche es nicht, so gut Perkins auch meine Interessen wahrt — sympathisch war er mir niemals. Ich dachte nur, du fühltest vielleicht für ihn ...«
»Nein, nein, ich liebe ihn nicht!«
»Beruhige dich doch nur,« lachte der Bruder, »du brauchst ihn ja nicht zu heiraten.« Dann fuhr er fort: »Der Rechtsanwalt gestand mir seine Neigung zu dir, bat mich, sein Fürsprecher zu sein, und ich habe hiermit meine Pflicht als Ehrenmann getan. Trotzdem,« — seine Stimme nahm wieder einen ernsten und doch zugleich zärtlichen Ton an — »Schwesterchen, ich möchte weiter über deine Zukunft mit dir reden. Wenn ich dir sage, daß du einen Beschützer brauchst oder besser einen Gatten, so brauchst du nicht an eine Spekulation meinerseits zu denken. O, solche Gedanken sind mir überhaupt ja ganz fremd. Mein Beruf hält mich von dir fern, eine zweite Heimat kann dir dieses Haus doch nie werden. Die Tante ist alt und schrullenhaft. Du stehst ganz allein, und nach ihrem Tode müßtest du dir doch wieder ein neues Unterkommen suchen. Nimm denn auch einmal den Fall an, es passierte mir ein Unglück auf einer meiner weiten Seefahrten. Du bist dann ohne jede Hilfe und Stütze in einem fremden Lande, ja, selbst ohne hinreichende Geldmittel, um dich vor Not und Entbehrungen zu schützen. Laß uns einmal offen gegeneinander sein, Imma! hast du schon an eine Heirat gedacht?«
»Nein,« lispelte sie, und es klang so naiv, daß der Kapitän wieder lächeln mußte.
»Na denn, liebst du jemanden? Aber sage nicht: den lieben Gott, dich und die Tante! Himmel, du bist doch kein Kind mehr! Du verstehst mich doch! Liebst du einen Mann?«
Da tauchte vor Immas Augen jener Unbekannte auf, dessen blutende Hand sie verbunden und den sie heute ganz unvermutet wiedergesehen hatte. Ihr Herz sagte ja, und ihr Mund verneinte des Bruders Frage.
Flederwisch blickte sie forschend an. Er glaubte, die Frauen von Grund aus zu kennen, aber das spiegelte ihm nur seine Eitelkeit vor — er kannte sie gar nicht, höchstens eine gewisse Sorte. Daher war er überzeugt, daß seine Schwester die Wahrheit sprach.
»Nun, Imma,« fuhr er fort, »du weißt, wie ich die Welt ansehe. Von Vorurteilen betreffs des Standes bin ich schon längst abgekommen. Für mich gilt der Mann nur durch sein Können. Heirate, wen du willst, er soll mir als Schwager willkommen sein, und daß meine Schwester ihr Herz keinem Unwürdigen schenkt, weiß ich. Aber du bist noch jung und unerfahren und — nimm es mir nicht übel — schrecklich naiv. Du kannst dich täuschen und betrogen werden. Dann müßte eine rauhe Hand kommen und dir manch schreckliche Stunde bereiten. Darum laß einen Erfahrenen für dich wählen — du bestätigst nur die Wahl — und wenn nicht, dann ist es auch gut! Gestattest du also, daß ich mich, solange ich noch hier bin, nach einem geeigneten Manne umsehe und ihn dir als Freier zuführe? Sieh, ich frage: Gestattest du? Von einem Zwange ist also keine Rede. Ich möchte mein Schwesterchen so gern in guten Händen wissen und glücklich dazu, dann wäre ich einer großen Sorge enthoben. Darf ich?«
Wieder bejahte Imma, während ihr Herz stürmisch verneinte und rief:
»Den du mir vorschlägst, den nehme ich sicher nicht, den kann ich nicht lieben!«
Ihr Bruder küßte sie auf die Stirn; aber die Stelle, die seine Lippen berührt hatten, brannte wie Feuer. Imma schauderte zusammen.
»So, nun möchte ich einmal von mir selbst reden,« fuhr Flederwisch dann fort. Er stand auf und ging mehrmals hin und her, bis er vor Imma stehn blieb.
»Schwesterchen, was meinst du, wenn ich heiratete?«
Freudig erstaunt blickte sie zu ihm empor. Ihr war die Ehe ein Sakrament, durch dessen Weihe ihrer Meinung nach der böseste und wildeste Mensch gut und sanft werden mußte. Für ihren Bruder kam freilich nur der zweite Fall in Frage. Wenn Imma das Wort ›Heirat‹ vernahm, dann hörte sie Glockengeläute, Orgelschall und die feierliche Stimme des Priesters; dann sah sie ein trauliches Heim und ein Gärtchen; eine junge Mutter schaltete am Herd und lehrte die spielenden Kinder; der Vater kam nach Hause und hob den jauchzenden Kleinsten an die Brust; und wenn er auch ein Seemann war, er hatte doch ein Heim, nach dem er sich sehnte.
»Ach ja, Paul, heirate!«
Imma sprang auf, ergriff des Bruders Hände und sah ihn mit überglücklichen Augen an.
»Nicht wahr, es ist Trudchen Böhme? Habe ich es erraten?«
Ein schattenhaftes, spöttisches Lächeln huschte über Flederwischs Züge. Er hatte mit dieser Freundin Immas, der Tochter eines in London ansässigen deutschen Agenten, neulich öfter getanzt und dem nach seinem Geschmack hausbacknen Mädchen absichtlich etwas den Kopf verdreht.
»Nein, Trudchen Böhme ist es nicht,« antwortete er. »Höre mich an, Imma! Ich will mich dir anvertrauen, ich muß es, allein kann ich mein Geheimnis nicht mehr wahren, es sprengt mir das Herz — so albern, so schwach ist der Mensch. Sage aber der Tante nichts, niemandem — hörst du? Das ist Bedingung — niemand soll etwas davon wissen, wenigstens vorläufig nicht.«
Wieder war Imma wie gelähmt niedergesunken. Was war das? Keinesfalls die Weise, wie man beginnt, wenn man ein süßes Geheimnis aus übervollem Herzen einem andern mitteilen will, leise hatte er gesprochen, scheu; er blickte verstört um sich; jetzt ging er in heftiger Erregung auf und ab, blieb etwas abseits von ihr stehn, stützte den Arm auf die hohe Lehne eines Stuhles, und wie er erzählte, ohne sie anzusehen, in abgerissenen Sätzen, ganz in die Erinnerung versunken, schwärmerisch, keuchend, fluchend, manchmal schluchzend, wußte er wohl nicht mehr, daß er seine Schwester vor sich hatte. Er sprach zu sich selbst, vergaß ihre Anwesenheit.
»In Quito war es, in Ecuador. Ich hatte von Guayaquil eine Reise dorthin gemacht, mir die Hauptstadt zu besehen. Ich weiß nicht, mich führte mein Geschick, mein Glück oder mein Unglück, in die Franziskanerkirche. Ja, den Altar von Diamanten wollte ich besichtigen. Und da sah ich sie! Es war Morgen. Die Orgel summte; in einer Ecke sang ein Pfaffe; Chorknaben durchschritten die Kathedrale und schwangen die Weihrauchgefäße. Ein süßer Duft erfüllte den Raum und betäubte mich. Und da sah ich sie. Sie kniete vor dem Muttergottesbilde und betete. Und da sah ich sie.«
Mit angstvollem Staunen blickte das Mädchen nach dem Bruder, der nur noch unartikulierte Laute von sich gab und mit den Fingern im Haar wühlte.
»Sie war schön wie ein Engel,« fuhr er dann fort, und es klang wie Zähneknirschen, »nein, schön wie die Sünde, wie ein sündhafter Engel! Ja, wie ein sündhafter Engel, der Buße tut! Denn sie betete! Wie ein sündhafter Engel! Die spanische Mantille war ihr von den Schultern geglitten. Und ich sah auch diese. Und ich kniete auch nieder, verdammt, ich kniete nieder und betete, betete sie an. Meine Augen durchbohrten sie und sahen noch mehr. Und daß ich nicht wahnsinnig geworden bin, wundert mich heute noch. Dann ging sie fort, und ich folgte ihr. Sie wohnte bei einer Verwandten, einer alten Megäre. Ich verschaffte mir Zutritt. Und ich fand sie noch schöner. Ich sah sie auch allein. Ich bat und flehte und bettelte und — ich glaube, ich habe auch geweint. Ich gab ihr seidne Tücher und seidne Kleider und glitzernde Geschmeide und Juwelen — und sie warf es mir vor die Füße. Ich lockte sie nach Guayaquil. Aber das Weib war klug wie eine Schlange. Ich wollte sie mit Gewalt auf mein Schiff schleppen. Da zeigte sie mir, wie man sich mit seiner eignen Haarflechte erwürgt. Und lebendig wollte ich sie haben! Ah, sie war verdammt schlau. Heiraten! Aber nur in meiner Heimat wollte sie sich trauen lassen, meine Verwandten als Zeugen. Oder eine Bürgschaft. Dann folgte sie mir auch aufs Schiff. Hunderttausend Dollar, und die vermaledeite Hexe ging keinen blutigen Cent herunter. Ich riß mich los. Ich war ja ein wahnsinniger Narr. Und ich kann nicht, kann ja nicht! Tod und Hölle ...«
Er schrak zusammen, blickte sich scheu um, sah seine Schwester, erschrak nochmals.
»Du hier, Imma?« hauchte er.
Ihr Aussehen mußte ihm auffallen. Er raffte sich zusammen, ging auf sie zu und ergriff ihre Hand. Sein Lächeln war ein durch krampfhafte Gewalt erkünsteltes.
»Siehst du, so geht's, wenn man verliebt ist. Da weiß man nicht einmal, was man spricht. Ja, ich werde Carmencita heiraten.«
Imma antwortete nicht; sie sah den Bruder mit entgeisterten Augen an.
»Nun, Schwesterchen, was sagst du zu meinen Heiratsgedanken?«
»Paul, ich bitte, tue es nicht!«
Es hatte flehend, verzweiflungsvoll geklungen, aber er schien es nicht zu hören, denn wie er jetzt auflachte, das klang natürlich.
»Warum denn nicht? Ja, ich weiß, ich habe dir da durch meine unsinnigen Worte ein nettes Bild entworfen. Nein, es ist ein braves, ehrbares Mädchen, das wirst du wohl selbst herausgehört haben, und was du sonst merkwürdig findest, das mußt du meinem bizarren Charakter und den ganzen Verhältnissen zugute rechnen, denn es ist ja eine spanische Südamerikanerin. Die Sache ist also die: meine nächste Reise mit dem neuen Schiff geht wieder nach Guayaquil, und dort wird sich das Kommende entscheiden. Mache ich das erwartete große Geschäft, so stelle ich die Bürgschaft von hunderttausend Dollar. Ich heirate Carmencita gleich dort, nehme sie wahrscheinlich auch an Bord, sie bleibt bei mir. Das ist dir wohl nichts Auffälliges. Habe ich die Summe aber nicht überflüssig, so fährt meine Braut mit einem Passagierdampfer nach London, und die Hochzeit findet nach meiner Rückkehr hier statt. Ob sie mich dann auf meinen Reisen begleitet oder hierbleibt, wird sich später entscheiden. Nun frage ich dich, Imma, wenn der letztre Fall eintreten sollte, ob du Carmencita als meine Braut empfangen und als deine Schwägerin behandeln willst. Es ist eine exotische Blume, sie kommt fremd hierher, und ich liebe sie über alles in der Welt. Willst du ihr eine Schwester sein?«
Viel, viel Unverständliches gab es für Imma. Seine klaren Auseinandersetzungen waren nur noch mehr dazu angetan, sie in Verwirrung zu setzen. Nur darin fand sie nichts, daß er seine junge Frau gleich mit an Bord nehmen wollte; das tun besonders englische Kapitäne sehr oft, Frau und Kinder kommen gar nicht wieder von Bord. Jetzt aber wurde sie nur von einem Gedanken beherrscht: er hatte an ihre Schwesterliebe appelliert.
»Ich will, Paul!« sagte sie feierlich.
»Ich danke dir, und mehr Worte bedarf meine Schwester nicht, um mich zu beruhigen.«
Er wollte sie küssen; doch sie senkte schnell das Haupt, daß seine Lippen nur das Haar berühren konnten, und er war daran gewöhnt.
»Es bedarf noch einiger weitern Erklärungen,« fuhr er fort. »Daß meine Braut eine Bürgschaft verlangt, könnte dir auffallen. Carmencita ist eine Farbige, eine Quadrone. Stelle dir nicht etwa eine Schwarze vor, ihre Haut ist weiß wie frisch gefallener Schnee ... Doch das kennst du ja bei deiner Bildung selbst, ebenso aber wirst du wissen, wie verachtet in Amerika, ganz speziell im spanischen Süden, die Farbigen sind. Und ist der Mann schön wie Apollo, tugendhaft wie Cato, wäre er ein gottbegnadetes Genie, durch seine Schöpfungen bewiesen — seine Ur-Ur-Urgroßmutter war eine Negerin, also gehört er zum Auswurf der Menschheit. Dies gilt erst recht vom farbigen Weibe; hier aber kommt das Weib als solches in Betracht. Es ist in ganz Südamerika rein unmöglich, daß eine Weiße einen Farbigen heiratet. Allerdings kann ein Liebesverhältnis einmal vorkommen, die Liebe entspringt ja dem unvernünftigen Herzen, dann aber gibt es nur zweierlei, den Tod oder Flucht aus Amerika. Die schönen Farbigen dagegen scheinen nur dazusein, um von den weißen Männern vorübergehend geliebt zu werden; so sind die Mulatten, Terzeronen, Quadronen, Quintonen und so weiter entstanden, und auf allen lastet der Fluch der Verachtung. Das ist die Gemeinheit der Herren der Schöpfung. Ich bin natürlich über so etwas erhaben. Nun wirst du jedoch Carmencitas Forderungen verstehn. Sie liebt mich, sie hat es mir unter Tränen gestanden, aber meine Geliebte will sie nicht werden, dazu steht sie zu hoch, und sie traut auch meinen Schwüren nicht, sie kann es nicht, das liegt in den Verhältnissen; daß ich sie wirklich heiraten will, kommt ihr so unmöglich vor, als wenn hier ein Schustergeselle um die Kronprinzessin wirbt, und sie traute mir auch nicht, wenn ich sie in ihrer Heimat ehelichte. Denn sie ist ja nicht die einzige ihrer unglücklichen Rasse, welche stolz auf ihre Jugend hält, aber wie leicht wird auch die Vorsichtigste in dem käuflichen Amerika betrogen. Die Hochzeit und alles war nur Schein, und dann steht sie wieder rechtlos und verlassen da. Deshalb sagt sie: entweder die Trauung in deinem Lande in Gegenwart deiner Verwandten — oder sie verlangt eine für ihre Begriffe kolossale Bürgschaft in Geld, und sie hat recht, denn sie kann nicht wissen, daß ich, obgleich unter englischer Flagge fahrend, ein Deutscher bin. Im übrigen ist sie durchaus gebildet, weiß sich in der gewähltesten Gesellschaft zu bewegen und ist, für dich wohl die Hauptsache, ein gutes, liebes, braves Mädchen.«
»Ich will, Bruder!« sagte Imma wie vorhin, aber mit viel weicherem Tone, und schon lange tropften aus ihren Augen große Tränen. »Ach, wenn sie doch lieber hierherkäme!«
»Also, Imma, es bleibt unter uns. Die Tante braucht noch nichts zu erfahren, ich weiß, sie hat besondre Pläne mit mir vor, und da darf ich ihr nicht ohne weiteres einen Strich durch die Rechnung machen. Wir werden die Sache schon mit diplomatischer Schlauheit arrangieren. Verzeih, ein Geschäft ruft mich.«
Er ging, blieb in der Mitte des Zimmers plötzlich stehn, neigte Kopf und Oberkörper zurück, streckte beide Arme sehnsüchtig aus, und begeistert, jauchzend erklang seine prächtige Stimme:
»O, hätten ein Eiland wir, schimmernd und hehr, Verlassen und einsam im bläulichen Meer, Wo die ...«
»Doch nein,« brach er kurz ab, »nicht dieses Eiland der Liebenden — eine nordische Felseninsel im Sturm, und eine Heldenschar darauf, die Brandung donnert, und die Schwerter klirren, blutende Wunden und Todesröcheln, aber es klingt wie Siegesjubel, denn es sind Helden — und ich bin ihr König und sie die Königin. Ach, Imma, warum gleichst du nicht mir!«
Er eilte hinaus.
Imma war allein mit den auf sie einstürmenden Gedanken, bis ein Poltern sie aus ihren Träumen schreckte. Es war Manuel, der Mulatte, welcher vor dem Schreibtisch stand und unter verdrießlichem Brummen Bücher und Papiere durcheinanderwarf. Sein unhörbares Hereinschleichen erklärte sich aus seinen nackten Füßen, was sich in dem parkettierten Salon seltsam genug ausnahm.
Imma fürchtete sich vor dem unheimlichen Gesellen, welcher mit im Hause wohnte, wie er seinen Herrn überhaupt nie verließ, hier aber in unverschämtester Weise auftrat. Nur der Kapitän hatte ihm zu befehlen, niemand weiter, jedem andern gegenüber hatte er nur Trotz und Rücksichtslosigkeit, machte auch bei Lady Muggridge keine Ausnahme, und diese ließ sich das gefallen, wie sie überhaupt alles verehrte, was mit ihrem Neffen in Verbindung stand, sie amüsierte sich sogar über die Unverschämtheit des Mulatten.
»Was suchen Sie, Mister Manuel?« fragte Imma schüchtern.
»Sie wissen's doch auch nicht liegen,« war die mürrische Antwort, »die Schiffsliste — die Weibsbilder haben sie doch wieder verkramt!«
»Es war aber niemand an dem Tisch.«
»Ja, kennen wir, im Ausreden seid ihr alle gleich — da ist sie!«
Das war so eine Probe seines Auftretens im Hause. Er ging hinaus, den Tisch mit durchwühlten Schubfächern in wüster Unordnung lassend. Mehr die Beschämung über sich selbst, daß sie sich solch eine Behandlung gefallen ließ, als der Zorn trieb Imma das Blut in die Wangen, als sie dem finstern Manne nachsah. Wehe, wer dessen Haß einmal auf sich zog! Wenn man diesen Mulatten beobachtete, mußte man jenen recht geben, welche behaupten, die Neger seien überhaupt keine Menschen, sie hätten wohl Vernunft, aber keine Seele. Manuel besaß große geistige Fähigkeiten, er beherrschte fast alle Kultursprachen, wie man solches Sprachtalent überhaupt vielfach bei der Negerrasse — und bei Slaven — findet; wenn sein Herr ihn als dressierten Pudel vorführte, ließ er ihn fünfstellige Zahlen im Kopfe multiplizieren. Aber er besaß kein Herz, kein Gemüt. Es war ein gefährliches Spielzeug, welches sich der junge Kapitän da zugelegt hatte, ein gezähmter Panther. Es war eine abenteuerliche Geschichte, wie er zu ihm gekommen war. In einem kubanischen Hafen, gleich bei der ersten Reise mit der ›Imma‹, sah er, wie eine wütende Volksmenge den Polizisten einen verhafteten Schwarzen entriß, um ihn am nächsten Laternenpfahl zu hängen. Der herkulische Mulatte wehrte sich verzweifelt, doch wäre sein Schicksal besiegelt gewesen, wenn ihn nicht Flederwisch, abenteuerlich wie immer und ebenso wie immer alle Gesetze verhöhnend, mit seinen Matrosen herausgehauen und in Sicherheit gebracht hätte, was ihm dann eine schwere Summe kostete. Damals war es ihm nur darum zu tun gewesen, seinem ritterlichen Charakter entsprechend, dem Unterliegenden gegen die Übermacht beizustehn; jetzt war Manuel sein Bootsmann, er sei ein tüchtiger Seemann, sein treuer Hund, und damit basta. Was er aber begangen hatte, daß er verhaftet wurde und gelyncht werden sollte, darüber herrschte Unklarheit; wenn der Kapitän davon erzählte, gab er immer irgend einen andern Grund an, der ihm gerade einfiel. Etwas Sauberes konnte es nicht sein. —
Am nächsten Tage harrte Immas eine große und freudige Überraschung.
Sie saß allein am Fenster, mit einer Stickerei beschäftigt. Da ertönte ein heiteres Lachen aus dem Nebenzimmer. Die Tür, die in dieses führte, stand offen, und Paul trat ein.
»Komm, Schwesterchen,« sagte er gutgelaunt, »ich will dir meinen neuen ersten Steuermann vorstellen. Es ist ein alter Bekannter. Ich hätte ihn schon gestern zu dir gebracht, als er sich bei mir meldete, aber mir fehlte es an Zeit. Jetzt jedoch sollst du ihn kennen lernen.«
Der Kapitän führte Imma durch das Nebenzimmer in ein drittes, und dort — der Herzschlag des Mädchens stockte — stand in schwarzem Gehrockanzug der blonde Held von der Frieseninsel — Sankt Michael.
Lachend deutete Flederwisch auf ihn.
»Kennst du ihn noch, unsern Prinzen von Nirgendwo, unsern Noboby, wie ich ihn nannte? Jetzt hat er mir allerdings seinen Namen verraten müssen — Herr Alfred Werner — meine Schwester Imma!«
Der blonde Recke verbeugte sich tief und mit vollendetem Anstand, und Imma hatte inzwischen vermocht, die verlorne Selbstbeherrschung wiederzugewinnen. Nie, nie sollte jemand merken, was in ihrem Herzen für den Retter ihres Bruders lebte. Eine innere Stimme sagte dem schönen Mädchen, daß dieser Mann da hoch über ihr stehe — nicht gesellschaftlich, denn er war ja nur ein Untergebener ihres Bruders — Imma aber empfand instinktiv, daß eine unübersteigliche Schranke sich zwischen ihr und ihm erhob, die durch nichts beseitigt werden konnte.
In diesem Augenblick begrub Imma ihre Liebe zu dem stolzen, schönen und kühnen Mann, von dem sie bisher nicht einmal den Namen gewußt hatte!
Kapitän Flederwisch freute sich noch immer, daß die Überraschung so gut geglückt war. Hinter dem Steuermann aber stand Manuel, am Tische lehnend, die muskulösen Arme über der Brust verschränkt, und ließ die dicke Unterlippe hängen.
»Nun, findet ihr denn gar keine Worte?« rief der Kapitän lachend, als Imma und Alfred noch immer schweigend voreinanderstanden. »Also, Steuermann, Ihr könnt jetzt gleich Eure — halt, in Gesellschaft per Sie, an Bord und überhaupt in allen dienstlichen Angelegenheiten per Ihr — jetzt sind Sie mein Gast, Herr Werner, und verzeihen Sie, wenn ich Sie manchmal in Erinnerung an jene Sturmnacht Nobody nenne! Also lassen Sie Ihre Sachen herbesorgen. Manuel hier wird Ihnen dabei helfen. Er ist mein Bootsmann, mein Diener, mein Sklave und mein Hund, treuer als Gold, lernen Sie ihn nur erst kennen. Er hat Ihnen unbedingt zu gehorchen, auch an Land, und wenn er einmal dickköpfig oder unverschämt ist, dann schlagen Sie ihm das kolbige Nasenbein ein — auf meine Rechnung; er fühlt sich manchmal nicht ganz wohl, wenn er nicht seine Tracht Prügel weg hat!«
Imma fing den furchtbar gehässigen Blick auf, der aus des Mulatten Augen auf den neu angemusterten Steuermann schoß, es war ihr plötzlich, als kralle sich eine eiskalte Faust in ihr Herz.
Aber da verbeugte Kapitän Flederwisch sich bereits vor seiner Schwester — bot ihr den Arm und führte sie in den Salon zurück, welcher bald eine große Gesellschaft meist älterer Damen aufnehmen sollte, denen Lady Muggridge ihren schönen, stattlichen und reichen Neffen und Seehelden präsentieren wollte.
Die Ausrüstung und Designierung eines neuen Schiffes bringt viel Arbeit mit sich. Flederwisch verwertete seinen ersten Steuermann als Korrespondenten, Kommis, Kopisten, Markthelfer und Laufburschen; er selbst ging mit gutem Beispiele voran, und wer den jungen, leichtlebigen Kapitän nur aus der Gesellschaft kannte, hätte in ihm nimmermehr den an alles denkenden Geschäftsleiter, den weitblickenden Spekulanten und den nimmer rastenden Arbeiter vermutet. Jedoch gab es, abgesehen von seinem wirklichen Geschäftstalent, eine sehr einfache Erklärung für diese Doppelnatur: Flederwisch strengte alle seine Kräfte an, um möglichst viel Geld zu verdienen, weil es seine Leidenschaft war, dasselbe wieder zu verschwenden. Dieses Einsetzen aller Kräfte verlangte er auch von seinem Personal, um ihm dann wieder die größten Freiheiten zu geben.
Imma bekam Alfred nur an der gemeinsamen Tafel zu sehen. Lady Muggridge fand Gefallen an dem weitgereisten und doch so bescheidenen Seemanne, der gut zu erzählen verstand, dessen Bildung in jedem Fache beschlagen war. Flederwisch beteiligte sich an der Unterhaltung und suchte seinen Maat in Erzählungen von humoristischen Abenteuern zu Wasser und zu Lande zu überbieten, er zog oftmals Gesellschaft heran, und hatte der Kapitän den Steuermann des Abends nicht zu einer geschäftlichen Besprechung mitgenommen, so entwickelte sich am Teetisch ein gemütliches Familienleben.
Besonders gefiel Imma, daß ihr Bruder seinen Steuermann durchaus als Gentleman behandelte, in Gesellschaft wie in der Familie, ihm gegenüber auch nie wieder in jenen Ton verfiel, den er bei der Vorstellung angeschlagen hatte.
Wie erschrak sie daher, als sie einmal im geheimen Zeuge wurde, wie Paul in seiner Arbeitsstube Herrn Werner wegen eines ganz geringfügigen Versehens hart anfuhr, ihn — wie man sagt — ›abtoffelte‹, und zwar in einer Weise, die sich kaum der schüchternste Lehrjunge hätte gefallen lassen. ›Dummkopf, Einfaltspinsel, grüner Junge‹ waren die mildesten Ausdrücke, die meisten Worte bestanden aus Tiernamen. Die entsetzte Imma glaubte, nein, sie hoffte sogar, jetzt müsse da drinnen etwas Schreckliches passieren, jetzt müßten Stühle umstürzen, ein Ringkampf entstehn, ein Mann müsse zu Boden geschlagen werden, mindestens mußte Alfred ihrem Bruder die Papiere vor die Füße werfen und gehen — nichts von alledem, kein Wort der Entgegnung fiel: einige Minuten später erschien der Steuermann mit unbefangener Miene am Tisch und ließ sich von Paul wie immer mit freundlicher Höflichkeit begegnen, dieselbe erwidernd. Keine Spur von Zorn, Aufregung und Verletztheit. Traurig sah ihn Imma manchmal während des Essens an — ach, sein Glorienschein strahlte nicht mehr so hell wie sonst!
Flederwisch mußte geschäftlich nach Liverpool, vielleicht auf acht Tage. Daß ihn der Mulatte begleitete, war selbstverständlich. Alfred blieb hinter einem Tisch mit Stößen von Briefen zurück, welche alle beantwortet sein wollten; es gab Rechnungen zu kontrollieren, den Schiffsproviant aufzustellen, das Loggbuch anzulegen, die vielen Förmlichkeiten mit den Behörden zu erledigen, außerdem auch noch persönlich den Fortgang der innern Einrichtung auf dem Schiffe zu beobachten — eben alle jene Arbeiten, welche sonst das wohlgeschulte Personal des Bureaus einer Schiffsreederei unter sich verteilt. Kapitän Flederwisch hatte allerdings schon bewiesen, daß er dies alles ganz allein fertig bringe, nun verlangte er einfach, daß es ein andrer auch allein könne, und so wälzte er die ganze Last auf die Schultern seines Steuermanns.
Trotzdem fand dieser hin und wieder Zeit, mit Imma zu plaudern, dabei aber benahm er sich, wenn auch als Gentleman, doch immer als der Untergebener ihres Bruders.
Eines Tages fand Imma ihn über einem großen Stoß von Briefen, und sie brachte selbst noch eine Menge eben eingelaufener Schriftstücke dazu.
»Was steht denn nur in all den vielen Briefen? Hat denn mein Bruder wegen des neuen Schiffes eine so große Korrespondenz?«
»Viele Briefe wären allerdings nicht nötig, es sind oft Anfragen, welche nur aus Höflichkeit beantwortet werden müssen. Ich hatte ja auch Ihrem Herrn Bruder geschrieben, ob er mich nicht anstellen könne, als ich vernahm, daß er ein neues Schiff ausrüste. Hier sind noch hunderte solcher Anfragen von Steuerleuten.«
»Sie hatten erst geschrieben? Das weiß ich gar nicht. Ich dachte, Sie wären nur so zufällig als erster Steuermann angenommen worden.«
»Mein Schiff, der Hamburger Dampfer ›Merkur‹ war in Marseille an eine französische Reederei verkauft worden. Mir wurde zwar gleich eine andre Kapitänsstelle angeboten ...«
»Eine andre Kapitänsstelle?« unterbrach ihn Imma erstaunt. »Ich denke, Sie sind Steuermann?«
Nobody mußte die einmal übernommene Rolle durchführen, und daher antwortete er:
»Ich besitze das Kapitänspatent für große Fahrt, fahre schon seit drei Jahren als Kapitän von großen Dampfern. Sie wundert das, daß ich nun wieder als Steuermann gehe und gar auf ein veraltetes Segelschiff? Ich glaubte, Sie kennten diese Verhältnisse. Zunächst gibt es zahllose Seeleute, welche zwar das Steuermannsexamen schon gemacht haben, aber noch als Matrosen fahren müssen, weil sie als Steuerleute noch nicht ankommen können, und nicht jeder, der das Kapitänspatent besitzt, bekommt gleich ein Kommando. Ach, da muß man manchmal gar lange warten! Dann muß auch der Seemann beständig lernen, und seine beste Schule ist das Segelschiff. Ich war ja Zeuge, wie Kapitän Flederwisch die Imma verlor, und als ich hörte, daß er ein neues Schiff auszurüsten gedenke, bewarb ich mich sofort schriftlich um die Stelle. Als ich nicht gleich eine Antwort bekam, reiste ich direkt hierher, und es ist mir ja geglückt. Ja, ich wäre als Matrose mitgegangen — als Schiffsjunge, wenn es nur angängig gewesen, nur um Ihren Herrn Bruder segeln sehen zu können, um ihm die Kommandos und Kunstkniffe abzulauschen. In allen Häfen der Welt, wo die ›Imma‹ je das Ankermanöver ausgeführt hat, kennt man ihn als den tüchtigsten Kapitän, ich habe selbst gesehen, wie er ohne Lotsen mit vollen Segeln in den schwierigen Hafen von Algier einfuhr, und seitdem war es immer mein sehnlichster Wunsch, einige Fahrten unter seinem Kommando machen zu können. Nun darf ich ja sogar neben ihm auf der Brücke stehn.«
Ein namenloser Stolz schwellte Immas Herz, als sie solche Worte über ihren Bruder aus diesem Munde hörte, denn dieser Mann war weder der Lüge noch der Schmeichelei fähig. Aber ihrem Charakter gemäß konnte sie nun auch nicht mehr davon sprechen, sie mußte von etwas anderm anfangen.
»Ist es denn wirklich wahr, daß der Kapitän auf See einen Ungehorsamen gleich totschießt?« fragte sie in ihrer naiven Weise, und sie ahnte nicht, welche Bedeutung die Frage einst für sie erlangen würde.
»So schlimm ist es nicht,« lächelte Alfred, fuhr dann aber sehr ernst fort: »Freilich, das Recht steht immer auf seiner Seite. Es gibt an Bord nur einen Willen, und das ist der des Kapitäns; unbedingter Gehorsam gegen ihn ist die erste Pflicht des Seemanns. Wer dem Kapitän den Gehorsam verweigert, macht als Gefangener die Reise mit, unter Umständen in Eisen, und eine sehr harte Bestrafung wartet seiner. Lehnen sich nur zwei in Verabredung gegen ihn auf, vielleicht in einer geringfügigen Sache, so ist das schon Meuterei, das englische Seegericht kann diese mit dem Galgen bestrafen. Wer aber auch nur eine Hand gegen den Kapitän erhebt, den darf er auf der Stelle töten, und alle Gerichte der Welt sprechen ihn frei.«
»Das ist furchtbar,« flüsterte Imma.
»Das ist gerecht. Der Kapitän ist als unumschränkter Monarch an Bord seines Schiffes anerkannt, heilig und unverletzlich, und das muß sein! Ein Schiff, auf welchem auch nur zwei gleichzeitig befehlen wollten, würde nicht den ersten Sturm bestehn kommen.«
»So besitzt der Kapitän eine furchtbare Macht. Wenn er sie nun mißbraucht?«
»Die Macht des Kapitäns über seine Leute ist unbegrenzt. Ist er ein roher Patron, schlägt er, mißhandelt er die Matrosen, die Offiziere — ohne Murren muß man alles hinnehmen, will man sich nicht sein Recht verscherzen. Denn im nächsten Hafen kann man ihn ja verklagen; und er wird bestraft, sogar härter als ein andrer Mensch, eben wegen seiner Macht; wegen jeder Beleidigung muß er sich verantworten, und einem Offizier steht es ja frei, ihn zum Zweikampf zu fordern. Aber an Bord darf er nichts gegen ihn unternehmen!«
»Auch Sie würden sich sogar geduldig schlagen lassen?« fragte Imma leise, und es lag ein seltsamer Klang darin.
»Mein Fräulein,« antwortete Alfred, »man muß immer unterscheiden, was man tun soll, und was man im Impuls des Augenblickes tun würde. Von dem letztern darf man eigentlich gar nicht sprechen, da soll man nur sagen: Der Herr führe uns nicht in Versuchung! Doch ich glaube meinen Charakter zu kennen. Ja, ich würde mich beherrschen. Ich stelle mich unter das Gesetz und verlange daher von dem Gesetze, daß es mich schützt oder, wenn dies im Augenblicke nicht angängig ist, den Beleidiger meiner Ehre bestraft!«
Er hatte zuletzt in einem feierlich gehobenen Tone gesprochen, und es war auch ein bedeutungsvolles Wort gewesen. Wie ganz anders dachte da Flederwisch! Er war der Mann der Selbsthilfe, bei ihm war das Recht die rohe Kraft, der trotzige Mut und das klingende Geld. Wie erhaben waren dagegen die Grundsätze dieses Mannes!
»Bitte, nur noch eins!« forschte Imma weiter. »Ich verstehe immer noch nicht, ich habe mich noch gar nicht darum gekümmert. Sie sprechen doch nur immer vom Bordleben, wenn das Schiff also auf hoher See ist. Da läßt sich ja die Notwendigkeit eines bedingungslosen Gehorsams begreifen. Aber nun an Land, wenn Sie auch schon sein Steuermann sind, darf Sie denn da mein Bruder beleidigen, Sie ausschelten und ...«
Verlegen brach sie ab; sie war persönlich geworden.
»Ich weiß, woran Sie denken, Sie müssen Zeuge einer Szene zwischen ihm und mir geworden sein,« sagte er langsam. »Es tat mir leid, Fräulein, wenn Sie mich falsch beurteilten. Das ist keine Kunst, die Arbeit hinzuwerfen und seiner Wege zu gehn; das ist keine Kunst, wieder zu beleidigen oder im Duell als Märtyrer zu sterben. Aber ohne Murren zu gehorchen, treu auszuharren, sich selbst zu bezwingen, wenn man auch einmal eine Ungerechtigkeit einzustecken hat, das will gelernt sein, und wer es nicht lernen will, dem bringt es das Schicksal mit harter Hand bei, und ganz besonders der Seemann muß es gelernt haben, um selbst dereinst befehlen zu können. Ja, Fräulein, ich bin stolz darauf, es in dieser Kunst schon so weit gebracht zu haben. — Übrigens hat dies alles nichts zu bedeuten,« setzte er in leichterm Tone hinzu, »wir Seebären sagen uns manchmal Grobheiten und meinen es dabei herzensgut, und ich glaube, Ihr Herr Bruder ist ein ausgezeichneter Mensch.«
Wie beschämt hatte Imma tief den Kopf sinken lassen.
»Es ist doch furchtbar, wenn der Mensch, wie ein Kapitän, solche Macht über andre besitzt, wie leicht kann er sie mißbrauchen!« sagte sie, nur um ihre Verlegenheit zu verbergen.
»Er darf sie aber nicht mißbrauchen, oder er wird bestraft dafür. Freilich, das ist eine schlimme Sache. Wenn der Kapitän etwas verlangt, was die Sicherheit des Schiffes oder der Mannschaft gefährdet, wenn das jeder gesunden Vernunft einleuchten muß, oder wenn er direkt zur Ausführung eines Verbrechens auffordert, dann kann und muß ihm der Gehorsam verweigert werden, er kann sogar von der Mannschaft überwältigt werden, denn er könnte ja irrsinnig geworden sein. Solche Szenen kommen besonders bei den der Trunksucht frönenden Kapitänen oft genug vor. Zum Mörder, Seeräuber oder Halunken braucht aus Gehorsam natürlich niemand zu werden. Es gibt aber auch noch heikle Fälle. Zum Beispiel, der Kapitän befiehlt mir, von dem auf hoher Reede ankernden Schiffe eine Kiste im Boot an Land zu bringen, sie irgendwo abzuliefern. Durch Zufall erfahre ich, daß Schmuggelwaren darin sind. Was soll ich tun? Gehorche ich, so begehe ich wissentlich einen Betrug. Gehorche ich nicht, hat der Kapitän das Recht, mich krummschließen zu lassen. Erst an Land kann ich ihn anzeigen, das bedingen ja schon die Verhältnisse, dann ist es aber vielleicht zu spät, der Betrug, vielleicht sehr verhängnisvoll, ist bereits geschehen. Das sind eben die Fälle, wo jeder Mensch den Kampf zwischen Verstand und Herz selbst ausfechten muß, und die Gesetze wissen das zu würdigen, indem kein Gericht die Mannschaft zwingen kann, gegen ihren Kapitän zu zeugen.«
Es trat eine kleine Pause ein. Der Steuermann ordnete die Briefe, Imma stand seitwärts am Schreibtisch, die Augen niedergeschlagen.
»Und in demselben Verhältnis wie Sie zum Kapitän, steht der Bootsmann zu Ihnen?« begann sie dann leise.
»Ja, sobald ich als Offizier Wache gehe und auch sonst, wenn es der Dienst erfordert, nur daß ich dem Kapitän die letzte Entscheidung überlassen muß und er meine Befehle aufheben kann.«
»Wenn sich nun der Bootsmann gegen Sie tätlich vergeht?«
»So wäre dies geradeso, als hätte er sich gegen den Kapitän selbst vergriffen. Töten dürfte ich ihn allerdings nur in höchster Notwehr.«
Ängstlich sah Imma ihn lange an.
»Ach Gott, wenn mein Bruder nur den Manuel entlassen wollte! Es ist ein so roher Mensch, ich vergehe vor Angst.«
Da schellte die Tante nach ihr. Imma mußte fort.
Nach zehn Tagen kam Flederwisch unvermutet zurück, in der heitersten Laune, blühend wie eine Rose. An der Hand fehlte ihm ein Diamantring, dafür trug er plötzlich am kleinen Finger einen Damenreif, und Manuel hatte von der Schläfe bis zum Kinn ein breites, weißes Pflaster, das einen frischen Messerhieb verdeckte.
Die Frithjof lag fix und fertig im St. Katharinendock am großen Quai des Hafens, eines jener ungeheuren Segelschiffe, wie sie jetzt immer mehr gebaut werden, allen Fortschritten der Maschinentechnik und Elektrizität zum Trotz, denn auch die Kunst, den Wind auszubeuten, schreitet vorwärts, und was der Mathematiker in stiller Studierstube am Schreibtisch berechnet, der Physiker im Laboratorium beobachtet, kommt auch dem Seefahrer zugute. Es ist ein Irrtum, zu glauben, die Zeit der Segelschiffe sei vorüber. Noch jetzt hat z. B. Deutschland achtmal so viel Segler wie Dampfer, und nie werden diese jene völlig verdrängen. Stürme und Winde werden noch mit Milliarden von Pferdekräften wehen, wenn alle Kohlenlager der Erde erschöpft sind, man wird die Elemente ausnutzen lernen, wenn auch nicht gerade allein den Wind durch Segel.
Die Taufe war von Lady Muggridge vollzogen worden, welche wohl mehr aus geschäftlichen Rücksichten als aus Galanterie von Kapitän Flederwisch als Patin gebeten worden war.
In dem Salon unter Deck, welcher wirklich eher für die ersten Kajütenpassagiere eines Schnelldampfers bestimmt zu sein schien als für den Kapitän eines Segelschiffes, war eine zahlreiche Gesellschaft versammelt, und viele waren von weither gekommen, auch aus Deutschland, ehemalige Kameraden und Bekannte von schon ältern Jahren, und Flederwisch hatte mit guter Absicht jene eingeladen, deren er sonst gar nicht mehr gedacht. Nur Rechtsanwalt Perkins hatte abgesagt, aus leicht begreiflichen Gründen.
Obgleich die Gerichte ausschließlich in der Kambüse, der Schiffsküche, zubereitet wurden, ließ das Essen dem verwöhntesten Gaumen doch nichts zu wünschen übrig, Flederwisch konnte mit seinem schokoladenfarbigen Koch aus Indien prahlen; er hatte ihn tatsächlich in der ersten Küche von Paris ›studieren‹ lassen, und so hätte sich auch kein französisches Hotel der von den Händen des italienischen Stewards arrangierten Tafel und seiner Geschicklichkeit beim Servieren zu schämen brauchen; desgleichen waren Biere, Weine und Champagnersorten nicht nur zu dieser Gelegenheit bezogen, sondern sie hatten in einem von der Eismaschine gekühlten Raum ihr festes Lager.
Alles Reichtum, geschmackvolle Pracht, Luxus — es war wohl keiner unter all den geladenen Jugendfreunden und bemoosten Häuptern, die einst gesagt, das traurige Ende des leichtsinnigen Jungen sei vorauszusehen gewesen, welcher jetzt nicht den jungen Kapitän beneidete oder doch anstaunte, der so etwas aus sich gemacht hatte, der auf seinem Schiffe freier als ein König herrschte; und manche Dame träumte davon, wie herrlich es wäre, könnte sie das Herz dieses Mannes erobern, wie romantisch, könnte sie mit ihm als Königin auf dem stolzen Schiffe durch die weite Welt fliegen. — Aber er war ein Schmetterling, der von Blume zu Blume flatterte und sich nicht fangen ließ.
Gerade jedoch solche Gedanken waren es ja, welche der eitle Kapitän erwecken wollte, deshalb hatte er ja die, welche ihn früher gekannt und dereinst verurteilt hatten, eingeladen, er wollte bewundert, angestaunt, beneidet sein, und wie sie ehrfürchtig zu ihm emporsahen, so blickte er verächtlich auf sie herab.
Nur mit einem Manne an Bord hatte Flederwisch sich in die Bewunderung der Gäste zu teilen, mit seinem ersten Steuermann Alfred Werner, die Rede war selbstverständlich auf den Schiffbruch gekommen, den die Imma erlitten hatte, und so konnte die Heldentat nicht verschwiegen werden, durch die der Steuermann die gesamte Besatzung, sowie Flederwisch selbst gerettet hatte.
So sehr letztrer auch spottend über jene Affäre hinwegzukommen sich bemühte, er konnte nicht hindern, daß Alfred zeitweise der Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit ward, daß gar manche vornehme und schöne Dame insgeheim einen Vergleich zwischen dem Kapitän und seinem Steuermann anstellte, und daß erstrer dabei nicht gewann.
Auch hier gab man jenem Lotsenkommandeur nicht unrecht, der den Retter der Schiffbrüchigen als einen Prinzen bezeichnet hatte.
Trotzdem ahnte natürlich noch niemand, welchen ruhmvollen Klang dereinst der Name ›Nobody‹ haben würde, den Flederwisch auch jetzt wieder seinem Steuermann gab.
Der Kapitän aber war viel zu gut gelaunt, um sich dauernd in Mißstimmung versetzen zu lassen.
Stundenlang unterhielt er die Gesellschaft mit dem Vorführen seiner Leute, er ließ sie wie im Variété auftreten. Sie marschierten als chinesische Kapelle, und zwar in echten, seidenen Kostümen, mit Tsching und Kong auf und parodierten die musikalischen Zopfträger in köstlicher Weise. Zwei Matrosen traten als exzentrische Clowns auf und ließen die Lachmuskeln der Zuschauer nicht zur Ruhe kommen. Ein Sachse bewies sich denen, welche Deutsch verstanden, als unvergleichlicher Improvisator in sächsischer Mundart. Jedes Thema, welches ihm aufgegeben wurde, behandelte er in Knüttelversen mit wirklich geistreichem Witz. Ein andrer Deutscher entpuppte sich als ein wahrhafter Violinvirtuose und produzierte sich dann noch als Herkules. Er wurde aber noch übertroffen durch einen Schweizer, der Latein und Griechisch beherrschte. Ein andrer bewies seine Geschicklichkeit im Harpunenwerfen, die er sich auf einem Walfischfahrer angeeignet hatte — kurz, jeder der vierunddreißig Mann starken Besatzung besaß irgend eine spezielle Fertigkeit.
»An Deck, meine Herrschaften, die Polonäse beginnt!« rief endlich Kapitän Flederwisch.
Das Deck bot allerdings einen Tanzboden, wie ihn in gleicher Größe kaum ein Vergnügungslokal aufwies.
In Überraschungen für seine Gäste war Kapitän Flederwisch überhaupt groß. Hatte die Gesellschaft vor kaum einer Stunde das Verdeck noch in seiner ursprünglichen Einrichtung gesehen, so glich es jetzt einem geradezu märchenhaft dekorierten Saal. Eine aus Matrosen gebildete Kapelle ließ ihre muntern Weisen ertönen, und es wurde lustig unter freiem Himmel getanzt.
Mitten im Tanze brach Flederwisch plötzlich ab. Eine schwarze Katze, die vermutlich von dem dicht neben der Frithjof liegenden Schiffe herübergekommen, war zwischen den sich drehenden Paaren hindurchgehuscht. Der Kapitän aber besaß, wie so viele Menschen, einen ihm selbst unbegreiflichen Widerwillen gegen alle Katzen, und ihm zuliebe hatte Lady Muggridge alle ihre Lieblinge aus dem Katzengeschlecht abgeschafft.
»Fangt die Katze! Über Bord mit ihr!« rief er heftig.
Noch ehe die Matrosen jedoch die Jagd nach dem Tiere beginnen konnten, tauchte hinter einer Palmengruppe der Mulatte Manuel wie ein dunkler Schatten auf, hatte mit einem Sprung und Griff die Katze erhascht, die sich eben hinter die Segelleinwand flüchten wollte — er mochte derb zupacken, denn sie schrie jämmerlich — und verschwand mit ihr unter der Back, dem erhöhten Vorderteile des Schiffes, wo sich altem Herkommen gemäß auch die Schlafräume der Matrosen befinden.
Zufällig hatte Imma zu derselben Zeit dem ersten Steuermann ihres Bruders gegenüber den Wunsch geäußert, einmal unter seiner Führung die innere Einrichtung der Frithjof zu besichtigen.
Sie begaben sich durch den Salon zurück in den Korridor im ersten Zwischendeck, von wo Türen in die einzelnen Kabinen führten, über jeder ein Schildchen mit blanken Messingbuchstaben, angebend, wer in dem Räume wohne oder wozu dieser diene. Hier hatte der Kapitän seine große Schlafkabine, seine Schreibstube, seinen Wohnraum, seine Badeeinrichtung — alles Bequemlichkeiten, wie man sie nur auf großen Dampfern findet.
›Erster Steuermann‹ stand an einer Tür. Imma sah ein helles, für ein Schiff geräumiges Wohngemach, an der ein fast so großes Schlafzimmer grenzte. Beide Räume waren behaglich und modern eingerichtet.
Ein mißtönendes Geschrei unterbrach die Plaudernden, es klang in diesem niedrigen, nur von dünnen Eisenplatten umgebenen Zimmer schrecklich, es war wie das Schmerzgejammer eines kleinen Kindes; dazwischen kamen nicht zu schildernde Töne vor.
»Was ist das?« fragte Imma tödlich erschrocken und klammerte sich an Alfreds Arm.
Aber auch dieser wußte keine Antwort zu geben, regungslos saß er da und lauschte. Bald war es, als sei das Geschrei dicht neben ihm, dann schien das immer stärker werdende Geheul und Gewinsel aus der Tiefe des Kielraums zu kommen. Es schien ein Kind zu sein, im furchtbarsten Schmerze schreiend, aber Kinder befanden sich ja gar nicht an Bord.
»Ich weiß es,« rief Alfred aufspringend, »es ist die Katze, Manuel martert sie gewiß. Bleiben Sie! Ich komme gleich wieder.«
Er ergriff die noch brennende Lampe und stürzte hinaus, ohne zu beachten, daß Imma ihm folgte.
In einem Hellegat, das ist ein fensterloser Raum, als Niederlage dienend, hing eine Lampe an der Wand, und im Scheine derselben vollbrachte der Mulatte sein teuflisches Werk. Er hatte der Katze die Füße gebunden, das Maul mit einem Holzpflock weit auseinandergespannt, um sie am Beißen zu hindern, und sie so an einem an der Decke befestigten Strick aufgehängt. Sein Arm blutete aus einer Schmarre, das Tier hatte ihn gekratzt, und nun übte er Wiedervergeltung, wenn er nicht allein aus grausamer Wollust marterte, denn mit teuflischer Freude, die in seinen Zügen zu lesen war, weidete er sich an den Zuckungen seines Opfers.
»Halunke!« donnerte da eine Stimme. Eine Faust traf den Kopf des Mulatten, klirrend fiel das Messer auf die Eisenplatten, und taumelnd stürzte er selbst nieder.
Nur einen Moment freilich blieb er liegen, dann sprang er mit einem unartikulierten Wutschrei auf, die blutunterlaufenen Augen stierten auf den Gegner; sie erkannten den Steuermann; die rechte Hand fuhr in das dichte, wollige Haar, wie eine blaue Flamme zuckte es durch die Luft, und mit dem Sprunge eines Tigers stürzte Manuel sich auf Alfred, hinter dem ein gellender Schrei des Entsetzens erklang.
Der Steuermann aber hatte den Sprung berechnet, er fing die Faust auf, welche den kleinen Dolch, der sein Herz getroffen hätte, umklammerte. Es knackte.
Brüllend vor Schmerz ließ der Mulatte die Waffe fallen; die beiden Männer hatten sich zum Ringkampf gepackt, ein Wolfsgebiß lag an Alfreds Kehle, aber ehe es sich einschlagen konnte, wurde Manuel emporgehoben und krachend zu Boden geschmettert, daß er besinnungslos liegen blieb. Dies alles hatte kaum drei Sekunden gedauert.
»Hallo, was geht hier vor? Ruhe an Bord!« ertönte Flederwischs befehlerische Stimme. Er stand im Türrahmen, seine stammenden Augen überflogen den Raum und bohrten sich in die des Steuermanns. An der Wand lehnte halb ohnmächtig Imma. Sie war Alfred leise gefolgt.
Dieser deutete auf die verstümmelte Katze.
»Da, Kapitän, so hat dieser Schuft Euern Befehl, die Katze zu beseitigen, ausgeführt. Ich schlug ihn zu Boden, er raffte sich auf und warf sich mit dem Dolch auf mich.«
Doch Flederwisch, der ganz als despotischer Kapitän auftrat, schien sich auf Seite seines rohen Bootsmanns stellen zu wollen.
»Warum schlugt Ihr ihn zu Boden?« fragte er scharf und drohend.
Da richtete Alfred sich hoch empor, den zornigen Blicken des andern fest begegnend.
»Warum? Weil ich empört war! Weil er es verdiente! Und so würde ich jeden züchtigen, der auf diese Weise ein Tier martert.«
»Was?!« brauste Flederwisch auf. »An Bord meines Schiffes ...«
Er brach plötzlich ab; seine zornsprühenden Blicke hatten die Schwester gestreift, mit einem Male lachte er belustigt auf.
»Recht so, daß Ihr den schwarzen Hund gezüchtigt habt! He, du räudiges Scheusal, steh auf! Munter! Das hat dir nichts geschadet!«
Er trat den Mulatten mit Füßen. Manuel kam allmählich zu sich, richtete sich etwas auf, griff an den Kopf und schaute verwirrt um sich.
»Tue nicht so, als könnten dir deine Hirnschale und Knochen überhaupt gebrochen werden. Steh auf, bitte dem Steuermann ab!«
Diese Worte wirkten wie ein hypnotischer Befehl auf den Farbigen. Manuel stand vollends auf, sein eben noch verzerrtes Gesicht nahm einen demütigen Ausdruck an; nochmals aufgefordert, Abbitte zu leisten, trat er in kriechender Haltung vor Alfred hin und murmelte wie ein Kind etwas davon, daß es ihm leid täte und er es nie wieder tun wolle.
Der Steuermann beachtete ihn nicht, er beschäftigte sich mit der zitternden und der Sprache noch nicht fähigen Imma.
»Er hat Sie verwundet,« war das erste, was sie hervorbrachte.
»Nicht doch, er war in meiner Hand wie ein Kind, und solch ein Spielzeug von Messerchen brauche ich wahrhaftig nicht zu fürchten,« tröstete Alfred sie lächelnd. »Es ist gut, Manuel,« wandte er sich dann an den Farbigen, zugleich die Katze losknüpfend, »ich nehme an, du hast mich im Dunkeln nicht erkannt. Aber merke dir, wenn du noch einmal die Hand gegen den ersten Steuermann erhebst, kannst du sie nicht mehr gebrauchen. Diesmal habe ich dich noch geschont.«
Der Mulatte schlich davon; die starren Augen Immas folgten ihm, sie sah, wie er im Hinausgehn den Dolch aufhob, sie sah auch den furchtbaren Blick, der aus dieser gebückten Stellung den Steuermann traf, und eine entsetzliche, quälende Angst beklemmte ihr Herz. Wenn sie doch ein Recht gehabt hätte, Alfred zu warnen, oder gar die Möglichkeit, ihn ganz von der Teilnahme an der Fahrt zurückzuhalten. Aber sie durfte nicht wagen, zu ihm zu sprechen. Hätte sie es getan, jetzt, in dieser Minute, so hätte sie ihm verraten müssen, daß sie ihn liebte, denn nur das liebende Weib hat ein Recht, für den Auserwählten seines Herzens zu bangen.
Imma hätte allerdings wissen müssen, daß diesem ersten Steuermann nicht so leicht jemand etwas anhaben konnte, daß er nicht nur kühn und stark war, sondern auch über eine seltene Geistesgegenwart verfügte.
Allmählich aber schwand ihre Angst über der Bewunderung, die sie dem herrlichen Manne zollen mußte.
Alfred geleitete die Schwester seines Kapitäns an Deck zurück, aber sie konnte nicht wieder in die richtige Feststimmung kommen. Es schien überhaupt, als wenn auch die übrige Gesellschaft ermüdet und abgespannt wäre, und so wurden bald die Boote beordert, in denen die Gäste des Kapitäns Flederwisch an Land gesetzt wurden.
Der erste Steuermann kehrte nochmals in das Haus der Lady Muggridge zurück, und wenn er des Abends allein war, dann schrieb er entweder eifrig in ein Buch oder studierte Seekarten oder aber trieb eine ganz seltsame Beschäftigung. Bei sorgfältig verhängten Fenstern und verhülltem Schlüsselloch stand er vor dem großen Spiegel und strich sich mit den Fingern über Stirn, Nase, Kinn und Wangen, und wenn er dann die Hände wieder sinken ließ, dann schaute aus dem Glase allemal ein andres Gesicht, völlig verschieden von dem vorigen. Diese Übungen dauerten oft stundenlang, aber erst in den letzten Tagen vor der Abreise bediente sich der Steuermann bei seinen Verwandlungen auch andrer Hilfsmittel. Er hatte sich Perücken und falsche Bärte besorgt.
Auf diese Weise bildete der, den der Lotsenkommandeur als Prinzen Alfred, Kapitän Flederwisch aber als Nobody bezeichnet hatte, sich für den Detektivberuf aus, den er bald für immer ergreifen wollte, allerdings in eigenartiger, noch nie dagewesener Weise. Auch übte er vorläufig die Rollen ein, die er in der nächsten Zukunft als Flederwischs Begleiter spielen wollte.
Das Buch aber, in das er so oft schrieb, liegt gegenwärtig vor dem, der diese Erzählung wiedergibt. Es führt den Titel:
»Detektiv Nobodys Tagebuch«,
und von einigen Kürzungen abgesehen, geben wir die eigenhändigen Aufzeichnungen des berühmtesten aller Detektiven nachstehend wieder, indem wir ihn für gewöhnlich als Steuermann Alfred Werner bezeichnen und ihn nur dann Nobody nennen, wenn er sich einer Verkleidung bedient, um wieder eine seiner wunderbaren Entdeckungen zu machen, wenn er Knoten an Knoten zu dem Netze schürzt, das er über dem Kapitän Flederwisch zusammenziehen will, um aus dem verwegnen Schmugglerkapitän seinen besten und brauchbarsten Freund zu machen. —
Tage vergingen. Noch oftmals wanderte Kapitän Flederwisch ruhelos in seinem Zimmer auf und ab, irrte durch Londons Straßen oder stand am Quai und starrte träumend auf die Frithjof, deren Rumpf sich unheimlich hoch aus dem Wasser erhob. Es war ja noch eine Woche Zeit, aber dieses Warten, diese Ungewißheit! Dieses entweder oder! Entweder mit einem Schlage ein schwerreicher Mann — oder bankrott! Flederwisch verzehrte sich selbst, obgleich man es ihm äußerlich nicht ansah, was in ihm vorging. Seine urstarke Natur trotzte der seelischen Schwindsucht, und in Gesellschaft wußte er sich zu beherrschen.
Auch jetzt wieder war Manuel sein einziger Vertrauter, der seinen Herrn ständig mit besorgten Blicken verfolgte.
»Wenn sie nicht kommen — Manuel, ich lasse diesen Ring wirken!«
Der Mulatte mußte wissen, was es mit dem dicken, seltsam gravierten Goldringe an der ausgestreckten Hand des Kapitäns für eine Bewandtnis hatte.
»Sie werden zur bestimmten Zeit kommen, Massa, ich weiß es, ich habe davon geträumt, und meine Träume gehn immer in Erfüllung,« war die stehende Antwort des abergläubischen Negers; schon hundertmal hatte er dasselbe gesagt, seinen Traum erzählt, wie die Frithjof die 20.000 Kisten mit Revolvern übernahm, mit allen Einzelheiten, und stets hingen die Augen des verzweifelten und über jeden Aberglauben erhaben sein wollenden Kapitäns an den Lippen des Erzählenden. Der Ertrinkende klammerte sich an einen wahnwitzigen Traum als an die letzte Hoffnung.
Die Nachforschungen nach Davis' Mörder machten nicht die geringsten Fortschritte. Ein Zeitungsinserat hatte alle Gläubiger und Schuldner des Hausbesitzers aufgefordert, sich zu melden. Niemand kam, niemand ging in die Falle, welche der ›Morning Leader‹ aufgedeckt hatte.
Wieder eine Woche verstrich. Morgen war der Termin, an welchem die Fracht neben der Frithjof liegen sollte, und niemand ließ etwas von sich hören.
Flederwisch stand auf seinem Schiffe, von dem ihm nicht einmal ein Nagel gehörte. Ein paar hundert Tonnen mit Bijouteriewaren aus gepreßtem Papierstoff hatte der ungeheuere Schlund verschlungen, aber was war das für den unergründlichen Magen! Durch die Luke blickte Flederwisch in eine gähnende Tiefe. Einmal fragte Alfred, ob die Fracht nicht bald käme, und sofort versicherte der Kapitän in seinem gewöhnlichen, leichten Tone, in einigen Tagen werde sie dasein.
Der andre Tag kam, aber keine Fracht, kein erlösender Brief.
»Manuel, mit mir ist's vorbei!« stöhnte Flederwisch, ballte die rechte Hand zusammen und stierte verzweifelt auf den Goldring.
»Sie kommen, Kapitän!«
»Ja, der Teufel kommt! Ich habe keine Lust, mich noch lange herumzuquälen oder etwa gar in fremde Dienste zu treten. Daß ich mir verdammt wenig aus Leben oder Tod mache, weißt du. Ich ertrag's nicht länger. Nur meine Leute dauern mich, daß ich den armen Kerls den Spaß verderben muß. Unter einem andern Kapitän kann ich sie mir gar nicht denken. Aber sie brauchen sich auch keinen neuen Kapitän zu suchen — ich will's nicht — ich mag's nicht — meine braven Jungens sollen wenigstens nicht darunter leiden — sie sollen an mich denken — ich habe für sie noch genug Geld beiseite gebracht ...«
Wahrhaftig, Flederwisch weinte! Der Tod schien bei ihm beschlossen zu sein. Für das Weib und seine Liebe zu diesem, wovon er zu der Schwester mit solch glühenden Worten gesprochen, hatte er gar keinen Gedanken. Aber als er an seine Matrosen dachte, die er verlassen sollte, da weinte er. Und er hatte für sie immer gesorgt gehabt, wie ein Vater für seine Kinder, jetzt stellte es sich heraus.
»Seht mich an, Kapitän!« unterbrach ihn der Mulatte mit tiefer Stimme, und Flederwisch blickte auf.
Manuel war von diesem Jammer und dieser Liebe nicht gerührt worden, Tränen hatte er nicht im Auge, aber jenen kleinen Dolch hatte er in der Hand, und diesen setzte er mit der Spitze auf sein rechtes Augenlid.
»Kapitän,« fuhr er leise fort, aber in seltsamem, unheimlichen Tone, »wartet noch bis morgen, bis übermorgen, gebt mir noch acht Tage Frist — ja, nur noch acht Tage — ist heute über acht Tage die bestellte Fracht nicht eingetroffen, so will ich mir hier vor Euch diesen Dolch langsam in mein Auge bohren, bis ins Hirn, und tot vor Eure Füße sinken.«
Es war eine furchtbare Versicherung der Gewißheit; selbst Flederwisch, der doch den Mulatten kannte, starrte ihn entsetzt an. Zugleich hatte er auch noch etwas andres herausgehört.
»Die bestellte Fracht?« flüsterte er. »Was weißt du davon?«
Der Mulatte ließ den kleinen Dolch wieder zwischen den dichten Haarbüscheln seines Kopfes verschwinden.
»Ich weiß eben, daß sie kommen wird, denn ich habe davon geträumt, und meine Träume trügen nie,« entgegnete er gleichgültig.
Die Klingel hatte geschellt, das Dienstmädchen brachte eine Karte.
»Willem Harderbrook, Kaufmann, Amsterdam,« las der Kapitän laut. »Wartet der Mann? Nichts, nichts, ich will niemanden mehr sehen!«
Der Schiffseigentümer und Kapitän, welcher keine Fracht zu haben schien, wie sogar in Schiffsblättern manchmal angedeutet war, wurde mit Anfragen aus allen Ländern überflutet, ob er nicht die und jene Ladung übernehmen wolle. Wurden die Briefe nicht beantwortet, so kamen die Schreiber nicht selten persönlich.
Das Dienstmädchen wandte sich, um wieder zu gehn; plötzlich wurde es von hinten durch eine rohe Faust bei den Röcken gepackt und festgehalten.
»Willem Harderbrook,« zischte Manuel seinem Herrn unter dem Zetergeschrei der tödlich Erschrockenen zu, »den Namen habe ich bei ihm gelesen — hole ihn!«
Aber das Mädchen war dazu nicht mehr fähig, Manuel holte jenen selbst.
Die Tür ging auf, vor Flederwisch stand ein eleganter Herr mit glattrasiertem, englischen Gesicht.
»Habe ich die Ehre, Mister Paul Müller zu sprechen, selbstfahrender Besitzer der Frithjof?«
»Bin ich! Setzen Sie sich!«
Der Herr nahm Platz, Flederwisch saß schon, ohne etwas davon zu wissen. In seinem Kopfe drehte sich alles, nur undeutlich sah er, wie der Mann in den Papieren einer Brieftasche blätterte.
»Sind wir hier ungestört?«
»Wir sind es.«
»Davis ist ermordet — schauderhaft!«
Noch einmal setzte des Kapitäns Herzschlag aus. Dann entstand ein eigentümliches Gefühl in seiner Brust, eine krampfhafte Spannung, dabei aber wurde er plötzlich ganz ruhig. Was jetzt kam, er war bereit, es zu ertragen.
»Standen Sie vielleicht mit Davis in Verbindung?« fragte er kalt.
Der andre lächelte flüchtig.
»Sie wissen, um was es sich handelt. Der holländische Dampfer Hermine läuft heute nachmittag Tilbury an. Er hat Ihre Fracht an Bord.«
Mr. Harderbrook suchte noch immer zwischen seinen Papieren. Wird er mir jetzt die unquittierten Rechnungen vorlegen? dachte Flederwisch mit unnatürlicher Gleichmütigkeit, während sein Herz wild schlug.
»Wir haben durch Davis' Tod doch keine Unannehmlichkeiten?«
»Alles in Ordnung, tausend Tonnen Revolver, zweihundert Tonnen Türschlösser, frei in das Katharinendock ans Schiff, Sie haben sich um gar nichts mehr zu kümmern. Hier — endlich — hier ist die Gesamtquittung. Ich wollte Ihnen nur mitteilen, daß die Hermine mit ihren fünftausend Tonnen nicht die Themse heraufkann, wodurch zwei Tage Verzögerung eintreten. Sie löscht in Tilbury, Ihr Kargo wird mit der Southeastern nach der Dockstation übergeführt und von dort mit Wagen vorgefahren. Selbstverständlich tragen wir alle Kosten ...«
Mehr hörte Flederwisch nicht mehr, der Agent mußte ihm später alles noch einmal wiederholen. Alles, was der Schmugglerkapitän bis jetzt zurückgedrängt, brach mit einem Male hervor, siedend heiß stieg ihm das Blut nach dem Kopfe, alles tanzte um ihn, er sah die Gedanken, die ihm durchs Hirn zuckten, in verkörperten Bildern vor sich. Die Göttin Fortuna lächelte ihm zu — er sah sein Schiff mit Waren gefüllt, die ihm im Verhältnis zu ihrem Werte so gut wie nichts kosteten — er sah Rechnungen um sich herumfliegen, mit ungeheuren Zahlen bedeckt, die er aber nie zu begleichen brauchte, weil niemand da war, der das Geld forderte — und dann der Verdienst, selbst wenn er nicht schmuggelte! Er war gerettet, gerettet!! Er war mit einem Schlage ein mehrfacher Millionär — selbst wenn er nicht schmuggelte, setzte er im Innern hinzu.
Der Agent war gegangen, und Flederwisch war in Manuels Kammer geeilt, nein, getaumelt. Wieder brauchte er einen Menschen. Schluchzend lag er an des Mulatten nackter, zottiger Brust, und grinsend blickte dieser auf seinen Herrn herab.
Der Traum ging in Erfüllung. Am Quai türmten sich die Kistenberge, die Krahne ächzten, alles arbeitete, keuchte und schwitzte, und immer tiefer sank der Riesenleib des Schiffes.
Singend und pfeifend ging Flederwisch auf der Kommandobrücke auf und ab, sprang selbst einmal zu und legte mit Hand an, und wenn er dann durch die Räume des Zwischendecks schritt und diese nur den Bildern seiner Phantasie belebte, befiel ihn oft ein Wonnetaumel, daß er sich setzen mußte.
Unterdessen aber hatte er sich auch mit nüchternem Verstande klargemacht, wie es mit ihm stand. Was er beging, war ein schweres Unrecht; er eignete sich fremdes Gut an. Denn Davis hatte Erben, und denen schuldete er jetzt ungefähr zwei und eine halbe Million. Doch der Kapitän dachte nicht daran, sich zu melden. Er durfte es auch gar nicht tun. Dann war er überhaupt erhaben über eine moralische Verpflichtung. Davis war ein Wucherer gewesen, ein Halsabschneider, ein Betrüger — wohl, diesmal hatte ihn ein andrer übervorteilt, das war für Flederwisch ganz ehrliches Spiel. Die Erben, weitläufige Verwandte, kleine Leute, hatten nie daran gedacht, in den Besitz des Vermögens zu kommen, für so reich hatten sie den alten Geizhals nie gehalten, es war ein großes, bares Kapital vorhanden, in das sie sich teilten, sie erhielten unzählige Ansprüche und Dividenden, und darüber vergaßen sie das andre, was ihnen durch den Brand vielleicht verloren gegangen war.
Ja, wenn Flederwisch einmal in der Lage war, sie auszahlen zu können, ohne das Geld zu vermissen, und ohne jede Gefahr, noch nachträglich mit den Gerichten in Konflikt zu kommen, dann wollte er es sicher tun, mit Zinsen — und damit hatte er die Gewissensbisse vollkommen erstickt.
Trotzdem kam Flederwisch nicht aus der Unruhe heraus. Immer neue Sorgen verdüsterten sein Gemüt. Von Davis' Mörder fehlte noch immer auch die leiseste Spur. Der Verbrecher war mit größter Vorsicht an sein blutiges Werk gegangen; man würde ihn wohl nie entdecken und nie erfahren, was für Papiere er verbrannt hatte. Er hatte gewiß außer Kapitän Flederwisch noch manchem andern einen unbezahlbaren Dienst erwiesen.
Das drohende Gespenst blieb trotzdem bestehn.
Um es kurz zu machen: für Flederwisch wurde der Boden hier zu heiß. Er beschloß, England für immer den Rücken zu kehren, sich einen andern Heimatshafen zu suchen, oder das Schiff wurde eben seine Heimat. In seinen Phantasiebildern änderte sich dadurch nichts. Auch eine vollständige Trennung von der geliebten Schwester brauchte nicht zu erfolgen, wenn er das Land, das die Geschwister ihre neue Heimat genannt, für immer verließ, vielmehr war Imma von vornherein in seinen Zukunftsplan aufgenommen gewesen.
Der Tag der Abfahrt war gekommen. Der erste Steuermann, Alfred Werner, stand im Ölrock und Südwester in seiner Kabine.
Er glich wirklich einem gewappneten Ritter. Der das Gesicht beschattende Südwester glich einem Helm mit aufgeschlagenem Visier und gab den Zügen des Steuermanns ein wildes, trotziges Aussehen, die imponierende Gestalt erschien in dem langen Mantel und in dem niedrigen Räume noch größer.
Der Lärm an Deck nahm zu, man vernahm Flederwischs Kommandorufe.
»Der Kapitän läßt die Raaen backbord brassen? Wozu denn schon jetzt? Ich muß an Deck!« Er eilte hinaus.
Es war ein ungemütliches Wetter. Ein feiner Sprühregen, von heftigem Ostwinde getrieben, peitschte ihm entgegen. Ein kleiner Dampfer manövrierte, um sich vorzuspannen. Matrosen standen am Bug bereit, die Taue in Empfang zu nehmen, andre zum Absetzen an der Steinmauer des Quais. Flederwisch befand sich ebenfalls schon im Ölzeug, auch seine Hände von Handschuhen aus Gummi umschlossen, und leitete die Arbeit der übrigen Mannschaft in der Takelage. Sie schienen die Zeisings auf den stark gewendeten Raaen schon jetzt von den Segeln zu lösen, obwohl erst hinter Tilbury das Schiff in freierem Wasser segeln konnte; bis dahin mußte es geschleppt werden, das war Hafengesetz. Bis dahin aber vergingen noch viele Stunden, und dort mußten die Raaen auch wieder ganz anders gerichtet werden. Kurz, man fand es ganz unbegreiflich, was denn der Kapitän da mache.
»Zum Henker mit Euch, wo steckt Ihr denn?« rief dieser Alfred entgegen. »Die Fockraa muß noch mehr nach backbord gebraßt werden. Seht Ihr denn nicht, daß wir den Schornstein sonst mitnehmen? Manuel, klar Deck überall, herunter von Bord, was nicht darauf gehört!«
Leichtfüßig sprang er die Kommandobrücke hinauf, Umschau zu halten, und war ebenso schnell wieder herunter, als er seine Schwester an Deck stehn sah. Er eilte auf Imma zu, und plötzliche beugte er sich zu ihr herab, schloß sie in seine Arme und küßte sie leidenschaftlich.
»Leb' wohl, mein Schwesterchen, leb' wohl, leb' wohl!« erklang es schluchzend, und er preßte sie an sich, daß es Imma schmerzte.
Dann schob er sie sanft über das Laufbrett, welches hinter ihr von Matrosen zurückgezogen wurde, und als sie sich umwandte, noch erschrocken und erstaunt über dieses Ungestüm beim Abschied, über diesen wahren Schmerz, der ihr an ihm ganz fremd war, sah sie ihn schon wieder auf der Brücke, mit schallender Stimme Kommandos erteilend. Alfred stand vorn auf der Back und leitete das Befestigen der Taue; er hatte ihr nicht noch einmal die Hand reichen können, konnte jetzt nicht mehr nach ihr blicken.
Die Abfahrt des neuen Seglers unter Kapitän Flederwischs Kommando hatte ein großes Publikum angelockt, trotz des Regenwetters, und nicht nur Seeleute und Flederwischs Freunde. Dieser ließ sich als Kapitän gern bewundern, und hier hatte er Gelegenheit, auch einmal im Hafen seine Kunst zu zeigen, er hatte ja eine Vorstellung versprochen. Schade nur, daß das schlechte Wetter nicht die Paradeuniform seiner Matrosen zuließ — so bedauerte er, nicht wissend, daß die in Ölanzüge gehüllten Gestalten mit den Südwestern viel bessere Figuren zu dem Bilde abgaben, welches sich bald entwickeln sollte.
Der kleine Dampfer zog an, die Matrosen an Deck des Seglers arbeiteten mit Winden und Hebebäumen, die Hafenarbeiter auf beiden Seiten der Schleusen rannten mit Tauen unter der Leitung der Hafenkapitäne, der Dampfer zischte und keuchte, Taue flogen durch die Luft, und alles wurde von dem jungen Kapitän beherrscht, der durch das Sprachrohr seine Befehle donnerte.
So gewöhnlich dieses Manöver im Hafen auch war, bot das Ganze doch ein imposantes Bild, wie die auf dem Riesenschiffe mit den himmelhohen Masten verschwindenden Menschlein mit dem Koloß und der Steinmauer kämpften, um beide voneinander zu trennen. Die Matrosen jagten umher, die braunen, wilden Gesichter glühten unter den Südwestern, Taue wurden ausgeschleudert und gefangen, eins war nicht rechtzeitig gelockert worden, ein Knall wie ein Kanonenschuß, das armstarke Manilaseil war wie Glas gesprungen, eine lange Reihe von Matrosen stürzten an Deck und überschlugen sich, mit blutenden Gesichtern erhoben sie sich, ein Wink, ein schriller Pfiff der Bootsmannspfeife, sie warfen sich auf ein zweites Tau, das nicht über den Boller wollte, ihr Gesang war ein Wutgeheul, und sie ruhten nicht eher, als bis sie es gebändigt hatten. Hochaufgerichtet stand die mächtige Figur des ersten Steuermanns auf einem Boller am Bug, ein Felsen inmitten des kämpfenden Gewoges, mit unerschütterlicher Ruhe Befehle austeilend. Seine hin und her fliegende Ordonnanz war der schwarze Bootsmann, während der Kapitän selbst überall zu gleicher Zeit zu sein schien, jetzt am Heck, jetzt auf der Back, jetzt mittschiffs, sein haarscharfes Messer fuhr über ein schenkeldickes Tau und zerschnitt es wie einen Bindfaden, und dann stand er schon wieder auf der Kommandobrücke, die Seele des Ganzen.
»Wie romantisch! Sind das nicht wirklich Wikingerhelden? Wenn es schon hier so zugeht, wie mag es da erst draußen auf dem Meere im Sturme sein!«
So sagte eine schwärmerisch veranlagte Dame, und sie hatte recht.
»Er kommt nicht frei, ohne den Schornstein dort umzureißen,« lautete das sachverständige Urteil aller zuschauenden Seeleute, »und das Fenster dort drückt er auch mit der Fockraa ein, wenn nicht die ganze Raa bricht, und dann gehn auch die Wanten über Bord!«
Frei von der Quaimauer war das Schiff, jetzt aber kam noch das Schwierigste. Das alte St. Katharinendock eignet sich nicht recht für große Schiffe, es ist unpraktisch gebaut. So stand hier der Takelage ein Kesselhaus mit hohem Schornstein im Wege. Wohl ein dutzendmal schon ist dieser Schornstein weggeknackt worden, aber der konservative Engländer baut ihn immer wieder hin. Die Reederei des betreffenden Schiffes muß den Schaden ja auch bezahlen.
»Da — da — da geht der Schornstein hin!« riefen vier Kapitäne gleichzeitig, und es klang etwas wie Schadenfreude hindurch.
So weit war es noch nicht; die Fockraa lag nur fest daran, freilich so, daß man den Schornstein schon sich biegen zu sehen glaubte, im nächsten Augenblick mußten die Steine zusammenprasseln.
Aber die Frithjof ging nicht mehr vorwärts, wenn es auch nur ein Aufschub sein konnte. Flederwisch donnerte mit feuerrotem Kopfe dem Kapitän auf dem Schleppdampfer Kommandos zu, jedes vierte Wort war ein Tiername, vom Kamel bis zum Heupferd, der weißbärtige Mann sagte nur immer: »ay, ay captain!« und folgte den fremden Befehlen, schließlich das eigne Kommando ganz aufgebend, sich selbst zum Handlanger degradierend, weil er seinen Meister erkannt hatte.
Noch einmal wurden die Taue ausgefahren und eingeholt. Flederwisch schleuderte den Matrosen vom Steuerrad und griff selbst in die Speichen, dirigierte mit seinem Kommando beide Schiffe zugleich, den unbeholfenen Riesen und den beweglichen Zwerg, seine Augen waren überall.
Und das für alle Seeleute anscheinend Unmögliche gelang, das Schiff kam frei von dem Schornstein, immer weiter, es drehte sich, die Raaen hatten ihn hinter sich, und sicher steuerte die Frithjof der Schleuse zu, dem letzten Hindernis. Flederwisch wandte sich um und machte mit der Hand eine Abschiedsbewegung, aber es sah wie eine höhnische Gebärde aus, und daß jetzt die am Ufer zusehenden Seeleute nicht in das brausende Hurra der Menschenmenge einstimmten, das konnte sich nur der erklären, der wußte, daß sie vor Staunen keine Worte fanden.
»Sakra, hat der a Schneid!« flüsterte ein österreichischer Kapitän neben Imma, und wieder schwoll dieser das Herz vor Stolz über ihren Bruder.
Aber das war nur das Vorspiel gewesen zu dem, was Flederwisch noch vorhatte. Er wollte in der Seemannskunst etwas zeigen, was London noch nie gesehen. Hätte er es als deutscher Kapitän in einem deutschen Hafen gewagt, er wäre sofort des Kapitänspatentes verlustig gewesen und außerdem noch schwer bestraft worden. In England jubelte man ihm deswegen zu, und eben darum fuhr er unter englischer Flagge.
Die Frithjof hatte im Schlepptau des Dampfers die Schleuse passiert, vor ihr lag die Themse, gar nicht sehr breit, eigentlich nur ein mittelmäßiger Fluß. Es ist strenges Gesetz, daß selbst kleine Segler von nur ein paar hundert Tonnen bis nach Tilbury oder von dort an herauf geschleppt werden, weil sie wegen der Enge und Belebtheit des Fahrwassers gar nicht manövrieren können.
»Los die Leine!« hörte Alfred Flederwischs Stimme; er sah, wie einige nach vorn springende Matrosen die Stahltrosse, an der der Dampfer zog, von dem Boller lösten und einfach abwarfen. Das so befreite Dampfboot schoß mit peitschender Schraube davon.
»Kapitän, was macht Ihr?!« schrie der Führer des Schleppers wahrhaft entsetzt.
»Die Frithjof braucht kein Gängelband. Los die Fock! Los die Marsen! Los das Großsegel! ...«
Ein Kommando folgte dem andern, die Matrosen waren aufgeentert, die Winden drehten sich, und fast gleichzeitig wie durch Zauberei entrollten sich sämtliche Segel, ganz und voll den starken Ostwind fassend. Das Schiff legte sich nach Backbord über, als wolle es kentern, richtete sich wieder auf, und mit geschwellten Segeln schoß es pfeilschnell die schmale Themse hinab, daß sich das ob solcher Freveltat empörte Flußwasser über der Back brach, unter den jetzt erbrausenden Hurrarufen des an den Ufern zusehenden Publikums, und auch die Hafenbeamten, die Wächter der Ordnung, stimmten jubelnd mit ein.
Dies war der Abschied der Frithjof aus ihrer Heimat.
Roy Glashan's Library
Non sibi sed omnibus
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