Roy Glashan's Library
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»Wann laufen wir in den Hafen von New-York ein, Herr Kapitän?«
»Diese Nacht, Sir.«
»Können Sie die Zeit nicht genauer bestimmen?«
»Es wird gegen Mitternacht werden.«
»Das paßt mir vortrefflich. Danke, Herr Kapitän.«
Der Frager, welcher auch diese letzte Äußerung getan hatte, schlenderte davon, und ehrerbietig blickte der Kapitän, verwundert blickten alle Passagiere der eleganten Gestalt des jungen Mannes nach.
Des ›jungen‹ Mannes?
»Er ist noch keine zwanzig Jahre alt,« hatte ein amerikanischer Passagier zu seinem Freunde gesagt.
»Was sagen Sie?« rief der andere erstaunt. »Noch keine zwanzig Jahre? I, wo denken Sie denn hin!!! Der ist mindestens vierzig Jahre alt.«
»Sie sind verrückt! Der ist höchstens achtzehn Jahre alt.«
»Sprechen Sie denn nur wirklich im Ernst?«
»Gewiß, es ist mein völliger Ernst. Ich gehe jede Wette mit ein, daß dieser junge Herr, der sich im Kajütenbuch als Eugen Salden eingetragen hat, jedenfalls ein Deutscher, noch nicht zwanzig Jahre alt ist.«
»Und ich behaupte, daß er die vierzig schon überschritten hat. Wetten?«
Gut, also wetten! Es ging um den Fahrpreis der ersten Kajüte, um 200 Dollar.
Der eine Yankee näherte sich dem fraglichen Herrn bei Gelegenheit, knüpfte mit ihm ein gleichgültiges Gespräch an... aber merkwürdig, er brachte es nicht fertig, diesen Mr. Salden nach seinem Alter zu fragen. Es war geradezu, als ob dieser es schon wisse, was jener von ihm wolle, und als ob er nicht geneigt sei, sein Alter anzugeben. Sobald der Amerikaner nach einer Einleitung mit seiner Frage herausrücken wollte, blickte Mr. Salden ihn etwas schärfer an, und jenem blieb die Frage förmlich in der Kehle stecken, er wurde unter dem Blicke verlegen, begann schnell von etwas anderem Gleichgültigen zu sprechen.
»Lächerlich,« sagte der andere, als der erste unverrichteter Dinge zurückkam, er habe den Herrn nicht nach seinem Alter fragen mögen, »ich glaube gar, Sie genieren sich.«
Jetzt ging also der zweite hin. Aber merkwürdig, auch dieser kam nicht zum Ziel. Mr. Eugen Salden antwortete einsilbig, und als die Frage kommen sollte, blickte er jenen scharf an und ließ ihn verlegen stehen.
Kurz und gut, die beiden Yankees konnten ihre Wette während der ganzen Reise nicht austragen, denn sie brachten es nicht über sich, diesen Herrn nach seinem Alter zu fragen, sie wagten nicht, ihn noch einmal anzusprechen. Aber warum eigentlich nicht, das war und blieb beiden ein Rätsel, und es ist leicht begreiflich, daß sie dann nicht mehr gern darüber sprachen.
»Ich glaube, es ist ein Raubtierbändiger,« sagte der eine nur noch, »er hat einen so eigentümlichen Blick.«
Ja, über diesen eigentümlichen Blick war auch von anderer Seite schon oft gesprochen worden.
»Wenn er seine Augenlider niederschlägt, wie er so oft tut, so ist es, als wenn ein zweischneidiges Schwert in die Scheide gesteckt würde.«
So hatte sich eine poetisch veranlagte Dame geäußert.
»Aber Luzy!« rief entrüstet ihre jüngere Freundin. »Der hat doch die schönsten, sanftesten Augen!«
»Na, ich danke!« meinte aber jetzt der alte Vater. »Das ist doch der reine Basiliskenblick!«
Doch nicht nur um seinen Blick ging an Bord des Schnelldampfers der allgemeine Streit.
»Was für edle, männliche Züge!« hieß es bewundernd auf einer anderen Seite.
»Männlich? Ein richtiges Mädchengesicht!«
Und so stritt man sich über alles und jedes, was an diesem Manne, der sich Eugen Salden nannte, nur zu beobachten war, und jetzt, am zehnten Tage der Reise, kurz vor New-York, war man sich immer noch nicht klar, ob er jung oder alt, ob männlich oder weibisch, ob dick oder dünn, ob kräftig oder zierlich — ja, obgleich er sich selbst für einen Deutschen ausgab, kam jemand auf die Ansicht, daß jener trotz seines blonden, schlichten Haares ganz gewiß ein Türke sein müsse.
Zuletzt empfand man denn auch das Humoristische dieser verschiedenen Ansichten, die gar nicht aufhören wollten, man lachte sich gegenseitig aus. Aber während sich alles ausschließlich mit dem rätselhaften Manne beschäftigte, kümmerte dieser selbst sich um niemanden, still schritt er auf dem Promenadendeck hin und her, still saß er an der Tafel, nur in seine Teller vertieft, und dennoch beherrschte er durch einen einzigen Blick die ganze Gesellschaft, er brauchte nur einmal aufzusehen, so verstummte alles und erwartete seine Ansprache, obgleich diese nie erfolgte.
Den stärksten Beweis seiner geheimnisvollen Macht hatte Salden aber jetzt geliefert.
Der Kapitän der ›Persepolis‹ war ein Grobsack erster Güte. Wenn er aus Versehen einmal von einem Passagier angeredet wurde, so schnob er ihn grimmig an, und da machte er keinen Unterschied, und wenn es der Prinz von Wales gewesen wäre, die Hände hätte er doch nicht aus den Hosentaschen genommen, noch weniger die Pfeife aus dem Munde.
Da, wie der Kapitän gerade einmal an Deck stand, hatte der vorübergehende Salden an ihn jene Frage gestellt, wann das Schiff in den Hafen einlaufen würde, zwar höflich, aber doch auch in bestimmtem Tone.
Himmel, solch eine Frage hätte einmal ein anderer Passagier wagen sollen.
»Wenn wir dort sind!! Das werden Sie schon noch zeitig genug erfahren!! Was geht das Sie überhaupt an, was, he?!«
Und was tat der Kapitän jetzt? Er sah den auf sich gerichteten Blick, diese scharfen, kalten Augen — und schnell riß er die Hände aus den Hosentaschen und die Pfeife aus dem Munde und gab einen höflichen Bescheid.
Aber nicht nur das, der Passagier war mit der Antwort nicht zufrieden, wollte die Zeit noch genauer erfahren — und wahrhaftig, der bärbeißige Kapitän gab ihm auch noch eine genauere Antwort! Und dann wurde er von einem grimmigen Ärger gepackt, über diesen ›bloody Dutchman,‹ und noch mehr über sich selbst — aber nun war es zu spät, und wie er wieder auf die Kommandobrücke ging, konnte er sich selbst nicht begreifen. —
Salden begab sich nach dem Mitteldeck. Dort befand sich im Gespräche mit einem anderen Herrn ein dicker, jovialer Mann, welcher gleichfalls erste Kajüte fuhr. ›Mr. Cunning, London, Tabaksagent‹ hatte er sich eingeschrieben. Er war dem Schiffspersonal schon bekannt, hatte bereits mehrmals die ›Persepolis‹ benutzt, wenn er wegen seiner Tabaksgeschäfte nach Amerika ging.
Den Hut lüftend, trat Salden auf diesen zu.
»Verzeihung. Bitte, mein Herr, würden Sie nicht die Güte haben, mir einmal in meine Kabine zu folgen? Es handelt sich um ein wichtiges Geschäft.«
Daß der so plötzlich mit solch eigentümlichen Worten Angeredete mitten im Satz stockte, war begreiflich.
»Was... was... was... ich... ich... ich kenne Sie ja gar nicht!«
»Salden ist mein Name.«
»Mein Name ist... ist... ist... Cunning, jawohl, James Cunning. Was denn für ein Geschäft?«
»Bitte, wollen Sie mir nicht in meine Kabine folgen, es läßt sich nicht gut hier abwickeln.«
Salden sah ihn fest an — und der Dicke folgte, wie von einer geheimnisvollen Macht getrieben, obgleich er doch zu zögern schien.
Auch Salden hatte eine einschlafige Salonkabine, in diese führte er den Herrn und bat ihn, Platz zu nehmen. Mechanisch setzte sich der dicke Herr auf das kleine Sofa, Salden ließ sich ihm gegenüber nieder.
»Ein Geschäft?«
»Mein Herr, ich befinde mich in großer Geldverlegenheit...«
»Ja, aber,« unterbrach ihn der andere erstaunt, »wie komme denn ich dazu? Ich kenne Sie doch gar nicht.«
»Salden ist mein Name,« wiederholte jener mit unerschütterlicher Ruhe.
»Sehr angenehm, aber... wie komme ich denn nur dazu?«
»Allerdings handelt es sich um ein Geschäft, um ein sehr günstiges für Sie. Sie sind doch Juwelier oder...«
Als wäre dies eine ungeheure Beleidigung, mit solch ungestümer Hast fuhr der dicke Herr empor, plötzlich purpurrot im Gesicht.
»Juwelier? Ich? Keine Ahnung! Ich bin ein Londoner Tabaksagent, ein ganz bekannter Mann, alle Zollbeamten in New-York kennen mich, passen Sie auf, wie die vor mir den Hut ziehen werden. Wie kommen Sie denn darauf, daß ich Juwelier sein soll?«
»Ich dachte, weil Sie Ihren dicken Spazierstock mit Diamanten gefüllt haben.«
Ach du großer Schreck!!! Der dicke Mann knickte zusammen, als hätte er einen Hexenschuß bekommen, und blieb wie ein geprellter Frosch auf dem Sofa liegen.
Es war in der Tat so, obgleich Cunning weder ein Juwelier noch ein Schmuggler von Profession war. Es war dies das erste Mal, daß er Diamanten, überhaupt etwas nach Amerika zu schmuggeln versuchte.
Mr. Cunning war wirklich ein ehrlicher Tabaks-Händler, hatte schon viel des hochbesteuerten Krautes von Amerika herüber und von Holland fertige Zigarren hinüber gebracht, aber noch niemals geschmuggelt. Da hatte er vor kurzem einen alten Freund wiedergetroffen, einen holländischen Diamantenhändler... »Höre du, du reist doch immer hin und her, dich kennen doch schon die amerikanischen Zollbeamten, du hast schon Zoll genug bezahlt, dir traut man doch so etwas nicht zu... wollen wir einmal zusammen ein Schmuggelchen machen?«
Mr. Cunning war der Versuchung unterlegen, in zehn Tagen 100 000 Mark verdienen zu können. Auf seinen Reisen führte er ständig einen dicken Spazierstock mit sich, den Zollbeamten in New-York auch schon wohlbekannt. Aber noch keiner hatte ihn jemals einer Untersuchung gewürdigt, und so wußte auch niemand, daß er hohl war. Der Spazierstock barg nämlich in seinem Innern einen dicken Stoßdegen. Dieser wurde oben, dicht am Griff, abgebrochen und nun die Öffnung mit jenen kleinen, geschliffenen Steinchen ausgefüllt. Und was da alles hineingegangen war! Für eine halbe Million!
Wenn Mr. Cunning auch sonst auf ein reines Gewissen hielt, beim Skatspiel mogelte er doch manchmal, und dann verriet er sich nicht durch Erröten, und eben sowenig ward er verlegen, wenn er einmal jemanden mit einer Ladung minderwertigen Tabak anschmierte. Über solche Kleinigkeiten also war er erhaben. Mr. Cunning hatte an Bord den so wertvoll gewordenen Spazierstock mit demselben Gleichmut wie sonst gehandhabt, hatte ihn wie sonst nur manchmal, wenn er an Deck promenierte, mit hinaufgenommen, sonst hatte er es riskiert, die Schatzkammer unten in seiner Kabine stehen zu lassen. Wahrhaftig, kein einziger Mensch konnte auch nur ahnen, daß der Spazierstock überhaupt hohl sei!
Und nun, und nun!! Vor allen Dingen waren die Diamanten im Werte von einer halben Million unwiderruflich futsch. Und dann mußte noch extra die doppelte Steuergebühr bezahlt werden, so gegen 200 000 Mark, und wenn das Mr. Cunning nicht konnte oder wollte, so durfte er auf Sing-Sing, der New-Yorker Strafinsel, ein bis zwei Jahre lang Baumwolle spinnen.
»Ein Detektiv! Ich bin ruiniert!!« stöhnte der geprellte Frosch.
»Sie irren,« entgegnete aber Mr. Salden, »ich bin kein Detektiv, bin niemals Detektiv gewesen. Fassen Sie sich, mein Herr. Sie haben von mir absolut nichts zu fürchten. Meinetwegen schmuggeln Sie so viel Diamanten, als sie wollen, mich soll es nur freuen, wenn Sie dieselben glücklich durchbringen. Ich habe in meinem Leben selbst genug geschmuggelt, noch ganz andere Sachen, ganze Schiffsladungen, und das aus keinem anderen Grunde, als weil es mir Spaß machte, meine Schlauheit mit der des Zollbeamten zu messen. Und Sie werden die Diamanten auch glücklich durchbringen, denn wenn Sie selbst nicht geplaudert haben, so ahnt an Bord kein Mensch, daß Sie in Ihrem Spazierstock etwas verborgen haben, Sie erregen nicht den geringsten Verdacht.«
Der geprellte Frosch richtete sich etwas auf und sah den so Sprechenden mit offenem Munde an.
»Ja, aber... aber... woher...«
»Woher ich es dann weiß? Ja, bei mir ist das etwas anderes. Mir hat die Natur ein ganz besonders geschliffenes Auge eingesetzt. Ich habe sofort gemerkt, als ich Sie zum ersten Male mit dem Spazierstock sah, daß es wohl derselbe Stock ist, den Sie immer tragen, daß er aber nicht ganz genau dasselbe Gewicht hat, an welches Sie sonst gewöhnt sind. Ich kalkuliere, der Stock ist um eine Kleinigkeit leichter geworden. Sie stießen mit dem Stocke an Deck auf, und ich hörte sofort, daß der Stock nicht durchweg aus Holz bestehen könne. Ich kalkuliere, daß er einst einen Stockdegen enthalten hat, den Sie abgebrochen haben, und was anderes, als Juwelen sollte man denn in solch einem kleinen Raume schmuggeln wollen? Sollte ich nicht recht haben?«
Mr. Cunning riß seinen Mund nur noch weiter auf. Aber seine furchtbare Angst verließ ihn durch diese Erklärungen noch nicht, und das mußte auch der Mann, der das Gras wachsen sah und hörte, bemerken.
»Fürchten Sie doch nichts,« fuhr er deshalb fort, »wie gefügt, kein anderer Mensch, als nur ich allein wird solche Beobachtungen angestellt haben, und ich tue Ihnen nichts. Allerdings haben wir einen Detektiv der Zollbehörde an Bord...«
»Einen Detektiv?«
»In der ersten Kajüte, der Steward mit der großen Glatze...«
»Ach wo, den kenne ich ja schon seit lange!!«
»Und ich sage Ihnen, mein Herr, dieser so unschuldig aussehende Steward ist ein Detektiv! Das habe ich nicht von anderer Seite gehört, das hat er mir nicht selbst gestanden, sondern das sehe ich ihm auf den ersten Blick an. Wodurch, das kann ich Ihnen hier nicht erklären, das ist eben bei mir eine besondere Gabe. Eine diesbezügliche Wette dürfte ich als Ehrenmann gar nicht annehmen, denn ich bin meiner Sache todsicher. Da ich nun diesen Detektiv in bezug auf Sie beobachtet habe, so kann ich Ihnen die Versicherung geben, daß er nicht die geringste Witterung auf Ihren Spazierstock hat.«
Mr. Cunning begann etwas ruhiger zu atmen.
»Mein Herr, Sie bergen mit Ihrem Beobachtungstalent eine Goldquelle in sich. Und Sie sind in Geldverlegenheiten?«
»Ja. Aber denken Sie nicht etwa, ich will jetzt aus Ihnen Geld herauspressen. Ich bin ein Ehrenmann. Hiermit genug. Dies alles wäre gar nicht nötig gewesen, hätten Sie meine Frage, ob Sie ein Juwelier seien, bejaht. Auf irgend eine Weise muß doch ein Geschäft angeknüpft werden,«
»Was für ein Geschäft?«
Mr. Salden knöpfte seinen eleganten Rock auf und zog aus der Westentasche an schwergoldner Kette eine große, goldne Uhr, ließ zwei Deckel aufspringen.
»Diese Uhr habe ich mir erst kürzlich in der Schweiz gekauft. Sie kostete 500 Francs.«
Der Tabaksagent verstand wirklich etwas davon.
»Das glaube ich gern.«
»Wollen Sie 50 Dollar geben? Gerade die Hälfte. Sie machen ein gutes Geschäft dabei.«
»Mit Vergnügen!!« jauchzte der dicke Mann förmlich auf, denn er fühlte plötzlich einen Zentnerstein von seinem Herzen fallen.
»Diese Kette kostete mich 250 Mark. Jedes Glied ist gestempelt. Geben Sie mir dafür 40 Dollar?«
»Mit Vergnügen!«
»Hier,« Mr. Salden zog aus seinem Schlips eine Nadel, offenbar ein Kunstwerk. »Wieviel sie gekostet hat, weiß ich nicht. Es sind mir schon einmal 1000 Dollar dafür geboten worden...«
»1000 Dollar? Mit Vergnügen!!!«
Es war eine prachtvolle Nadel, die verschiedensten Edelsteine strahlten ein wahres Feuermeer aus, die Nadel war schon oft genug bewundert worden, der rätselhafte Fremde mußte ein reicher Kauz sein.
Jetzt freilich stellte sich das Gegenteil heraus. Aber warum sollte er nicht in Geldverlegenheit gekommen sein? Und die Steine waren echt, das erkannte auch der Tabakshändler. Dieser Mann konnte die Nadel auch nicht gestohlen haben, konnte überhaupt kein Gauner sein. Denn erstens hätte er dann die Nadel doch nicht so öffentlich getragen, und zweitens, wäre er ein Gauner gewesen, so hätte er doch vor allen Dingen dem entlarvten Diamantenschmuggler den Daumen aufs Auge gesetzt.
»Aber mein lieber Herr, berauben Sie sich doch nicht Ihrer Wertsachen. Wenn Sie in Geldverlegenheiten sind, so bin ich ja gern bereit...«
»Bitte sehr, ich war einst ein reicher Mann, jetzt gehe ich nach Amerika, um zu arbeiten, ein Arbeiter braucht keinen solchen Schmuck, es sind auch keine Andenken. Also geben Sie 1000 Dollar für diese Nadel?«
»O, die ist noch viel mehr wert...«
»Bitte,« unterbrach ihn Mr. Salden abermals, »ich bin kein Handelsjude, mein einmal geforderter Preis gilt. Also 1000 Dollar?«
Der sich gerettet fühlende Schmuggler konnte seiner Dankbarkeit nicht einmal Ausdruck geben.
Dann löste der merkwürdige Mann aus seinem Oberhemd noch drei Brustknöpfchen und zwei Manschettenknöpfe, ebenfalls alles massives Gold mit Diamanten, und bot den ganzen Satz gleichfalls für die runde Summe von 1000 Dollar an.
Der Tabakshändler mußte dies alles wohl oder übel nehmen, er hatte nämlich in seiner Freude lieber mehr gegeben, und es lag auch klar auf der Hand, daß er dabei ein ausgezeichnetes Geschäft machte. Geld genug hatte er bei sich, er entnahm seiner Brieftasche 2090 Dollar, und als er dann die Kabine verließ, wußte er nicht, was er von dem jungen Manne und diesem ganzen Geschäft denken sollte.
Unterdessen war es Abend geworden. Bald würde die Schiffsglocke zum letzten Male zur Mahlzeit rufen.
Auch Salden verließ seine Kabine, schlenderte langsam durch die Korridore und betrat das Zwischendeck. Ehe er vom Schiffe Abschied nahm, wollte er wohl noch einmal dieses obskure Reich besichtigen.
Ja, in dem mit Menschen vollgepfropften Raume — zu jener Zeit wurden noch Männlein und Weiblein ungetrennt in das Zwischendeck eingepfercht — sah es auch arm genug aus.
Bei dieser Reise machte das Zwischendeck einen noch jämmerlicheren Eindruck als sonst, weil sich darin eine große Schar von Irländern mit Frauen und Kindern befanden, vor kurzem noch gutsituierte Bauern, welche aber durch ein verruchtes Gesetz von Haus und Hof vertrieben, zu Bettlern gemacht worden waren, und nicht einmal in ihrer Heimat durften sie bleiben, fort mit ihnen aufs Schiff, nach Amerika! Dort bekommt ja jeder Einwanderer freies Land. Diese Ärmsten der Armen würden sich einen Pflug erst leihen müssen, und während die Männer die Bäume zum einstigen Hause fällten, mußten Frauen und Kinder vor dem Pfluge die Zugtiere vertreten.
Salden unterhielt sich mit diesem und jenem der Irländer, ließ sich den Führer des Trupps vorstellen, einen alten Mann, der schon in Amerika gewesen war und die Verhältnisse kannte, der seine unglücklichen Landsleute nur abholte.
»Schauderhaft! Hier, nehmt.«
Und dabei hatte er dem alten Manne einige Tausenddollarnoten in die Hand gedrückt, nicht nur die beiden, welche er von dem Tabakshändler erhalten, sondern auch noch drei andere. Also der seltsame Mensch hatte noch genug Geld gehabt, hatte gar nicht nötig gehabt, seine Schmucksachen zu verkaufen!!
Die Leute wollten es erst gar nicht glauben, von einem Unbekannten plötzlich so viel Geld geschenkt bekommen zu haben, daß sie in ihrer neuen Heimat gleich als existenzkräftige Farmer beginnen konnten. Auch das anwesende Schiffspersonal staunte, so etwas war an Bord der ›Persepolis‹ noch nicht vorgekommen.
Aber damit war es noch lange nicht genug. Salden ging weiter durch das Zwischendeck und streute mit vollen Händen das Geld aus, und wieder zeigte es sich, daß er noch reichlich versehen gewesen war, so z. B. teilte er ja auch Silber- und Goldstücke aus, während er von dem Agenten nur Papier erhalten hatte.
Allerdings gab er ohne Ansehen der Person, drückte achtlos das Geld in alle Hände, die sich ihm entgegenstreckten, oder schüttete es dort einer alten Frau in den Schoß — und dennoch, er machte einen Unterschied!
Ein alter, schmieriger Jude näherte sich ihm, von seiner hungernden Familie eine Jeremiade erzählend.
»Schmuhl, du hast mehr unter deinem Kaftan, als wir alle zusammen, oder ich will heute Nacht nicht lebendig das amerikanische Festland erreichen!«
Der Jude machte, daß er verschwand.
Zuletzt nahm Salden noch einige junge, dürftig gekleidete Leute mit in seine Kabine und verteilte unter diese seine gesamte Garderobe. —
Im Speisesalon fand die letzte Mahlzeit statt. Von dem Verkaufe seiner Schmucksachen war nichts bekannt geworden, wohl aber hatte sich schnell verbreitet, wie er im Zwischendeck viele tausend Dollar verteilt, wie er seine ganze Garderobe verschenkt hatte. Was sollte man davon denken? Salden saß mit an der Tafel, aber auch in der letzten Minute löste er nicht das Rätsel, das ihn umgab, war unnahbar wie immer.
Und der Schluß dieser Reise sollte erst den Anfang des allergrößten Rätsels bilden.
Auf dem einsamen Meere wurde es lebendig, überall tauchten Lichterchen auf, deren Zahl ständig zunahm. Man näherte sich der Küste, dem Hafen, wenn man auch noch immer einige Stunden davon entfernt war.
Es war eine warme Sommernacht, aber stockfinster.
Ungefähr eine Stunde vor Mitternacht war es, als sich vorsichtig, manchmal um sich spähend, ein Mann nach dem äußersten Hinterteile des Schiffes schlich, wo sich das Reserve-Steuerrad für die höchste Not befindet, gerade über der Schraube, welcher Teil des Schiffes für die Passagiere streng geschlossen ist.
Es war Salden. Dort, wo das von der Schraube aufgewühlte Kielwasser phosphoreszierend brandete, angelangt, blickte er nochmals um sich. Kein Matrose, kein Mensch war in der Nähe. Schnell zog er aus der Brust eine Brieftasche, entnahm ihr einige Papiere, zerriß diese und ließ die Stückchen über Bord flattern. Dann warf er die Ledertasche selbst ins Wasser.
»Vernichtet für immer ist mein Name,« murmelte er, »nun gilt es bloß noch meine eigene Persönlichkeit.«
Ehe er den Satz vollendet, hatte er die Hände auf die Bordwand gelegt und...war mit einem Hechtsprung kopfüber in der Flut verschwunden!
Als er wieder auftauchte, war er außerhalb des Bereiches der gefährlichen Schraube, aber dort rauschte die ›Persepolis‹ als ein feuriges Ungetüm mit Hunderten von glühenden Augen mit ungeschwächter Schnelligkeit davon, und kein Ruf ›Mann über Bord!‹ war erschollen.
Und der Selbstmordkandidat befand sich in der heitersten Stimmung.
»Willkommen, mein liebes Meer!« erklang es jauchzend aus den schäumenden Wogen. »Kennst du mich noch? Bisher bin ich deinem unersättlichen Magen unverdaulich gewesen, denn schon dreimal verschlucktest du mich, und dreimal spiest du mich wieder aus. Hast du es diesmal anders mit mir vor? Nun, Meer, schlag zu; wir wollen sehen, wer stärker ist, ich oder du! Und wen die Götter lieben, den lassen sie jung sterben!«
Mit diesen Worten hatte er sich den Kragen abgeknöpft — also nicht abgerissen, wie es wohl jeder andere gemacht hätte, wenn er sich im Wasser dieses Kleidungsstückes entledigen wollte — sondern hatte ihn fein säuberlich abgeknöpft. Einstecken tat er ihn freilich nicht, sondern ließ ihn mit dem Schlipse schwimmen. Dann zog er den schwarzen Gehrock aus, hierauf kamen die Stiefeletten daran, und daß er dabei mit dem Kopfe unter das Wasser mußte, genierte ihn nicht im mindesten, wie man überhaupt auf den ersten Blick bemerkte, daß er ein gottbegnadeter Schwimmkünstler war, eine Seehundnatur. Als auch die Strümpfe von den Füßen waren, kamen die Hosen daran, dann die Unterwäsche, und das alles wurde so recht hübsch gemächlich ausgezogen, da wurde kein Band abgerissen, schließlich streifte er sich auch noch das Hemd über den Kopf, und nun, so wie ihn der liebe Gott erschaffen hatte, ging es mit mächtigen Stößen vorwärts, dorthin, wo in der Ferne die meisten Feuer leuchteten.
In den letzten Tagen war die See sehr aufgeregt gewesen, jetzt wieder geglättet, wenigstens hatte man von dem hohen Schiffe aus nur eine leicht gekräuselte Wasseroberfläche gesehen... aber wenn man selbst im ›leicht gekräuselten Ozean‹ liegt — ei die Dunnerwetter! würde da wohl mancher sagen — denn da geht's noch immer bergauf und talab, das Wasser schlägt dem ungeschickten Schwimmer noch oft genug über dem Kopfe zusammen.
So ward also auch Salden noch tüchtig vom Wellenschlag des Ozeans geschaukelt, aber er war eben ein ausgezeichneter Schwimmer, mit jedem Stoß legte er mindestens zwei Meter zurück, und dann ging es wieder einmal Hand über Hand.
Ein in weiter Entfernung vorüberstreichender Dampfer verkündete durch acht Glasenschläge die Mitternachtsstunde. Schon eine Stunde also schwamm Salden so kraftvoll, und da war noch keine Spur von Ermüdung zu merken.
Noch eine Stunde verging, aber dem Schwimmer nicht die Kraft. Jetzt hatte er sich ein bestimmteres Ziel gewählt. Das große Lichtermeer, dem er immer näher kam, ließ er links liegen und hielt auf einen kleineren Komplex von erleuchteten Fenstern zu, welche einsam aus der dunklen Nacht hervortraten.
»Die Insel Manhattan, auf welcher New-York liegt, ist es auf alle Fälle,« murmelte er, »und meiner Ansicht nach, welche bei einem neugeborenen Kinde freilich nicht viel gilt, ist das dort ein einsames Bade-Hotel, und wenn sich das neugeborene Kindlein nicht irrt, so sollte mich das sehr freuen, dann würde ich mich dort gleich in die Wiege legen, und bei dieser Geschichte bekommt man auch Appetit.«
Noch eine halbe Stunde, und er bekam bei einem Versuche, Grund zu finden, feinen Sand unter die Füße, er begann zu waten, und immer deutlicher konnte er jetzt die Umrisse eines großen Gebäudes mit einigen erleuchteten Fenstern erkennen.
Er hatte noch immer lange Zeit zu waten, der Badegrund stieg nur allmählich an. Als ihm das Wasser nur noch bis an die Knie ging, zuckte er plötzlich etwas zusammen, blieb stehen und hob den einen Fuß, um den Splitter daraus zu entfernen, den er sich eingetreten hatte.
»Eine Stecknadel! Wahrhaftig, eine Stecknadel! Der Himmel hat mir für meinen neuen Lebenslauf das erste Bekleidungsstück geschenkt!!«
Er behielt dieses erste ›Bekleidungsstück‹ in der Hand und hatte nun bald den trockenen Strand erreicht. Auf diesem standen viele elegante Badehütten, er untersuchte einige Türen und fand sie alle fest verschlossen, aufbrechen tat er keine.
Da sah er im Dunkeln am Boden etwas Weißes leuchten, er hob es auf — ein Bogen Zeitungspapier.
»Aaagh, Adams Feigenblatt ist auch schon gefunden! Wenn der Himmel weiter mir so gnädig gesinnt ist, betrete ich dort das Hotel noch als tadellos gekleideter Gentleman. Ein Glück nur, daß ich die Stecknadel aufgehoben habe. Ich habe es ja immer gesagt: der Mensch soll sparsam sein, soll auch gar nichts fortwerfen, nicht einmal eine Stecknadel. Also machen wir Toilette.«
Sein Körper war bei dem langen Waten im seichten Wasser schon trocken geworden, so wickelte er sich den Bogen Papier um die Hüften und steckte die Ränder mit der Nadel fest.
So kostümiert, marschierte er direkt auf das hellerleuchtete, noch geöffnete Portal zu, in welchem er mehrere Personen unterscheiden konnte, und was er da sah, das genierte ihn alles nicht, das Portal zu betreten.
Es war richtig ein Hotel, ein Badehotel, welches nur in der Sommersaison ständige Gäste aufnimmt.
Jetzt, in der zweiten Nachtstunde, war schon alles ruhig. Aber das Dienstpersonal, weibliches und männliches, hatte doch noch bis jetzt zu tun gehabt, soeben gaben alle die, welche Schlüssel unter sich hatten, diese an der Portierloge ab.
»Good morning Ladies and Gentlemen.«
Einen Moment Todesstille, und dann ein furchtbares Kreischen, und verschwunden war plötzlich alles, was einen Weiberrock getragen hatte.
Steht da plötzlich mitten unter ihnen ein nackter Kerl! Ein Glück nur, daß die Stecknadel das bißchen Papier zusammenhielt.
Der Portier aber und die Kellner und die anderen dienstbaren Geister männlichen Geschlechts reckten den Hals immer weiter heraus und machten immer größere Augen.
»Was — ist — denn — das?!«
Der nackte Mann ließ sich nicht beirren, und jetzt war er ein total anderer als noch vor zwei Stunden an Bord der ›Persepolis‹.
Gravitätisch setzte er das eine nackte Bein vor, stemmte die eine Hand in die Hüfte, die andere streckte er aus, und so sagte er in schnarrendem Tone mit abgerissenen Worten:
»... ääääääähhhh... ein Zimmer... erste Etage... vornheraus... mit Salon... mit Bad...mit Wasserklosett... mit musikalischem Wasserklosett... wenn man sich draufsetzt, muß es den Priesterchor aus der Zauberflöte mit voller Posaunenbegleitung und Paukenschlag spielen...«
So schnarrte der nackte Mann im affektiertesten Tone. Und was sagten der Portier, die Kellner und die anderen dazu?
So etwas, wie hier geschildert, und was dann noch weiter geschah, ist in keinem anderen Lande möglich als nur in Amerika — um einen modernen und äußerst zutreffenden Ausdruck zu gebrauchen: im Lande der unbegrenzten Möglichkeiten.
In Deutschland und in jedem anderen Lande, England vielleicht nicht ausgeschlossen, wäre doch sofort die Polizei geholt und der nackte Eindringling, der sich so benahm, auf die Wache oder gleich ins Irrenhaus gebracht worden. Nicht so in Amerika.
Dazu aber müssen wir den nackten Mann erst einmal mit den Augen des Hotelpersonals betrachten.
Sie sahen eine schlanke Männergestalt, aber der Körper ausgebildet wie der eines Athleten, die kleinste Muskel trat wie gemeißelt hervor — und sie sahen die wohlgeformten Füße, ebenso mit peinlicher Sorgfalt gepflegt wie die schlanken Hände — und im Augenblick war ihnen alles klar; das war so ein Faxenmacher vom Athletic-Klub, dem vornehmsten Klub New-Yorks, dem lauter solche Dandies angehören, welche nicht wissen, wie sie Zeit und Geld totschlagen sollen, hier handelte es sich einfach um eine tolle Wette.
Also die dienstbaren Geister verbissen ihr aufsteigendes Lachen und waren wie die Ohrwürmchen um den sonderbaren Gast herum, denn da gab es natürlich dann, wenn es zur Auflösung kam, fürstliche Trinkgelder.
»Sehr wohl, mein Herr, ein Zimmer vornheraus. Wünschen der Herr vielleicht noch zu speisen?«
»Speisen, jawohl... auf meinem Zimmer... Weinkarte... und eine Spielkarte... ganz neu... und ein Nachthemd... braucht nicht ganz neu zu sein.«
»Sehr wohl, mein Herr.«
Gut, der späte Gast, dessen ganzes Gepäck in einer Stecknadel und in einem Zeitungsblatt bestand, ward in ein prachtvolles Schlafzimmer geführt, in dem nichts weiter fehlte als das Wasserklosett mit Musik. Zuerst brachte ihm der Kellner ein langes Nachthemd, Salden, wie wir ihn vorläufig noch nennen wollen, bestellte eine Flasche des teuersten Champagners, die Küche lieferte noch immer ein ausgewähltes Souper. Auf einem Teller lagen auch die gewünschten Spielkarten.
»Wünschen der Herr sonst noch etwas?«
»Nein, für jetzt nichts mehr. Morgen früh den New-Yorker Herald und andere Morgenzeitungen.«
»Sehr wohl, mein Herr.«
Der Kellner wünschte gute Nacht und ging, der Gast schloß sich ein, um die Mahlzeit im Nachthemd einzunehmen, und dann konnte der kuriose Kauz für sich allein auch noch eine Partie Karten spielen — oder für sein künftiges Schicksal sich die Karten legen.
Unterdessen wälzten sich unten die Kellner und Dienstmädchen vor Lachen. Besonders über das ›musikalische Wasserklosett mit Posaunenbegleitung und Paukenschlag‹ konnten sie sich gar nicht wieder beruhigen. Wenn nur erst der helle Tag anbräche, daß man sehen konnte, wie sich das noch weiter entwickelte, was sich aus dem nackten Fremdling noch entpuppte. —
Die Morgenzeitungen waren nach und nach gekommen, und da der rätselhafte Gast sie doch auf sein Zimmer bestellt hatte, durfte der Kellner es wagen, die Zeit des Wiedersehens abzukürzen, er klopfte an die Tür.
»Come in!«
Der Riegel konnte durch einen Mechanismus vom Bett aus zurückgeschoben werden, der Kellner trat ein.
Salden lag noch im Bett, die Schüsseln und die Flasche waren geleert, aber das Spiel Karten verschwunden.
»Hier sind die gewünschten Morgenzeitungen.«
»Geben Sie her!«
»Befehlen der Herr das Frühstück?«
»Jawohl, das Frühstück. Es darf etwas ausgiebig sein. Und Seife und Kamm usw.«
Der Kellner brachte mit mehreren Gängen alles Verlangte. Salden las im Bett die Zeitungen.
»Halt,« kommandierte er, als sich der Kellner wieder entfernen wollte, »wem gehört dieses Hotel?«
»Mr. Ephram.«
»Ist er anwesend? Ist er zu sprechen?«
»Während der Saison ist Mr. Ephram immer anwesend. In einer Stunde wird er zu sprechen sein.«
»Gut, ich möchte ihn dann sprechen. — Halt! Kennen Sie die dem Meere entstiegene, schaumgeborne Venus, auch Aphrodite genannt?«
Der Kellner machte ein sehr dummes Gesicht.
»Nein, diese Dame ist mir leider unbekannt.«
»Schade. Die bin ich auch nicht — aber ihr Bruder. Rufen Sie den Hotelier, ich muß ihn sprechen, ehe ich hier noch mehr Schulden mache.«
Als sich der Kellner entfernte, war ihm etwas unwirsch im Kopfe. Wenn er den Herrn sonst auch gar nicht verstanden hatte, so summte ihm doch immer das fatale Wort ›Schulden‹ in den Ohren.
Der Hotelbesitzer kam. Er hatte schon von seinen Leuten alles erfahren, es hatte ihn sehr amüsiert, schließlich war er doch auch ein Mensch, freilich mehr noch Geschäftsmann.
Salden hatte das Bett verlassen und sich gewaschen, sonst aber empfing er den Hotelier natürlich im Nachthemd.
»Sie wünschten mich zu sprechen, mein Herr? Ich bin der Besitzer dieses Hotels. Ephram ist mein Name.«
Das Nachthemd machte eine tadellose Verbeugung.
»Sehr angenehm. Nobody ist mein Name.«
Auch den Hotelbesitzer befiel plötzlich eine unangenehme Empfindung. Jetzt hätte der vornehme Faxenmacher wenigstens seinen Namen nennen müssen. Denn ›Nobody‹ heißt auf deutsch ›Niemand‹. Das war also der Herr Niemand. Nun gibt es im Englischen allerdings diesen Namen, auch im Deutschen, aber... die ganze Geschichte gewann jetzt doch den Anschein, als habe man es mit einem Individuum zu tun, das seinen Namen nicht nennen wolle.
Und das sagte der vormalige Salden dem Hotelier denn auch gleich offen heraus, immer höflich, aber auch etwas von oben herab, und den Mann dabei immer fest anblickend.
»Sie werden erfahren haben, unter welchen außergewöhnlichen Umständen ich diese Nacht Ihr Hotel betreten habe. Ich schulde Ihnen ein Zimmer, ein Souper, ein Flasche Champagner und noch mehreres andere. Ehe ich noch weitere Schulden mache, teile ich Ihnen mit, daß ich keinen Cent besitze, vollständig mittellos bin, und bitte Sie dennoch, mich nicht für einen Hochstapler oder Zechpreller halten zu wollen.«
Wohl stutzte der Wirt noch mehr als zuvor, aber war dies die Sprache und das Benehmen eines Hochstaplers?
Und dann diese merkwürdigen Augen, sie schlugen den Hotelier wie in einen Bann.
»Ja, wer sind Sie da aber, mein Herr? Wo haben Sie Ihre Kleider gelassen? Wie sind Sie überhaupt in solch eine Lage gekommen?«
Mr. Nobody, wie er sich jetzt nannte, nahm vom Tisch den ›New-Yorker Herald‹ und hielt ihn dem Hotelier entgegen, auf eine bestimmte Stelle deutend.
»Haben Sie diesen heutigen Artikel schon gelesen?«
Ein mysteriöser Vorfall an Bord des Schnelldampfers ›Persepolis‹.
So lautete die fettgedruckte Überschrift des Sensationsartikels. Als die ›Persepolis‹ heute früh bei Tagesanbruch am Quai beigelegt hatte, waren, wie gewöhnlich, die Berichterstatter der verschiedenen Zeitungen an Bord gekommen, um über eventuelle bemerkenswerte Begebenheiten während der Reise zu forschen.
Ja, da konnte man allerdings etwas erzählen. Ein Passagier war heute über Nacht plötzlich verschwunden, hatte anscheinend Selbstmord begangen.
Als die ›Persepolis‹ Long-Island passierte, waren — unvermutet früh — die amerikanischen Zollbeamten mit der üblichen Polizeibegleitung an Bord gekommen, die noch schlafenden Passagiere wurden mit amerikanischer Rücksichtslosigkeit sofort geweckt, um zunächst ihr Handgepäck untersuchen zu lassen.
Ein Passagier fehlte — Mr. Eugen Salden. Ein Steward begab sich zunächst nach der Kabine, an deren Tür er vorhin stark geklopft hatte, er tat es auch jetzt, keine Antwort, er öffnete die unverschlossene Tür, Mr. Salden war nicht darin — aber sofort erblickte der Steward ein großes Stück Pappe, auf welches mit dicken Buchstaben geschrieben war:
»Ich, der ich mich Eugen Salden nannte, springe heute nacht um elf Uhr über Bord.«
Der Selbstmordkandidat verhinderte durch diese letzte Mitteilung das Durchsuchen des ganzen Schiffes nach seiner fehlenden Person.
Ein Selbstmordkandidat? Jetzt begannen die rätselhaften Aussagen der Passagiere und Angestellten, welche ihn beschreiben wollten — rätselhaft dadurch, daß sich ihre Angaben so widersprachen.
Bartlos, ja, darin waren sie sich einig, aber das war auch das einzige.
»Noch nicht zwanzig Jahre alt. — Mindestens vierzig. — Klein. — Mir kam er sehr groß vor. — Ein rücksichtsloser Patron. — Ungemein höflich und zuvorkommend...«
Und so ging es weiter, bis schließlich wieder alle darin übereinstimmten: »Es war eine ganz eigentümliche, rätselhafte Persönlichkeit, die jedem sofort auffallen mußte.«
Bevor er in den Tod ging, hatte er alles verschenkt, was er besaß. Es wurde konstatiert, daß er im Zwischendeck fast 6000 Dollar verteilt hatte, dem irländischen Auswanderertrupp hatte er ja allein 5000 Dollar geschenkt. Jetzt erzählte auch der Tabaksagent, wobei er sich gar nicht zu kompromittieren brauchte, wie ihm jener Mann seine Wertsachen angeboten hatte, er zeigte die goldene Uhr und die anderen Kleinodien. Seine Koffer, die er mit Restinhalt dem Steward geschenkt hatte, mußten geöffnet werden. Alles aufs feinste. Allein das große Toilettennecessaire verriet den geborenen Elegan. Aber kein Name, kein Monogramm in der Wäsche, gar nichts.
Warum hatte er Selbstmord begangen? Aus Geldnot sicherlich nicht. Der nächste oder sogar der erste Grund ist immer die Liebe.
»Gewiß, er trug eine unglückliche Liebe in seinem Herzen,« flötete eine Dame, »ich sah es ihm sofort an, ich ahnte ein Unglück, er sah so unsäglich melancholisch aus.«
»I Gott bewahre, der hatte überhaupt gar kein Herz im Leibe, er sah aus, als ob er das Phlegma selber wäre.«
Warum hatte er den Selbstmord erst kurz vor New-York begangen, wo er doch auf dem hohen Ozean viel sicherer seinen Tod gefunden hätte?
»Er hat die Ausführung seines entsetzlichen Vorhabens immer und immer wieder hinausgeschoben, es fehlte ihm an Mut, er sah auch so energielos aus.«
»I Gott bewahre! Das war ein Mann, der nicht in der Ausführung eines einmal gefaßten Entschlusses schwankt; das war ein Mann mit einer rücksichtslosen Energie, die alles unter die Füße tritt.«
Je mehr man fragte und über den Fall grübelte, desto unergründlicher wurde das Rätsel nur.
Die Zeitungsreporter bemächtigten sich dieser Sache mit Heißhunger und fabrizierten in aller Geschwindigkeit die sensationellsten Berichte. Wohl waren diese etwas übertrieben, aber aus Wahrheit beruhten sie dennoch — ja, sie gaben die Größe des Rätsels nicht einmal wieder, wie es in Wirklichkeit war. Das konnte erst mit der Zeit geschehen.
»Ich habe diesen Artikel bereits gelesen, es steht davon in allen Zeitungen,« sagte der Hotelier, und mit einem erstaunten Blick auf den Mann im Nachthemd setzte er hinzu: »Das sind doch nicht etwa Sie?!«
»Ja, das bin ich, aber jetzt nicht mehr Eugen Salden, was auch nur ein angenommener Name war, sondern Nobody — ein Niemand.«
»Sie haben den Tod in den Wellen nicht finden können?«
»Nicht finden wollen. Ich habe nicht daran gedacht, einen Selbstmord zu begehen. Ich sprang in der Nähe des Hafens ins Wasser, um schwimmend die Küste von Amerika zu erreichen, im Wasser entkleidete ich mich vollständig, und das weniger deshalb, weil mich die Kleidung am Schwimmen hinderte, als vielmehr, weil ich das amerikanische Festland völlig mittellos, so wie Gott jeden Menschen zur Welt kommen läßt, betreten wollte...«
»Ah, es handelt sich um eine Wette?!« rief der Hotelier, der als Yankee, wenn auch sonst ein trockener Geschäftsmann, für alles Exzentrische schwärmte.
»Nehmen Sie an, es handele sich um eine Wette. Erst aber etwas anderes. Ich mußte wohl länger als zwei Stunden schwimmen...«
»Zwei Stunden im offenen Meere, kolossal!!«
»Es war ein Zufall, daß ich gerade hier vor ihrem Hotel landete. Ich hatte Hunger und Durst und war müde. Ich bestellte, ohne zu sagen, daß ich nicht bezahlen könne. Ich kann es auch jetzt noch nicht. Mein ganzes Besitztum besteht in einer Stecknadel und einem Bogen Zeitungspapier, und auch das gehört eigentlich Ihnen, denn ich habe es auf Ihrem Grund und Boden gefunden. Sie könnten mich jetzt als Zechpreller der Polizei ausliefern...«
»O, mein Herr!« unterbrach ihn der Hotelier mit abwehrender Handbewegung. »Für wen halten Sie mich denn? Sie haben doch den armen Leuten im Zwischendeck 6000 Dollar geschenkt!«
»Halt! Dies ändert an der Sachlage nichts. Ich habe das Geld eben verschenkt, und ich bin nicht der Mann, ein Geschenk wieder zurückzufordern. Doch Sie haben recht, wenn Sie nach allem, was Sie hier gelesen haben, mir vertrauen. Es handelt sich tatsächlich um eine Wette, nur daß ich diese nicht mit einem anderen, sondern nur mit mir selbst abgeschlossen habe. Das heißt, ich habe mir die Ausführung eines Experimentes vorgenommen. Zahllose Auswanderer landen alljährlich in Amerika, mehr oder weniger mit Geld ausgestattet, sie alle sind von den optimistischsten Hoffnungen beseelt, sie alle gedenken in der neuen Welt eine sichere Existenz zu finden, mehr noch, träumen gleich von Reichtümern, die sie sich durch Arbeit oder Spekulation erbeuten werden, und je mehr jemand Kapitalien mitbringt, desto schneller hat er sich im Traume zum zweiten Vanderbilt gemacht. Wie diese Träume meistenteils zu Wasser werden, ist Ihnen selber bekannt.
Ich aber wollte diesen Erdteil hilflos und nackt betreten, wie mich der liebe Gott erschaffen hat, fremd, unbekannt, kein einziger Mensch soll wissen, wer ich bin, wie ich früher hieß — und noch an demselben Tage, also heute will ich ein Einkommen von jährlich mindestens 100 000 Dollar besitzen.«
»Von... wieviel?«
»Von 100 000 Dollar — mindestens.«
Daß der Wirt jetzt ein etwas ungläubiges Gesicht machte, war begreiflich. Er mußte auch daran denken, ob er nicht vielleicht einen Geistesgestörten vor sich hatte.
»Zunächst,« fuhr der kleine Krösus im geborgten Nachthemd fort, »muß ich Ihnen beweisen, daß ich auch wirklich kreditfähig bin. Es ist Ihnen vielleicht bekannt, daß ich mir vom Kellner eine Spielkarte geben ließ?«
Der Hotelier bejahte sehr verwundert. Auf welche Weise wollte der sich denn durch diese Spielkarte Kredit verschaffen?
»Ich führe an, daß ich eine Spielkarte bei mir habe, damit Sie sich vor mir nicht etwa fürchten,« lächelte Nobody. »Übernatürliche Kräfte besitze ich nicht, auch bei mir geht alles mit natürlichen Dingen zu. Geschwindigkeit ist keine Hexerei.«
Mit diesen Worten hatte er den rechten Aermel des Nachthemdes bis weit zur Schulter aufgekrempelt, und auch der Hotelier staunte über den Arm, den er zu sehen bekam — nicht riesenhaft, nicht herkulisch, aber dennoch von einer Muskelentwickelung, wie der Mann so etwas eben noch nicht gesehen hatte.
»Sie sehen meine Hand, ich habe nichts darin.«
Dicht vor den Augen des Wirtes drehte er die erhobene Hand mit gespreizten Fingern hin und her. Auch diese Hand fiel dem Hotelier auf, so schlank, so wohlgepflegt und dennoch strotzend von Muskeln. Jetzt wußte der Wirt, daß er einen Taschenspieler vor sich hatte. Doch was für ein außergewöhnliches Kunststück will man denn heutzutage mit Karten noch vormachen?
»Ich habe nichts in der Hand?«
»Gewiß nicht.«
»Welche Karte soll ich aus der Luft greifen?«
»Pik-As.«
Wie es geschah, d. h., welchen Eindruck es machte, läßt sich nicht beschreiben. Der Taschenspieler griff in die Luft, die Karte wuchs ihm aus dem dem Beobachter abgekehrten Handteller heraus, durch die eigentümliche Bewegung aber sah es gerade so aus, als zöge er die Karte aus der Luft — kurz und gut, plötzlich hielt er zwischen seinen Fingern das Pik-As.
Der Hotelier war starr vor Staunen. Wohl hatte er derartige Kunststücke und auch ganz dieses selbe schon oft genug gesehen, aber doch nie in solcher Nähe, so dicht vor den Augen, und dann war die Täuschung auch niemals eine solch überzeugende gewesen; der Hotelier hätte gleich schwören mögen, dieser Mann hatte die Karte wirklich aus der Luft gegriffen.
»Wie in aller Welt machten Sie denn das? Wo bekamen Sie die Karte denn nur plötzlich her?«
Der Taschenspieler blieb die Erklärung schuldig.
»Geschicklichkeit ist so wenig Hexerei wie Geschwindigkeit. Nennen Sie eine andere Karte.«
»Herz-Dame.«
Genau wieder dasselbe, und so noch mehrmals. Der Taschenspieler zog die gewünschte Karte aus der Luft, aus dem Knie des Hoteliers, aus dessen Nase, also immer dichter vor seinen Augen, und der Mann konnte absolut nicht begreifen, woher jener die Karten nahm, wie er sie plötzlich in seine Hand schmuggelte.
»Bitte, da sagen Sie mir doch, wie Sie das nur machen,« schmeichelte immer wieder der Yankee, der sonst gar nicht danach aussah, als ob er über solche Kunststückchen die Fassung verlieren könnte. »Wo haben Sie nur die Karten? Wenn Sie es mir nicht erklären, glaube ich wirklich noch an Zauberei.«
»Es geht ganz natürlich zu, aber solch ein Geheimnis darf man nicht verraten. Glauben Sie, daß ich sofort von einer Variété-Bühne engagiert werde? Und ich kann nämlich noch ganz andere Sachen.«
»Aber natürlich,« rief der Hotelier begeistert. »Mann, Sie sind ja im Besitze einer Goldquelle!! 25 Dollar für jede Vorstellung — nein, 50 Dollar und noch mehr — wenden Sie sich sofort an Mr. Lewis, ich kenne ihn persönlich, er ist mein Freund, er kommt gleich her, wenn ich zu ihm schicke...«
»Wer ist das, Mr. Lewis?«
»Der artistische Direktor vom Atlantic-Garden. Kennen Sie den Atlantic-Garden? Das größte Vergnügungsetablissement von New-York, der Variété-Saal faßt 8000 Zuschauer. — Doch nein, solche Kartenkunststücke sind auf der Bühne in einem so großen Saale nicht wirksam. In Klubs müssen Sie sich produzieren, 100 Dollar für die Vorstellung, Sie brauchen nur erst einmal einen Anfang gemacht zu haben, dafür kann ich sorgen, dann haben Sie für jeden Abend eine Bestellung, die reichen Klubs überbieten sich...«
»Und ich sage Ihnen, ich werde dennoch im Atlantic-Garden auftreten, und das schon heute abend, aber nicht für 25 Dollar, sondern für 250 Dollar, denn, wie schon erwähnt, ich kann noch etwas ganz anderes, was in Amerika noch kein Mensch gesehen hat. — Jetzt, Mr. Ephram, wollte ich Sie bitten, mir den Berichterstatter einer großen Zeitung, womöglich des New-Yorker Herald, zuzuführen, der mich interviewt.«
»Das wollte ich Ihnen bereits vorhin sagen,« beeilte sich der Hotelier zu entgegnen, »und das paßt vortrefflich. Mr. Law, der für den New-Yorker Herald berichtet, ist gerade hier bei mir...«
»Ein gewöhnlicher Reporter?«
»O nein, was meinen Sie wohl! Das ist kein Reporter, welcher sofort den Bleistift vom Leder zieht, wenn ein Droschkengaul stürzt. Mr. Law ist Korrespondent und politischer Interviewer, im letzten Kriege bekam er einen großen Dampfer zur Verfügung gestellt, mit dem er die englische Kriegsflotte begleitete, der steht sich glänzend, und er hätte es nicht einmal nötig, er hat die Tochter von H. P. World geheiratet, sein einziges Kind. Sie kennen doch H. P. World?«
»Wer ist das?«
»Der größte Verlagsbuchhändler von New-York, von Amerika, ein vielfacher Millionär.«
»Was verlegt er?«
»Romane, Jugendschriften. Er verlegt alles, wenigstens immer das, womit ein Geschäft gemacht wird. Die ganze Familie ist jetzt bei mir zur Sommerfrische.«
»Bitte, wenn sich Mr. Law zu mir bemühen will. Im Hemd kann ich ihm wohl nicht meine Aufwartung machen.«
»Nein, nein, Sie müssen auch noch Ihr Hemd ausziehen,« rief der Hotelier, schon in der offenen Tür stehend, noch zurück.
»Glück wie immer,« murmelte Nobody, als er allein war, griff in die rechte Achselhöhle und brachte aus diesem Versteck die Karten zum Vorschein, welche er vorhin nicht gezogen hatte.
Er mußte ziemlich lange warten. Mr. Law mochte noch nicht aufgestanden sein, und dann zeigte es sich auch, daß ihm der Hotelier erst alles erzählt hatte, was er von dem rätselhaften Gaste zu hören und zu sehen bekommen.
Dann kam der Hotelier zurück mit Mr. Law, einem noch jungen Manne, dieser in Begleitung eines älteren, gar klug dreinblickenden Herrn, den er als seinen Schwiegervater vorstellte. Der weltgewandte Berichterstatter bat um Entschuldigung, aber Mr. World interessiere sich höchlichst für den ›Löwen des Tages‹, und so ging es zuerst, wie es bei derartigen Gelegenheiten unter gewandten Männern immer geht, es wurden Entschuldigungen und Komplimente gewechselt, aber ebenso verstanden diese Männer die Einleitung auch auf die notwendigsten Zeremonien zu beschränken. Dann hatten sie sich einander gegenübergesetzt, auch der Hotelier blieb, und der Zeitungsschreiber hatte ›vom Leder gezogen‹, d. h. Notizbuch und Bleistift zur Hand genommen.
»Wer sind Sie, mein Herr?«
»Das bleibt mein Geheimnis.«
»Auf diese Weise hat der Interviewer einen sehr schweren Stand,« scherzte Mr. Law.
»Das tut mir leid, aber über meine Vergangenheit spreche ich nicht, ich habe einen Grund dazu. Die Vergangenheit ist hinter mir begraben, im Meere versenkt, ich bin ein neugeborener Mensch, ein vom Klapperstorch frisch aus dem Teich gebrachtes Kindlein.«
»Haben Sie ein Verbrechen begangen?« fragte der amerikanische Zeitungsmensch so gelassen, wie man jemand fragt, ob er mit Mehl oder mit Kohlen handelt.
»Nein,« entgegnete der Mann im Nachthemd ebenso gelassen, »ein Verbrechen habe ich nicht begangen, nichts, was mich einer polizeilichen Verfolgung aussetzte. Der Grund, daß ich über meine Vergangenheit absolutes Schweigen beachten werde, ist ein ganz anderer.«
»Sie stammen aus einer angesehenen Familie, für welche Sie als tot gelten möchten.«
»Wenn Sie solchen Scharfsinn zutage legen, dann muß ich etwas offener sein: ja, so ist es.«
»Aus einer aristokratischen Familie?«
»Ja.«
»Aus einer fürstlichen Familie?«
»Ja.«
»Aus einem regierenden Fürstenhause?«
»Halt! Jetzt ist es genug. Aus einer fürstlichen Familie, mehr sage ich nicht.«
»Deutscher?«
»Nein, ja, nein, ja, nein, ja. Wählen Sie sich nach Belieben aus.«
»Dann erlauben Sie wenigstens, daß ich Sie als einen Germanen bezeichne.«
»Woraus schließen Sie das?«
»Aus Ihren echt germanischen Gesichtszügen.«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht.«
Nobody stand auf, nahm ein Handtuch, schlang sich dieses geschickt wie einen Turban um den Kopf — trat, den Herren den Rücken kehrend, vor den Wandspiegel, tastete einige Augenblicke mit den Händen im Gesicht herum, es war, als ob er dieses durch Striche massiere, drehte sich schnell wieder um und setzte sich.
Das Staunen der Herren war grenzenlos, zuerst fanden sie gar keine Worte. Der Mann, der vorhin auf dem Stuhle, auf diesem Stuhle gesessen hatte, war nämlich ein vollkommen anderer gewesen.
»Das ist ja ein Chinese!!!« stieß Mr. World endlich in der größten Bestürzung hervor.
Ja, jetzt waren es plötzlich die charakteristischen Gesichtszüge eines Chinesen oder doch eines Mongolen, und da brauchte man auch nicht im geringsten die Phantasie zu Hilfe zu nehmen.
Vor allen Dingen die geschlitzten, schiefstehenden Augen, das lange Gesicht mit den hervortretenden Backenknochen, die schmalen Lippen, die eingedrückte Nase — ein richtiges Mongolengesicht. Der Turban verdeckte die blonden Haare, so daß diese nicht störten.
»Na, nun sagen Sie bloß in aller Welt, wie machen Sie denn das nur?!«
Der Chinese griff sich in das Gesicht, man sah, wie er die Hautfalten verschob, warf den Turban ab — und saß wieder als der vorige da.
»Unglaublich!! Sie sind Verwandlungskünstler.«
»Nicht professioneller. Eine Anlage dazu, meine Gesichtsmuskeln zu verschieben, mag ich immer gehabt haben, aber zu dem, was ich jetzt darin leiste, habe ich mich erst in der Einsamkeit ausgebildet. Ich bin noch nie in der Öffentlichkeit aufgetreten. — Hat Ihnen Mr. Ephram von dem Kartenkunststückchen erzählt, das ich ihm vorhin zeigte?«
»Ja, er tat es, und ich möchte Sie bitten, uns das noch einmal vorzumachen.«
»Ich werde Ihnen dann noch etwas ganz anderes zeigen, möchte Sie aber vorher auf etwas aufmerksam machen. Wie ich schon gestand, stamme ich aus einem angesehenen, sehr bekannten Hause...«
»Aus einem Fürstenhause,« ergänzte der Berichterstatter.
»Meinetwegen. Außerdem bin ich seit meiner frühesten Jugend, oder doch seit meinem Jünglingsalter, abgesehen von einer langjährigen Pause, rastlos in der Welt umhergewandert, ich bin überall gewesen, und zwar als ein vermögender, als ein reicher Mann. Ich bin einmal ein Krösus gewesen. Aber ich bin auch immer ein Verschwender gewesen. Ich habe wiederholt große Summen in die Finger bekommen.«
»Durch Erbschaft?«
»Das sage ich nicht. Das letztemal waren es ungefähr zehn Millionen, und ich habe diese zehn Millionen innerhalb von zwei Jahren durchgebracht...«
»Zehn Millionen... Mark?« fragte der Reporter hinterlistig.
Allein der Mann im Nachthemd ging nicht in die ihm gestellte Falle.
»Zehn Millionen. Sagen Sie das nur einfach in Ihrem Bericht, Wenn man in zwei Jahren zehn Millionen durchbringt, so ist es ziemlich gleichgültig, ob es Mark oder Dollars oder Pfund Sterling gewesen sind. Eine außerordentliche Leistung bleibt es immer. Das heißt, ich will mit dieser meiner Verschwendung nicht etwa renommieren. Oder meinetwegen auch, gut, ich renommiere damit. Mir ganz egal...«
»Sie sind überhaupt auf jeden Fall ein ganz außergewöhnlicher Mensch.«
»Ein Abenteurer bin ich. Ein Abenteurer comme il faut. Eine geborene, rastlose Abenteurernatur. Und für seinen Charakter kann niemand. Also, was ich sagen wollte: in zwei Jahren habe ich zehn Millionen durchgebracht, jetzt in den letzten zwei Jahren, und zwar immer in der tollsten Weise an den belebtesten Orten zwischen einer internationalen Lebewelt. Nun sage ich aber, daß von jetzt an mich niemand mehr kennen wird. Wie ist das möglich? Sollte ich denn nicht einmal mit jemandem wieder zusammenkommen, der mich von früher her kennt? Denn so groß ist die Erde gar nicht.«
»Ja, wie wollen Sie das verhindern?«
»Ich habe es bereits verhindert, indem ich mich unter dem Publikum niemals in meiner wahren Gestalt zeigte. Abenteurer und Schauspieler sind sehr verwandte Naturen, und ich bin auch ein geborener Schauspieler. Das Komödiespielen ist meine Lust. So bin ich nie in meiner wahren Gestalt aufgetreten, sondern immer in den verschiedensten Masken, sogar als Dame...«
»Als Dame?«
»Als junge und als alte Dame, wochenlang, monatelang. Aber auch noch in ganz anderen Charakterrollen, als... o, Sie würden es ja nicht glauben, wenn ich Ihnen erzählen wollte, wie toll ich es getrieben, was ich für Abenteuer erlebt, wie ich das Publikum, die ganze Welt düpiert habe. Deshalb schweige ich lieber gleich ganz davon. Aber jetzt habe ich die Vergangenheit hinter mir begraben, als neugeborener Mensch habe ich die neue Welt betreten. Als ich das Schiff bestieg, welches mich nach Amerika bringen sollte, waren 4000 Dollar der letzte Rest meines einst immensen Vermögens. Was sollten mir die? Ich warf sie von mir. Kein neugeborener Mensch hat Geld bei sich.«
Er schilderte noch einmal, wie schon dem Hotelier, warum er nicht die Landung des Dampfers abgewartet, sondern ins Meer gesprungen war, um schwimmend das Festland zu erreichen. Eben eine romantische, abenteuerliche, bizarre, exzentrische Natur, die immer am liebsten das tut, was sonst keinem vernünftigen Menschen einfällt.
»Ich verstehe,« sagte der Journalist, »Sie sind ein ganz außergewöhnlicher Mensch, selbst Ihre Exzentrizität ist genial. — Nun haben Sie sich doch geäußert, noch heute wollten Sie ein Engagement abschließen, welches Ihnen ein jährliches Einkommen von 100 000 Dollar sichert. Darf ich fragen, was Sie da im Auge haben? Wollen Sie durch Vorstellungen so viel verdienen?«
Nobody lehnte sich zurück und schlug unter dem Nachthemd die Beine übereinander.
»Ein Engagement? So habe ich vorhin zu Mr. Ephram gesagt, aber das habe ich eigentlich nicht gemeint. Ich habe noch viel mehr vor. Ich will etwas vollbringen, was einzig in der Welt dasteht. Ich, ein vollständig mittelloser, gänzlich unbekannter Mann, will noch heute der Mitinhaber einer Millionenfirma sein.«
Das war ein bißchen ein starker Tobak. War dieser Mann nicht etwas gar zu sehr von sich eingenommen? Nur die Höflichkeit duldete es nicht, daß die Herren ungläubig lächelten.
»Hier in Amerika?«
»Hier in Amerika!«
»Doch nicht gar eine New-Yorker Firma?«
»Eine New-Yorker Firma.«
»Irgend eine, oder haben Sie Ihr Auge schon auf eine ganz bestimmte Firma gerichtet, in welche Sie noch heute als Kompagnon eintreten wollen?«
»Eine ganz bestimmte.«
»Ach, das ist ja höchst interessant! Bitte, nennen Sie mir doch den Namen dieser Millionenfirma.«
»Gewiß, Sie kennen dieselbe, Mr. Law. Sie heißt: Verlagsbuchhandlung H. P. World.«
Dieser Tobak war nun freilich gar zu kräftig! Dachte der vielleicht, wenn, er über seine Abenteuer ein Buch schrieb und es in jenen Verlag gab, er könnte da gleich Mitinhaber der Verlagsbuchhandlung werden? Und er hatte doch auch von einem jährlichen Einkommen von 100 000 Dollar gesprochen.
Kurz, diese Herren, welche die Verhältnisse kannten, den Hotelier nicht ausgeschlossen, blickten verblüfft auf den dem Meere entstiegenen Mann im gepumpten Nachthemd, der mit solch unverfrorener Keckheit so etwas behauptete! Und am allerverblüfftesten war natürlich Mr. World selbst.
»Oho,« brachte der Schwiegersohn endlich hervor, »ohoooo!!«
»Nu nööööhh!« folgte der Schwiegervater nach, wenn er sich dabei auch eines entsprechenden englischen Ausdrucks für sein abwehrendes Staunen bediente.
»So ist es,« sagte aber Nobody mit Seelenruhe, »so wird es kommen, oder aber, Mr. World, Sie treten Ihr Glück mit Füßen. Aber Sie werden darauf eingehen, denn ich habe Sie bereits erkannt, und ich irre mich nie in einem Menschen. Also ich behaupte, bis heute Mitternacht werden Sie meinen Plan akzeptiert haben, mit mir zusammen eine Zeitung herauszugeben, welche, mit einem ganz geringen Kapital zur Begründung, nur einen einzigen Redakteur nötig habend, uns einen jährlichen Reingewinn von einer Million abwirft, und das schon im ersten Jahre.«
Lag es im Tone, lag es in dem eigentümlichen Blicke, lag es in dem ganzen Wesen dieses Mannes, daß selbst bei solchen Fachleuten, welche doch wüßten, wie schwer es ist, eine neue Zeitung einzuführen und rentabel zu machen, gar kein Zweifel an der Richtigkeit dieser kühnen Behauptung aufstieg?
»Was für eine Zeitung?!!« riefen der Journalist und der Verlagsbuchhändler hastig aus einem Munde.
»Eine Zeitung, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat,«
Das Gespräch wurde durch einen Kellner unterbrochen, welcher die Ankunft von Mr. Lewis meldete. Denn der artistische Leiter des Atlantic-Garden war bereits von dem Hotelier durch einen Boten schriftlich benachrichtigt worden, um was es sich handelte, und wenn es eine neue ›Attraktion‹ zu erwerben galt, doppelt zugkräftig durch eine vorhergehende Sensation, die den zu Engagierenden schon vorher populär gemacht hatte, so war Mr. Lewis stets zur Stelle.
Die Herren kannten sich, zuerst mußte dem Neuangekommenen doch erläutert werden, daß der Mann im Nachthemd der geheimnisvolle Passagier und wieder lebendig gewordene Selbstmörder sei — dann ging es gleich noch einmal los mit den Kartenkunststückchen.
Nobody machte genau dasselbe, was er dem Hotelier schon gezeigt hatte, nichts weiter, ganz in derselben Weise. Am meisten staunte der alte World, er wollte durchaus wissen, woher die Karten kamen, und wohin sie wieder verschwanden; der Artisten-Direktor erklärte, daß er derartiges zwar schon oft gesehen habe, aber noch niemals ausgeführt mit solch einer Vollkommenheit.
»Ja, aber woher nimmt er nur die Karten?!« rief World immer wieder. »So sagen Sie es uns doch! Sie müssen es doch auch wissen, Mr. Lewis.«
»Ich weiß es auch nicht. Das kann auf die verschiedenste Weise geschehen. Da hat jeder hervorragende Eskamoteur sein eigenes Geheimnis, und so etwas wird nicht verraten. — Ja, geehrter Herr, für meine Bühne ist das aber nichts.«
»Jetzt gebe ich auch nur eine Privatvorstellung im engen Zirkel. Ich will als Einleitung nur beweisen, daß ich ganz originelle Kunststückchen kann. Will mir einer der Herren einen kleinen Gegenstand geben, den ich in der Hand leicht verberge?«
»Hier, nehmen Sie meinen Siegelring,« sagte der Direktor, den Ring vom Finger streifend.
Der Taschenspieler hatte noch den rechten Aermel bis zur Schulter aufgestreifelt. Bei den nachfolgenden Experimenten, wie aber auch schon bei denen mit den Karten, gebrauchte er nur die Vorsicht, daß niemand hinter ihn und auch nicht seitwärts von ihm treten durfte. Die vier Herren mußten immer vor ihm eng in einer Reihe stehen.
Er streckte die rechte Hand dicht vor dem Direktor flach aus und legte den Ring hinein.
»Sie sehen den Ring in meiner Hand.«
»Gewiß.«
Nobody schloß über dem Ring die Finger und drehte die Faust langsam herum.
»Nun legen Sie Ihre Hände um meine Faust.«
Mr. Lewis tat es.
»Habe ich den Ring noch in meiner Faust, befindet er sich also auch noch zwischen Ihren Händen?«
»Ganz gewiß.«
Es konnte auch gar nicht anders sein. Daß er etwa den Ring habe fallen lassen oder so etwas Aehnliches, daran war gar nicht zu denken.
»Ich behaupte aber, daß der Ring aus meiner Hand verschwunden ist, kraft meines Willens.«
»Nicht möglich.«
»Wetten?«
»Ach, lassen wir das. Ich bin doch auch etwas Fachmann, und ich glaube nicht, daß Sie den Ring aus Ihrer Hand haben eskamotieren können.«
»Ich setze mein ganzes Vermögen ein, daß der Ring nicht in meiner Hand ist.«
»Nein, nein, gewettet wird nicht,« lachte Ephram, »so lassen Sie doch sehen.«
»Oeffnen Sie meine Hand.«
Der Direktor tat es, ganz, ganz vorsichtig; ohne die Hand loszulassen, sie immer krampfhaft am Gelenk gepackt haltend, schlug er einen Finger nach dem anderen zurück und... der Ring war noch drin!
Die Herren lachten aus vollem Halse. Das negative Resultat wirkte eben dadurch komisch, weil der Direktor gar so vorsichtig untersucht hatte.
»Sehen Sie,« sagte Nobody trocken, »hätten Sie doch mit mir gewettet, dann hätten Sie mir jetzt mein ganzes Vermögen abgewonnen — die Stecknadel und den Bogen Zeitungspapier.«
Die Herren lachten noch stärker.
»Also noch einmal. Ich muß meine Willenskraft mehr zusammennehmen, denn nur diese zaubert den Ring aus meiner Hand.«
Dasselbe wurde wiederholt, ganz wie zuvor, Lewis hielt die Faust umklammert.
»Ist der Ring jetzt noch drin?«
»Ohne alle Zweifel.«
»Was wetten Sie, daß er nicht mehr in meiner Faust ist?«
»Na, meinetwegen,« lachte der Direktor, »und ich setze gleich tausend Dollar daran, er muß noch darin sein, ich wette sogar meinen Kopf dafür.«
»Die tausend Dollar nehme ich nicht an, aber... der Kopf ihm ab, ich will nicht eher zu Abend speisen!« zitierte Nobody aus Shakespeares Richard dem Dritten. »Oeffnen Sie meine Hand.«
Wiederum ließ der Direktor keine Vorsicht außer acht, so wenig wie er es beim Schließen der Hand getan hatte, er bog die Finger zurück und...
»Goddamn!« stieß er in grenzenlosem Staunen hervor.
Der Ring war verschwunden. Hier gab es keine Erklärung — wenigstens für die vier Herren nicht. Aber unter diesen war eben einer, der doch alle Taschenspielertricks kannte, und auch dieser fand keine Erklärung, wie der Ring aus der Faust, die von seinen eigenen Händen umspannt worden war, herausgekommen sein könnte.
»Sie sehen also, meine Hand ist leer,« fuhr Nobody fort, seine flache Hand wiederholt vor dem Journalisten hin- und herdrehend.
Langsam ballte er die Hand, Mr. Law mußte sofort zugreifen, die Faust also zwischen seine Hände nehmen.
»Glauben Sie, daß jetzt der Ring schon wieder drin ist?«
»Nein, das können wir unmöglich glauben!!«
Wirklich, der Ring war wieder in seiner Hand!
Er wiederholte dasselbe Experiment noch mehrmals, ließ den Ring bald verschwinden, bald wieder in seiner Hand sein. Diese Herren, welche doch schon genug solch Gauklerzeug gesehen hatten, wollten das einfache Experiment immer und immer noch einmal sehen, und jedesmal waren sie von neuem außer sich vor Staunen.
Ein einziger Umstand ließ erkennen, daß man es doch nur mit einem Taschenspielerkniff zu tun hatte. Wenn der Mann die Hand zeigte, leer oder mit dem Ringe, so hatte er die Handfläche stets nach oben gekehrt; dann schloß er die Finger und drehte die Faust erst herum, ehe er sie von fremden Händen umschließen ließ. Dieses ›Herumdrehen‹ hatte ganz offenbar etwas mit dem Hokuspokus zu tun, aber wie... das war und blieb ein Rätsel. Der Direktor lugte wie ein Fuchs, vergebens, er konnte nicht einmal eine Mutmaßung aufstellen, wohin der Ring ging, und woher er wieder kam.
»Fabelhaft! Nun sagen Sie doch bloß, wie Sie das machen!«
Allein der Taschenspieler gab keine Erklärung.
Wieder legte er den Ring in seine Hand und schloß die Finger darüber.
»Wollen Sie nun einmal Ihre Hände um meine Faust schließen, damit der Ring ja nicht heraus kann?«
Es geschah, acht Hände ordneten sich um die Faust.
»Sind Sie davon überzeugt, daß sich der Ring noch in meiner Hand befindet?«
Wären die Herren nicht schon Zeugen von den vorigen Experimenten geworden, so hätte jetzt jeder von ihnen, wenn es eine Wette gegolten, Haus und Hof und seinen Kopf dafür eingesetzt, daß der Ring sich noch in der von ihren Händen umspannten Faust befand. Mr. Lewis hatte ja auch schon einmal seinen Kopf verspielt.
»Jetzt nehme ich dieses Glas...«
Nobody stand neben einem Tischchen, aber doch so weit davon entfernt, daß er, um von diesem ein kleines Wasserglas nehmen zu können, den linken Arm weit ausstrecken und auch noch den Oberkörper stark seitwärts neigen mußte. Auf diese Weise also nahm er das Glas und erläuterte weiter, was die Herren zu tun hätten.
Sie sollten einmal ihre ineinandergeschlungenen Hände möglichst still halten, er wolle auf den Rücken der obersten Hand das Wasserglas setzen, er tat so, und als es stand, zog er seine linke Hand zurück.
»Eins — zwei — drei!!!«
Klirr!!! Oben von der Decke war senkrecht durch die Luft ein blitzender Gegenstand gesaust gekommen und mit voller Wucht in das Wasserglas gefallen — — es war der Ring! Und Nobodys rechte Hand war natürlich leer, wie er zum Überfluß noch zeigte.
»Jetzt bleibt mir der Verstand stehen,« murmelte Mr. Lewis, als er tiefsinnig seinen aus dem Glase genommenen Siegelring betrachtete.
»Mensch — Mann — Nobody,« rief dagegen der Journalist, förmlich außer sich, »Sie müssen sich in Klubs produzieren!! Sie werden mit Gold überschüttet!!«
Nobody blieb kalt.
»Nun bloß noch ein einziges Experiment, aber ein ganz anderes, welches nichts mit Taschenspielerei zu tun hat. Mr. Ephram, wollen Sie mir eine elfenbeinerne Billardkugel verschaffen, womöglich noch ganz neu. Sprünge darf sie wenigstens nicht haben.«
Der Wirt klingelte einem Kellner und gab ihm einen diesbezüglichen Auftrag.
»Meine Herren,« nahm inzwischen Nobody wieder das Wort, »was Sie bis jetzt gesehen haben, war nichts weiter als Taschenspielerei. An Geister und andere übernatürliche Dinge glauben Sie doch nicht...«
»Bitte, ich bin Spiritist,« sagte Mr. World.
»Pardon. Sie haben mich unterbrochen. Ich wollte nämlich fortfahren: oder aber, wenn einer der Herren Spiritist sein sollte, so würde er doch nicht glauben, daß ich diese Kunststückchen, das Verschwinden des Ringes in meiner Hand mit Hilfe von Geistern zustande bringe — kurz: daß ich wirklich übernatürliche Kräfte besitze. Oder doch?«
»Nee,« meinte Mr. World trocken, »das weniger.«
»Nun gut. Ich kann aber noch ganz andere Sachen. Ich bin nämlich ebenfalls auf Spiritismus, und was damit zusammenhängt, eingerichtet. Das heißt, ich kann auch auf spiritualistischem Gebiete die wunderbarsten Erscheinungen hervorrufen. Aber es ist alles nur Taschenspielerei. Wenn man solch eine Gabe besitzt und sie zur Vollkommenheit ausbildet, und man ist kein redlicher Charakter, so kann solch eine Gabe unter der Menschheit großes Unglück anrichten. Die Herren verstehen wohl, was ich damit meine. Ich könnte behaupten, ein Medium zu sein. Rufen Sie die Ungläubigen zusammen, ich will sie überzeugen, daß es Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, von denen sich unsere Schulweisheit nichts träumen läßt. Lassen Sie die berühmtesten Physiker kommen, die schärfsten Beobachter und Denker, sie sollen mich binden und knebeln und mich mit allen ihren Meßapparaten umgeben — und ich will ihnen dennoch Dinge vormachen, daß ihnen die Haare zu Berge stehen und sie dann vor aller Welt verkünden: bei Gott, jetzt glauben auch wir! Es ist kein leerer Wahn! — Ich aber lache die Dummköpfe aus, denn es war doch alles nur Taschenspielerei. — Genug davon! Ich will mit dem Spiritismus nichts zu tun haben. Ich trete auch nicht als Anti-Spiritist auf. Die Spiritisten sind gar keine so üblen Leute, ich möchte es mit ihnen nicht verderben. Jeder mag in seinem Glauben glücklich sein. Ich habe auch noch einen anderen Grund, meine Fähigkeiten nicht öffentlich zu zeigen. Es ist nicht gut, die Menschheit auf ein Mittel, ein lächerlich einfaches Mittel, durch welches man die wunderbarsten Erscheinungen erzeugen kann, aufmerksam zu machen. Also genug davon. Was ich Ihnen jetzt...«
»Bitte,« unterbrach der Journalist den Sprecher, »darf man nicht erfahren, wie und wo Sie sich diese Fähigkeiten und Geheimnisse angeeignet haben? Sie müssen doch einen Lehrer gehabt haben?«
»Allerdings. Und hierüber, will ich wenigstens etwas den Schleier lüften. Zu diesen taschenspielerischen Fertigkeiten habe ich allerdings immer Talent besessen, aber in solcher Weise ausgebildet habe ich sie erst während einer achtjährigen Gefangenschaft.«
Ah, das war ja interessant!
»Weswegen verbüßten Sie die Gefangenschaft?«
»Nicht wegen eines Vergehens, sondern weil ich im Besitze eines Geheimnisses war, welches man mir erpressen wollte.«
»Was für ein Geheimnis?«
»Dieses Geheimnis bleibt mein Geheimnis.«
»Erpreßte man Ihnen das Geheimnis?«
»Nein. Nach acht Jahren brach ich aus.«
»Wann war das?«
»Sage ich nicht.«
»Wo wurden Sie gefangen gehalten?«
»In Asien.«
»Ah, in Indien! Sie haben die Gauklerkünste von indischen Fakirs gelernt!«
»Denken Sie, was Sie wollen. Ich wurde auf Befehl eines asiatischen Machthabers acht Jahre gefangen gehalten, mit noch anderen zusammen, von diesen lernte ich die Gaukelei — mehr sage ich nicht hierüber. — — Also der Zweck, zu welchem ich eine Billardkugel forderte. Ich will Nobody heißen und will ein Niemand bleiben. Aber ich bedarf einer Legitimation. Mit dieser Elfenbeinkugel werde ich etwas ausführen, was mir kein einziger Mensch auf der Erde nachmacht, und das soll meine Legitimation sein.«
Der Kellner brachte die Billardkugel, der Hotelier versicherte sich, ob sie aus dem von ihm bezeichneten Kasten genommen sei.
»Es ist ein ganz neuer Satz, noch niemals damit gespielt worden,« sagte er, als Nobody den geäderten Elfenbeinball aufmerksam betrachtete.
»Es ist Elfenbein von einem afrikanischen Elefanten, welcher das beste liefert. Nun, meine Herren,« fuhr er fort, als sich der Kellner wieder entfernt hatte, »es ist wohl nicht nötig, daß Sie diese tadellose Billardkugel erst einer Prüfung unterziehen, und Sie glauben doch nicht etwa, daß unser Hotelier hier mit mir unter einer Decke steckt und die Kugel etwa erst präpariert hätte. Außerdem führe ich das Experiment mit jeder anderen Billardkugel aus, die Sie mir geben, und das immer wieder. So passen Sie denn auf.«
Er nahm die Billardkugel in die linke Hand, ballte die rechte zur Faust, so bewegte er die ausgestreckten Arme mehrmals auf und ab, er tat, als wolle er fliegen, dabei sah man, wie unter dem Hemd seine Brust immer mehr und mehr schwoll, bis er plötzlich mit der rechten Faust in die linke Hand auf die Billardkugel schlug — aber nun wie er schlug! — es war ein schmetternder Blitz — eine weiße Materie spritzte in dem Zimmer umher — und verschwunden war die Billardkugel — sie war zersplittert, zu Staub zermalmt!
»Da — das ist Mister Nobodys Legitimation — und es gibt auf der ganzen Erde keinen Menschen, der mir das nachmacht.«
Das war kein Staunen mehr, das war lähmendes Entsetzen, mit welchem die vier Herren auf den Mann blickten, der mit einem Schlage seiner Faust eine Elfenbeinkugel in Atome zerschmetterte!
»Daß ich es mit jedem Steinschläger, wie sie sich öffentlich produzieren, aufnehme, dürfen Sie mir wohl glauben,« fügte Nobody lächelnd noch hinzu, »und hätte ich ein anderes Publikum vor mir gehabt als gebildete Herren, so hätte ich auch lieber einen großen Stein oder ein rundes Stück Gußeisen genommen. Schmiedeeisen dürfte es nicht sein. Aber die Herren wissen, was es bedeutet, eine Elfenbeinkugel so zu zerschmettern.«
Ja, diese vier Herren wußten es! Sie konnten es sich wenigstens denken.
Am ersten hatte sich Mr. Lewis gefaßt. Er setzte seinen Klemmer auf und betrachtete einen der Splitter.
»Es hat aber einmal einen Menschen gegeben, welcher ebenfalls mit einem Faustschlage eine elfenbeinerne Billardkugel zermalmen konnte,« meinte er.
»Wer war das?«
»Der Altmeister der modernen Taschenspielerei — der Italiener Bosco.«
»Sie sagen es — Bosco senior, Bartolomeo Bosco — ja, ich weiß es, der konnte es auch, ich hatte davon gehört und habe mich acht Jahre lang geübt, bis ich es ebenfalls fertig brachte, und jetzt behaupte ich, daß es außer mir keinen Menschen mehr gibt, der sich so weit ausgebildet hat.«
»Halt!« rief da plötzlich aufgeregt der Journalist. »Jetzt weiß ich auch, wo Sie gefangen gewesen sind!«
»Nun?«
»In China! Sie sind bei chinesischen Gauklern in die Lehre gegangen, vielleicht gleich bei einem chinesischen Zahnarzt, jetzt sehe ich es auch schon Ihren Händen an!«
Der chinesische Zahnarzt! Das hatte auf die Staunenden wie ein erlösendes Stichwort gewirkt. Jetzt wußten sie wenigstens, daß dieser Mann ›auch nur ein Mensch‹ war. Denn es waren lauter Amerikaner, und in Amerika gibt es Chinesen genug, in New-York ein ganzes chinesisches Viertel, in dem man die Söhne des himmlischen Reiches wie in ihrer Heimat beobachten kann.
Der deutsche Leser aber bedarf wohl einer Erklärung, und es ist auch ein lehrreiches Beispiel, wie man durch einseitige Uebung gewisse Kräfte und Fähigkeiten bis zu einer schier unglaublichen Vollkommenheit ausbilden kann.
Wer einmal nach Amerika kommt, der versäume nicht, den Laden eines chinesischen Zahnkünstlers zu betreten und sich, wenn nicht sich selbst einen Zahn ziehen zu lassen, die Sache doch anzusehen.
Der schmerzensreiche Klient setzt sich auf einen Stuhl, der bezopfte Dentist guckt ihm in den Mund, besieht sich den kranken Zahn, der muß heraus, er legt dem Klienten die linke Hand auf die Stirn, greift mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand in den Mund, packt den Zahn, ein kleiner Ruck — und wenn es der hartnäckigste Backzahn ist, bei dem der beste europäische Zahnkünstler mehrmals mit der Zange ansetzen muß — dieser Chinese zieht ihn scheinbar ohne Anstrengung ganz einfach mit den Fingern heraus, und es braucht auch nur ein Stümpfchen zu sein, das er eben noch zwischen Daumen und Zeigefinger fassen kann.
Wie ist so etwas möglich?! Dieser Chinese ist kein herkulischer Riese, vielleicht ein dürres Männchen. Man muß es gesehen haben, um es glauben zu können.
Das ist das Resultat einer systematischen Ausbildung. Der Zahnzieher gehört in China zur Kaste der Gaukler. In diesen Kasten selbst muß der Sohn immer wieder das werden, was der Vater ist, wenigstens der älteste. Sobald solch ein kleines Kind eben begreift, was es tun soll, wird es vor ein Brett gesetzt, in welches Löcher eingebohrt sind, es werden Pflöckchen hineingesteckt, spielend muß das Kind diese herausziehen, immer und immer wieder. Wenn's nicht will, bekommt es nichts zu essen, und dann merkt schon das vielleicht zweijährige Kind, was man von ihm will. Und dann wächst der Junge heran, und er ist ein geduldiger Chinese, welcher gar keine Nerven zu haben scheint, es mag auch mit in dem vieltausendjährigen Kastenwesen liegen, der Junge tut also von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang nichts weiter, als er zieht immer nur die hölzernen Pflöckchen aus den Löchern des Brettes, und immer fester werden diese eingetrieben, zuletzt mit Hämmern, immer kleiner wird die Angriffsfläche, aber immer systematisch — na, und wenn er zum Manne herangewachsen und im Vollbesitze seiner Kräfte ist, dann rupft der Kerl eben alles heraus, was er nur mit Daumen und Zeigefinger packen kann.
Wenn man daraufhin die rechte Hand solch eines chinesischen Zahnziehers betrachtet, wird man das auch erkennen. Der Daumen und Zeigefinger zeigen eine ungeheure Muskulatur, gegen diese erscheinen die anderen Finger, wenn sie auch normal sind, wie verkümmert. —
Was sonst noch in dem Hotelzimmer verhandelt wurde, brauchen wir nicht zu wissen, wir werden das Resultat der Verhandlungen kennen lernen.
Nur eines sei hervorgehoben.
»Nein, heute abend können Sie noch nicht auftreten,« sagte Mr. Lewis, »da muß ich erst für Reklame sorgen.«
»Brauche ich nicht,« entgegnete Nobody, »meine Reklame besteht darin, daß ich keine Reklame mache.«
Und er sollte recht behalten. Eine solche Reklame, dadurch, daß er keine machte, war in dem Lande der Reklame noch nie gemacht worden, und daher auch der beispiellose Erfolg.
Dann schrieb Mr. Law für seine Zeitung über das Gehörte und Gesehene einen Bericht, wie nur so ein Zeitungsschmierer schreiben kann, 500 Zeilen in rasender Geschwindigkeit, ohne ein Wort auszustreichen. Was der Bericht enthielt, interessiert uns jetzt ebenfalls nicht mehr. Der Skribifax wußte schon sein Ding zusammenzubauen.
Die Tinte war noch nicht ganz getrocknet, als sich dieser Bericht schon in der Setzerei des ›New-York Herald‹ befand.
Die Erscheinungsweise der amerikanischen Zeitungen ist eine ganz andere als die der deutschen. Die großen amerikanischen Zeitungen erscheinen täglich sechsmal und noch öfters. Jedes wichtige Ereignis, welches der Redaktion zutelegraphiert wird, veranlaßt eine neue Nummer, in welcher zugleich alles andere erledigt wird, das während der letzten Stunden auf der Redaktion eingelaufen ist, und da ist niemals Mangel. Möglich ist dies nur durch den in Amerika eigentümlichen Straßenverkauf, welcher sich aber nur auf die betreffende Stadt und die nächste Umgebung erstreckt. Das wichtigste und interessanteste aus diesen täglichen Auflagen wird dann in einer Wochennummer zusammengedrängt, welche in alle Welt hinausgeht, wie der ›New-York Herald‹ seine Wochenausgabe sogar in Paris in französischer Sprache erscheinen läßt.
Einige Stunden später also wußte das New-Yorker Publikum, daß der geheimnisvolle Passagier der ›Persepolis‹ noch lebe, ganz nackt den Strand erreicht habe, usw. — der Journalist hatte eben den Bericht abzufassen verstanden.
Der Saal des Atlantic-Gardens, welcher 8000 Menschen fassen kann, wobei man auch noch am Biertisch sitzt, war an dem heißen Sommerabend mit kaum 1000 Zuschauern besetzt, welche, da es hier für gewöhnlich nur einen Preis gibt, sich möglichst nahe an die Bühne drängten.
Es war eine Bier-Unterhaltung mit Komikern, pikanten Chansonetten und exzentrischen Clowns, fein geht es bei diesen Volksabenden durchaus nicht zu, im Gegenteil, das Publikum singt und spielt manchmal mit, besonders wenn die Vorstellung so schwach besucht ist. Dann wird es erst richtig gemütlich.
An einem der hinteren Tische machte sich ein Gast sehr unangenehm bemerkbar. Es war ein sehr alter Mann mit langem, weißem Vollbart, das eingefallene Gesicht voller Runzeln, er mußte die Schwindsucht haben, er hustete in einem fort auf eine entsetzliche Weise, und dann mokierte sich der alte Kerl auch noch in lauter, unverschämter Weise über die auftretenden Künstler und Künstlerinnen. Wenn er Deutsch gesprochen hätte und aus Berlin gewesen wäre, so hätten seine stereotypen Bemerkungen etwa gelautet:
»Et is jar nischt, jar nischt is et!«
Er trieb dies auf eine Weise, daß der ganze Saal auf ihn aufmerksam wurde, und wenn es nicht eine schöne Tugend des Yankee wäre, das Alter zu ehren, so wäre der alte Radaubruder schon längst an die frische Luft gesetzt worden.
»Na, da machen Sie es doch besser!« rief einer seiner Tischnachbarn erzürnt.
Jawohl, dazu sei er bereit, man solle ihn nur auf die Bühne stellen. Das geht im Atlantic-Garden an solchen Volksabenden nun alles zu machen, da braucht gar nicht erst der Direktor darum gebeten zu werden.
In einer Pause also humpelt der hustende Alte am Krückstock durch den Saal, klettert mit Mühe die Bühne hinauf, flüstert dem Kapellmeister etwas zu und beginnt ein bekanntes Lied zu singen, die Klage eines alten, armen Veteranen aus dem amerikanischen Bürgerkriege.
Wäre dieses Volkslied von einem anderen Künstler vorgetragen worden, so hätte der ganze Saal mitgesungen, aber das Publikum ist vor Staunen starr, denn immer mächtiger schwillt die herrliche Baßstimme des Alten an, bis die Kronleuchter klirren; so hat dieses Lied, hier wenigstens, noch niemand singen hören.
Ehe nach Beendigung des Liedes das Publikum in Applaus ausbrechen kann, kommt der Direktor auf die Bühne gestürzt, fragt den Alten, ob er sich engagieren lassen wolle, ob er noch etwas anderes könne — jawohl, das könnte er — und schnell zieht er seine großen Galoschen aus, streifelt seine Hosen bis zu den Knien auf, und das geht alles so blitzschnell, daß man kaum bemerkt, wie er jetzt an den Füßen zierliche Lackstiefelchen trägt — und dann reißt er den Rock herunter, man wundert sich nur, daß er gar keine Hemdärmel hat und daß seine Brust so nackt ist — und erst, wie er auch den weißen Bart abreißt, da beginnt man zu ahnen, daß der Alte nicht nur so zufällig auf die Bühne gekommen ist — — da aber fliegt ihm schon von unsichtbarer Hand auf den Kopf ein Chignon und über den Kopf mehrere weiße Spitzenröcke, denen ein schillerndes Kostüm folgt — — und plötzlich ist aus dem Alten eine reizende Chansonette geworden, welche mit unverfälschter Sopranstimme ihre frivolen Gassenhauer hinausschmettert, dazu exzentrische Tänze aufführt, daß die Röcke fliegen, und dazwischen einmal nach allen Regeln der Kunst ein Rad schlägt. —
Na, das war ja nun so etwas für die Yankees! Das Publikum tobte vor Entzücken, und tausend Menschen können schon einen gehörigen Skandal machen. Und das war erst die Einleitung gewesen, eine Verwandlung folgte der anderen, zunächst wurde wieder aus der feschen Chansonette ein Neger, welcher seine ›Shanties‹ sang und dazu Step tanzte, und die Seele des Witzes liegt in der Kürze, die Verwandlung ging immer so schnell vor sich, daß man ihr gar nicht mit den Augen folgen konnte. Dann kamen bekannte Charaktermasken daran, politische Persönlichkeiten und andere, jede von einem entsprechenden ›song‹ begleitet, und die frappante Aehnlichkeit blieb nicht nur auf der Bühne bestehen, der Verwandlungskünstler ging zwischen den Tischen hindurch, und er war wirklich die Person, welche er vorstellte, und das Publikum staunte und jubelte und heulte vor Entzücken.
Aber wer war dieser gottbegnadete Verwandlungskünstler denn? Auf dem Programm stand nichts davon, man erfuhr auch jetzt noch nicht seinen Namen.
Am anderen Morgen aber erfuhr man es, dafür sorgten die Zeitungen in spaltenlangen Berichten. Er war es, derjenige, welcher... der geheimnisvolle Passagier der ›Persepolis‹, welcher den neuen Weltteil nackt und hilflos betreten hatte, welcher eine Billardkugel mit einem Faustschlage zermalmen konnte, usw. usw. Er würde weiter im Atlantic-Garden auftreten, und nun ging es los:
»Sind Sie schon im Atlantic-Garden gewesen? Was, Sie haben noch nicht den Nobody in seinen Verwandlungen gesehen?!«
Er hatte recht gehabt. Er selbst machte keine Reklame, das überließ er dem Publikum. Freilich, von der anderen Seite betrachtet, hatte er alles von vornherein auf die allerstärkste Reklame zugeschnitten gehabt.
Jetzt aber wurde die Sache anders gehandhabt, die Biertische wurden entfernt, es gab nur noch Elite-Vorstellungen, wobei die Plätze nach amerikanischer Sitte verauktioniert wurden, bis zu hundert Dollar der Stuhl, und er war es wert. Da gab es keine Wiederholung, jeden Abend konnte man hineingehen und bekam doch immer wieder etwas Neues zu sehen, was man noch nie gesehen hatte und nie für möglich gehalten hätte, und wenn er den berühmten englischen Schauspieler Kean, den gewaltigsten Shakespeare-Darsteller, oder gar die Sara Bernhard in ihren Glanzrollen wiedergab, so hätte jeder darauf schwören können, diese Personen wirklich vor sich zu haben, und das sogar in der nächsten Nähe.
Nur zwei Beispiele, wie so etwas in Amerika bezahlt wird. Barnum, ganz mit Unrecht verächtlich ›der König des Humbugs‹ genannt, engagierte die gefeierte Jenny Lind für neun Monate zu einer Rundreise durch die Vereinigten Staaten, zahlte ihr für den Abend 500 Dollar, und er selbst hat in diesen neun Monaten einen Reingewinn von neunmalhunderttausend Dollar in die Tasche gesteckt; dabei aber ist die Sängerin durchschnittlich in der Woche nur dreimal aufgetreten. — Gegenwärtig unternimmt der ungarische elfjährige Geigenvirtuos Franz Vecsey eine amerikanische Tournee, erhält für jedes Spiel 1000 Dollar und außerdem noch den zehnten Teil der Brutto-Einnahme; und sein Impresario will doch auch etwas an dem Wunderkinde verdienen!
Dabei ist es gar nicht nötig, daß die Leistung, welche solch immense Honorare einbringt, etwas mit der ›wahren Kunst‹ zu tun hat. Diavolo, wie sich der Radkünstler nannte, welcher zum ersten Male die bekannte Todesfahrt in der Schleife machte, bekam, bis er sich glücklich den Hals brach, für jede Produktion, welche doch nur wenige Augenblicke währt, im ›Royal Aquarium‹ zu London 300 Pfund Sterling oder 6000 Mark. Ja, wenn sich jemand auf den Kopf stellt und mit den Beinen zappelt, und er versteht dadurch jeden Abend den großen Saal zu füllen, so erhält er ganz das gleiche Honorar — (auf deutsch Ehrensold.) —
So hätte Nobody wohl auch darin recht behalten, daß er ein Einkommen von jährlich 100 000 Dollar besaß. Aber er hatte doch auch gesagt, daß er sich dies in anderer Weise dachte, und am allerunglücklichsten wurde dadurch der Direktor des Atlantic-Gardens. Dieser hatte schon von Extrazügen und von Gott weiß was geträumt, aber vergebens sicherte er dem zugkräftigen Verwandlungskünstler Berge von Gold zu — Nobody ließ sich nur zu acht Vorstellungen verpflichten, und dabei sollte es auch bleiben.
Wir versetzen uns an jenen ersten Abend zurück.
Kurz nach Schluß der Vorstellung im Atlantic-Garden, gegen 11 Uhr, finden wir Mr. Law und Mr. World wieder in dem Zimmer eines benachbarten Hotels beisammen.
Sie brauchten nicht lange zu warten, so trat auch Mr. Nobody ein, jetzt aber als ein tadellos gekleideter Gentleman.
»Nobody, Sie sind wahrhaftig ein Allerweltskerl!« rief der Journalist, als er ihm mit ausgestreckter Hand entgegenging. »Verzeihen Sie, aber ehrlicher kann ich meine Bewunderung für Sie nicht ausdrücken.«
Die erste Frage war dann, ob er sich von Mr. Lewis habe fest engagieren lassen,
»Nein,« lautete Nobodys Antwort, »nicht fest, nur für acht Tage, obgleich Mr. Lewis Himmel und Hölle in Bewegung setzte, mich länger an sich zu fesseln. Allein ich kann es nicht, länger als acht Tage würde ich es nicht aushalten. Ich bin ein Abenteurer, ich habe Zigeunerblut in meinen Adern, rastlos muß ich wandern, immer wandern, als mein eigener Herr — und dennoch will ich mich jetzt in den Dienst einer Zeitung stellen, um meiner Abenteuerlust eine nützlichere Richtung zu geben.«
Ja, die Zeitung, die Zeitung!! Und deshalb hatte Nobody die beiden Herren ja auch hierherbestellt.
»Für die acht Vorstellungen erhalte ich 10 000 Dollars, diese werde ich in acht Tagen bar in Händen haben, und diese würden vollkommen genügen, um die von mir geplante Zeitung zu gründen. Tue ich dies nicht, suche ich dazu einen kapitalkräftigen Kompagnon, so tue ich dies nur deshalb, weil ich selbst mit der Redaktion und dem Vertriebe nichts zu schaffen haben will, ich will eben frei und ohne Sorgen in der Welt herumschweifen können, alles Geschäftliche meinem Kompagnon überlassend.«
Man brauchte diesen Mann nicht erst aufzufordern, sich offen auszusprechen. Es war also nur eine Gnade, wenn er einen Kompagnon nahm, mit dem er den jährlichen Gewinn von einer Million teilte, er hatte es gar nicht nötig.
»Bitte, zuerst den Titel der Zeitung, das ist die Hauptsache.«
Nein, für Nobody gab es doch noch eine andere Hauptsache: seinen pekuniären Vorteil. Er stellte folgende Bedingungen: als Entschädigung für Reisespesen erhielt er einen festen Gehalt von jährlich 10 000 Dollar; die wöchentlich erscheinende Zeitschrift durfte nicht mehr als 5 Cents kosten; für je 1000 verkaufter Exemplare erhielt er 5 Dollar; die Zeitschrift durfte nur in englischer Sprache erscheinen; das Recht der Buchausgabe und der Übersetzung gehörte nach einer gewissen Zeit ihm.
»So, das ist alles. Ich gebe den Herren genau eine Viertelstunde Zeit, um ihre Entscheidung zu treffen. Ich bemerke gleich, daß nur ich allein imstande bin, diese Zeitung in Gang zu bringen. Würden Sie meine Idee benutzen, ohne mich auf besagte Weise zu beteiligen, so würde ich Ihr Unternehmen innerhalb eines Monats tot machen. Deshalb genügt mir vorläufig Ihre mündliche Zusage, dann offenbare ich mich Ihnen. Wollen die Herren während der Viertelstunde allein sein?«
Wenn es so war, dann war der Entschluß bereits gefaßt. Dieser Mann hatte eine Art und Weise, zu sprechen, sein ganzes Wesen war ein solches, daß ein Zweifel gar nicht aufkommen konnte.
»Ich bin mit allem einverstanden,« sagte World, »sprechen Sie.«
Nobody brachte aus der Tasche ein Paket von Zeitungsausschnitten zum Vorschein, sensationelle Artikelchen, wie sie in deutschen Zeitungen immer unter der Rubrik ›Vermischtes‹ erscheinen. Bemerkt muß werden, daß die englischen und amerikanischen Zeitungen an derartigen Artikeln viel, viel reicher sind als die deutschen, sie wimmeln von ihnen, einige Zeitungen, wie die Wochenschrift ›Weekly News‹, verdanken ihre Millionenauflage nur solchen ›Nachrichten aus aller Welt‹, ohne eine Garantie für ihre Wahrheit zu geben. Das sensationslüsterne Publikum liebt eben so etwas. Von Wichtigkeit ist ferner, zu wissen, daß derartige Artikelchen-, in der Journalistensprache ›Miszellen‹ genannt, wenn sie, Tagesneuigkeiten betreffen, nicht unter dem ›copyright‹ stehen, also von jeder Zeitung nachgedruckt werden dürfen. Wenn daher irgend eine Zeitung eine besonders interessante Tagesneuigkeit bringt, so darf man versichert sein, daß dieselbe bald in jeder anderen Zeitung des In- und Auslandes zu lesen ist.
Hierauf nämlich beruhte Nobodys Plan.
Er erklärte, daß diese Zeitungsausschnitte aus den drei letzten Nummern des ›New-York Herald‹ stammten, und las sie der Reihe nach vor. Wir geben ganz kurz ihren Inhalt wieder, und zwar nur von einigen.
In den Straßen von Cordova war eines Morgens eine frisch abgeschnittene Damenhand gefunden worden, reich beringt, eine vornehme Damenhand; alle Recherchen der Kriminalpolizei sind bisher erfolglos gewesen. — — In Paris nimmt in erschreckender Weise die Manie zu, an hochgestellte Personen vergiftete Torten und andere Nahrungsmittel zu schicken; noch kein einziger der anonymen Absender konnte ermittelt werden, für jeden einzelnen Fall ist eine Prämie von 3000 Francs ausgesetzt. — — Auf Java macht sich wieder das gespenstische Steinwerfen bemerkbar; ein Distrikt droht durch diesen Unfug, ob derselbe nun von Geistern oder von Menschen verursacht wird, entvölkert zu werden, nicht nur die abergläubischen Eingeborenen, sondern auch die phlegmatischen Holländer fliehen vor dem Spuk; etwas Wahres muß doch daran sein, vorurteilsfreie Reisende haben schon zu oft davon berichtet; so wurde dem Gouverneur von Madura, als er sich mit seiner Familie in einem Zimmer befand, dessen Türen und Fenster geschlossen waren, die Kaffeetasse von einem scheinbar von der Decke kommenden, großen, flachen Steine aus der Hand geschlagen. — — Gleichfalls aus Java: in der Garnison Madschpat herrscht eine Panik. Die allein auf Nachtwache stehenden Posten werden am Morgen tot aufgefunden, stets mit Wunden am Halse wie von einer Teufelskralle; alle Versuche, dem rätselhaften Mörder auf die Spur zu kommen, bleiben erfolglos; ziehen zwei auf Nachtwache, oder wird der Posten heimlich beobachtet, so bleibt alles ruhig; es hat nicht an verwegenen Männern gefehlt, welche, um das Rätsel zu lösen, allein auf die einsame Nachtwache zogen; wurden sie nicht beobachtet, so fand man auch sie am anderen Morgen tot mit den Krallwunden am Halse. — — Schon längst zirkulierte in London das Gerücht, daß ein als schmutziger Geizhals bekannter alter Mann Namens Powlen in dem Keller seines baufälligen Hauses zu Whitechapel einen Menschen vornehmer Geburt gefangen halte, wofür Powlen monatlich 10 Pfund Sterling bekäme, die ihm durch die Post zugeschickt würden; die Polizei schenkte diesem Gerüchte niemals Aufmerksamkeit, da brannte der Dachstuhl des betreffenden Hauses, die Feuerwehr drang ein, fand den alten Powlen verbrannt, hörte in dem sonst unbewohnten Hause ein Wimmern, welches sie in den Keller führte; in einem Verließe ward ein vielleicht zwanzigjähriger Mann in einem entsetzlichen Zustande gefunden, zum Gerippe ausgezehrt, kein Idiot, wohl aber nicht einmal der Sprache mächtig, weil er noch niemals mit einem anderen Menschen in Berührung gekommen war; die Nachforschungen zur Aufklärung des rätselhaften Falles sind eingeleitet, dürften aber mit den größten Schwierigkeiten zu kämpfen haben, da jeder Anhalt fehlt. —
Das also war der Inhalt von nur einigen Zeitungsberichten. Es gab aber darunter noch viel haarsträubendere Sachen, deren Wiedergabe nicht möglich ist, weil sie im kurzen Auszuge ganz unverständlich wären. Außerdem nun betrafen diese ›Tagesneuigkeiten‹ nur das Ausland, die alte Welt, und man darf wohl glauben, daß das neue Amerika, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, da auch etwas auftischen kann!
»Dies wäre der eine Teil, die mysteriösen Fälle betreffend,« nahm jetzt Nobody in geschäftsmäßigem Tone das Wort, die vorgelesenen Ausschnitte beiseite legend, »Sie werden dieselben Miszellen in sämtlichen amerikanischen und englischen Zeitungen wiederfinden, also zur allgemeinen Kenntnis des Publikums gelangend. Unsere neue Zeitschrift nun soll gewissermaßen den Kommentar zu diesen Tagesneuigkeiten bilden, soll Lüge von Wahrheit unterscheiden, und wenn eine Tatsache vorliegt, das Rätsel enthüllen. Wir nehmen also für jede Nummer einen besonders interessanten und mysteriösen Fall heraus, erkundigen uns telegraphisch, ob an der Sache wirklich etwas ist, und wenn dies der Fall, so geht der Detektiv Nobody sofort an Ort und Stelle und...«
Erregt sprang der alte, sonst so phlegmatische Buch-Händler plötzlich auf und begann leise pfeifend im Zimmer hin- und herzugehen.
»Donnerwetter, ja, diese Idee ist wirklich nicht schlecht!«
»So, diese Idee ist wirklich nicht schlecht?« wiederholte Nobody spöttisch.
»Pardon, das war nicht so gemeint — wahrhaftig, das ist das Ei des Kolumbus!«
»Pardon,« sägte auch Nobody in seiner trockenen Weise, »das ist nicht das Ei des Kolumbus, sondern das ist mein Ei, das habe ich gelegt! — — Die Herren wissen nun also, um was es sich handelt.
Greifen wir einen Fall heraus: das gespenstische Steinwerfen auf Java. Ich würde ohne Bedenken jede Wette eingehen, daß ich dieses Rätsel lösen werde, denn ich kenne mich auf Java sehr gut aus...«
»Nicht wahr, da haben Spukgeister ihre Hände im Spiele?« rief der alte Spiritist eifrig.
»Jawohl, Spukgeister,« bestätigte Nobody ganz ernsthaft, »und ich werde ihnen schon auf die Finger klopfen. Ich habe nämlich eine ganz sichere Ahnung, wie dieser Humbug gemacht wird. Nun denken Sie sich den Erfolg unseres Blattes, wenn ich als der Abgesandte dieses schon seit vielen Jahrzehnten bestehende Rätsel endlich endgültig löse! — Das heißt, wir dürfen nicht etwa prahlerisch vorgehen. Es darf nicht etwa heißen: wir schicken unseren Detektiv Nobody nach Java, um die Ursache des gespenstischen Steinwerfens ergründen zu lassen. Ich bin nur ein Mensch, die Lösung könnte mir doch mißglücken, und dann bin ich blamiert und mit mir die ganze Zeitung. Erst wenn's mir geglückt ist, dann rücken wir mit dem Erfolg heraus. Und eine der größten Hauptsachen ist: immer reell, nichts hinzulügen, nichts hinzudichten, wer unser Blatt in die Hand nimmt, der muß sagen: das ist ›Worlds Magazine‹ was dieser schreibt, darauf kannst du dich verlassen. — Sollte mir nun einmal die Lösung eines Rätsels mißglücken, so stehe ich erstens nicht als Großprahler da, und zweitens habe ich deshalb Zeit und Geld für die Reise noch nicht unnütz ausgegeben. Überall in der Welt werden täglich Verbrechen begangen. Mein Bemühen, wenn ich gerade an Ort und Stelle bin, wird dann stets sein, der Polizei zuvorzukommen, den Mörder zu entdecken, den Verdächtigen zu entlarven, und dies wird mir auch oft genug gelingen, denn ich besitze wirklich in so etwas ein ganz eigentümliches Auge und eine eigenartige Kombinationsgabe, und dies kommt dann natürlich alles unserer Zeitung zugute.«
Die beiden Herren wußten nichts davon, wie dieser Mann sofort den Tabaksagenten oder vielmehr dessen Spazierstock durchschaut hatte, und dennoch, sie zweifelten nicht im geringsten daran, daß der sonderbare Mann auch für so etwas außergewöhnliche Fähigkeiten besitze.
»Und nun,« fuhr Nobody fort, »zum dritten und letzten. Bei meinen Reisen durch alle Welt werde ich auch einen Privatzweck verfolgen, mir zum pekuniären Vorteil, nicht minder zum Vorteil aber auch für unsere Zeitung. Wissen die Herren, wieviel bares Geld alljährlich in der ganzen Welt veruntreut wird?«
Nein, das wußten die beiden nicht.
»Ich habe einmal ein statistisches Bureau damit beauftragt, alle diesbezüglichen Notizen in sämtlichen Zeitungen der Erde während fünf Jahren zu sammeln, und habe dann daraus den jährlichen Durchschnitt gezogen. Hierbei wurden nicht einmal die Einbruchsdiebstähle in Betracht gezogen, nicht das Entwenden von Juwelen und anderen Wertsachen — obschon auch diese Fälle mich stark beschäftigen werden — sondern nur ungetreue Kassierer, Direktoren, Postbeamte und dergleichen, welche mit dem ihnen anvertrauten Gelde das Weite suchen. Meine Statistik hat ergeben, daß in der ganzen Welt im Durchschnitt alljährlich rund 1800 Menschen mit der ihnen anvertrauten Kasse durchbrennen, täglich also 5, mit einem Gesamtbeträge von etwa 62 Millionen Dollar. Die kleinen Geister unter 1000 sind dabei gar nicht mit einbegriffen, bei denen ginge es in die Legion. Es wird mein Bestreben sein, in der Verfolgung und Festnahme jener großen Defraudanten mir einen Weltruf zu schaffen. Freilich kann ich jedes Jahr nur einige wenige Fälle erledigen, und das tue ich nicht umsonst, sondern ich beanspruche 10 Prozent bis zur Hälfte der wieder abgenommenen Beute. Aber ich werde mich dabei nicht durch die Höhe meines eventuellen Gewinnes beeinflussen lassen, sondern nur immer die interessantesten Fälle auswählen, welche die kompliziertesten und heftigsten Verfolgungen versprechen, und mein Erfolg wird auch stets den unserer Zeitung bedeuten.«
Wir wissen jetzt genug, was Nobody wollte, und das Geschäft war abgeschlossen.
Während der nächsten Tage trat Nobody also noch im Atlantic-Garden auf, wurde dadurch zum populärsten Manne in New-York, sein Name außerdem in ganz Amerika bekannt, und dadurch allein war der Erfolg der neuen Zeitschrift schon gesichert.
Bereits die vierte Nummer von ›Worlds Magazine‹ überschritt durch Straßenverkauf in den amerikanischen Städten die Auflage von einer Million, wofür also Nobody allein schon einen wöchentlichen Gewinnanteil von 5000 Dollar oder 20 000 Mark erhielt, und dann wurden zur intensiveren Verbreitung des Blattes besondere Filialen gegründet in London, Sydney, Bombay und Kapstadt.
Diese Erzählungen in deutscher Ausgabe über Wirken und Abenteuer des unbekannten Mannes als Privatdetektiv stimmen nun allerdings dem Inhalte nach so ziemlich mit den Berichten überein, welche damals immer jene englische Wochenschrift brachte. Aber die unsrigen haben vor den englischen noch einen großen Vorzug.
Nobody gebrauchte, um zum Ziele zu gelangen, immer gewisse, stets wiederkehrende Tricks. So z. B., um nur einen einzigen Fall zu erwähnen, besaß er ein Mittel, sich in jedem Hause, in welchem er spionieren wollte, als Diener anwerben zu lassen. Das betreffende Haus konnte mit Dienstpersonal vollkommen besetzt sein, der Hausherr mochte noch so abgeneigt sein, einen neuen Mann zu engagieren — stets wußte Nobody durch einen einfachen Trick den Mann zu bestimmen, ihn als seinen vertrautesten Diener anzustellen.
Solche Mittel und Tricks, beruhend auf einer kühnen Rücksichtslosigkeit, wie sie nur dieser Detektiv besaß, mußte er natürlich geheim halten, durfte sie nicht der Oeffentlichkeit preisgeben, sonst wären sie ihm nicht mehr geglückt.
Die deutsche Wiedergabe aber hat eine solche Geheimhaltung nicht mehr nötig, diese Erzählungen hier sind auch nach Nobodys eigenem Tagebuch neu bearbeitet.
Von dem bleigrauen Himmel, welcher an einem Wintermorgen über London hing, fiel ein feiner, kalter Regen herab, aber er vermochte nicht die Tausende und Abertausende von Menschen zu zerstreuen, welche sich in den engen Straßen der City um ein altes, finsteres Gebäude zusammendrängten.
Dieses, von hohen Mauern umringt, schon mehr eine kleine Stadt für sich, ist das sogenannte Newgate, die uralte Hinrichtungsstätte der englischen Hauptstadt.
»Jetzt wird er gehenkt, Keigo Kiyotaki, der freche Japaner, der den alten Loftus Deacon ermordet hat!«
So geht es murmelnd durch die ungeheure Menge, und aller Augen sind starr auf die Flaggenstange gerichtet, welche, in der Mitte des Häuserkomplexes stehend, über den Mauern noch allen sichtbar ist.
Und plötzlich verstummt in der tausendköpfigen Menge auch das Flüstern und Murmeln, es ist, als ob sich der Flügel des stummen Todes auf die ganze Riesenstadt herabsenke — denn jetzt steigt an der Flaggenstange eine kleine, schwarze Fahne empor, und in demselben Augenblicke, da sie die Spitze erreicht hat, ertönt ein durchdringender Glockenton.
Es ist das Armesünderglöcklein, bei dessen zwölftem Tone das Fallbrett unter den Füßen des am Galgen Stehenden weicht. So war es schon vor hundert, vielleicht vor Hunderten von Jahren, so wird es noch heute in England gehandhabt.
Diesmal ist es ein brauner, schlitzäugiger Sohn aus dem Reiche der aufgehenden Sonne, welcher jetzt unter dem Galgen, den Strick um den Hals, mit festgeschnallten Armen auf dem Fallbrett steht. Fern von seiner schönen Heimat, hier in London ist er zum Mörder geworden. Nicht um sich zu bereichern, nicht aus Rachsucht hat er die wohlüberlegte Tat begangen, sondern aus einem für uns Europäer schier unbegreiflichen Grunde, aus Aberglauben, aus treuer Anhänglichkeit an eine ihm heilige Sitte seiner Väter.
Aber die englischen Richter konnten auf die religiösen Ansichten eines heidnischen Volkes im fernen Osten keine Rücksicht nehmen — jetzt läutet das Armesünderglöcklein für diesen jungen, vornehmen Japaner, für den letzten Sproß eines edlen Geschlechtes.
»Bim!!« erschallt es zum zweiten Male, und es ist, als ob das Sterbeglöcklein für jeden einzelnen dieser zahllosen Menschen bestimmt sei, so zucken stets alle bei dem durch Mark und Bein gehenden Tone zusammen.
Drei Sekunden liegen zwischen jedem Glockenschlage. Für die atemlos Wartenden erscheinen sie stets eine Ewigkeit.
Fürwahr, dieses Warten innerhalb der 36 Sekunden auf die 12 Glockenschläge, das muß für den zum Tode Verurteilten die furchtbarste Strafe sein!
Da endlich, endlich zum dritten Male: bim!!
Und wieder bricht eine neue Ewigkeit an.
Jetzt, jetzt...aber jetzt muß doch der vierte Schlag kommen...
Nein, immer noch nicht.
Aber jetzt...
Jetzt wird wahrhaftig eine Ewigkeit daraus!
»Es muß doch schon eine halbe Minute vergangen sein?«
»Die Glocke wird nicht funktionieren.«
Dieses Warten auf den vierten Glockenschlag ist so gräßlich, daß in der zusammengepreßten Menge schon überall Ohnmachtsanfälle vorkommen.
Und da plötzlich schrickt alles tödlich zusammen, denn mit einem Male erfüllt ein gellendes Geheul die Luft, die ganze Hölle scheint entfesselt zu sein, und wirklich sind es kleine Teufel, welche sich rücksichtslos mit den Ellenbogen zwischen den Menschen Bahn zu machen wissen, unter dem einen Arm hat jeder einen großen Pack Papier, in der anderen Hand schwingt er ein einzelnes Blatt Papier, und dabei heult diese kleine Teufelsbande abwechselnd in allen Tonarten:
»Worlds Magazine, drei Pence die Nummer!!! — Keigu Kiyotaki ist unschuldig!!! — Worlds Magazine, sechs Pence die Nummer!!! — Der amerikanische Detektiv Nobody hat den wahren Mörder von Loftus Deacon gefaßt!!! — Worlds Magazine, einen Schilling die Nummer!!!«
Wie? Was? Hört man denn recht? Ist das nicht nur ein Trug der Hölle? Wie soll denn eine schon gedruckte Zeitung, noch dazu diese amerikanische Schwindelzeitung...
»Die weiße Flagge! Die weiße Flagge!!!« erschallt da der Ruf, und aller Blicke wenden sich wieder der Flaggenstange zu.
Und da klettert an dieser schnell ein weißes Tuch empor, und wie die Flagge der Unschuld die Spitze erreicht hat, wird die schwarze der Schuld und des Todes herabgerissen — und da brach der Tumult los!!
Wollte man sagen, die Nummern dieser amerikanischen Zeitschrift wären wie warme Semmeln abgegangen, so würde das noch gar nichts andeuten. Man balgte sich darum, und glücklich der, welcher für solch ein Blättchen Papier nur einen Schilling zu bezahlen brauchte, der las es und konnte es eine Viertelstunde später für ein Goldstück weiterverkaufen.
Und dabei konnte sich noch kein einziger erklären, wie dieses Blatt, welches doch in New-York erschien und gedruckt wurde, plötzlich hierher kam. —
Und die Nummer trug doch das heutige Datum!... und überhaupt, das war ja gerade, als ob dieses Blatt allwissend sei!... hier las man schon klipp und klar, wer der Mörder und daß er festgenommen sei!... und dort oben auf dem Galgenbrett stand noch der wegen dieses Mordes Verurteilte...
Kurz und gut, hier lag ein so großes Rätsel vor, daß sie alle im Augenblick gar kein Rätsel sahen, ungefähr so, wie mancher vor lauter Bäumen den Wald nicht sieht.
Dann freilich, als man darüber nachdachte und die Lösung des Rätsels erfuhr, da brummte mancher John Bull mit neidischer Bewunderung:
»Diese verdammten Yankees! Das war wieder so ein echt amerikanischer Trick! Ja, so etwas können wir ihnen doch nicht nachmachen!«
Ehe wir uns hinter die Mauern in das Innere von Newgate versetzen, um zu sehen, weshalb die Hinrichtung unterbrochen wurde, und was sich dort sonst noch zutrug, müssen wir erst den Kriminalfall und seine Vorgeschichte kennen lernen.
Loftus Deacon war schon mit jungen Jahren als Vertreter des väterlichen Geschäftes nach Japan gegangen, er verbrachte fast ein Menschenalter dort. Wohl kam er ab und zu einmal nach England, aber erst nach dem Tode seines Vaters kehrte er, selbst schon vorgerückten Alters, für immer zurück, ließ sich in London nieder.
Das väterliche Geschäft verkaufte er. Er hatte aus dem fernen Osten eine große Sammlung von indischen und japanischen Raritäten mitgebracht, und nun war sein ganzes Leben ausschließlich dem Zwecke gewidmet, diese Sammlung ständig zu vermehren. Er war ein schwerreicher Mann, was am besten daraus erhellt, daß er für solche Antiquitäten im Durchschnitt jährlich 15 000 Pfund Sterling, das sind 300 000 Mark, ausgab.
Loftus Deacon war Junggeselle geblieben. Er bewohnte im Westend ein sehr großes, vierstöckiges Haus, richtiger gleich drei — Bedford Mansions, Nummer 1, 2 und 3, das Gebäude steht noch heute, ist aber jetzt ein Lagerhaus — in diesem hauste er ganz allein mit nur fünf männlichen Dienern.
Er war, wenn nicht ein ängstlicher, so doch ein sehr vorsichtiger und sogar mißtrauischer Mensch, und man konnte ihm auch nicht verdenken, wenn er sich gegen einen Einbruch möglichst zu schützen suchte. Denn in seinem Hause waren Millionen angehäuft, und zwar nicht nur an wissenschaftlichem und Liebhaberwert, sondern auch an direktem, an Gold und an Juwelen, nicht zum mindesten auch an kostbarem Porzellan und asiatischen Seidenstoffen. Sämtliche Fenster waren stark vergittert, alle Türen von Eisen oder doch eisenbeschlagen und mit den besten Sicherheitsschlössern versehen, Tag und Nacht mußte in der Hausflur ein Portier sitzen.
Deacon allein hatte in der Tasche einen Schlüssel von kompliziertester Konstruktion, welcher von den Korridoren aus sämtliche Türen der Schatzkammern öffnete. Außerdem gab es noch einen zweiten ebensolchen Schlüssel, welcher an einem Orte hing, der nur den Dienern bekannt war, und zwar in einem Glaskasten, und um ihn vom Nagel zu nehmen, mußte die Glasscheibe eingeschlagen und eine Plombe entfernt werden.
So ging das ganze Leben des alten Herrn in diesen Raritäten auf. Da gab es immer zu putzen, Staub zu wischen, auszuklopfen und wieder zu ordnen, wobei ihm besonders ein Diener, Namens Jensy behilflich war, der Katalog war zu führen, Loftus Deacon hatte auch eine große Korrespondenz mit den Agenten, welche er zum Ankauf von solchen ethnographischen Gegenständen in aller Welt unterhielt.
Gern empfing er Besuch, Gelehrte und Sammler, denen er mit stolzer Freude seine Schätze zeigte und erklärte. Außerdem ging er manchmal auch selbst auf Entdeckungen von Antiquitäten aus, schnüffelte in dem großen London bei den Raritätenhändlern und Trödlern herum und hatte auf diese Weise schon manche Seltenheit billig erstanden.
Auf einer solchen Entdeckungsreise sollte Loftus Deacon etwas finden, was ihn zum glücklichsten Menschen machte und... ihm das Leben kostete.
Im Fenster eines kleinen Trödlerladens sieht er ein altes, unscheinbares Schwert liegen. Der Waffenkenner stutzt sofort, tritt ein, läßt sich das Schwert zeigen, der Trödler schwatzt ihm, der seine Aufregung zu bemeistern weiß, etwas von einer arabischen Klinge vor, sie werden handelseinig, und während der Trödler glaubt, er habe den Mann mit einem wertlosen Stahl angeschmiert, hat Deacon für zwei Goldstücke ein echtes japanisches Katana von dem berühmten Schwertfeger Masamune erstanden! —
Hier muß eine Erläuterung eingeschaltet werden, wie sie auch in Nobodys Tagebuch enthalten ist.
Das japanische Volk ist in Kasten eingeteilt. Die erste Kaste wird von den Prinzen gebildet, von den Daimios, die zweite von den Adligen, den Sio-Mios, die dritte von den Samurais, das sind diejenigen, welche aus den ersten beiden Kasten stammen, aber ihr Leben speziell dem Kriegshandwerke gewidmet haben, also die Offiziere.
Von den Mitgliedern der acht existierenden Kasten haben nur die von jenen drei genannten das Recht, jederzeit Waffen tragen zu dürfen, und zwar besteht das Ehrenzeichen in dem großen Schwert links, welches Katana heißt, in einem viel kleineren, dem Wakizashi, rechts.
So wenigstens war es früher, als die japanischen Soldaten noch in langen Schlafröcken und Strohsandalen herumliefen. So ist es aber auch noch heute bei jeder nationalen und religiösen Festlichkeit. Da hat jeder Samurai seine beiden Schwerter im Gürtel stecken.
Samurai heißt wörtlich übersetzt ›Fechter‹, und wenn man den Berichten derer Glauben schenkt, welche das asiatische Inselreich kennen, so müssen die Japaner und speziell die Offiziere ausgezeichnete Fechter sein, sie betreiben den Fechtsport mit Leidenschaft und mit den dazu nötigen Waffen selbst einen wahren Religionskultus, so wie sie ihren alten, berühmten Waffenschmieden eine fast göttliche Verehrung zollen.
Yukiyasu, Monikono, Masamune — das sind die Namen der drei berühmtesten Schwertfeger aus alter Zeit, welche jedes japanische Kind kennt — und unzertrennlich von diesen dreien ist der Kriegsgott Hachiman.
Der Indier ist Buddhist, der Tibetaner ist Buddhist, der Japaner ist ebenfalls Buddhist — und schließlich wird doch jeder nach seiner eigenen Fasson selig. Der Indier hat in den Buddhaismus seine alten, brahmanischen Götter mit hinübergenommen, der Tibetaner seine schamanischen, und der Japaner hat noch immer nicht seine ursprüngliche Religion vergessen, den Sinsyn, in welcher Tensis Dai Dsin, Kami und Hachiman die Hauptgötter sind, und wenn diese auch nicht mehr in den buddhistischen Tempeln oder Pagoden stehen, ihre Bildnisse existieren noch, und zwar nicht nur im Herzen des Japaners, und sie werden noch immer verehrt.
Und die alten japanischen Waffenschmiede fertigten nicht nur Schwerter, dazu bestimmt, des Feindes Leben zu nehmen, sondern sie hämmerten in das Schwert selbst eine lebendige Seele hinein.
Wenn das Katana seiner Vollendung nahe ging, so wurde der Amboß vor das riesige Standbild des vierarmigen Kriegsgottes getragen, hier tat der Schmied unter feierlichen Zeremonien seine letzten Schläge, und Hachiman stieß durch Nase und Mund Feuer aus und hatte so dem Schwerte eine lebendige Seele eingeblasen, eng verknüpft mit der seines Besitzers, oder vielmehr mit der der ganzen Generation.
Denn solch ein SchwertDenn solch ein Schwert vererbt sich natürlich vom Vater auf den Sohn, und eine Veräußerung desselben ist ganz und gar undenkbar, selbst in der tiefsten Armut! Und wehe dem, der solch ein geheiligtes Schwert entwendet! Einem Japaner, welcher weiß, daß er es mit solch einem Katana zu tun hat, fällt so ein Frevel überhaupt gar nicht ein. Aber vielleicht stiehlt er ein Schwert, ohne zu wissen, daß es ein Katana ist. Dann wird ihm das bald klargemacht werden. Das Unglück heftet sich an seine Fersen und schlägt auch seine Familie, und Hachiman flüstert ihm im Traume zu, daß er ein Katana gestohlen hat, und wehe ihm, wenn er es nicht sofort dem rechtmäßigen Besitzer zurückbringt! Dasselbe gilt auch vom Feinde, der dem im Kampfe gefallenen Samurai die Waffen abgenommen hat. Auch er wird durch Unglück und durch Hachiman zahm gemacht, bis er die Beute den Erben des Getöteten ausliefert — selbst wenn der Mann bisher noch gar nichts von einem Katana, einem Wakizashi und einem Hachiman gehört hat. Der Kriegsgott macht es ihm schon begreiflich, um was es sich handelt, und zur Aufklärung schickt er dem Betreffenden erst sieben Plagen über den Hals.
Hat aber der Samurai durch eigene Unachtsamkeit sein Katana verloren, so muß er Himmel und Hölle in Bewegung setzen, es wiederzubekommen, das ist er nicht nur sich selbst und seinen Brüdern schuldig, sondern auch vor allen Dingen seinem toten Vater, denn jetzt ist es dieser, welcher dem leichtsinnigen Sohne im Traume die Ohren vollwimmert, das heilige Erbstück wieder herbeizuschaffen.
Und stirbt das männliche Geschlecht einer Samurai-Familie aus, dann stirbt auch das Katana, seine Seele kehrt zu Hachiman zurück, und sein toter Leib, jetzt nur noch eine Stahlklinge wie jede andere, wird dem letzten Besitzer mit ins Grab gelegt. —
Dem Mr. Loftus Deacon, der so lange in Japan gewesen, war dies alles natürlich wohlbekannt. Und nun hatte er für so billiges Geld ein echtes Masamune-Schwert erstanden, wie ein solches nur noch in einem einzigen Exemplar in Europa vorhanden war, nämlich im Museum zu Petersburg!
Deacon verkehrte viel mit dem Direktor des britischen Museums, durch diesen kam die Sache zuerst an die Öffentlichkeit — und das war ja auch der heiße Wunsch des alten Mannes, der auf seine Schätze so stolz war — er wurde von Gelehrten und Japankennern besucht, sie alle bestätigten aus einem in der Klinge eingravierten Zeichen, daß es ein echtes Katana des berühmten Schwertfegers Masamune sei, welcher im vierten Jahrhundert nach Christi lebte, andere Raritätensammler gratulierten mit neidischem Herzen dem glücklichen Deacon, jetzt kamen auch Journalisten, und in einer großen Zeitung erschien aus berufener Feder ein langer Artikel, in dem die eben geschilderten, mit Aberglauben gepaarten Waffenverhältnisse der Japaner erläutert und auf die Wichtigkeit des neuen Erwerbs, den der einfache Privatmann für seine Sammlung gemacht, hingewiesen wurde.
So interessierten sich einige Zeit die weitesten Kreise für Loftus Deacon und sein Masamune-Katana, die Sache wurde sensationell. Lange konnte das natürlich nicht anhalten. Aber man bekam doch hin und wieder etwas davon zu hören, die Sache war noch nicht zu Ende, und der alte Einsiedler sorgte immer dafür, daß alles an die Oeffentlichkeit kam.
Wie war denn nun der Trödler zu der kostbaren Waffe gekommen, wenn diese von dem Japaner wie sein Augapfel behütet wird? Der alte Mann konnte sich selbst kaum noch darauf besinnen. Das unscheinbare Schwert hatte schon lange Zeit in der Rumpelkammer gelegen, ehe er es für würdig fand, es im Schaufenster auszustellen. Er glaubte nur, es sei ein Matrose gewesen, der ihm einst die alte Klinge zum Kauf angeboten, er hatte ihm drei Schillinge dafür gegeben. Jetzt natürlich, da der Trödler den fast unschätzbaren Wert der Waffe erfuhr, hätte er sich am liebsten alle Haare aus dem Kopfe reißen mögen, denn eine nachträgliche Bezahlung gab es bei Loftus Deacon freilich nicht.
Und was das Katana für einen definitiven Wert besaß, nicht nur in den Augen von europäischen Altertümssammlern, das sollte sich bald zeigen.
Eines Tages erschien bei Deacon ein japanischer Diplomat, welcher sich gerade in London aufhielt. Er besichtigte das Schwert, prüfte das Siegel des Waffenschmieds und einige Eingravierungen in dem bronzenen Griff mit der Lupe.
»Wahrhaftig, es ist das Schwert!« rief er erstaunt. »Dieses Katana gehört dem hochedlen Fürstengeschlechte der Gotos. Vor etwa zwanzig Jahren verlor es der alte Fürst bei einem Ritt, es wurde nicht wiedergefunden. Der Fürst starb vor Gram. Er hinterließ drei Söhne. Als die beiden ersten erwachsen waren, gingen sie auf die Suche nach dem Heiligtum, ein Orakel wies nach der Mandschurei hin. Beide Prinzen verloren dabei ihr Leben. Jetzt lebt von dem Gotogeschlechte nur Keigo Kiyotaki, der letzte Sohn, welcher in einem Kloster zum Priester erzogen wird.«
»Das ist sehr interessant,« sagte Deacon trocken.
»Keigo wird sich sehr freuen, daß man das Heiligtum seiner Väter endlich gefunden hat.«
»Ja, ich freue mich auch sehr, daß ich diesen Schatz bei einem Trödler entdeckt habe.«
»Dem letzten Sproß des Gotogeschlechtes muß sehr viel an dem Familienschwerte gelegen sein, Sie werden doch bereit sein, es ihm zurückzuerstatten? Natürlich gegen...«
»I, fällt mir ja gar nicht ein!!« rief Deacon von vornherein in heller Entrüstung. »Das Schwert ist rechtmäßig in meinen Besitz gekommen, und damit basta!«
Der schon ältliche Sohn des Reiches der aufgehenden Sonne empfahl sich mit japanischer Höflichkeit.
Kaum zwei Monate waren verflossen, als er schon wieder da war.
»Ich komme als Stellvertreter des Keigo Kiyotaki, hier meine Vollmacht.«
Damit präsentierte er ein japanisches Schreiben mit vielen Siegeln, kurios genug aussehend.
»Das ist sehr interessant, das möchte ich Ihnen für meine Sammlung abkaufen.«
»Keigo Kiyotaki bietet Ihnen für Zurückgabe seines Schwertes 1000 Pfund Sterling.«
»Das ist nicht sein Schwert, sondern mein Schwert, und ich verkaufe es nicht.«
»2000 Pfund — — 5000 Pfund — — 10 000 Pfund...«
»Nicht für eine Million Pfund Sterling.«
»Wieviel verlangen Sie sonst?« fragte der alte Japaner kaltblütig.
»Es ist mir nicht feil, nicht für alle Schätze der Welt!!!« rief der leidenschaftliche Sammler.
»Ich empfehle mich Ihrem geneigten Wohlwollen,« sagte der japanische Diplomat und entfernte sich.
Dies alles kam immer in die Zeitungen, dafür sorgte schon der auf sein Katana stolze Loftus Deacon. Daß freilich der Japaner bereit gewesen wäre, für die alte Klinge noch mehr als eine Million Pfund Sterling, das sind zwanzig Millionen Mark, zu bieten, das fand man etwas gar zu sehr übertrieben.
Diesmal verging ein Vierteljahr, bis eines Tages an dem großen Hause ein junger Gentleman im tadellosen Gehrockanzuge die Klingel zog.
Dem jungen Manne konnte man kaum ansehen, daß er ein Japaner war, er hatte wenig Aehnlichkeit mit den sonst so charakteristischen Gestalten. Er hatte nicht solch kurze Beine und einen plumpen Oberkörper, sondern war von vollendetem Ebenmaß, und man mußte ihm schon scharf in die nur leicht gebräunten, hübschen, tiefernsten Züge blicken, um dann den malaiisch-japanischen Typus zu erkennen. Derjenige aber, welcher sich lange Zeit in Japan aufgehalten und in den höchsten Kreisen verkehrt hatte, erkannte sofort, mit wem er es hier zu tun hatte: mit einem Samurai aus der ersten Kaste, den man sonst freilich nicht in Europa auf der Straße herumlaufen sieht.
Der alte Jensy öffnete.
»Ist Mr. Deacon zu sprechen? Bitte, hier ist meine Karte, hier ein Empfehlungsschreiben von der japanischen Gesandtschaft.«
Er sprach ein perfektes Englisch, der leise Anflug eines fremdländischen Akzentes war kaum zu merken.
Deacon empfing ihn.
»Keigo Kiyotaki ist mein Name.«
»Sehr angenehm. Nicht wahr, Ihr Titel ist... Mylord... oder Durchlaucht?«
»Mein einfacher Name ist Kiyotaki. Ich bin zum geistlichen Stand bestimmt und habe mit dem Austritt aus meiner Kaste alle früheren Titel abgelegt. Ich komme direkt von Tokio... Sie wissen, weshalb.«
»Ja, mein lieber Herr, ist Ihnen aber nicht schon deutlich gesagt worden, daß mir das Katana um keinen Preis feil ist? Sie haben die weite Reise umsonst gemacht.«
»Mr. Deacon,« fängt jetzt der junge, sympathische Mann in bittendem Tone an, »es ist ein uraltes Erbstück meiner Familie, es ist das Heiligste, was ich besitze, ich kann ohne dieses Schwert nicht leben.«
»Ich will Ihnen gern das Schwert nochmals abkaufen, nennen Sie eine Summe, aber aus meiner Sammlung kommt ein Katana des Schwertfegers Masamune nicht.«
»Mr. Deacon, was frage ich nach Geld? Ich bin ein bedürfnisloser Mönch, der das Gelübde der Armut abgelegt hat. Das Schwert meiner Väter muß ich unbedingt haben.«
»Aber wenn Sie ein Priester und aus der Kaste der Samurais getreten sind, so brauchen Sie doch keine Waffe, können Sie doch gar keine mehr tragen, es hat für Sie doch gar keinen Wert mehr.«
»Nicht für mich, aber für meinen Vater. Ich als sein letzter Sohn, der einst kinderlos sterben wird, habe die heilige Verpflichtung, ihm sein Katana, nachdem dasselbe einmal wiedergefunden worden ist, in sein Grab zu legen.«
»Bei mir liegt es genau so sicher, wie in Ihres Vaters Grab,« entgegnet der alte, reiche Junggeselle, der niemandem Rücksichten schuldig ist.
»Mr. Deacon,« fährt der junge Japaner mit melodischer Stimme fort, und plötzlich treten ihm die Tränen in die Augen, »die Engländer haben ihre Religion, und wir Japaner haben unsere Religion. Und ich kann nicht an etwas anderes glauben, als was meine heilige Überzeugung ist. Seit zwanzig Jahren muß mein armer Vater wandern den dunklen Pfad des Todes, und er kann den Gotoberg des Himmels nicht erreichen, weil ihm sein Katana fehlt, und seitdem ich weiß, wo sich sein Katana befindet, kommt mein armer Vater jede Nacht zu mir im Traume und weint mir in den Ohren. — Mr Deacon, auch Sie haben einen Vater gehabt — ich bitte Sie!«
Der junge, gebildete Japaner wußte in einer Weise zu sprechen, nun noch dazu in einem Tone — schriftlich läßt sich das nicht wiedergeben — daß es einen Stein erweicht hätte, nur nicht den alten Raritätensammler.
Und immer noch einmal versuchte es der gehorsame Sohn, jetzt aber begann er geheimnisvoll zu flüstern:
»Noch habe ich nicht die Priesterweihe empfangen, noch gehört mir, was ich besitze, und ich bin der Erbe einer ganzen Reihe von Geschlechtern, und die Gotos zählten sämtlich zu den reichsten Fürsten von Dai Nipon, und... haben Sie, der Sie so lange in Japan gewesen sind, schon von dem Goto-Schatze gehört?«
Mochte Deacon schon von dem fabelhaften Goto-Schatze, der von einem Drachen behütet wird, übrigens ganz unserem Nibelungenhorte entsprechend, gehört haben oder nicht — ihn ließen alle Schatze kalt, sein Masamune-Schwert war ihm lieber.
Schließlich aber verließ auch den Japaner die Geduld, er stand auf, um kurzerhand zu gehen, und er war ein ganz anderer, als er mit drohender Stimme und blitzenden Augen rief:
»Well! Die Engländer haben ihre Religion, und wir Japaner haben unsere Religion. Das Katana gehört in das Grab seines letzten Besitzers, es ist zu den Füßen Hachimans geschmiedet worden, und wenn Sie das Katana mir nicht geben wollen, so wird der schreckliche Hachiman selbst kommen, um es von Ihnen zu fordern, und dann... wehe Ihnen!«
Damit ging Keigo Kiyotaki, um nicht wieder zurückzukehren. Der arme Kerl hatte die weite Reise umsonst gemacht.
Auch dieses Gespräch kam in die Zeitungen und wurde vom Publikum besprochen, überdies waren Jensy und noch ein anderer Diener Zeuge desselben geworden. —
Wieder verging ungefähr ein Vierteljahr. Da erfuhr Loftus Deacon von einem seiner nach Raritäten spähenden Agenten, in einem Lagerhause, gar nicht weit von der Bedfordftreet, stünde ein japanischer Götze, er sei schon vor einigen Tagen von einem aus Rangun kommenden Schiffe dort ausgeladen worden, er gehöre einem Franzosen Delcassé, der ebenfalls mit diesem Schiffe gekommen sei, aber dieser Herr sei verschwunden und lasse nichts mehr von sich hören. Man sage, es sei der vierarmige Kriegsgott Hachiman.
Loftus Deacon ging sofort hin. Das Lagerhaus des Expeditionsgeschäftes Costenoble war ihm sogar sehr gut bekannt, diese Firma besorgte immer seine überseeischen Transporte, er hatte oft große und kleine Gegenstände dort abholen lassen. (Dies ist für später von Wichtigkeit!)
Richtig, da saß der schreckliche Hachiman, genau so, wie er noch heute im japanischen Saale des britischen Museums zu London zu sehen ist, und zwar ist es genau dieselbe Figur, welche in unserer Erzählung die Hauptrolle spielt.
Der ganz aus Bronze gegossene Götze, in zweifach menschlicher Größe ausgeführt, also eine Kolossalstatue, hockt mit untergeschlagenen Beinen auf einem meterhohen, ehernen Gestelle. Daß wir es mit einem Kriegsgott zu tun haben, erkennen wir mehr aus der Bekleidung — aber auch diese ist aus Bronze gegossen — und aus seinen Attributen, als aus seinen Gesichtszügen. Denn der japanische Gott der Schlachten schaut gar nicht so furchtbar drein, im Gegenteil, sein schnurrbärtiges Gesicht mit den Schlitzaugen hat einen recht gemütlichen Ausdruck, er schmunzelt sogar recht vergnügt, und es fehlte nur noch, daß er sich vor Lachen den dicken Bauch hält. Aber er ist vom Kopf bis zu den Füßen in einen Panzer gehüllt, und in der einen seiner vier Hände, was sehr an die indischen Gottheiten erinnert, hält er aufrecht ein mächtiges Schwert, in der zweiten eine Keule, in der dritten eine Schlange, in der vierten eine kleine menschliche Figur. Alles ist aus einem Guß, nur das Schwert ist eine wirkliche Stahlklinge, in die eherne Faust eingeschraubt oder eingenietet.
Genau so saß er auch damals in einer Ecke des Lagerschuppens von Costenoble auf seinem Postament und schmunzelte mit etwas geöffnetem Munde den Besucher vergnügt an.
Während der Reise war er in Kokosmatten eingehüllt gewesen, diese waren jetzt abgefallen, nur das Schwert war noch mit einem öligen Lappen umwickelt. Der Franzose hatte die Figur hier untergestellt, sie solle hier stehen bleiben, bis er wiederkomme und sie abhole.
Mr. Deacon zitterte vor Aufregung. Wer war dieser Monsieur Delcassé? Wo befand er sich jetzt? War er ein Sammler? Oder wollte er die Figur verkaufen? An wen? War er jetzt schon in Paris, um sie dem dortigen Museum anzubieten?
Wir wollen es kurz machen, obgleich fast vier Wochen vergingen, ehe Deacon, der sich unterdessen vor Spannung und Angst fast verzehrte, den Franzosen endlich gefunden hatte. Der Mann hatte es nicht eilig gehabt, war verreist gewesen, und über seinen Götzen hatte er auch noch nicht disponiert. Ja, er wollte ihn verkaufen, und Deacon erstand ihn gegen eine enorme Summe. Einen Konkurrenten hätte der reiche Kauz, der für den japanischen Kriegsgott sein halbes Vermögen zu opfern bereit war, auch nur in dem britischen Museum gehabt, aber dieses brauchte er nicht zu fürchten, er hatte dem Museum nach seinem Tode sowieso alle seine Sammlungen vermacht.
Der überglückliche Deacon traf Vorbereitungen, den kostbaren Erwerb in seine Wohnung überzuführen.
War das nicht ein merkwürdiger Zufall? Oder war das nicht bloß ein Zufall? War das nicht vielleicht etwas von... einer höheren Fügung? Wie hatte Keigo Kiyotaki damals drohend gerufen?
»Und wenn Sie das Katana mir nicht geben wollen, so wird der schreckliche Hachiman selbst kommen, um es von Ihnen zu fordern, und dann... wehe Ihnen!!«
Wahrhaftig, da kam ja der Hachiman, kam in Deacons eigenes Haus!
Die in London weilenden Japaner wurden mit geheimnisvollen Fragen gequält, wie sie darüber dächten, ob wohl wirklich etwas daran sein könne usw.
Es muß bemerkt werden, daß nämlich der sonst so praktische und nüchterne Engländer, selbst der aus den gebildetsten Kreisen, überaus abergläubisch ist, was sich am besten daraus erkennen läßt, daß gerade in England der Spiritismus die üppigsten Blüten treibt, nicht minder in Amerika unter den noch nüchternen Yankees. Extreme berühren sich eben.
Aber seltsam, es war geradezu, als ob sich die kleinen braunen Burschen mit Keigo Kiyotaki verabredet hätten, denn sie gebrauchten genau dieselbe Redensart, welche jener schon zweimal angewendet hatte, nur daß sie noch etwas hinzusetzten. Sie sagten nämlich nichts weiter als:
»Well, die Engländer haben ihre Religion, und wir Japaner haben unsere Religion — und es ist nicht gut, über Religion zu sprechen.«
Wenn man aber die überaus zurückhaltenden Japaner kennt, so findet man dabei gar nichts Merkwürdiges.
Und Loftus Deacon? Mochte dieser über den Zufall denken, wie er wollte, jedenfalls war er über Aberglauben erhaben.
Die Bronzefigur, welche sechs Zentner wog, wurde auf einen Frachtwagen geladen und nach Deacons Hause transportiert, wo schon im Parterre ein Ehrenzimmer für Hachiman eingerichtet worden war. Noch während der Kriegsgott am bezeichneten Platze aufgestellt wurde, ließ Deacon vor der Figur ein Tischchen zu einem Altar drapieren, auf welchem fortan das Katana liegen sollte, also zu Füßen dessen, der dem Schwerte eine unsterbliche Seele eingehaucht hatte.
Es war spät abends geworden, und zwar an einem Wintertage, ehe alles fertig war und die vielen Leute, welche heute die unteren Räume des sonst so einsamen Hauses belebt hatten, entlassen wurden.
Die letzte Stunde verbrachte Deacon in seinem neuesten Heiligtume, sich am Anblicke seines Götzen meidend, immer noch an dem Altar mit dem Schwerte drapierend, bis er als englischer Hausvater Punkt zehn Uhr der Dienerschaft den Befehl gab, schlafen zu gehen. Er selbst zog sich in sein Kabinett zurück.
Die tiefste Stille herrschte in dem geräumigen Hause. Nur unten im Portal brannte noch Licht, und Jensy hatte die erste Wache. Lesend saß er in der kleinen Portiersloge.
Doch bald überwältigte den alten Mann ein tiefer Schlaf.
Es war gegen Mitternacht, als Jensy tödlich erschrocken emporfuhr. Ein gellender Schrei hatte sein Ohr getroffen, und gleich darauf erscholl es wie ein dumpfer Fall. Es war unverkennbar Mr. Deacons Stimme gewesen. Dessen Schlafkabinett lag im ersten Stock, der Schrei aber konnte nur im Parterre ausgestoßen worden sein, und nun brachte es auch noch der Gedankengang und die ganze Stimmung mit sich, daß Jensy sofort an das neue japanische Zimmer mit dem Kriegsgott dachte, daß er sofort, wenn auch mit gesträubtem Haar, nach dieser Tür sprang und daran pochte.
»Mr. Deacon, waren Sie das?«
Keine Antwort. Wohl aber vernahm Jensy jetzt ein Röcheln und Stöhnen.
Jetzt fing Jensy zu schreien an, um die anderen Diener herbeizurufen, eilte dorthin, wo der zweite Schlüssel hing, zerschlug mit dem Holzhammer die Scheibe, zerriß die Plombe, und wie er mit dem Schlüssel zurückrannte, kamen auch schon die anderen Diener herbeigestürzt.
Die Tür wurde geöffnet, das Zimmer wurde durch eine auf einem Tischchen stehende Lampe erleuchtet — und da saß der lachende Kriegsgott auf seinem Postament, über und über mit Blut bespritzt, das Schwert in seiner Faust ebenfalls von Blut triefend — und zu seinen Füßen lag der mit einem Schlafrock bekleidete Loftus Deacon in einer großen, rauchenden Blutlache.
Man kann sich denken, wie es den Dienern bei diesem Anblicke zumute war! Bewundernswert ist es, daß sie alle Gespenster- oder Götzenfurcht vergaßen und, ohne sich um Hachimans blutiges Schwert zu kümmern, sofort ihrem Herrn zu Hilfe sprangen, allerdings, um ihn zuerst aus der gefährlichen Nähe dieses japanischen Kriegsgottes zu bringen.
Loftus Deacon lebte noch, aber er lag im Sterben. Sein Kopf wies eine klaffende Wunde auf, ein zweiter Schwerthieb hatte den Hals getroffen, ihm eine Arterie durchschlagen. Waren die Wunden an sich nicht tödlich, so mußte er sich doch verbluten, hier gab es keine Rettung mehr.
Noch einmal kamen röchelnde Laute über seine Lippen.
»Hachiman — Hachiman hat mich ermordet!«
Es waren seine letzten Worte gewesen. Der alte Mann war tot. Und dort saß der japanische Kriegsgott mit blutigem Panzer und blutigem Schwerte und lachte.
Die Polizei wurde gerufen, den ersten Konstablern folgten schnell Kriminalbeamte und Detektivs.
Noch stand alles unter dem ersten Eindruck des Geschehenen. Niemand wußte, was hier eigentlich vorlag, wo die Untersuchung zu beginnen sei, als Jensy einen Schrei ausstieß und mit der Hand auf das vor dem Kriegsgott stehende Tischchen deutete:
»Das Masamune-Schwert ist weg!!!«
Wir geben kurz wieder, was am anderen Morgen die Zeitungen über diesen mysteriösen Fall berichteten, wie die Untersuchungsbeamten noch in derselben Nacht gearbeitet hatten.
Man muß den englischen Beamten die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß sie sich durch keinen japanischen Götzenaberglauben beirren ließen, sondern daß sie als nüchtern denkende Menschen zunächst nach einem lebendigen, einem menschlichen Mörder suchten.
Hier aber scheiterten alle aufklärenden Bemühungen.
Die Untersuchung ergab, daß alle Fenster innen verriegelt waren, ebenso war ausgeschlossen, daß der Mörder inzwischen aus der Haustür entwischt sein könnte, also mußte er sich noch im Hause befinden.
Alle Räume wurden durchsucht, jeder Winkel, alles wurde umgekehrt, allein kein fremder Mensch war zu finden.
Ein Verdacht gegen einen der fünf Diener kam gar nicht auf.
Jetzt mußte man seine Aufmerksamkeit wieder dem ehernen Kriegsgott zulenken.
Wie hatte der Ermordete gelegen, bevor die Diener ihn von dieser Stelle trugen?
Gerade unter dem Schwerte — ja, so, wie es die Diener beschrieben, hatte er von dem Schwerte des Götzen an Kopf und Hals getroffen werden können.
Gerichtsärzte und andere anatomische Sachverständige waren zur Stelle, wie z. B. auch Deacons Hausarzt, und aller Urteil lautete dahin: Jawohl, das Schwert, welches der Kriegsgott in seiner Faust hielt, paßt in die Wunden des Ermordeten, die Wunden können mit demselben geschlagen sein.
Jetzt folgt der dritte Teil der Untersuchung: Ist dieses Schwert in der Faust dieses Götzen beweglich? Nein, es ist eingenietet, es läßt sich nicht bewegen, so wenig wie der ganze Arm, so wenig wie irgend etwas an dem ehernen Götzen, alles ist aus einem einzigen Guß.
Trotzdem, wenn das Schwert zugeschlagen haben soll, dann muß es auch beweglich sein. Da ist einfach ein geheimnisvoller Mechanismus in dem hohlen Leibe des Götzen vorhanden.
Die Detektivs machten sich gleich an die Untersuchung, wozu die Figur dann von dem Postament herabgehoben wurde, sie tasteten, und klopften und drückten an dem Götzen herum, es kamen auch Ingenieure, darunter ein ganz ingeniöser, dieser tastete und klopfte und drückte gleichfalls an dem grinsenden Hachiman herum, allein der verriet nicht, was er in seinem Innern barg, da wollte kein geheimes Türchen aufspringen, noch sonst etwas Außergewöhnliches passieren.
Alles war eben aus einem Gnß und unverrückbar, nur der Mund etwas geöffnet, etwa so weit, daß man einen Finger hineinzwängen konnte. Man versuchte hineinzuleuchten — es war absolut nichts zu sehen.
Dann mußte morgen der Götze angebohrt, ein Stück aus seinem Leibe geschnitten werden, um in das Innere blicken zu können, wozu man aber erst noch eine besondere Erlaubnis brauchte. Denn der Direktor des britischen Museums war auch schon herbeigeeilt und erklärte den Götzen wie die ganze Sammlung als unverletzliches Eigentum dieses Staatsinstitutes.
So begnügte man sich vorläufig, auf Hachimans feixendes Maul ein großes Amtssiegel zu klatschen.
Jetzt folgte die Kalkulation des Untersuchungsrichters mit logischen Schlußfolgerungen:
Gegen zehn Uhr war Loftus Deacon in sein in der ersten Etage gelegenes Schlafzimmer gegangen und hatte sich tatsächlich ins Bett gelegt, wie der Zustand desselben ergab. Er hatte vor Erregung nicht schlafen können, mußte erst noch einmal dem kostbaren Götzen einen Besuch abstatten. Gegen zwölf Uhr stand er wieder auf, zündete eine Lampe an, bekleidete sich mit einem Schlafrock und begab sich noch einmal hinab. Welchen Weg er dabei genommen, konnte man nicht bestimmen, das war auch ganz gleichgültig.
Er betrat das Zimmer des Götzen, setzte die brennende Lampe dort auf den Tisch, ging an die Figur, tastete an ihr herum, mochte sie liebkosend streicheln, wie es der alte Sonderling auch mit seinen anderen Raritäten tat — plötzlich löste sich unter seinen Händen ein Mechanismus aus, er hatte zufällig auf eine verborgene, bis jetzt noch nicht entdeckte Feder gedrückt, das Schwert der Figur sauste zweimal auf ihn herab, der eine Hieb traf den Kopf des Stehenden, der zweite den Hals des Fallenden. Dann hatte der Mechanismus ausgewirkt, das Schwert oder der Arm war wieder unbeweglich.
So war es gewesen, Loftus Deacon hatte es ja überhaupt selbst gesagt:
»Hachiman... Hachiman hat mich ermordet!« —
Ja, zum Teufel — hieß es aber jetzt — wo ist denn nun das Katana hin?!
Jensy und noch ein anderer Diener sagten aus, daß sie das Schwert kurz vor zehn Uhr durch die offene Tür auf dem neu hergerichteten Altar zu Füßen des Gottes hatten liegen sehen.
Es konnte ja sein, Deacon hatte es beim Fortgehen mitgenommen. Aber dann mußte es doch irgend wo im Hause sein. Und nun herrschte hier eine so peinliche Ordnung, der kleinste Gegenstand war nach dem Katalog so genau nummeriert, und die Diener waren überall so vertraut, daß dieses Schwert, wenn es sich wirklich noch in dem Hause befunden hätte, trotz aller Geräumigkeit des Gebäudes sofort gefunden worden wäre.
Kurz, für diejenigen, welche alle Gewohnheiten Deacons und die ganze Einrichtung dieses Hauses kannten, war das spurlose Verschwinden des Katana ein viel geheimnisvolleres Rätsel als der vermutliche Mechanismus des ehernen Götzen!
Auch Journalisten waren zugegen gewesen, sie arbeiteten mit Volldampf, früh um acht Uhr erschienen die Zeitungen, alles brühwarm erzählend, und nun wollen wir uns gar nicht des längeren dabei aufhalten, wie der Fall vom Publikum aufgefaßt wurde. Die Erregung war furchtbar.
Denn jetzt erinnerte man sich doch an alles, was damals über das Katana und über die japanischen Götter so ausführlich berichtet worden war, wie Keigo Kiyotaki so gedroht hatte, usw. usw.
Da plötzlich erscholl der Ruf durch die Straßen:
»Der Mörder ist bereits gefaßt! Keigo Kiyotaki ist es gewesen, welcher heute nacht Loftus Deacon ermordet hat! Alles ist erklärt!«
Am Morgen nach der Mordnacht, früh um sechs Uhr, noch bei völliger Dunkelheit, beobachtete ein Detektiv die Passagiere, welche sich im East-India Dock an Bord eines nach Singapore gehenden Dampfers begaben.
Da fielen diesem Detektiv die Gesichtszüge eines Mannes auf, der soeben die Laufbrücke betreten wollte. Er war in einen langen Mantel gehüllt, der Kragen hochgeschlagen, der Schlapphut tief in die Augen gezogen. Aber ganz war das Gesicht doch nicht verhüllt, und das scharfe Auge des Detektivs war gerade darauf gefallen, als es in das Licht einer Gaslaterne kam.
»Hallo, wer ist denn das? Wo habe ich denn diese gelbbraunen Züge schon einmal gesehen? Himmel, das ist ja...«
Dem Publikum ist noch nicht bekannt, was heute nacht in Deacons Hause passiert ist, die Zeitungen sind ja noch nicht heraus, wohl aber weiß der Detektiv schon darum, und blitzschnell wickelt sich in seinem Kopfe eine Kette von Gedanken ab, er eilt dem Wanne nach und vertritt ihm auf der Brücke den Weg.
»Ka... Ke... Ki... Ko... Ku... wie ist Ihr Name, mein Herr? Ich bin staatlicher Detektiv, hier meine Marke. Also wie heißen Sie, mein Herr?«
Der Angeredete muß wohl oder übel stehen bleiben, er blickt den Fragenden ruhig an.
»Nix Englisch,« meint er dann kopfschüttelnd und will seitwärts ausweichen, der Detektiv vertritt ihm abermals den Weg, faßt ihn an.
»Halt! Ich habe das Recht, mir Ihr Gesicht genauer zu besehen.«
Damit zieht er dem Manne den Mantelkragen herab und schiebt den Hut hoch.
»Ah, jetzt fällt mir auch Ihr Name ein, wenigstens der eine: Keigo!«
Der andere bleibt noch immer ruhig.
»Nix Keigo, ich heiße Kanamuro.«
»Ich irre mich nicht. Folgen Sie mir zur Wache.«
Die Dampfpfeife gibt das Zeichen zur Abfahrt des Schiffes, der Japaner will sich schnell zur Seite drängen, aber der Detektiv packt zu.
»Im Namen der Königin, Sie sind verhaftet! Sie wehren sich?«
Der Detektiv läßt seine Notpfeife erschallen, im Augenblick sind Konstabler da, der Dampfer fährt davon, der Festgenommene wird nach der nächsten Polizeiwache geführt. Gepäck hat er nicht bei sich.
»Ich halte diesen Mann für verdächtig, mit der Ermordung des Loftus Deacon in Verbindung zu stehen,« erklärt der Detektiv dem Polizeiwachtmeister.
Der Mann hat einen auf den Namen Kanamuro lautenden japanischen Paß bei sich, vom englischen Konsul in Tokio beglaubigt für die Reise nach England, und beharrt dabei, nicht Englisch sprechen zu können.
Aber der Detektiv ist sich seiner Sache sicher. Es ist ein Zufall, daß er damals, wie sich Keigo Kiyotaki einige Tage in London aufhielt, diesen mehrmals gesehen hat, und der Detektiv besitzt ein vorzügliches Gedächtnis für Physiognomien, er hat ihn sofort wiedererkannt.
Er macht dem Wachtmeister seine vertraulichen Mitteilungen, und die Sache liegt so, daß der Mann, welcher sich Kanamuro nennt, sofort ins Untersuchungsgefängnis überführt wird.
Kaum ist er dort eingetroffen, erscheinen auch schon der bestellte Jensy und noch ein anderer Diener, um mit dem verdächtigen Manne konfrontiert zu werden.
»Keigo Kiyotaki!!« rufen beide wie aus einem Munde.
Da gibt der Japaner in fließendem Englisch zu, daß er es ist, er erzählt — viel ist es freilich nicht.
Gestern früh ist er aus Singapore mit einem Dampfer in London eingetroffen, hat die Nacht in einem Hotel geschlafen, heute früh wollte er sich schon wieder nach Singapore einschiffen.
Der junge Japaner ist völlig ruhig, er braucht nicht erst gefragt zu werden, in welchem Hotel er logiert habe, mit dem größten Gleichmut belastet er sich selbst, indem er das Hotel angibt, welches in der Bedfordstreet ist, ganz nahe an Deacons Haus.
Aber der Untersuchungsrichter läßt sich nicht beirren, er kennt bereits den japanischen Gleichmut.
»Was haben Sie an diesem einen Tage in London getan?«
»Ein Geschäft abgewickelt.«
»Was für ein Geschäft?«
»Dieses Geschäft ist mein Geschäft und nicht Ihres,« erwidert der junge Japaner jetzt trotzig.
»Das heißt, Sie wollen es nicht sagen?«
»Nein, das brauche ich nicht.«
»Das werden wir sehen. Sie sind vor etwa einem Vierteljahr in London gewesen, um von Mr. Loftus Deacon, den Sie doch kennen, ein sogenanntes Katana-Schwert, welches einst Ihrer Familie gehörte, zurückzufordern oder es ihm abzukaufen. Stimmt das?«
»Ja,« gibt Keigo jetzt offen zu.
»Sie erreichten Ihren Zweck nicht?«
»Nein.«
»Haben Sie gestern oder diese Nacht Mr. Loftus Deacon gesehen und gesprochen?«
»Nein.«
»Wozu begaben Sie sich nochmals nach London?«
»Das ist meine Sache.«
»Um abermals zu versuchen, in den Besitz des Ihnen so überaus wertvollen Schwertes zu gelangen.«
»Nein.«
»Sie haben sich gestern oder heute nacht in Mr. Deacons Haus geschlichen und Mr. Deacon ermordet.«
Allerdings macht diese direkte Beschuldigung auf den jungen Japaner einen großen Eindruck, aber doch nicht den, den man eigentlich erwartet hätte. Weder schlägt die Anklage ihn nieder, noch stellt er sich teilnahmlos, er fährt nur etwas zusammen und starrt mit großen Augen den Untersuchungsrichter an.
»Er-mor-det?« wiederholt er mit Bestürzung. »Ist denn — Mr. Deacon — tot?«
Wie gesagt, der Untersuchungsrichter hat in dieser internationalen Riesenstadt, in der sich die Völker aller Zonen und die Verbrecher aller Menschenrassen ein Rendezvous geben, auch schon mit Japanern seine Erfahrungen gemacht, er läßt sich durch nichts beirren.
Solch ein verstockter und verschmitzter Bursche muß klipp und klar überführt werden, sonst ist ihm gar nicht beizukommen.
Keigo wird vorläufig in seine Zelle zurückgeführt.
Unterdessen ist die ganze Maschinerie Londoner Polizei in Bewegung gesetzt worden, der Telegraph spielt nach allen Richtungen, um Erkundigungen über den mutmaßlichen Mörder einzuziehen, der noch auf der Themse befindliche Dampfer wird in Tilbury angehalten, es wird nach dem Gepäck eines Passagiers Namens Kanamuro gefragt — jawohl, das liegt in der von ihm belegten Kabine, ein dicker Lederkoffer und ein ganz flacher, aber sehr lang und breit, so eine Art von Musterkoffer — alles wandert nach dem Untersuchungsgefängnis.
Keigo Kiyotaki wird wieder vorgeführt.
»Kennen Sie dieses sogenannte Katana, welches in Ihrem Koffer gefunden worden ist?« fragt der Richter, greift hinter sich und halt dem Japaner ein Schwert entgegen.
Wie Keigo dieses Schwert sieht, da ist es mit ihm vorbei. Mit einem unartikulierten Schrei prallt er zurück.
Gleich darauf aber hat er sich wieder gefaßt, richtet sich auf, nimmt eine würdevolle Stellung ein und sagt mit ruhiger, lauter Stimme:
»Ich spreche hiermit mein letztes Wort: wenn Loftus Deacon wirklich ermordet worden ist, so schwöre ich bei Tensis Dai Dsin, bei Kami und Hachiman, daß ich an seinem Tode unschuldig bin!«
»Wie ist denn dieses Schwert, welches sich bis heute nacht im Besitz von Mr. Loftus Deacon befand, plötzlich in Ihren Koffer gekommen?«
Vergebliche Frage. Der junge Japaner hielt sein Versprechen, nie mehr kam ein Wort über seine Lippen. Teilnahmlos saß er in seiner Zelle, teilnahmlos stand er vor seinen Richtern, er sah und hörte nichts mehr.
Doch einen freiwilligen Tod suchte dieser junge Japaner nicht, er aß, wenn man ihm etwas vorsetzte, nur daß er eben sonst ganz teilnahmlos war und nicht mehr sprach.
Wenn man nicht an Formalitäten gebunden gewesen wäre, hätte man über Keigo noch an demselben Tage den Stab brechen können. Mit dem Auffinden des vermißten Schwertes in seinem Koffer war seine Schuld völlig und vollständig bewiesen! Weil die Fenster von innen verriegelt gewesen waren und man behauptete, kein Mensch hätte sich unbemerkt aus dem Hause entfernen können? Nun, das war eben eine vorschnelle Behauptung gewesen.
Keigo hatte sich nochmals nach London begeben, um das Schwert seiner Väter auf irgend eine Weise zu erlangen, jedenfalls schon zu allem entschlossen. Sein Hiersein mit dem ehernen Kriegsgötzen in Verbindung zu bringen, von so etwas schwatzten nur die Sensationsblättchen, die auf die Dummheit des abergläubischen Volkes spekulieren, und dieses, welches in allem und jedem etwas Wunderbares sucht, mochte derartiges denn auch glauben. Die aufgeklärten Leute dachten anders. Daß an diesem Tage gerade der von Deacon gekaufte Hachiman in die Wohnung transportiert wurde, war einfach ein Zufall, und der kluge Japaner machte sich diesen sofort zunutze.
Bei der Menge der heute im Hause beschäftigten Arbeitsleute war es dem Japaner, der sehr wenig Mongolisches an sich hatte, so leicht gemacht worden, unbemerkt hineinzugelangen. Ein Versteck fand der geschmeidige Japaner schon, vielleicht verbarg er sich in einer der riesigen Vasen seiner Heimat. Hier wollte er warten, bis im Hause alles still war, dann nahm er das Katana und sprang durch das Fenster auf die Straße.
So tat er denn auch. Aber nur der erste Teil des Programms kam zur Ausführung. Gegen Mitternacht verließ er sein Versteck. In diesem Augenblick — daß sind natürlich alles nur Vermutungen — als er an seinem Ziele war, trat der Hausherr, welcher seinen Götzen noch einmal sehen wollte, mit der brennenden Lampe ein.
Schnell warf sich Keigo hinter das mit einem roten Tuche verhangene Piedestal der Figur. Deacon setzte die Lampe auf den Tisch und trat an den Götzen. Da fiel sein Blick auf den Eindringling, der sah sich verraten, nun war ihm alles gleichgültig, blitzschnell sprang er auf, ergriff das ihm auf dem Altar handbereit liegende Katana und führte die zwei mörderischen Schläge nach dem Alten.
Hochauf spritzte das Blut, es benetzte den Kriegsgott, auch dessen Schwert. Der Mörder selbst mochte von dem Blutstrahl nicht getroffen worden sein.
Da erscholl Jensys Klopfen und Frage, Keigo sprang in sein Versteck zurück. Und es sollte so ganz unmöglich gewesen sein, daß der Mörder unbemerkt den Ausgang gewann? Durch die geöffnete Haustür strömten doch Polizisten, Detektivs, Aerzte und Journalisten herein, sie kamen und gingen, dem geschmeidigen Japaner war es vielmehr sehr leicht geworden, sich unbemerkt wieder zu entfernen, ehe das Suchen nach dem Mörder begann, und sein Taschentuch mochte genügt haben, um das Blut von dem Katana, welches er natürlich mitnahm, abzuwischen, so daß er nicht die geringste Spur hinterließ.
Ja, so war es gewesen, nicht anders; Keigo Kiyotaki brauchte gar nicht zu sprechen, der ganze Vorgang sprach für sich selbst. Man hatte dem so gemütlich lachenden Kriegsgott bitteres Unrecht zugefügt, als man ihn im Verdachte der Täterschaft gehabt, die eherne Figur hatte gar keinen Mechanismus im Leibe, deshalb brauchte sie auch nicht erst angebohrt zu werden — was übrigens seine Schwierigkeiten gehabt hätte, das heißt eine Verletzung des kostbaren Götzen wäre so ohne weiteres gar nicht erlaubt worden, aus einem Grunde, den wir gleich erfahren werden.
Doch hatte der Sterbende nicht selbst gesagt, daß Hachiman ihn ermordet habe?
Das war natürlich nichts weiter als eine Ideenverbindung im Todeskampfe gewesen. Denn den Japaner hatte Deacon natürlich gesehen, im Todeskampfe hatte er nur noch daran gedacht, wie ihm Keigo mit des Kriegsgottes Rache gedroht, und diesen Gedankengang hatte er mit seinen letzten Worten ausgedrückt.
Während die in London weilenden Japaner durchaus nichts von ihrem des Mordes angeklagten Landsmann wissen wollten, die japanische Gesandtschaft sich ängstlich hütete, sich in den Prozeß zu mischen, fehlte es nicht an hochherzigen Engländern, welche für den jungen Japaner Mitleid empfanden und offen Partei für ihn ergriffen, und es war kein anderer als der berühmte Sir Edward Clane, der wegen seiner juristischen Verdienste von der Königin zum englischen Baronet erhobene Rechtsanwalt, welcher freiwillig Keigos Verteidigung übernahm.
Sir Edward Clane! Wenn es je einen wahrhaft edlen Menschen gegeben hat, wenn je ein Bürgerlicher den Adelstitel als Auszeichnung vor anderen verdient hat, so ist es dieser englische Rechtsanwalt, der Sohn eines armen Bauern. Er übernahm von jeher die Verteidigung der schwierigsten Fälle, von Raubmördern und anderen Verbrechern, welche die Todesstrafe oder die schwersten Zuchthausstrafen verdienten. Aber nicht etwa, daß er mit juristischen Spitzfindigkeiten aus Schwarz Weiß, aus einem Teufel einen Engel zu machen suchte — nein, vielleicht im Gegenteil.
»Herr, allgnädiger Gott, führe uns nicht in Versuchung, denn wir sind allzumal schwache Menschen und zur Sünde geneigt.«
Mit diesen Worten begann er jede seiner Verteidigungsreden, und dann verwandelte sich jedesmal der weite Gerichtssaal in eine Kirche, und die Zuhörer lauschten mit angehaltenem Atem diesem gottbegnadeten juristischen Prediger, der mit der Allmacht seiner Rede auch die steinernsten Herzen zermalmte, bis sie von Tränen überflossen.
Auf diese Weise hat er nicht weniger als vierzehn Menschen, welche den Strang, verdienten, das Leben geschenkt, sie wurden nur zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt, und der zu lebenslänglichem Zuchthaus Verurteilte wird in England bei guter Führung regelmäßig nach zehn bis spätestens fünfzehn Jahren begnadigt, und zahllos sind die Fälle, in denen er die vorgeschlagene Zuchthausstrafe bis zur Hälfte herabdrückte, eben nur durch die Gewalt seiner Rede, welche allein an die Herzen der Menschheit appellierte.
Zahllos sind die Anekdoten, welche in England über diesen Mann zirkulieren, so z. B., wie einmal in seiner Villa eingebrochen wurde, und wie am anderen Tage der Einbrecher zu ihm kam, um ihm persönlich den Raub zurückzubringen und ihn um Entschuldigung zu bitten, er habe nicht gewußt, daß diese Villa dem ›Freund der Verbrecher‹ gehöre, und wie Sir Clane im Jahre 1887 starb, da sah man ein Begräbnis, wie es die Welt noch nicht erlebt hatte. Ehemalige Sträflinge und die Weiber und Kinder von Zuchthäuslern folgten seinem Sarge und weinten an seinem Grabe, schmückten es mit Blumen, und in den Verbrecherspelunken von Whitechapel wurden Gedächtnisfeiern abgehalten, aber keine Orgien, sondern Andachten. —
Für solch einen Mann verzeiht der Leser wohl diese kleine Abschweifung.
Er also übernahm die Verteidigung des jungen Japaners aus freien Stücken. Als Thema für dieselbe hatte er das vierte Gebot gewählt. Es war ein gewagtes Unternehmen. Der Angeklagte sei ein gehorsamer Sohn, der seinen Vater ehre, und er gehöre einer fremden Nation, einer fremden Rasse an, in deren religiöse Ansichten wir Europäer uns gar nicht hineindenken könnten, jener aber sei nach japanischen Begriffen ein frommer, gerechter Mann, das müsse man bedenken, und wenn seine Tat für uns nicht völlig entschuldbar sei, so müsse man ihm doch die weitestgehenden mildernden Umstände zubilligen. Er habe Loftus Deacon ja nicht ermorden, sondern habe ihm das Schwert seiner Väter abkaufen wollen, hatte jedenfalls alles, was er besaß, dafür geopfert, und Loftus Deacon hätte seinen Tod durch engherzigen Starrsinn selbst verschuldet.
Wie gesagt, es war ein starkes Stück, hier das vierte Gebot anzuwenden, und vielleicht mehr noch, den Ermordeten, einen christlichen Engländer, gegen den Mörder, einen heidnischen Japaner, als den eigentlichen Schuldigen hinzustellen. Das hätte kein anderer Verteidiger tun dürfen, das wäre ihm schlecht bekommen. Aber Sir Edward Clane durfte es wagen, und wieder wußte dieser Mann zu sprechen, daß auf den Galerien kein Auge trocken blieb, wenigstens kein Frauenauge, und wenn es nach diesen leicht zu bewegenden Frauenherzen gegangen wäre, so wäre Keigo Kiyotaki augenblicklich freigesprochen und als Muster eines gehorsamen Sohnes unter die Heiligen versetzt worden.
Es gab aber Männer unter den Richtern, welche sich nicht so leicht durch Worte beeinflussen ließen. Nein, diesmal würde es dem Verteidiger schwerlich gelingen, den Angeklagten vor dem Tode durch den Strang zu retten, und Sir Clane hatte, wie er vertrauten Freunden offenbarte, selbst wenig Hoffnung. Die größte Schwierigkeit dabei bereitete ihm, der natürlich nicht nur ein Prediger, sondern auch ein ausgezeichneter Jurist war, das Verhalten seines Klienten, welcher auch seinem Verteidiger gegenüber sein absolutes Schweigen durchaus nicht brechen wollte.
Wir versetzen uns in das bescheidene Empfangszimmer der Villa des Sir Edward Clane — wenigstens bescheiden eingerichtet für einen Mann, der so große Einkünfte bezog. Denn wenn er es konnte, dann ließ sich dieser Rechtsanwalt sehr gut für seine Verteidigung bezahlen, aber nicht für sich, sondern er übergab alles einer Arbeitsanstalt für entlassene Sträflinge, er selbst war völlig anspruchslos, hatte in seinem Berufe nicht einmal Zeit zum Heiraten gehabt, eine alte Köchin und ein Diener genügten ihm, und die große Villa hatte er nur wegen seiner reichen Büchersammlung nötig.
»Fred M.Beken, Philadelphia,« stand auf der Visitenkarte, welche der Gentleman abgegeben hatte, der in einer Vormittagsstunde in diesem Empfangszimmer auf die Rückkehr des Dieners oder auf den Eintritt des Hausherrn wartete.
Es war ein schon alter Herr, das glattrasierte Gesicht voller Falten. Das stark hervortretende Kinn und die eckigen Züge charakterisierten ihn unverkennbar als echten Yankee, der Diener hatte das auch sofort aus den Nasallauten seines englischen Dialektes herausgehört.
Kalt und starr blickte das kluge Auge, aber seltsam war es, wie sofort, als die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte, diese selben sonst so starren Augen blitzschnell durch das ganze Zimmer wanderten, es war, als wollten sie jeden Gegenstand umfassen und seine Form unauslöschlich dem Gedächtnis einprägen.
Noch seltsamer war, was der Herr in der nächsten Minute tat.
Als die Musterung des Zimmers beendet, warf er noch einen Blick nach der Türe, hinter welcher der anmeldende Diener verschwunden war, beugte wie lauschend den Oberkörper vor, trat dann schnell vor einen Wandspiegel, nahm den goldenen Klemmer ab, legte beide Handflächen auf sein Gesicht, es sah aus, als wolle er die Falten glätten, nahm die Hände weg — — und wirklich, der Spiegel zeigte ihm das faltenlose Antlitz eines noch jungen Mannes, welches mit dem vorigen auch nicht die geringste Aehnlichkeit mehr besaß. Doch es war nur wie ein Phantom. Mit den Fingerspitzen tupfte und zog er im Gesicht herum, die hervorgebrachten Falten blieben stehen, er drückte mit der Hand sein Kinn hervor, und es war, als ob dieses aus Gummi oder, besser noch, aus Wachs gewesen wäre, denn es verharrte ebenfalls in seiner Lage, nun die Nase noch etwas zugequetscht... und wie der Diener wieder hereintrat, sah er ganz genau denselben alten Herrn mit dem charakteristischen Yankeegesicht.
»Sir Clane ist sehr stark beschäftigt und läßt erst um Angabe bitten, in welcher Angelegenheit ihn der Herr zu sprechen wünscht.«
»In Sachen des Keigo Kiyotaki,« war die kurze Antwort des fremden Besuchers, welcher keinen in England unentbehrlichen Empfehlungsbrief abgegeben hatte.
Diesmal blieb der Diener keine zehn Sekunden aus.
»Sir Clane läßt bitten.«
Mr. Beken betrat das mit Büchern vollgestopfte Arbeitszimmer und stand vor der ehrwürdigen Gestalt des alten Rechtsanwaltes.
»Verzeihen Sie, wenn ich Sie störe...«
»Wenn Ihr werter Besuch meinen Klienten betrifft, so habe ich stets Zeit. Bitte, nehmen Sie Platz.«
»Habe in Philadelphia Agentur für Tee, China-und Japanwaren,« begann der Amerikaner mit präziser Kürze. »Halte mich hier geschäftlich auf. Bin viele Jahre in Japan gewesen. Keigo Kiyotaki selbst kenne ich nicht, aber seinen Vater habe ich persönlich gekannt, auch den einen Bruder, Dai Oky Goto. Mir geht die ganze Geschichte durch den Kopf. Mir ist etwas nicht klar dabei. Warum will der Junge nicht sprechen?«
»Weil es ein Japaner ist, der sich mit orientalischem Phlegma in das Unvermeidliche schickt.«
»Nein. Ich kenne die Japaner. Hier liegt etwas anderes vor, irgend ein Rätsel. Keigo Kiyotaki kann den Mord gar nicht begangen haben...«
»Was sagen Sie da?!« rief der Rechtsanwalt mit leicht begreiflicher Überraschung.
»Nein, kann nicht, weil er ein Sintus ist.«
»Was ist er?«
»Ein Sintus. So heißen die Bekenner des alten Sinsyn-Glaubens. Der Sintus darf kein Blut vergießen, nicht töten, nicht einmal eine Fliege.«
»Mr. Beken, wir sind allzumal schwache Menschen...«
»I beg your pardon. Wenn Keigo einmal Blut vergossen oder einen anderen dazu verleitet hätte, es für ihn zu vergießen, dann würde er selbst, anstatt sich hängen zu lassen, Harakiri begehen...kchkchkch.«
Mit einem nicht wiederzugebenden Laute machte der Amerikaner die Bewegung des Bauchaufschlitzens.
»Oder, wenn er kein Messer hat,« setzte er noch hinzu, »sich in seiner Zelle aufhängen oder seine Zunge verschlucken oder sich sonst auf irgend eine Weise vom Leben zum Tode befördern. Ich kenne den Japaner, der findet immer ein Mittel dazu.«
Erregt war Sir Clane aufgestanden, um einen Gang durch das Zimmer zu machen. Wahrhaftig, dieser Mann brachte ihn auf einen Gedanken, auf den noch kein Mensch in London gekommen, und da leben doch auch gründliche Japankenner.
»Ja, aber...das bei ihm gefundene Schwert...«
»Das hat er von Mr. Deacon auf ganz ehrliche Weise bekommen.«
Der Rechtsanwalt blieb gleich erstarrt stehen.
»Das heißt,« fuhr der Yankee durch die Nase fort, »auf eine für uns christliche Europäer ganz ehrliche Weise. In den Augen eines Japaners mag er ein großes Verbrechen begangen haben, vielleicht hat er für das ihm so wertvolle Schwert dem Mr. Deacon, der sich doch überhaupt für alles Japanische interessierte, ein wichtiges Geheimnis aus seiner Priesterkaste verraten, aber das darf kein Japaner erfahren, deshalb schweigt der Junge, da will er lieber sterben, als von seinem Volke verdammt werden, und weil er sich nicht selbst töten darf, verteidigt er sich nicht, er will von anderer Hand gehangen werden. — Sir Clane, ich möchte diesen Keigo Kiyotaki gern einmal sehen, vielleicht, daß ich ihn zum Sprechen bringe. Könnten Sie mir die Gelegenheit dazu nicht verschaffen?«
»Aber sofort! Sofort!!!« rief der Rechtsanwalt, dem als Verteidiger jederzeit eine Unterredung unter vier Augen mit dem Angeklagten gewährt werden mußte. —
Fünf Minuten später befanden sich die beiden schon im Wagen. Der Weg nach dem Untersuchungsgefängnis führte sie auch durch die Bedfordstreet an dem Hause des Mr. Deacon vorüber.
»Nicht wahr, das Haus ist von dem Erbschaftsgericht versiegelt worden?« fragte Mr. Beken.
Sir Clane bestätigte es und erläuterte näher, wie das gekommen war.
Gleich am Tage nach der Mordnacht war Loftus Deacons Testament eröffnet worden, der Erbe seiner kostbaren Raritäten war das britische Museum. Aber dieses Testament war sofort von den eigentlich Erbberechtigten angefochten worden, denn es enthielt Unklarheiten. Einmal behaupteten die anderen Erben, die Schenkung erstrecke sich nur auf die Sachen, welche Mr. Deacon bis zu dem Zeitpunkt angeschafft habe, da er dieses Testament unterzeichnete, und dann vor allen Dingen habe das britische Museum kein Recht, das ganze Haus als Museum zu beanspruchen.
Nun gibt es in England ein eigentümliches Gesetz. Sobald es zweifelhaft ist, wer der rechtmäßige Besitzer eines Hauses ist, wird dieses Haus unter Siegel genommen, solange der Prozeß schwebt. Ein Zinshaus muß augenblicklich — oder doch innerhalb 12 Stunden — von sämtlichen Mietern geräumt werden, die Türen und Fenster werden versiegelt, kein Handwerker, kein Gerichtsbeamter, niemand darf es mehr betreten, bis die Sache entschieden ist.
So war es auch mit Deacons Haus. Die gerichtliche Untersuchung war am zweiten Tage nach der Mordnacht bereits erledigt gewesen, die Diener hatten es sofort verlassen müssen, kein Mensch hatte Zutritt, Ausnahmen gibt es freilich immer. Die Staatsanwaltschaft hätte es wohl noch betreten können, aber die hatte die richterliche Untersuchung bereits für beendet erklärt.
»Schade,« meinte Mr. Beken, »ich hätte die japanischen Altertümer gern einmal besichtigt. Sollte es nicht eine Möglichkeit geben, noch einmal Hineinzugelangen?«
»Nein, das ist ganz ausgeschlossen,« erklärte der kundige Rechtsanwalt, »und so bald wird dieser Prozeß nicht entschieden sein, da kann ein Jahr vergehen.«
Der Wagen hielt vor dem Untersuchungsgefängnis, der Verteidiger des Angeklagten stellte an vorschriftsmäßiger Stelle sein Verlangen.
»Können wir mit dem Gefangenen allein und ungestört sprechen?« fragte der Amerikaner, als sie etwas warten mußten.
»Selbstverständlich,« entgegnete der Rechtsanwalt.
»Wir werden auch nicht belauscht?«
»O nein, mein Herr, was meinen Sie wohl!! Das würde ich mir sehr stark verbitten!«
Die beiden betraten die Zelle. Teilnahmlos saß der junge Japaner da, wandte nicht einmal den Kopf nach den Eintretenden. Mr. Beken redete ihn erst in fließendem Japanisch an, dann, mit Rücksicht auf den Rechtsanwalt, sprach er auf englisch zu ihm, sagte, daß er seinen Vater, seinen einen Bruder gekannt habe. Keine Antwort, keinen Blick. Dann setzte sich ihm der Amerikaner gegenüber und...
Doch jetzt müssen wir die beiden aus einem besonderen Grunde allein lassen.
»Dieses hartnäckige Schweigen ist mir unbegreiflich,« sagte Sir Clane, als sie nach einer Viertelstunde die Zelle wieder verließen.
»Ja, ich hatte gehofft, ihn zum Sprechen bringen zu können,« entgegnete der Amerikaner.
Der Besuch war also erfolglos gewesen, Keigo Kiyotaki hatte kein Wort über seine Lippen kommen lassen.
Aus welchem besonderen Grunde dann der geneigte Leser nicht weiter in der Zelle bleiben durfte?
Das soll später bei Gelegenheit erläutert werden, jetzt ist es noch nicht Zeit dazu.
Dann noch etwas anderes, was dem Leser ebenfalls nur angedeutet werden kann.
In derselben Nacht, welche diesem Tage folgte, öffnete sich in der dritten Etage eines Hauses, dessen Eingang in der Bedfordstreet lag, das Fenster eines Hinterzimmers. Ein Mensch bog sich heraus, blickte in den dunklen Hof hinab und sah zu dem finsteren Himmel hinauf, und dann kam eine Hand zum Vorschein und tastete seitwärts nach dem Blitzableiter, und im nächsten Augenblick hing an diesem Blitzableiter zwischen Himmel und Erde die Gestalt eines dunkel gekleideten Mannes, der wieder im nächsten Moment mit der Gewandtheit eines Affen den Blitzableiter emporkletterte, und als er das Dach erreicht hatte, verwandelte sich der Affe in eine Katze, denn mit der Geschicklichkeit einer solchen setzte er seinen Weg auf dem Dache fort, und da gab es kein Hindernis, welches er nicht durch Springen oder Kriechen zu überwinden gewußt hätte.
Der Mann zeigte ein außerordentliches Interesse für Schornsteine, besonders aus dem einen Hause, und mit einem Male war er in demselben spurlos verschwunden. Und der gehörte gerade dem Hause an, in welchem Loftus Deacon ermordet worden war. —
Der Tag, an welchem der Amerikaner den Untersuchungsgefangenen erfolglos besucht hatte, war seit jener Mordnacht der neunte gewesen. Vier Tage später sprachen die Geschworenen über den des überlegten Mordes schuldig Befundenen das Urteil aus, welches diesmal Sir Edward Clane nicht hatte mildern können. Es lautete auf den Tod durch den Strang. Und wiederum vier Tage später mußte dieses Urteil vollstreckt sein.
Die Hinrichtung sollte auf der üblichen Stätte vollzogen werden. Es ist dies in Newgate ein unbedeckter Hof, welcher nichts weiter als den hohen Galgen enthält. Die Flaggenstange steht daneben auf dem Dache eines Hauses, es weht ständig eine weiße Fahne daran, nur bei einer Hinrichtung wird sie durch eine schwarze ersetzt, und an demselben Hause ist auch die elektrisch funktionierende Sünderglocke angebracht.
Sitzplätze für die Zuschauer gibt es nicht, alles muß stehen, ohne Schutz vor der Witterung. Oeffentlich sind diese Hinrichtungen natürlich nicht mehr, Billetts kann man sich nicht kaufen. Es sind aber außer den Richtern und Beamten doch immer noch Zuschauer vorhanden: die Geschworenen, die Zeugen, welche in dem Prozeß mitgewirkt haben, die Berichterstatter der großen Zeitungen, und auch sonst können einzelne Personen Zutritt erhalten, wenn sie sich darum bemühen und Protektion haben.
So war auch Mr. Beken zugegen, um den Japaner sterben zu sehen, dessen Vater er gekannt. Sir Edward Clane hatte ihm auf seine Bitte eine Karte verschafft.
Die letzte Minute war da. Aus dem Portal jenes Hauses kam Keigo Kiyotaki in Begleitung zweier Wächter, in einem grauen Anzug, den Oberkörper in einer Art von Zwangsjacke, an der die Hände und Arme festgeschnallt sind.
Es war ihm nichts anzumerken. Gelassen schritt er über den Hofraum und stieg die breite Treppe zum Galgen hinauf. Auf dem Forum angelangt, mußte er stehen bleiben, die weiße Flagge wurde mit der schwarzen vertauscht, der Richter verlas nochmals das Urteil, der als Gentleman gekleidete Henker sprach seine Formel, legte dem Delinquenten die Schlinge um den entblößten Hals, trat zurück, und alles war fertig; der dem Tode Geweihte stand bereits auf dem Fallbrett.
Bim...bim...bim...
»Haltet ein!!!« donnerte da plötzlich eine Stimme. »Keigo Kiyotaki ist unschuldig!!!«
Mr. Beken war es, der es mit machtvoller Stimme gerufen hatte und dabei mit ausgestrecktem Arm weit vorgetreten war.
Es läßt sich denken, was für eine Bestürzung diese Worte hervorriefen. Selbst das Armesünderglöcklein konnte vor Schreck nicht den vierten Ton hervorbringen — der den Apparat bedienende Beamte hatte den Mechanismus ausgeschaltet.
»Was sagen Sie da?! Mann, wer sind Sie?« erklang es von berufener Seite.
»Keigo Kiyotaki ist unschuldig! Mein Name ist Nobody! Ich bin Berichterstatter von der in New-York und London erscheinenden Zeitung ›Worlds Magazine‹!«
Wiederum eine furchtbare Erregung und überall die zweifelndsten Gesichter.
Wie, das war dieser vielgenannte Nobody, der sich hier hereinmischte, das war der Privat-Detektiv von jener amerikanischen Schwindelzeitung?
Wir werden noch später sehen, weshalb diese Namen in England einen so schlechten Klang hatten.
»Und Sie behaupten, der Verurteilte sei an der Ermordung von Loftus Deacon unschuldig?!«
»Ich behaupte es nicht, sondern ich weiß es! Ich verlange, sofort als Zeuge vernommen zu werden! Keigo Kiyotaki ist völlig unschuldig! Ich habe den wahren Mörder gefunden!!«
Man reißt und schleppt sie vor den Richter,
Die Szene wird zum Tribunal......
Daß eine Hinrichtung unterbrochen wurde, ist nur zweimal passiert, so lange Newgate steht. Dies hier war also der zweite Fall.
Die Wiederaufnahme des Prozesses vor den Richtern geschah sofort — sofort! Freilich nicht auf der Hinrichtungsstätte.
Unterdessen aber hatten auch schon die Richter die Nummer von‹Worlds Magazine‹ in die Hände bekommen, beim dritten Glockenzeichen ausgerufen, in dem Augenblick, als jener Nobody mit seiner Behauptung aufgetreten war, und was man da zu lesen bekam, das war unerhört! Alles war wie vor den Kopf geschlagen, am allermeisten die Richter.
Aber wehe, wehe, wenn dieser Mann, der sich Nobody nannte, hier einen seiner genialen Yankeestreiche zum besten geben wollte!!!
»Ihr Name?«
»Nobody.«
»Vorname?«
»Habe keinen.«
»Wann sind Sie geboren?«
»Ich spreche nicht über meine Vergangenheit, ich verlange, mit Keigo Kiyotaki konfrontiert zu werden, um hier öffentlich seine Unschuld zu beweisen, um einen Justizmord zu verhüten.«
Es lag hier ein solch außergewöhnlicher Fall vor, daß alles andere als Nebensache betrachtet wurde.
Keigo Kiyotaki ward nun wieder als Untersuchungsgefangener vorgeführt. Man sah ihm an, wie unwirsch er war, wie er seine alte Gleichgültigkeit gegen alles zwar noch zu heucheln suchte, aber mit wenig Glück. Mit geheimer Angst blickte er auf den alten Herrn, welche Maske Nobody beibehielt.
»Keigo Kiyotaki,« redete ihn dieser, dazu aufgefordert, jetzt an, »hast du an jenem Tage, an welchem du dich in London aufhieltest und an welchem Loftus Deacon ermordet worden ist, mit diesem gesprochen?«
»Nein.«
Es war das erste Wort, welches man wieder von dem jungen Japaner hörte, und es war so unsicher herausgekommen.
»Du hast ihn gesprochen! Ich weiß es bestimmt!« rief Nobody in fast drohendem Tone. »Wo hast du ihn gesprochen?«
Keine Antwort. Der Japaner bereute schon sein erstes Wort. Er wollte wieder stumm werden.
»Am Abend in der sechsten Stunde, gerade, als die Figur in das Haus geschafft wurde und die Hausflur voller Menschen war, hast du dich zu ihm begeben, in sein Haus, hast mit ihm unter vier Augen gesprochen. Stimmt das nicht?«
Der Japaner riß nur die Augen weit auf und starrte den Sprecher an.
»Dann müßte er doch gesehen worden sein,« meinte einer am Richtertisch.
»So? Dann müßte er auch gesehen worden sein?« wiederholte Nobody spöttisch. »Ich denke, es sei so einfach für den Mörder gewesen, sich in dem Hause, in dem es damals so lebhaft zuging, ein- und auszuschleichen? — Keigo Kiyotaki, hat dir Loftus Deacon das Masamune-Schwert nicht freiwillig ausgehändigt?«
»Ja,« erklang es wieder gepreßt.
»Ach, daran ist ja gar nicht zu denken,« wurde abermals am grünen Tisch gesagt. »Mr Deacon hätte nicht für alle Schätze der Welt...«
»Bitte, so unterbrechen Sie meine Beweisführung doch nicht immer!« rief Nobody ungeduldig. »Ich habe Ihnen doch soeben gezeigt, daß Sie sich selbst widersprechen. — Keigo Kiyotaki, was hast du ihm für dieses Masamune-Schwert gegeben?«
Lange blieb die Antwort aus, mit fest zusammengepreßten Lippen stierte der Japaner auf den ihm unbekannten Mann, und unverkennbare Angst sprach aus seinen Augen.
»Nichts,« erklang es dann heiser, und jetzt wurden auch die Richter stutzig.
Nobody streckte den Arm gegen ihn aus.
»Keigo Kiyotaki,« sagte er, jedes Wort betonend, »du — hast — ihm — ein — ›Monikono‹ dafür gegeben!!«
Es war nicht anders, als ob der Japaner plötzlich vom Blitze getroffen worden wäre. Einen gellenden Schrei ausstoßend schlug er die Hände vor das Gesicht und stürzte rücklings zu Boden. Die herbeispringenden Konstabler fanden ihn zwar nicht tot, aber er war nicht zum Aufstehen zu bewegen, er mußte hinausgetragen werden.
In dem Gerichtssaale war ein kleiner Tumult entstanden. Erklären konnte sich das hier vorliegende Rätsel niemand.
»Armer Kerl,« ließ sich Nobody vernehmen, als die Ruhe wiederhergestellt war, »ich mußte ihn vernichten, um ihn retten zu können.«
»Aber so erklären Sie doch! Was ist das eigentlich, ein Monikono? Mr. Scott, wissen Sie das?«
Der Gefragte, welcher bei den Gerichtsverhandlungen als Sachverständiger über japanische Verhältnisse fungiert hatte, gab eine Erklärung.
Monikono war gleichfalls ein japanischer Waffenschmied, welcher Katanas fertigte. Aber während Masamune im vierten Jahrhundert nach Christi lebte, hat Monikono seinen Beruf noch vor Beginn unserer Zeitrechnung ausgeübt. Sind schon die Masamune-Schwerter in Japan sehr selten und so wert gehalten, daß nur das Petersburger Museum durch Zufall in den Besitz eines solchen gekommen ist — und dann also Loftus Deacon — so existierte von den Monikono-Schwertern auch in Japan überhaupt nur ein einziges Exemplar.
»Ich kann mir gar nicht denken, Herr, wie dieser junge Japaner zu einem Monikono-Katana gekommen sein soll,« wendete sich der Sachverständige an Nobody, »ich weiß bestimmt, daß sich nur noch ein einziges Monikono vererbt — das ist im Besitze des Mikado.«
»Nun, es hat früher doch noch andere Monikonos gegeben, wo sind denn die alle hin?«
»Die ruhen sämtlich in japanischen Fürstengräbern, das kann ich beweisen.«
»Na ja, ganz einfach, der Junge hatte eine solche Liebe oder einen solchen Respekt vor seinem Vater, daß er vor nichts zurückschreckte. Der ist damals, als ihm Deacon das Katana gegen Geld nicht aushändigen wollte, wieder nach Japan gegangen und hat ein Fürstengrab geplündert. Bei einem Monikono griff der alte Raritätensammler natürlich mit beiden Händen zu, dafür gab er sein Masamune gern her.«
Daß hier etwas ganz Außergewöhnliches vorlag, erkannten die Richter hauptsächlich an dem Benehmen des Sachverständigen. Dieser blickte starr nach dem Sprecher, schnalzte mit den Fingern und stieß, seine Umgebung vergessend, einen langen Pfiff aus.
»Wahrhaftig, das wäre eine Lösung! Um diesen Preis hätte Mr. Deacon das Masamune wohl weggegeben!«
»Deacons Diener, Mr. Jensy,« fuhr Nobody fort, sich wieder gegen den Richtertisch wendend, »will doch noch gegen zehn Uhr abends das Schwert auf dem Altar vor den Füßen des Götzen haben liegen sehen.«
»Allerdings.«
»Nein, das war nicht mehr das Katana des Masamune, das war schon das Monikono! Weil Mr. Deacon gar nichts davon gesagt hat? Zu wem sollte er denn seiner Freude gleich Ausdruck geben? Und das können Sie mir glauben, daß er dem Japaner, der heimlich unter falschem Namen seine Heimat verließ und nach London kam, sein heiligstes Versprechen abgeben mußte, diesen Tausch nicht gleich auszuposaunen, eine Zeit mußte er wenigstens vergehen lassen, und niemals durfte er verraten, von wem er das Monikono bekommen hatte.«
»Ja, wo ist das Monikono aber jetzt?«
»Das hat sich eben der eigentliche Mörder angeeignet.«
»Sie wollen diesen Mörder gefaßt haben?«
»Nicht gefaßt, sondern entdeckt.«
»Wer ist es?«
»Ein Werftarbeiter Namens Slackjaw.«
Durch die Reihen der im Saale postierten Konstabler ging eine unruhige Bewegung, mit bestürzten Augen sahen sie einander an.
»Wissen Sie, wo dieser Mann jetzt ist?«
»Ja.«
»Wo?«
»Er befindet sich noch jetzt in Mr. Deacons Wohnung!«
Deacons Haus war entsiegelt worden, es wurde von einer richterlichen Kommission betreten — höchst, höchst vorsichtig, denn Nobody hatte sich nicht weiter ausgelassen, er blieb bei seiner Behauptung, der Mörder stecke noch in der Wohnung, und nun glaubte jeder der Herren, in dem einsamen Hause den Mörder plötzlich hinter einer Ecke hervorspringen zu sehen.
»Hier riecht es aber übel,« meinte ein Herr, als das erste Zimmer geöffnet wurde.
»Nein, hier stinkt's sogar ganz tüchtig,« sagte Nobody trocken.
Als aber nun gar die Tür desjenigen Zimmers aufgeschlossen wurde, in welchem der Mord geschehen, da schlug ihnen eine wahre Pestlust entgegen.
»Hier liegt eine verwesende Leiche!!«
Den Herren war überhaupt schon eine Ahnung aufgegangen, nur gerade dieses Zimmer, in welchem Hachiman noch am Boden kauerte, hatte keiner in das Reich seiner Vermutungen gezogen.
»Treten Sie ein, meine Herren, wir sind am Ziel.«
Nobody ging ohne weiteres auf den Götzen zu, trat auf dessen ehernes Knie, so daß er den Zierrat auf dem Helm erreichen konnte, drehte diesen etwas und sprang wieder herab.
Daß dieser Zierrat zu drehen war, das hatten die Detektivs und Ingenieure damals auch bemerkt, und sie hatten genug daran herumgeleiert, aber einen Mechanismus, durch welchen das Schwert beweglich wurde, hatten sie dadurch nicht entdeckt.
»Jetzt muß die Figur wieder auf das Postament gehoben werden. Oder es ist ja auch nicht nötig, wir brauchen sie nur umzulegen.«
Es waren kräftige Konstabler genug zur Stelle, es gelang ihnen, den ehernen Götzen sanft zur Seite zu legen.
»Die Figur ist hohl, und es ist Ihnen doch bekannt, daß Hachiman, wenn ihm ein Schwert geweiht wurde, Feuer und Rauch ausspie. Da war doch natürlich ein Priester drin, der diesen Hokuspokus machte. Wie kam der hinein? Einfach durch ein sogenanntes Loch. Passen Sie auf, meine Herren!«
Er stemmte die Hand gegen den Teil, auf welchem der Götze für gewöhnlich saß, der also jetzt bloßgelegt worden war, aber wie er auch drückte und was für andere Kraftanstrengungen er auch machte, es zeigte sich kein Erfolg.
Und was sollte denn auch geschehen? Die Ingenieure hatten die Figur doch gründlich genug untersucht, auch hier unten war keine Fuge eines Deckels zu bemerken, der etwa ein Mannloch verschlossen hatte. Alles war eben aus einem Guß.
»Nanu,« murmelte Nobody. »So schwer kann die Geschichte doch nicht gehen, und ich kenne meinen Freund Hachiman doch gut genug, um zu wissen, wo bei dem der Zimmermann das Loch gelassen hat. Sollte da... ach so, der Helmschmuck hat sich bei dem Umlegen wieder etwas verschoben. Der Schnabel muß nämlich genau nach der Schwertspitze weisen. Der Mechanismus ist sehr einfach, aber doch auch ganz genau gearbeitet.«
Er ging noch einmal nach dem Kopf, visierte, verbesserte die Stellung des Zierrates, begab sich zu den Füßen zurück, ein leiser Druck, und polternd stürzte eine Platte ins Innere, so daß ein großes Loch entstand.
Also doch ein Deckel, niemand hätte es für möglich gehalten. So genau war dieser Deckel hineingearbeitet worden.
Doch das war jetzt Nebensache. Mit einiger Scheu drängten sich die Herren herbei und starrten in das finstere Loch, aus welchem jetzt ein schrecklicher Geruch hervordrang.
Unbekümmert griff Nobody hinein, zog an etwas — — ein mit einem plumpen Schuh bekleideter Fuß kam zum Vorschein — — Nobody zog weiter, bis am Boden der ganze Mann lag, ein in Arbeitszeug gekleideter Mensch, klein und etwas verwachsen, zum Gerippe abgemagert, schon etwas verwest.
»Slackjaw!!« riefen zwei Konstabler gleichzeitig, wie alle übrigen mit Entsetzen auf die Leiche blickend.
Nobody griff nochmals in das Loch, suchte mit der Hand darin, steckte sogar den Kopf hinein, bis er eine leere Schnapsflasche zum Vorschein brachte.
»Hier hatte er zunächst für Trinken gesorgt, oder doch für geistige Erfrischung... hier... ein Stück Zeitungspapier mit Fettflecken — — da hatte er ein großes Butterbrot eingewickelt... 's war aber nicht genug, um ihn vor dem Verhungern zu schützen... und hier... halt, was habe ich denn hier? —
richtig, ein Monikono! Bitte, Mr. Scott, wollen Sie es auf seine Echtheit prüfen.«
Er gab jenem das aus dem Innern hervorgezogene japanische Schwert, nicht anders als jenes andere aussehend, nur die blanke Klinge mit getrocknetem Blut bedeckt, und dann mit dem Zeichen eines anderen Waffenschmiedes.
»Ein Monikono!« hauchte Mr. Scott.
Sie alle blickten furchtsam nach diesem Schwerte, furchtsam nach der am Boden liegenden Leiche, am allerfurchtsamsten aber nach dem rätselhaften Manne, welcher der ganzen Sache plötzlich solch eine Wendung gegeben hatte. —
Wir wollen nicht dabei sein, wenn Nobody noch angesichts der Leiche seine Erklärung gibt, wir fassen alles kürzer zusammen.
Slackjaw — ein Spitzname, seinen richtigen Namen kannte man gar nicht, und in England gibt es keine Arbeitsbücher und dergleichen, so wenig wie eine polizeiliche Anmeldung — war schon seit mehreren Jahren in Costenobles Lagerschuppen als Arbeiter beschäftigt. Obgleich er den Montag regelmäßig blau machte, manchmal noch den Dienstag, einmal auch gleich eine ganze Woche wegen einer Prügelei oder wegen eines in der Trunkenheit verübten Unfugs hinter Schloß und Riegel saß, hatte er immer seinen Posten behalten. Denn sonst war er ein recht anstelliger Bursche; wenn im Lagerraum einmal eine große Kiste verstaut war, oder wenn der Aufseher sein Notizbüchelchen verlegt hatte, so wurde Slackjaw gerufen, der fand alles, der brauchte gar nicht erst zu suchen, der wußte alles, und trotz seiner von Leidenschaften entstellten Physiognomie und seines tückischen Blickes war er immer ehrlich gewesen und verträglich mit seinen Kameraden.
Die Detektivs freilich, die interessieren sich für solche Physiognomien, die kennen doch ihre Kunden, und wenn Slackjaw wieder einmal wegen Trunkenheit eingesperrt war, so besuchten sie ihn gern in seiner Zelle, das Verbrecheralbum mitnehmend. Wenn man nur genau gewußt hätte, wo er sich früher aufgehalten, denn der hatte doch sicher schon manches auf dem Kerbholze! Allein es gelang nicht, in dem geriebenen Burschen einen alten Bekannten wiederzufinden.
Daß er seit fast drei Wochen verschwunden gewesen, war der Polizei wohl bekannt, aber sie hatte sich nicht weiter darum gekümmert. Slackjaw war jedenfalls in seinen alten Lebenswandel zurückgefallen.
Jetzt war er tot und konnte nicht mehr erzählen. Das Nachfolgende ist also nur eine Kalkulation Nobodys, welche jetzt freilich auch jeder andere der Herren hätte aufstellen können, ohne besonderen Scharfsinn zu besitzen.
Der eherne Kriegsgott besaß also eine Vorrichtung, um ins Innere gelangen zu können. Die bewegliche Helmkuppel drehte eine im Innern befindliche Eisenstange, die unten wieder einen Querstab oder einen großen Riegel hatte. Lag der Riegel auf der Platte, welche unten die Oeffnung verschloß, so konnte die Platte nicht gehoben noch sonst bewegt werden, und das Ganze war so genau gearbeitet, daß man von dem Deckel gar nichts merkte. Wurde der Riegel zurückgeschoben, wozu aber der Mechanismus des Helmes ganz genau eingestellt werden mußte, so konnte die Platte mit leichter Mühe ins Innere gedrückt werden.
Der Zweck dieser Vorrichtung ist ja ganz klar. Die japanischen Priester trieben eben mit Hachiman ihren Hokuspokus. Das heißt, jetzt war es allen den Herren ganz klar. Es hatte sogar ganz den Anschein, als ob auch der vorige Besitzer des Kriegsgottes, Monsieur Delcassé, von dieser Vorrichtung gar nichts gewußt habe.
Slackjaw nun hatte den geheimen Mechanismus entdeckt, während der Götze im Lagerschuppen gestanden hatte. Auf welche Weise er ihn gefunden? Das war und blieb ein Geheimnis des Toten. Es konnte ein blinder Zufall gewesen sein, Slackjaw war aber auch solch ein Bursche, der überall herumspionieren und herumschnüffeln muß, und ein ganz pfiffiger Kopf war er obendrein.
Kurz und gut, er hatte eben diese geheime Vorrichtung entdeckt. Und nun mag in ihm gleich der Plan entstanden sein. Er hütete seine Entdeckung sorgfältig und beobachtete mit Spannung, ob die Platte auch einmal von einem anderen gelüftet werde. Als dann Loftus Deacon den Götzen schon gekauft hatte, die eherne Figur genau untersuchte, ob an dem Guß nichts gesprungen sei, und er prüfte nicht den Mechanismus, da war es ganz selbstverständlich, daß er auch nichts von diesem wußte.
Jetzt war Slackjaws Plan fix und fertig. Wenn er sich nach einem verbrecherischen Leben vielleicht vorgenommen hatte, durch ehrliche Arbeit sich zu ernähren, so konnte er sich doch nicht solch eine günstige Gelegenheit entgehen lassen, mit einem Schlage ein reicher Mann zu werden.
Slackjaw war nämlich schon öfters in Deacons Wohnung gewesen, hatte Kisten hinbringen müsfen, war bis in die Schatzkammern gekommen, hatte das Gold und die Juwelen an den indischen Gewändern und Waffen funkeln sehen, und wenn in diesem Distrikt fast jedes Kind die Gewohnheiten des alten Sonderlings kannte, so noch besser Slackjaw, jedenfalls ein ehemaliger Einbrecher, der seine Lust am Spionieren hat.
Also an jenem Tage, an welchem Deacon den Götzen nach seinem Hause überführen lassen wollte, kroch Slackjaw, mit einer Brechzange versehen — man fand sie dann in seiner Tasche — und eine Flasche Schnaps und etwas zu essen mitnehmend, zu geeigneter Zeit in den metallenen Leib hinein und schob inwendig den Riegel wieder über die Platte.
So, nun kam es darauf an, ob man ihn doch noch entdecken würde. In diesem Falle hätte er schon eine Ausrede gehabt. Er war eben in die Figur gekrochen, war betrunken gewesen, war eingeschlafen, das Instrument war nichts weiter als eine Gaszange — jedenfalls hätte es nicht sehr schlimm für ihn ablaufen können.
Doch es gelang. Von dem Mannloch mit der abnehmbaren Platte wußte wirklich niemand etwas, und den starken Arbeitern, welche den Koloß von sechs Zentnern Gewicht auf den Wagen heben mußten, kam es auf so eine Last, wie der kleine Bursche war, auch nicht an. Im Lagerschuppen wurde Slackjaw nicht vermißt, er machte wieder einmal blau.
So, er befand sich im Hause von Loftus Deacon. Jetzt hieß es geduldig warten bis zur Nacht; sehr unangenehm in dem engen Gefängnis, in dem er wegen der Eisenstange nicht einmal aufrecht stehen konnte, aber dann auch welcher Lohn! Wenn alles ganz still im Hause war, dann schlüpfte er heraus, Streichhölzer hatte er bei sich, das genügte, nun zusammengerafft und von Edelsteinen losgebrochen, so viel in die Taschen und in ein Tuch ging, dann ein Parterrefenster aufgeriegelt und hinausgesprungen, und wo er Gold und Juwelen in bare Münze verwandelte, mochte er schon von früher her wissen, und London ist groß, die Welt noch größer.
Slackjaw hörte den ganzen Nachmittag die Leute in dem Zimmer wirtschaften, zuletzt nur noch den Hausherrn, es wurde Abend, es wurde Nacht, Deacon schickte die Diener zu Bett, ging selbst, Slackjaw hörte Uhren schlagen, und um Mitternacht glaubte er, nun ans Werk gehen zu können.
Er verließ sein Versteck — da trat Deacon mit der brennenden Lampe ein.
Was nun weiter geschah, ist alles schon einmal geschildert worden, nur in bezug auf Keigo Kiyotaki, und daß es das von diesem neu erhaltene Schwert des Monikono war, welches auf dem Altar so recht handbereit lag, das Slackjaw ergriff und mit ihm die zwei mörderlichen Hiebe nach dem alten Herrn führte, und dann schließlich, daß der Verbrecher, als Jensy rief und an die Türe pochte, wieder in den Leib des Götzen zurückkroch und den Riegel vorschob. Das Schwert hatte er mitgenommen.
Die Diener stürzten herein, Polizisten und Detektivs kamen.
Als der Mörder in der Wohnung nicht gefunden wurde, wandte man seine Aufmerksamkeit dem ehernen Götzen zu, hob ihn zur genaueren Untersuchung von seinem Postamente herunter...und Slackjaw war gefangen!
In Slackjaws Programm war überhaupt ein Rechenfehler gewesen. Das Piedestal, auf welchem der Götze saß, war nur ein eisernes Gestell mit vier Füßen, die Figur paßte gerade auf den oberen Rahmen. Sonst hätte man ja auch nicht von unten hineinkriechen können. Gesetzt nun den Fall, Deacon hätte für den Kriegsgott in seinem Museum ein anderes Untergestell gewählt, ein massives Postament, oder nur eines mit einer oberen Platte, so wäre Slackjaw überhaupt gefangen gewesen. Mit dieser Möglichkeit hatte er nicht gerechnet, oder aber vielleicht wußte er auch schon ganz bestimmt, daß Deacon den Götzen bei sich auf dem eisernen Gestell, einer kunstvollen japanischen Schmiedearbeit, ruhen lassen würde.
Jetzt aber, wie die Figur auf den Boden gesetzt wurde und dort stehen blieb, saß der Mörder in der Falle fest! Er konnte nur hoffen, daß man den Götzen wieder auf das hohle Postament heben oder ihn doch umlegen würde, und daß einmal kein Mensch im Zimmer wäre. Dann hätte Slackjaw sich natürlich schleunigst befreit und durch ein Fenster entfernt bei Nacht oder selbst bei Tag.
Es sollte anders kommen. Man ließ den Götzen eben am Boden sitzen. Was der Mörder in dem engen Gefängnis ausgestanden, das kann sich wohl kein Mensch ausmalen. Und am zweiten Tage wurde das Haus verlassen und versiegelt. Mochte der Eingekerkerte nun um Hilfe gerufen haben — man hatte seine vor körperlicher Erschöpfung schon ganz geschwächte Stimme draußen auf der Straße nicht mehr gehört. So war er verhungert. —
So lautete Nobodys Erklärung, und es konnte ja auch gar nicht anders sein.
Aber jetzt gab es ein noch viel größeres Rätsel zu lösen, so groß, daß man es kaum fassen konnte.
»Mensch — Mann — Mr. Nobody — — sind Sie denn nur allwissend?!«
Ein feines Lächeln umspielte den faltigen Mund des Mannes, der seine jetzige Yankee-Maske beibehielt, als er mit einem klassischen Zitat, welches auch jeder gebildete Engländer kennt, so gut wie jeder gebildete Deutsche den englischen Shakespeare, erwiderte:
»Allwissend bin ich nicht, doch viel ist mir bewußt.«
»Sie müssen doch schon vorher in diesem Hause gewesen sein und Ihre Untersuchungen angestellt haben.«
»Ich? Nein. Wie soll ich denn in dies versiegelte Haus gelangen können? Kalkulation, meine Herren, nichts weiter als Kalkulation!«
Man mußte vorläufig die fieberhafte Neugier bekämpfen, erst war die Pflicht zu erledigen. Es wurde alles zu Protokoll genommen, und als dies fertig und verlesen war, mußten es die Anwesenden unterschreiben.
»Mr. Nobody, bitte, wollen Sie hier Ihren Namen daruntersetzen.«
Aber kein Mr. Nobody war mehr da. Er hatte sich unterdessen unsichtbar gemacht, ließ sich auch nicht wieder sehen. Destomehr bekam man von ihm noch zu hören.
Draußen auf der Straße begannen wieder die Zeitungsjungen zu johlen.
»Worlds Magazine, die große Schwindelzeitung der Welt, drei Pence die Nummer!!! — Ausführliche Beschreibung, wie Detektiv Nobody, der größte Schwindler der Welt, den wahren Mörder von Loftus Deacon gefunden hat!!! — — Worlds Magazine, die größte Schwindelzeitung der Welt, sechs Pence die Nummer — einen Schilling die Nummer!!!«
O, das waren Hiebe, welche da die kleinen Zeitungsteufel diesen Herren vom Gericht wie dem ganzen englischen Publikum versetzten.
Inwiefern? Warum es immer ›Schwindelzeitung‹ heißt?
Das hat eine Vorgeschichte.
›Worlds Magazine‹ erschien bereits seit einem halben Jahre, so lange war Nobody für die von ihm gegründete Zeitung schon als Hauptmacher tätig, in jener Weise, wie eben geschildert wurde. Aber seine Tätigkeit hatte sich bisher ausschließlich auf Amerika erstreckt.
Dort in Amerika war Nobody schon längst der Held des Tages, denn dort hatte er schon viele Verbrechen und rätselhafte Fälle aufgedeckt, vor denen Justiz, Polizei und Publikum ratlos gestanden hatten, dort in Amerika war ›Worlds Magazine‹ schon längst ein unabweisbares Bedürfnis geworden, welches in keinem Palast und in keiner Hütte fehlen durfte, und daher hatte diese neue Zeitschrift fast schon die Auflage von einer Million erreicht.
Natürlich kamen einzelne Nummern auch immer nach England und den englisch sprechenden Kolonien. Und was sagte man hier?
»Schwindel, alles Schwindel! Amerikanischer Humbug! Dieser Nobody existiert ja gar nicht! Das ist ja nur eine fabelhafte Persönlichkeit, die Ausgeburt der Phantasie einer schwindelhaften amerikanischen Sensationszeitung. Na, uns sollen die Yankees mit solchem Humbug verschonen!«
Ja, so ist es! Alles, was aus Amerika kommt, muß Schwindel sein. Und der Blamierte ist dann jedesmal der, welcher ›Schwindel!‹ geschrien hat.
Sollen Beispiele angeführt werden, daß es in unserem lieben Deutschland genau so ist? Dann nur zwei, von einer ganz anderen Art, aber auch einen einzelnen Mann betreffend.
Da ist in Amerika ein Erfinder, Edison heißt er, von dem berichteten eines Tages die amerikanischen Zeitungen, daß er einen Apparat erfunden habe, welcher sprechen und singen könne, die menschliche Stimme würde ganz genau wiedergegeben.
Und da war in allen Zeitungen zu lesen: »Das ist wieder einmal so ein amerikanischer Schwindel!« — und heute kann man einen Phonographen schon für fünf Mark kaufen!
Dann meldeten die amerikanischen Zeitungen von demselben Manne, er könne lebendige Photographien herstellen, auf den Bildern bewege sich alles.
»Schwindel, wieder einmal so ein echt amerikanischer Schwindel!«
So erklang es hohnlachend.
Und heute? Überall sind Automaten aufgestellt, man steckt einen Groschen hinein, da sieht man die Figürchen zappeln, und in den Variétés bewegen sie sich an der Wand in Lebensgröße.
Oder ist es nicht so? Ja, es ist so! Und das sind nur zwei Beispiele, es könnten aber hunderte angeführt werden. Man sollte mit dieser Schwindelschreierei endlich einmal aufhören. Wer zuletzt lacht, lacht am besten — und das sind bisher immer die Yankees gewesen. —
So verächtlich war also auch in England über dieses neue amerikanische Sensationsblatt und über seinen geheimnisvollen Berichterstatter, den sogenannten Nobody, gesprochen worden.
Und da war dieser geheimnisvolle Unbekannte einmal nach London gegangen, um den hohnlachenden Spöttern Keulenhiebe zu versetzen, von denen sie sich nicht so bald wieder erholen sollten.
Aber das wurde natürlich alles von langer, langer Hand vorbereitet. Damals freute sich Loftus Deacon noch seines Lebens. Man mußte irgend einen sensationellen Fall abwarten, der das Signal zum Angriff gab.
In der Fleetstreet war eine große Rotationsdruckerei gemietet worden. Kunnert Söhne nannte sich die neue Firma. Die ganze Fleetstreet, welche ausschließlich aus Buchdruckereien und Zeitungsverlagen besteht, wunderte sich nicht wenig über diese neue Konkurrenz. Das war ja eine ganz merkwürdige Firma! Tadellos eingerichtet, alles vorhanden, voll mit Personal besetzt, vom ersten Redakteur an bis zum letzten Setzer und Druckerlehrling und bis zum Kesselheizer — und alle diese Leute durften den ganzen Tag Karten spielen und erhielten dafür ihren Wochenlohn, und das ging nun schon sechs Wochen lang so fort!
Da wurde Loftus Deacon ermordet.
In der Druckerei von Kunnert Söhne regte sich deshalb noch nichts. Die Angestellten mußten nach wie vor am Morgen pünktlich erscheinen, das war das einzige, was man von ihnen verlangte, sie spielten bis zum Mittag ihren ›Jocker‹, gingen zu Tisch, kamen wieder und spielten ihren Jocker weiter.
Der rätselhafte Mord beschäftigte alle Zeitungen der Welt.
›Worlds Magazine‹ erzählte auch davon, das war die Zeitung besonders ihren Abonnenten auf einsamen Farmen und im Hinterwalde schuldig, aber ohne weitere Zutat.
In der nächsten Nummer jedoch hieß es: Wir haben unseren Detektiv Nobody nach London geschickt, um diesen mysteriösen Fall aufzuklären, denn wir sind der Ansicht, daß Keigo Kiyotaki unschuldig ist.
Aber — wohlverstanden! — da hatte Nobody die Wahrheit bereits herausgefunden! Da war er schon mit Sir Clane in der Zelle von Keigo Kiyotaki und heimlich in dem versiegelten Hause gewesen! Da war ihm schon alles ganz klar!
Und das ist der stets wiederkehrende Trick dieses Mannes gewesen, wodurch er in den Ruf der Allwissenheit kam.
Acht Tage später mußte Keigo Kiyotaki das Fallbrett des Galgens besteigen. Nobody, obgleich von seiner Unschuld schon überzeugt, ließ ihn ruhig steigen.
Als die Angestellten von Kunnert Söhne an diesem Morgen nach der Fabrik gingen, hätten sie bald das Haus nicht gefunden. Denn die Firma ›Kunnert Söhne‹ war verschwunden, dafür prangte an dem Hause ein anderes riesengroßes Plakat — ›Worlds Magazine‹.
Nun, die Leute wurden eingeladen, näherzutreten, und als sie alle drin waren, wurden hinter ihnen sämtliche Türen verschlossen, und jetzt ging es mit Volldampf los. Gesetzt waren die paar Seiten schon, es brauchte bloß noch gedruckt zu werden, die Zeitungsjungen waren auch schon da, und als es so weit war, wurde die Bande losgelassen.
»Wenn in Newgate die Sterbeglocke den dritten Ton von sich gibt, fangt ihr zu brüllen an.«
Diese Nummer enthielt nichts weiter als ein Resümee über den ganzen Fall und dann zum Schluß die fettgedruckte Bemerkung: »Soeben erhalten wir von unserem Detektiv Nobody die Nachricht, daß er den wirklichen Mörder gefunden hat, daß also Keigo Kiyotaki unschuldig ist!«
War das vielleicht noch nicht genug? Als man dies las, stand der Japaner schon auf dem Fallbrett, seine Sterbeglocke läutete schon!
Und zwei Stunden später fing die Brüllerei der kleinen Zeitungsteufel abermals an, sie boten eine Extranummer von ›Worlds Magazine‹ feil.
Was erzählte diese? Ganz genau alles das, was sich in diesem Augenblicke in Deacons Hause ereignete, wie die Gerichtskommission es betrat, wie es darin so übel roch, wie Nobody den Götzen umlegen ließ, wie er daraus die Leiche hervorzog, das Monikono-Schwert usw.
Und mit welchem Raffinement hier gearbeitet worden war, davon nur ein einziges Beispiel:
Nobody hatte doch nicht gleich den Deckel eindrücken können, war bestürzt gewesen, bis er merkte, woran es lag... »Ach so, der Helmschmuck hat sich bei dem Umlegen wieder etwas verschoben...«
Auch dies war schon in der Zeitung zu lesen, welche doch früher gesetzt und gedruckt war, ehe sich dies in Wirklichkeit ereignete, ehe Nobody diese Worte in Wirklichkeit sprach.
Wie ist das möglich? Ganz einfach, das war alles Berechnung gewesen — daß er den Mechanismus nicht richtig eingestellt, seine Bestürzung — alles, alles Absicht und Berechnung!
Nobody hatte ein Schauspiel geschrieben, dann führte er es vor dem Publikum auf, und daß alles klappt, das ist die Kunst des Regisseurs. Und so machte er es immer und stets, und daher seine fabelhaften Erfolge, die ihn immer mehr und mehr in den Ruf eines allwissenden Menschen brachten, der unbedingt mit der Geisterwelt in Verbindung stehen mußte.
Aber um sich diesen Ruf zu erhalten, durfte er natürlich seine Tricks nicht verraten. ›Worlds Magazine‹ erzählte von seinem Erfolg, alle anderen englischen und amerikanischen Zeitungen erzählten es nach, das Publikum sperrte Maul und Nase auf — und damit genug! Wie er es jedesmal zustande gebracht, davon hat man niemals etwas lesen können, oder aber, man erging sich in den ungeheuerlichsten Vermutungen, geriet auf die seltsamsten Ideen.
Wir aber schöpfen aus einer anderen Quelle, aus Nobodys Tagebuch. Freilich können die Erklärungen nur nach und nach erfolgen. —
»Ein Mann wünscht Sie zu sprechen, Sir Clane; er sieht aus wie ein Fischer oder wie ein Seemann.«
Schon seit langer Zeit war der Rechtsanwalt rastlos in seinem von zwei Gaslampen erleuchteten Arbeitszimmer auf- und abgewandert, als ihm sein Diener diese Meldung machte.
»Bringt er eine Nachricht über Keigo Kiyotaki?« fragte er hastig.
»Ich weiß nicht, Sir...«
»Oder ist sonst nichts über den Japaner eingelaufen? Ist sein Aufenthalt noch nicht ermittelt worden?«
»O, Herr, ich würde es Ihnen doch sofort sagen,« entgegnete der alte Diener gekränkt.
»Ja, ja, du hast recht, Fred, du mußt Nachsicht mit der Ungeduld deines Herrn haben. Laß den Mann hereinkommen.«
Der Eintretende war in den Augen seines Dieners deshalb kein ›Herr‹, weil er ein wollenes Wams und hohe Seestiefel trug. Es war die kräftige, breitschultrige Gestalt eines noch jungen Mannes, das hübsche, offene Gesicht mit dem weißen Bärtchen von Wind und Sonne rotbraun gefärbt, eine echte Seemanns- oder richtiger Fischergestalt.
»Guten Abend, Sir Clane.«
»Guten Abend, mein lieber Mann, was wünschen Sie?«
»Ich höre, daß Sie den heute abend aus dem Gefängnis entlassenen Keigo Kiyotaki von der Polizei suchen lassen.«
»Ja, ich wollte den jungen Japaner sofort empfangen, aber die Entlassung erfolgte früher, als ich dachte, ich fürchte das Schlimmste für den jungen Mann...«
»Ihre Sorge war nicht ungerechtfertigt, aber jetzt können Sie beruhigt sein, ich selbst habe Keigo Kiyotaki abgefangen und ihm die Mucken aus dem Kopfe getrieben, er ist und bleibt bei mir, wir haben schon gute Freundschaft geschlossen.«
Der Rechtsanwalt stutzte. War das die Sprache und das Auftreten eines gewöhnlichen Fischers?
»Bei Ihnen? Wer sind Sie?«
»Sie erkennen mich wirklich nicht?« lächelte der Mann.
»Nein.«
»Nobody ist mein Name.«
Es dauerte lange, ehe der Rechtsanwalt dies glauben konnte. Der Unterschied zwischen dem alten, blassen Yankee und diesem jungen Fischer mit dem roten, vor Gesundheit strotzenden Gesicht war ein gar zu gewaltiger.
Nobody mußte ihm erst einige Proben aus ihrer früheren Unterhaltung geben.
»Nun sagen Sie bloß, Sie geheimnisvoller Mann, wie haben Sie dieses Rätsel heute nur so schnell lösen können?! Ich glaube wahrhaftig, Sie stehen mit Geistern in Verbindung.«
»Ist Ihnen so durchaus unerklärlich, auf welche Weise ich die richtige Lösung herbeiführte?«
»Durchaus.«
»Mit Ihnen, Sir Clane, möchte ich eine Ausnahme machen, ich fühle mich sogar verpflichtet, Ihnen eine Erklärung zu geben, weil ich auch Sie getäuscht habe. Aber Sie müssen mir Ihr Ehrenwort geben, niemandem zu verraten, was ich Ihnen jetzt sage.«
»Sie haben mein Ehrenwort.«
»Ich war ganz einfach schon vorher in Deacons Wohnung und habe dort meine Untersuchungen angestellt. Daß ein Mensch in der Wohnung sein mußte, roch ich sofort, dazu hätte ich keine so besonders feine Nase zu haben brauchen. Der Geruch führte mich nach der Figur des Kriegsgottes... und alles andere können Sie sich wohl selbst erklären.«
»Ganz und gar nicht! Wie wollten Sie denn in das Haus gelangen? Alle Türen und Fenster waren doch versiegelt.«
»Aber nicht die Schornsteine!«
»Sie wollen damit sagen, daß Sie durch einen solchen hineingekrochen sind?«
»Hinein und auch wieder heraus. Das ist doch gar kein so ungewöhnlicher Weg. Nur darüber sprechen darf man nicht, sonst nimmt man mich beim Schlafittchen. Ich habe Ihr Ehrenwort.«
»Ich verstehe noch längst nicht. Sie überzeugten sich bei Ihrem heimlichen Besuch, was sich in dem Innern des Götzen befand?«
»Gewiß, und da eben erfuhr ich alles.«
»Waren Sie allein in dem Hause?«
»Allein.«
»Halt, jetzt habe ich Sie gefangen! Der Götze saß doch mit der Platte auf dem Boden.«
»Ich kippte ihn einfach um.«
»Den sechs Zentner schweren Koloß?«
»Jawohl, und richtete ihn auch wieder allein auf. Zu so etwas gehört mehr Geschicklichkeit als Kraft.«
Der Rechtsanwalt konnte nur den Kopf schütteln.
»Wie aber fanden Sie den öffnenden Mechanismus?«
»Durch Probieren. Ich wußte bestimmt, daß ein Mensch darin steckte, das roch ich; auf irgend eine Weise mußte jener doch hineingekommen sein, und da probierte ich so lange, bis ich den Mechanismus gefunden hatte. Oder nehmen Sie auch an, daß ich lange Zeit in Japan gewesen bin und etwas in die japanischen Mysterien eingeweiht worden bin.«
»Was fanden Sie in dem Götzen?«
»Dasselbe, was Sie heute gesehen haben. Das Monikono-Schwert erzählte mir, auf welche Weise Keigo Kiyotaki wieder zu seinem Masamune gekommen war, und die Schnapsflasche sagte mir, wer der kleine, etwas schiefgewachsene Mann war, dessen Leiche ich in dem Innern des Götzen fand.«
»Wieso die Flasche?«
»Weil darauf steht: Mills Public-House. Wo ist die Restauration von Mill? Das sagte mir jedes Adreßbuch. Gleich neben Costenobles Lagerhaus! Aha! Ich ging hin. Arbeitet hier ein kleiner Mann, der etwas schiefgewachsen ist? Jawohl, Slackjaw heißt er, aber er ist schon seit einer Woche fort von hier, ist plötzlich weggeblieben. — Brauchen Sie sonst noch eine Erklärung, Sir? Wohl nicht?«
Der Rechtsanwalt blickte den Sprecher starr an.
»Seit — einer — Woche?« wiederholte er langsam. »Dies alles haben Sie doch erst heute entdeckt.«
»I wo. Schon vor acht Tagen.«
»So lange — wissen Sie schon — daß — Keigo Kiyotaki — unschuldig ist?« brachte der alte Herr nur stockend hervor.
»Jawohl.«
»Und — Sie — haben ihn — das Fallbrett betreten lassen?«
»Jawohl,« erklang es ebenso gemütlich wie zuvor, »man muß die Trümpfe nicht sofort ausspielen, sondern erst, wenn die passendste Zeit dazu ist. Sehen Sie, daß ich meinen Trumpf zur rechten Zeit ausspielte, das hat mein jährliches Einkommen um wenigstens 30 000 Pfund Sterling vermehrt. Denn wenn ›Lloyds Weekly News‹ in England in einer Million Exemplaren zirkuliert, so schätze ich die wöchentliche Londoner Auflage von ›Worlds Magazine‹ von jetzt an auf mindestens 600 000 Exemplare, das bringt mir wöchentlich 12 000 Schillinge ein, und das soll erst der Anfang sein, und so etwas kann man sich doch nicht entgehen lassen. Dazu aber mußte Keigo Kiyotaki erst den Strick um den Hals haben, ehe ich eingriff. Das Publikum schwärmt nun einmal für alles Sensationelle.«
»Mensch, du hast furchtbar gefrevelt!!« stöhnte der alte Rechtsanwalt mit ausgestrecktem Arm.
»Ja, ein Mensch bin ich und gar kein so schlechter, wie Sie jetzt vielleicht von mir denken. Es war ein Japaner, welcher auf dem Fallbrett stand, noch dazu ein solcher, welcher gern sterben wollte, und ich kenne den japanischen Charakter. Einen anderen Menschen würde ich dieser Todesangst nicht ausgesetzt haben, der Japaner aber hat gar nichts von Todesangst gewußt. — Sir Clane, Sie sind Spiritist?«
Das scharfe Auge des Detektivs hatte erkannt, daß ein großes Bücherregal nur mit spiritistischen und okkultistischen Werken angefüllt war, auch auf dem Schreibtisch lag ein solches, der alte Herr hatte bis vorhin darin gelesen.
»Ja, ich bin Spiritist,« sagte der englische Rechtsanwalt ohne Zögern, sofort von allen anderen Gedanken abgelenkt, und weiter hatte der schlaue Detektiv ja auch nichts gewollt.
Königin Viktoria war die gläubigste Spiritistin, zwei ihrer Kammerzofen waren Medien; Gladstone war der ausgesprochenste Spiritist — — also von oben kam es, und nicht anders ist es noch heute in England.
»Haben Sie schon einmal einen spiritistischen Apport beobachtet?«
Seltsam! Gerade hierüber hatte der Rechtsanwalt vorhin gelesen, das ganze Buch behandelte nichts weiter.
Unter spiritistischem Apport versteht man die Herbeischaffung eines Gegenstandes durch Geisterhände, und die höchste Vollendung ist es, wenn dies auf Kommando mit einem bestimmten Gegenstand geschieht.
»Wir haben es einmal probiert, es war ein sehr kräftiges Medium, beinahe wäre es auch gelungen, aber dann ging's doch nicht.«
»Wie gewöhnlich,« sagte Nobody mit leiser Ironie. »Ich werde Ihnen einmal einen spiritistischen Apport zum besten geben, und Sie dürfen auch erzählen, was Sie zu sehen bekommen haben.«
»Sie? Hier? Hier in diesem Zimmer? Ohne Vorbereitung? Jetzt sofort?« rief Sir Clane, der plötzlich ganz außer sich kam.
»Jetzt sofort ohne Vorbereitung hier in diesem Zimmer. Nehmen Sie irgend einen Gegenstand — am liebsten ist mir ein Ring, den Sie von ihrem Finger streifen, da ist jede Verwechslung ausgeschlossen — Sie selbst legen ihn dort auf den Tisch, ich trete dort an die Wand — — eins, zwei, drei! — und der Ring kommt in meine Hand geflogen.«
Jetzt begann der alte Spiritist vor Aufregung zu zittern.
»Mann, wenn Sie das können, dann will ich vor Ihnen niederknien und Sie anbeten!!« rief er in Extase.
»Das verlange ich gar nicht, und da ist auch gar nichts weiter dabei. Wenn Sie wissen, wie's gemacht wird, können Sie's auch.«
Das war ein kleiner Dämpfer.
»Das — könnte — ich — auch?«
»Freilich, jedes Kind kann's, man muß nur wissen, wie man das Ei stehen läßt. — Eine kleine Vorbereitung brauche ich allerdings doch...«
»Muß eine magnetische Kette hergestellt werden? Gewiß, eine magnetische Kette muß sein, ohne die geht's nicht!«
»Nein, ich brauche keine magnetische Kette, bei mir braucht nicht einmal das Licht ausgepustet zu werden.«
»Was, hier bei hellem Gaslichte wollen Sie die Geistermanifestation ausführen?! Herr, da kenne ich die Geister besser! Wenn's hell ist, kommen sie niemals.«
Der alte, ehrwürdige Rechtsanwalt, so brav, so bieder, so klug, so besonnen, so scharfsinnig — er war gar nicht wiederzuerkennen! Aber so ist's immer, wenn man bei einem Spiritisten von den ›lieben Geistern‹ anfängt. Das ist wirklich geradezu ein Fluch. Genau so ist's aber auch mit den Vegetarianern. Es kann sonst jemand ein schweigsamer Moltke sein — wenn er Vegetarianer ist, und man fängt aus Versehen einmal vom Essen an — da quasselt der Kerl gleich stundenlang von Spinat und Südfrüchten.
»Mir gelingt das Experiment auch am hellerlichten Tage, und von Geistern habe ich gar nicht gesprochen. Geister habe ich nicht nötig, ich mache alles aus eigener Kraft, und ich glaube nicht unbescheiden zu sein, wenn ich meine Meinung ausspreche, daß ich nämlich selbst Geist genug habe. Meine Vorbereitung besteht nur darin, daß ich Sie um ein Blättchen Papier bitte, irgend eines, vielleicht dieses hier?«
Sir Clane gab ihm ein Stück weißes Papier, welches auf dem Schreibtisch gelegen hatte.
»Ich hauche dieses Stück Papier an — sehen Sie — und lege es hier auf diesen Tisch.«
Er tat so, wie er sagte, hatte das Blatt Papier auf beiden Seiten angehaucht und legte es mitten auf ein an der Wand stehendes Tischchen.
»Nun bitte ich noch um einen Stock. Oder darf ich dieses Lineal hier nehmen?«
Nobody nahm vom Schreibtisch das lange, hölzerne Lineal und ließ es mehrmals mit einer streichenden Bewegung durch seine Hände gehen.
»Ah, Sie magnetisieren das Lineal!«
»Jawohl, ich magnetisiere das Lineal,« bestätigte Nobody, aber immer wieder mit einem leisen Spott im Ton. »Jetzt werde ich dem Gegenstand den Weg vorzeichnen, den er am Boden zu nehmen hat. Das ist nämlich auch unumgänglich notwendig.«
»Er wird nicht durch die Luft getragen?«
»Nein, er marschiert am Boden entlang, allerdings schwebend.«
Nobody begab sich an jenen Tisch, auf welchem das Stück Papier lag, berührte dieses mit dem einen Ende des Lineals, zog mit demselben Ende über den Tisch weg einen Strich, fuhr mit dem Lineal weiter an dem Tischbein hinab, ging langsam und gebückt durch das ganze Zimmer, mit dem Lineal am Boden einen unsichtbaren Strich ziehend, bis er sich an der dem Tisch entgegengesetzten Wand wieder aufrichtete.
»Hier bleibe ich stehen, verlasse diese Stelle nicht mehr. Sir Clane, wollen Sie auf das Stück Papier nun irgend einen Gegenstand legen, den Sie dann bestimmt wiedererkennen. Am besten ist immer ein Ring. Dieser Ring wird dann auf mein Kommando von selbst hierher zu mir kommen.«
Der Rechtsanwalt trug nur zwei Ringe, den einen streifte er ab und legte ihn auf das Stück Papier. Seine Hand zitterte dabei.
»So. Jetzt wollen Sie hierher zu mir kommen.«
Der Rechtsanwalt begab sich hin zu ihm.
»Jetzt müssen Sie sich allerdings herumdrehen, das Gesicht gegen die Wand, sehen dürfen Sie nicht, was jetzt hinter Ihrem Rücken vor sich geht. Erst blicken Sie sich noch einmal um. Liegt der Ring noch dort?«
Sir Clane blickte nach dem Tische — natürlich, der Ring lag auf dem Papier, das war ganz deutlich von hier aus zu sehen. Es war ein sehr geräumiges Zimmer, die Entfernung von dem Tische bis dorthin, wo die beiden standen, betrug etwa sechs Meter.
»Gut. Jetzt drehen Sie sich wieder um. Halten Sie meine beiden Hände fest. So ist es recht. Ich zähle: eins — zwei — drei — vier — fünf — sechs — sieben — acht — neun — zehn... hier ist der Ring!«
Nobodys Hände waren von dem Rechtsanwalt festgehalten worden, er entzog ihm die eine, machte mit ihr eine eigentümlich drehende Bewegung, ganz an die erinnernd, wie er sie immer bei den in der vorigen Erzählung geschilderten Taschenspielerkunststückchen angewendet hatte, und wie er die Hand herumdrehte, lag darin ein Ring.
Hastig nahm ihn der Rechtsanwalt, es war der seine — er blickte sich um, er stürzte nach dem Tisch — der Ring war weg, oder er lag doch nicht mehr auf dem Papier — er hatte ihn ja in seiner eigenen Hand!
»Bei Gott, dem Allmächtigen — Nobody — — sprechen Sie...«
Wie er sich umdrehte, war der Fischer nicht mehr im Zimmer. Während der Rechtsanwalt einige Sekunden wie versteinert dagestanden, hatte Nobody es schnell und geräuschlos verlassen, und er war nicht mehr zu erreichen, unten fiel schon die Haustür ins Schloß.
Wir werden später erfahren, auf welche Weise Nobody dieses scheinbar übernatürliche Experiment und dennoch nur ein Taschenspielerkunststückchen, welches besonders bei den Chinesen und Japanern beliebt ist, ausführte. Wenn man weiß, wie's gemacht wird, ist es nämlich ganz einfach. Nur glaube man nicht etwa an Gummischnüre und dergleichen.
Der Leser wird aber auch bald erfahren, aus welchem Grunde Nobody dieses Experiment dem in England so hochgeachtete Rechtsanwalt vorgemacht hatte — aus einem bestimmten Grunde! — nur deshalb hatte er Sir Clane noch einmal aufgesucht, um ihm dieses Experiment vorzumachen, und zwecklos tat Nobody niemals etwas.
Seit einem halben Jahre hatte Mr. H. P. World die Angewohnheit angenommen, beim Sprechen sich immer schmunzelnd die Hände zu reiben, und er hatte allen Grund dazu.
Bisher war er in New-York nur ›ein lumpiger Millionär‹ gewesen, welcher von allen denen, bei denen der wirkliche Mensch erst mit der hundertsten Million beginnt, verächtlich über die Achsel angesehen wurde. Aber nicht lange mehr, so würde auch Mr. World zu dieser exklusiven Geldaristokratie gehören, die Einkünfte eines hundertfachen Millionärs hatte er bereits! — Was allein diese Annoncen einbrachten! Vier Seiten Unterhaltung, vierzig Seiten Annoncen und Reklamen, die Zeile zwei Dollar! — und wenn er dieses ideale Ziel eines jeden echten Yankees nicht mehr erreichte, dann doch ganz bestimmt seine Kinder und Kindeskinder. Die Gründung einer neuen amerikanischen Milliardärsfamilie war gesichert.
»Mein lieber Mister Nobody — ehem — es ist heute gerade ein Jahr her — ehem — daß Sie mir Ihren genialen Gedanken unterbreiteten — ehem — wissen Sie noch ehem? — und — ehem — ich möchte mich gern erkenntlich zeigen — ehem — und — ehem — wenn Sie erlauben — ehem — Ihnen von jetzt an für jedes Tausend sechs Dollar geben — ehem.«
Denn wem hatte er alles zu verdanken? Nur diesem Nobody, diesem Teufelskerl! Und ›Teufelskerl‹ war das schmeichelhafteste Lob, die höchste Respektbezeugung, die Mr. World einem Menschen zuteil lassen werden konnte.
Aber es hatte eine Zeit gegeben, da Mr. World auf diesen Teufelskerl ganz gotteslästerlich geschimpft und ihn den ersten und letzten Nagel zu seinem Sarge genannt hatte, und das war die Zeit gewesen, da Nobody seine achttägige Vorstellung im Atlantic-Garden beendet hatte, um sich in den Dienst des neuen literarischen Unternehmens zu stellen, und als Mr. World drei Wochen lang jeden Tag geglaubt hatte, heute endlich müsse die Geschichte losgehen.
Das erste war gewesen, daß Nobody den Verlagsbuchhändler veranlaßt hatte, 500 000 Pfund Papier zu kaufen, welche 30 000 Dollar kosteten. Dieses Papier mußte bereitliegen, um sofort, wenn der geeignete Zeitpunkt da war, von der ersten Nummer der neuen Zeitschrift Millionen Exemplare in die Welt hinauszuschleudern.
Aber dieser verdammte Kerl, dieser vermaledeite Lumpenhund, dieser ›bloody Dutchman‹ hatte ihn ganz sicher zu diesem Kaufe nur deshalb überredet, um die 500 000 Pfund Papier als Sargdeckel für den biederen Buchhändler zu verwenden. Wirklich, der ungeheure Stapel Papier, der so unbenutzt dalag, wurde noch der Tod des alten Mannes.
»Nobody, jetzt müssen wir aber endlich anfangen, ich kann doch nicht die 500 000 Pfund Pap...«
»Noch nicht, Mr. World, noch ist keine günstige Gelegenheit vorhanden, mit der ersten Nummer herauszukommen. Es muß ein ganz sensationeller Fall sein.«
»In San Franzisko ist ein Raubmord...«
»Der Raubmörder ist bereits gefaßt.«
»In Genf sind 142 Menschen an giftigem Schweizerkäse gestorben, es steht in sämtlichen Zeitungen der Welt.«
»Giftiger Käse ist kein passendes Sujet für die erste Nummer unserer neuen Zeitschrift.«
»Haben Sie's schon gehört? Es steht in allen Zeitungen. Auf Honolulu sollen die kleinen Kinder, gleich wenn sie geboren werden, die brennende Zigarre in den Mund bekommen. Nobody, da müssen Sie schnell hin, ob das wirklich wahr ist. Das ist besonders etwas für unsere Frauenwelt.«
»Nein, Mr. World, deshalb gehe ich nicht nach Honolulu.«
»Ei die Deiwel!« schrie Mr. World jetzt entrüstet. »Ich muß aber doch meine 500 000 Pfund Pap...«
»Mr. World, das überlassen Sie nur mir, ich halte meine Augen schon offen, ich warte einen anderen Fall ab, es ist jetzt gerade eine faule Zeit, aber ich versichere Ihnen, daß wir, wenn ich einmal mit der ersten Nummer herauskomme, mit einem Schlage jede Woche eine Million feste Abnehmer für unsere Zeitung haben.«
Und das ging nun schon drei Wochen lang so fort! Immer und immer wieder eine Vertröstung! Und was trieb inzwischen Mr. Nobody? Der trieb sich in New-Yorker Kneipen herum, machte sich das Leben schön, und wie schön! Denn daß er dies tat, das merkte man vor allen Dingen daran, daß er bereits nach vierzehn Tagen zu Mr. World ins Kontor kam und um Vorschuß bat, oder solchen vielmehr forderte, gleich 1000 Dollar, er habe sie dringend nötig, und dann kam er nochmals und forderte wiederum auf seine zukünftigen Reisespesen 1000 Dollar Vorschuß — — und zuletzt ließ sich der Lump überhaupt nicht mehr sehen. In seinem Hotel hatte er hinterlassen, daß er für acht Tage verreist sei, nichts weiter.
Mr. World war im Geschäftsleben ein sehr ruhiger und besonnener Mann, durch seine energievolle Kaltblütigkeit war er zum reichen Manne geworden, und er hatte auch schon größere Verluste mit Gleichmut ertragen, als diese 30 000 Dollar für das Papier für ihn bedeuteten, das er ja überhaupt noch verwenden konnte. Im Geschaftsleben hatte Mr. World auch warten gelernt, er wußte, daß Rom nicht an einem Tage erbaut worden ist — — aber seinem Personal gegenüber zeigte sich der alte Herr manchmal von einer höchst nervösen Seite. Wenn ihm in seinen Geschäftsräumen etwas in die Quere kam, wenn da nicht gleich jeder seiner Winke verstanden wurde und nicht gleich alles sprang, da fing der Herr Prinzipal allemal gleich mit Händen und Füßen zu strampeln an und konnte höchst unangenehm werden. Freilich war dann alles ebenso schnell wieder vergessen.
»Nein, Artur, nein,« sagte Mr. World zu seinem Schwiegersohne, der ihn im Kontor besucht hatte, »das geht so nicht weiter. Denkt der Kerl vielleicht, ich habe meine 500 000 Pfunds Pap...«
»Aber lieber Schwiegerpapa, beruhige dich doch. Ich habe zu Nobody Zutrauen, er wird dich nicht im Stich lassen.«
Mit den Füßen zappelte der alte Herr bereits, er ging aufgeregt im Zimmer hin und her, immer im Sturmschritt, jetzt fing er auch mit den Händen an.
»Artur, unterbrich mich nicht! Und ich sage dir: der Kerl ist ein Lump! Wo sind denn die 10 000 Dollar, geblieben, die er von Mr. Lewis hat ausgezahlt bekommen? Verludert hat er sie. Jawohl, innerhalb von 14 Tagen verludert! Sonst hätte er mich doch nicht schon angepumpt! In zwei Jahren zehn Millionen, in 14 Tagen 10 000 durchgebracht, jawohl, das kann so ungefähr stimmen. Und ich Narr schmeiße diesem Lumpen auch noch 2000 Dollar nachträglich in den Rachen, und jetzt sitze ich mit meinen 500 000 Pfund Pap...«
»Er wird schon wiederkommen, lieber Schwiegerpapa.«
»Artur, ich sage es dir zum letzten Male, laß mich aussprechen, daß wir uns nicht wegen dieses infamen Halunken noch erzürnen!« schrie der alte Herr wütend.
»Aber jetzt weiß ich, was ich zu tun habe. In einer Woche wollte er wieder zurück sein, die Woche ist vergangen, jetzt gibt es bei mir nur noch ein Entweder — Oder. Hast du den Fall in Brasilien gelesen, in der Provinz Guarani, die Geschichte von der reichen Minenbesitzerin, Ines da Costa heißt wohl das Frauenzimmer, und die Geschichte mit ihrem toten Hunde?«
Nein, Mr. Law hatte noch nichts davon gelesen, und das entstammte von neuem den Zorn des Schwiegervaters, der sich eben wieder etwas beruhigt hatte.
»Was? Du hast nichts davon gelesen? Wo's in allen Zeitungen steht? Und du willst ein Journalist sein? Schämen sollst du dich was! Also, da ist in Brasilien in der Provinz Dingsda eine Donna Dingsda gewesen, eine ungeheuer reiche Minenbesitzerin, die hat einen Hund gehabt, Apollo hieß das räudige Vieh, und wie der Hund krepierte, da hat ihn die alte Donna Dingsda begraben und hat sein Grab gepflegt. So wenigstens hat's im Testamente gestanden. Die Donna Dingsda hat ganz einsam auf einer Plantage von so 5000 Acker Umfang gelebt. Und weiter steht in dem Testament, daß ihre Erben das Grab dieses räudigen Viehes immer pflegen müssen, das wird ihnen zur Pflicht gemacht, sonst kriegen sie eben nischt. Ja, heißt es aber jetzt: wo liegt denn nun eigentlich der Hund begraben? Das Grab ist in dem riesig großen Garten nicht zu finden, und Gott weiß, wo die Donna Dingsda den Hund überhaupt begraben hat. Jetzt schreien alle die Erben ängstlich: wo liegt der Hund begraben? Und alle Zeitungen schreien mit: wo liegt der Hund begraben! — Siehst du, da muß Nobody jetzt sofort hin nach Brasilien und nachsuchen, wo der Hund begraben liegt, und wenn er ihn gefunden hat, dann geben wir die erste Nummer von unserer Zeitschrift heraus. — Paß auf, das wird ein Bombenerfolg! Unser Detektiv hat den toten Hund von der Donna Dingsda gefunden... na, was hast du denn zu feixen?«
»Aber, lieber Schwiegerpapa,« lachte Mr. Law aus vollem Halse, »das ist doch wirklich nicht so wichtig...«
»Was, nicht so wichtig?!« schrie aber der Schwiegerpapa erbost. »Na ja, du hast eben die Zeitungen nicht gelesen, das kommt davon. Ich sage dir, alle Zeitungen stehen voll davon — wo liegt der Hund begraben — die ganze Welt schreit: wo liegt der Hund begraben. — Der ›New-York Herald‹ hat den Stanley nach Afrika geschickt und den verschollenen Livingstone suchen lassen. Das hier mit dem toten Hunde ist noch etwas ganz anderes! Da handelt es sich um Hunderte von Millionen! Und die Donna Dingsda hat ganz dicht an der argentinischen Grenze gewohnt, wenn jetzt die Argentiner mit nach dem toten Hunde suchen und ihn finden — paß auf, Artur, das kann zwischen Argentinien und Brasilien noch zum Kriege kommen — na, ganz sicherlich, das kommt noch so weit! — und Chile steht natürlich auf argentinischer Seite — aber da macht jetzt auch Mexiko mit — und da kommt selbstverständlich auch gleich England gelaufen, jedenfalls verbündet mit Frankreich — aber das läßt sich doch der Nordamerikaner nicht gefallen, wir machen also auch mit... na, Artur, ich sage dir, ich werde es hoffentlich nicht mehr erleben, aber du ganz sicher noch — paß auf, das kommt noch zu einem internationalen Weltkrieg, und dies alles nur wegen so eines lausigen Hundes!«
Mr. World, der sich immer mehr in den Eifer hineinredete, trocknete den Schweiß von der Stirn und fuhr fort:
»Überhaupt, mir ganz egal, mein Entschluß ist gefaßt. Jetzt muß Nobody endlich einmal zeigen, ob er etwas kann oder ob er nur ein Großmaul ist. Er muß fort nach Brasilien und suchen, wo der Hund begraben liegt, und das sogleich. In einer Woche wollte er zurück sein, die Woche ist um, ich schreibe ihm jetzt einen eingeschriebenen Brief wegen dieser Sache, schicke Paddyn hin, ist Nobody nicht im Hotel, so quittiert der Portier,
bekommen muß Nobody den Brief auf alle Fälle, und reist er dann nicht sofort nach Brasilien und sieht zu, wo der Hund begraben liegt, dann... pfffffffft!«
Nach diesem letzten Laute, mit einer entsprechenden Handbewegung und einem Fingerschnalzen begleitet, öffnete Mr. World eine Nebentür, welche zum Hauptkontor führte.
»Bitte, Miß Haddock, ich will Ihnen einen Brief diktieren.«
Eine junge Dame zwischen zwanzig und vierzig mit sehr spitzer Nase und vergißmeinnichtblauen Augen trat ein und setzte sich an den für sie bestimmten Tisch.
Der Journalist brannte sich eine Zigarette an, kreuzte die Beine und legte sich behaglich in seinen Stuhl zurück, des Kommenden wartend. Denn er wußte schon, wie das immer ausfiel, wenn sein Schwiegerpapa in solch aufgeregter Stimmung einen Brief diktierte. Der alte Herr rannte noch immer wie ein hungriger Löwe im Käfig auf und ab.
»Sind Sie bereit?«
»Jawohl, Mr. World,« piepsten die vergißmeinnichtblauen Augen.
»Also los: An... ehem... haben Sie das geschrieben?«
»Jawohl, Mr. World.
»Sagen Sie es, wenn Sie nicht nachkommen, ich diktiere manchmal sehr rasch. Was haben Sie geschrieben? Lesen Sie vor.«
»An, Mr. World.«
Wie ein Wilder stürzte der Prinzipal auf die Schreiben los.
»An Nobodyn will ich doch schreiben, doch nicht an mich selbst!!!« brüllte er, da er die Antwort falsch verstanden hatte.
Er sah seinen Irrtum ein und beruhigte sich wieder, wenn auch seine sonstige Erregung blieb.
»Gut, sehr gut. Also: An Mr. Nobody. Sir! Ehem. Sie haben — ehem — sicherlich — ehem — von dem Falle in Brasilien — ehem — gelesen — ehem — wie die Donna — ehem — Ines da Costa — ehem — einen schönen — ehem — Hund gehabt hat — ehem — den sie — ehem — irgendwo begrub — ehem — und wie jetzt die Frage lautet — ehem — wo liegt der Hund begraben — ehem — Punkt — ehem. Haben Sie geschrieben?«
»Jawohl, Mr. World.«
In tiefem Sinnen schritt der Herr Prinzipal auf und ab, nach der Fortsetzung suchend.
»Wo liegt der Hund begraben?« wiederholte er. »Wo — liegt — der — Hund — begraben? Hm... Wo war ich stehen geblieben? Wiederholen Sie den letzten Satz!«
»Wo liegt der Hut begraben.«
Mit einem Ruck blieb World stehen und wandte den Kopf nach der Schreiberin.
»Wuuooaaas?«
»Wo liegt der Hut begraben,« wiederholte die Dame.
»Wumwoooaaaaas? Höre ich recht? Was habe ich diktiert? Lesen Sie mir noch einmal das Ganze vor.«
»An Mr. Nobody. Sir! Sie haben sicherlich von dem Falle in Brasilien gelesen, wie die Donna Ines da Costa einen schönen Hut gehabt hat, den sie begrub, und wie jetzt die Frage lautet: wo liegt der Hut begraben...«
Mit weit vorgerecktem Kopfe schlich der Prinzipal auf sie zu.
»Hund!« donnerte er sie an. »Hund!!... Hund!!!«
Langsam stand die Dame auf und musterte den Prinzipal mit ihren vergißmeinnichtblauen Augen von oben bis unten.
»Meinen Sie damit mich, Mr. World?«
»Den Hund meine ich, den Huuhnd! Wo liegt der Huuhhnd begraben! Doch nicht der Hut! Da hört doch, weiß Gott, alles auf! Nichts weiter als Hüte die gekränkte Antwort.
»Haben Sie etwa schon einmal einen Hut begraben?«
Die vergißmeinnichtblauen Augen wurden schwärmerisch zur Decke emporgeschlagen,
»Ja, ich habe einmal einen Hut begraben, mein verstorbener Bräutigam hatte sich darauf gesetzt...«
»Nehmen Sie einen neuen Briefbogen. Schon wieder ein Briefbogen futsch! Sie denken wohl, weil ich 500 000 Pfund Papier daliegen habe, nun kann darauf losgewüstet werden, was?«
Der neue Brief ward glücklich zu Ende geführt. Nobody sollte sich also unverzüglich nach Brasilien begeben, um zu suchen, wo der Hund begraben lag, der alle Welt beschäftigte, und wenn er's nicht tat, immer wieder eine Ausrede hatte, dann... pfffffft!
Der Prinzipal unterschrieb, die Schreiberin adressierte das Kuvert.
»Paddy!«
Ein rothaariger, krummbeiniger Mann erschien, dem man den Irländer schon von weitem ansah.
»Sssssssssssssssssss,« fing er bei seinem Eintritt wie eine Lokomotive zu zischen an, und dann war es nicht anders, als ob die nachfolgenden Worte mit einer Kanone herausgeschossen würden, »... ie wünschen, Mr. World?«
Paddy, der Firma langjähriger Kassenbote, stotterte nämlich ein bißchen. Aber wenn ein Kassenbote sonst treu und zuverlässig ist, so hat das nichts weiter zu sagen. Paddys Stottern war auch gar nicht so schlimm. Nur das erste Wort brachte er immer nicht gleich heraus. Entweder verweilte er längere Zeit bei dem ersten Buchstaben, oder er wiederholte mehrmals die erste Silbe. Desto schneller ging es dann, die anderen Worte sprudelte er nur so heraus, man dachte wirklich immer an das Abschießen einer Kanone. Nur wenn er erregt war, dann machten ihm auch die nächsten Worte Schwierigkeiten, bis er erst richtig in Schuß kam.
»Du weißt doch, wo Mr. Nobody logiert.«
»Ho-Ho-Ho-Ho-Ho-Ho-Ho...«
»Hotel,« kam ihm Mr. Law zu Hilfe.
Das hätte er nicht tun sollen, denn jetzt ging es noch einmal los:
»Kakakakakakakakakalifornia.« Und nun mit Vehemenz: »Hotel Kalifornia.«
»Hier, diesen Brief trägst du hin, und wenn Mr. Nobody nicht da ist, läßt du vom Portier quittieren. Verstanden?«
»A-a-a-a-a-a-a-a-a-a-a-allemal, Mr. World.«
Die krummen Beine marschierten ab.
In einer Viertelstunde war Paddy wieder da. Mr. Law befand sich auch noch im Kontor.
»Mimimimimimimi...«
»Mister,« wurde ihm unvorsichtigerweise zu Hilfe gekommen.
»Nononononononono...«
»Nobody!«
»Bobobobobobobobobo...«
»Body! Zum Himmeldonnerwetter, was ist denn heute mit dir los?«
Der Mann sah auch recht echauffiert aus. Aber so eine Bevormundung ließ sich der brave Paddy nicht gefallen, das kränkte ihn, er war selbst Mann genug, seine eigenen Worte herauszubringen, da brauchte ihm niemand zu helfen, und wenn es einmal gar nicht ging, dann stampfte er mit dem Fuße auf, und dann krepierte die Granate jedesmal mit absoluter Sicherheit. Also noch einmal denselben Vers von vorn:
»Mimimimimimi...« nun ein kräftiges Aufstampfen und »... Mister Nobody war zu Hause und hat den Brief gleich gelesen.«
»Ach was! Da muß er gleich selbst herkommen.«
»U-u-u-u-und ich soll Ihnen gleich die Antwort bringen.«
»Was für eine Antwort? Was hat er gesagt?« rief Mr. World mit begreiflicher Lebhaftigkeit.
»Ssssssssssss,« fing die Lokomotive jetzt wieder zu zischen an. »Sssssssssssssssss...«
»Na, da stampfe doch einmal mit dem Fuße auf!«
Das besorgte Paddy denn auch gründlich, das ganze Haus wackelte, hinter der Tapete rieselte der Kalk.
»Ssssssssssie sollten selber nach Brasilien gehen und nachsehen, wo der Hund begraben liegt.«
»Was?! Das hat der Kerl zu sagen gewagt?!«
Und Mr. World gab seiner gerechten Entrüstung weiteren Ausdruck, bis diese wieder in demjenigen Gedanken ausklang, der ihn schon seit drei Wochen Tag und Nacht wie ein Schreckgespenst verfolgte.
»Diesem Halunken ist es nur darauf angekommen, mich mit den 500 000 Pfund Pap...«
Das verhängnisvolle Wort blieb ihm in der Kehle stecken, denn sein Blick war auf den krummbeinigen Paddy gefallen, und was er da zu sehen bekam, das war das Menschenunmöglichste, was er jemals in seinem Kontor zu sehen bekommen hatte.
Griff dieser Mensch, sein Kassenbote, sein Angestellter, sein Sklave, ganz kaltblütig in die seinem Schwiegersohne zur Verfügung stehende Zigarettenkiste und brannte sich ganz gemütlich eine an, hier im Kontor, in Gegenwart seines Prinzipals!!!
»Mensch, bist du denn plötzlich wahnsinnig geworden?! Oder hast du dir draußen einen Sonnenstich geholt?! Oder bist du besoffen?!«
»Nichts von alledem,« erklang es fließend und ruhig aus dem Munde des rothaarigen Irländers zurück, während er das Streichholz in den Aschenbecher legte, »ich bin persönlich gekommen, um Ihnen zu sagen, daß ich nicht nach Brasilien gehen werde, daß ich mir von Ihnen, Mr. World, überhaupt nichts vorschreiben lassen werde, ich tue und lasse, was mir gefällt, denn ich bin nicht Ihr Angestellter, sondern in Sachen der projektierten Zeitung Ihr Kompagnon.«
Schon beim ersten Klange dieser plötzlich so veränderten Stimme war der Journalist wie von einer Tarantel gestochen von seinem Stuhle aufgeschnellt, und auch er sah, wie die stark geschweiften Beine des Irländers mit einem Male gerade wurden, und jetzt nahm er die roten Haare vom Kopfe, eine Perücke, die nicht gerade von besonderer Geistesfähigkeit sprechenden Gesichtszüge veränderten sich...
»Nobody!!!« riefen die beiden wie aus einem Munde, und ihr grenzenloses Staunen war begreiflich.
Und es war nicht etwa das erstemal, daß der Verwandlungskünstler zu Mr. World in einer fremden Maske kam. Dieser hatte ihn überhaupt noch niemals wieder in seiner eigentlichen Gestalt gesehen. Wenn Nobody ein Anliegen gehabt hatte, so war er in diesem Kontor stets als ein anderer erschienen, bald als alter Mann, bald als junge Dame, immer wieder in einer anderen Gestalt, und nicht etwa, daß er sich sofort zu erkennen gab, sondern der arme, alte Mann hatte unter irgend einem Vorwand um Unterstützung gebeten, bei der jungen Dame war es zuletzt auf einen Liebesantrag hinausgelaufen, und erst wenn Nobody den alten Herrn zu seinem eigenen Ergötzen lange genug veralbert hatte, gab er sich zu erkennen.
Es war schon so weit gekommen, daß Mr. World ganz irre geworden, jeden Unbekannten, der ihn in seinem Kontor in irgend einer Angelegenheit zu sprechen wünschte, ob Mann oder Weib, zuerst immer für den Verwandlungskünstler hielt, den oder die Betreffende bat, doch die Maske fallen zu lassen, woraus natürlich die merkwürdigsten Szenen entspringen mußten.
Dies war auch der Grund, warum Mr. World mit diesem Manne gar nicht mehr persönlich verkehren wollte, nur noch schriftlich, er fürchtete sich förmlich vor ihm — und für diese Furcht war auch schon ein anderer und wirklich sehr triftiger Grund vorhanden, wie wir gleich sehen werden.
Bisher aber war Nobody immer nur in der Maske irgend einer Gestalt erschienen, welche dem alten Herrn unbekannt war. Dies war das erstemal, daß Nobody sich in einen Mann verwandelt hatte, den Mr. World von Grund auf kannte — er kannte doch seinen Paddy, seinen Kassenboten, dem er nun schon länger als zehn Jahre die größten Geldsummen und die wichtigsten Einschreibebriefe anvertraute, und er hätte dies auch noch vor einer Minute getan, denn das war doch kein anderer als sein stotternder Kassenbote gewesen, und...
Kurz und gut, der alte Herr war nicht nur starr vor Staunen, als sich sein Kassenbote plötzlich so verwandelte, sondern er entsetzte sich förmlich wie vor einem nicht wegzuleugnenden Gespenste.
»Ist doch nicht die Menschenmöglichkeit!« stöhnte er. »Nobody, sind Sie denn das nur wirklich oder habe ich nur eine Vision?!«
»Ich bin es, und ich komme, um endlich einmal zwischen uns...«
»Ja, wie ist denn das aber nur möglich?! Wo ist denn Paddy? Sie haben doch seine Sachen an?«
Es half alles nichts, World hatte alles Geschäftliche vergessen, erst müßte Nobody dieses Rätsel aufklären.
Es war sehr einfach — wenigstens für Nobody. Er war in seinem Hotel gewesen, hatte den Brief gleich gelesen, und — das mußte man ihm lassen, dieser Mann hatte auch nichts weiter als Verrücktheiten im Kopfe, oder aber, er mußte eben schauspielern, Komödie treiben, anders ging es nicht bei ihm — kurz und gut, er hatte den biederen Paddy bewogen, ihm seine Kleidung zu geben, eine rothaarige Perücke besaß er unter seiner Garderobe, er war als der stotternde Kassenbote gekommen, und die Täuschung war eine vollkommene gewesen. Wahrscheinlich hätte ihn sogar Paddys eigene Frau für ihren Mann gehalten.
Derartiges steht nicht ohne Gegenbeispiel da. So trat Emil Devrient, der berühmte Schauspieler, oftmals als Doppelgänger von bekannten Personen auf, setzte sich an den Stammtisch, man hielt ihn für einen anderen, und mit diesem brauchte Devrieut für gewöhnlich nicht die geringste Aehnlichkeit zu haben, und der Irrtum wurde erst bemerkt, wenn dieser andere Stammgast eintrat. —
»Wollen wir jetzt vom Geschäft sprechen?« begann dann Nobody wieder.
Mr. World raffte sich auf. Jetzt oder nie!
Wir müssen den Grund angeben, warum sich der alte Verlagsbuchhändler seit den letzten beiden Wochen förmlich fürchtete, mit Nobody mündlich zu unterhandeln.
Wie oft hatte sich World nicht schon vorgenommen, das nächstemal, wenn er mit Nobody wieder zusammentraf, diesem die Leviten zu lesen, ihm die Alternative zu stellen, ob er sich nun endlich dem geplanten Unternehmm widmen oder nicht lieber von der ganzen Sache zurücktreten wolle, vielleicht gegen eine Entschädigungssumme, denn er selbst, Henry World, habe keine Lust mehr, sich von einem Abenteurer und Projektemacher an der Nase herumführen zu lassen.
Aber es war ganz merkwürdig. Der alte, sonst so energische Geschäftsmann konnte seine wohleinstudierte Rede niemals anbringen, oder vielmehr: er vergaß sie in Nobodys Gegenwart, oder er wagte es nicht — jedenfalls ging Nobody stets als Sieger von dannen und hatte den, der mit ihm ein für allemal hatte brechen wollen, jedesmal auch noch tüchtig angepumpt.
Kam das nur daher, daß Nobody immer in einer fremden Gestalt erschien und so erst eine große Überraschung bereitete, welche alles andere vergessen ließ?
Nein, sicher nicht. Es lag im Benehmen, im Auftreten, im Blick im ganzen Wesen dieses rätselhaften Mannes. Es war etwas an ihm, es ging etwas von ihm aus, was... sich nicht mit Worten beschreiben läßt.
Es war ganz dasselbe, was damals an Bord den beiden Yankees nicht erlaubt hatte, ihn nach seinem Alter zu fragen.
»Ich glaube, es ist ein Raubtierbändiger,« hatte der eine gesagt.
Bisher nun war Mr. World immer allein gewesen, wenn Nobody gekommen. Diesmal aber war sein Schwiegersohn anwesend, das gab ihm Mut.
»Nun, mein Herr?«
»Mr. World, ich komme mit einem großen Anliegen. Nach reiflicher Überlegung brauche ich zu dem Vorhaben, welches in unserem beiderseitigen Interesse liegt, eine eigene, schnelldampfende Jacht, schneller als der schnellste Passagierdampfer, was bei solch einer kleinen Jacht mit genügend Pferdekraft sich auch erreichen läßt, obwohl ich an eine Jacht von wenigstens 500 Tonnen denke, bedient von mindestens 12 Matrosen und Heizern. Ich muß eben imstande sein, den schnellsten Passagierdampfer zu überholen, ich muß immer eher da sein als derjenige, auf den ich es abgesehen habe. Was solch eine Jacht kostet? Na, sagen wir: rund eine Viertelmillion Dollar, für Sie eine Kleinigkeit...«
Mr. Law mußte sich schnell auf die Lippen beißen. Er wäre bald in ein schallendes Gelächter ausgebrochen, nämlich über das Gesicht, welches ihm sein Schwiegervater zuwendete. Dieses Staunen, dieser Schreck, dieser hilfeflehende Blick, der auf den Schwiegersohn gerichtet war, diese Dummheit, die in den sonst so klugen Zügen des alten Herrn plötzlich lag — — es war ein unbeschreibliches Gesicht!
»Sie machen doch nur Spaß!« brachte World endlich hervor.
»Ich? Nein, ich spreche im Ernst. Aber ich denke, Sie haben nur ein Witzchen machen wollen, als Sie mir zumuteten, ich solle mich wegen jener verrückten Erbschaftsgeschichte, bei welcher das verschollene Grab eines Hundeköters die Hauptrolle spielt, gleich nach Brasilien begeben.«
Mr. World sah nochmals nach seinem Schwiegersohne, dieser nickte ihm zu, und der alte Herr verstand dieses Zunicken falsch, er glaubte, Law spreche ihm Mut ein — »jetzt gehe einmal energisch vor!« — und er ging denn auch endlich einmal energisch vor.
»Sie haben ganz recht, mein Herr. Diese Hundeaffäre war nur das erste beste, was ich aus der Fülle von interessanten Neuigkeiten, die zur Zeit alle Welt beschäftigen, den Zeitungen entnahm, um Sie zu einem definitiven Bescheid zu zwingen, und nun, mein Herr, frage ich Sie zum letzten Male, ob Sie sich unserer Sache endlich widmen und einen Anfang machen wollen, oder ob Sie vielleicht denken, ich habe mir nur zum Privatvergnügen die 500 000 Pfund Pap...«
»Zum letzten Male wollen Sie mich fragen?« unterbrach Nobody den Sprecher. »Sie haben mich überhaupt noch gar nicht deswegen gefragt. Aber gut, daß Sie davon anfangen. Aus der Alternative, die Sie mir stellen, und wie Sie diese Hundegeschichte als Mittel zum Zweck wählen, daraus ersehe ich, daß mich die Herren, oder doch Sie, Mr. World, überhaupt noch gar nicht richtig verstanden haben, obgleich ich mich damals doch deutlich genug erklärte. Sie wollen, unsere Zeitung soll als erste Nummer und dann auch immer später etwas recht Sensationelles, Mysteriöses oder sonst etwas, was zur Zeit gerade alle Welt beschäftigt, herausgreifen, mit der Bemerkung, daß ich als Berichterstatter und Detektiv mich sofort an Ort und Stelle begeben würde, um den Fall aufzuklären, den Verbrecher zu fassen, usw. Nichts falscher als das! Und wenn mir das nun einmal nicht gelingt? Ich bin auch nur ein Mensch.
Dann sind wir die Blamierten, und das fällt auf die ganze Zeitung zurück. Nein, das werde ich anders machen, und wir werden ganz sicher gehen, niemals wird uns etwas mißlingen, nie werden wir das Publikum täuschen und enttäuschen. Ich fange gewissermaßen immer von hinten an. Passen Sie auf, meine Herren, wie ich das meine. Ich promeniere auf der Straße, hier in New-York oder in Paris oder in Peking, ich beobachte die Straßenpassanten, da fällt mein Blick auf einen Mann — — halt, sage ich mir sofort, der hat irgend etwas begangen, der hat kein reines Gewissen — — der hat einen großen Diebstahl ausgeführt, wenn nicht gar einen Raubmord. Dabei braucht dieser Mann durchaus kein auffälliges Benehmen an den Tag zu legen, es kann der kaltblütigste Bösewicht sein, der jeden seiner Gesichtsmuskeln in der Gewalt hat. Das ist eben bei mir eine ganz eigentümliche Gabe, ich möchte es fast Instinkt nennen, daß ich die innersten Gedanken eines jeden Menschen sofort erkenne, sein Gewissen liegt gewissermaßen offen vor meinen Augen...«
»Können Sie das wirklich,« unterbrach ihn der Journalist, »jedem Menschen ansehen, ob er ein reines Gewissen hat oder nicht?«
»Ganz gewiß. Auch Sie, Mr. Law haben kein reines Gewissen.«
»Ich?« lachte der junge Mann. »Nanu! Was soll ich denn verbrochen haben?!«
»Lassen Sie sehen...,« Nobody zog aus seinem Halse an einer Schnur einen Klemmer und betrachtete den Dasitzenden mit forschenden Augen, »... jawohl, ganz rein ist Ihr Gewissen nicht... im Gegenteile... es ist furchtbar belastet...Mensch, was haben Sie denn eigentlich begangen?! Meiner zuverlässigen Ansicht nach einen Kirchenfrevel. Jawohl, Sie haben eine Kirche geschändet, es kann meiner Diagnose nach gar nicht so lange her sein, und das liegt Ihnen nun furchtbar schwer auf dem Herzen.«
Und Nobody nahm seinen goldenen Kneifer mit einer Bewegung ab, welche allein schon seine tiefinnerste Überzeugung von seiner Unfehlbarkeit ausdrückte.
Mr. Law saß natürlich wie vom Donner gerührt da, obgleich es doch offen zutage lag, daß Nobody nur Scherz machen konnte. Aber das war denn doch etwas gar zuviel des Scherzes, so etwas konnte man eben gar nicht für möglich halten.
»Was?! Ich — ein — Kirchen — schänder?!«
»Gewiß ist es so. Und ich irre mich nie. Oder ist es vielleicht kein Frevel gegen das Allerheiligste, wenn man in der Kirche während der Predigt einschläft und seiner andachtsvollen Frau und der ganzen Gemeinde etwas vorschnarcht?«
Da lehnte sich Mr. Law in seinen Stuhl zurück und brach in ein Lachen aus, daß ihm die Tränen an den Backen herunterliefen, und Mr. World stimmte gleichfalls mit ein. Denn es war in der Tat so, und der Sünder hatte schon seinem Schwiegervater von seinem gestrigen Malheur erzählt. Gestern war nämlich Sonntag gewesen. Seine Gattin hatte ihn, der ausnahmsweise zu Hause war, am Morgen mit in die Kirche geschleift, und der Journalist, etwas übernächtig, war eingeschlafen, war im besten Schnarchen von seiner empörten Frau aufgerüttelt worden.
»Woher wissen Sie denn das? Waren Sie denn gestern in der Markuskirche? Gehen Sie denn überhaupt auch in die Kirche?«
»Ich werde mich hüten. Nein, ich weiß eben manches, was andere nicht wissen, ich habe ganz sonderbare Augen. — Ihnen, Mr. World, sehe ich auch gleich an, daß Sie kein gutes Gewissen haben. Sie haben — warten Sie, lassen Sie sich in die Augen sehen... äh, bei Ihnen ist es ja ganz klar, Sie haben stibitzt.«
»Was — habe — ich?«
»Stibitzt, gemaust, gestohlen. Und zwar Geld... Na, machen Sie keine Geschichten — das kann ich alles in Ihren Augen lesen. Ja, ich wage sogar die Höhe der Summe anzugeben, welche Sie sich unrechtmäßig angeeignet haben, und zwar heute. Sie schwankt zwischen 995 Dollar und 86 Cents und zwischen 1007 Dollar und 18 Cents. So genau kann ich meine Augendiagnose stellen.«
»Na,« sagte der alte Herr empört, »mit solchen Witzen hören Sie mal gefälligst auf, das sind nicht mehr unschu...«
Mitten im Wort stockte er. Während er dies mit einiger Entrüstung sagte, hatte er beide Hände in die Rocktaschen gesteckt, in der rechten mußte er etwas gefühlt haben, was nicht hineingehörte, er zog es heraus, ein grünes, knisterndes Blatt Papier, eine Tausenddollarnote, und da also erstarb ihm plötzlich das Wort auf den Lippen, und der alte Herr machte wieder eines seiner unbeschreiblichen Gesichter.
»Ja, wie kommt denn die Tausenddollarnote in meine Rocktasche?« brachte er mit höchster Bestürzung hervor.
»Na, nun verstellen Sie sich mal nicht,« rief Nobody, »markieren Sie mal nicht den Unschuldigen! Sehen Sie, das ist dasjenige Geld, welches! Wie das böse Gewissen den Mörder immer wieder nach dem Ort seiner Bluttat zurückführt, so hat das böse Gewissen Ihre Hand in die Rocktasche gelenkt, auf daß alle Welt erfährt, daß Sie sich unrecht Gut angeeignet haben. Und wie genau ich die Größe Ihrer Sünde zu taxieren verstanden habe!!«
Während Mr. Law sein erstes Staunen schnell überwunden hatte und dann über das dumme Gesicht seines Schwiegervaters in ein schallendes Gelächter ausbrach, stand dieser noch länger mit solchem Gesichte da, die Banknote in der Hand.
Dann freilich war ihm auch alles klar, dieser Eskamoteur hatte sie ihm eben in die Tasche gespielt, auf welche Weise, das allerdings war ganz rätselhaft. Nobody hatte dem alten Herrn vorhin nur einmal auf die Schulter geklopft, aber man hatte von ihm ja schon ganz andere Sachen gesehen, und jetzt hatte sich Mr. World gefaßt, jetzt wollte er den Spieß herumdrehen.
»Nein, mein lieber Herr,« begann er plötzlich zu schmunzeln, »diese Tausenddollarnote habe ich nicht gestohlen, ich erhielt sie vorhin und steckte sie einstweilen in die Rocktasche, ich dachte nur nicht mehr daran, jetzt aber werde ich sie besser verwahren.«
Damit zog er seine Brieftasche hervor, legte den Schein hinein und steckte die Tasche wieder ein.
Es war doch etwas merkwürdig, daß Nobody dies so ruhig hinnahm, auch gar kein Wort mehr darüber verlor, ganz so tat, als wäre dies vollständig in der Ordnung.
»Wo war ich vorhin stehen geblieben?« begann er sofort wieder. »Ja, wie die erste Nummer unserer Zeitschrift erscheinen und was sie bringen muß, um mit einem Schlage in ganz Amerika eingeführt zu sein, und das für immer in einer Auflage von mindestens einer Million. Ein toter Hund darf da nun freilich nicht die Hauptrolle spielen, der zieht nicht genug. Ich will doch gleich einmal den Inhalt der ersten Nummer aufsetzen, daraus ersehen Sie zugleich, wie ich mir das Ganze denke, wie ich also sozusagen immer von hinten anfange. Ich werde diktieren. Mr. Law, würden Sie die Güte haben, nachzustenographieren?«
»Gewiß, ich bin bereit.«
Er nahm Bleistift und ein großes Blatt Papier, Nobody ging mit auf dem Rücken verschränkten Armen im Zimmer hin und her.
»Erst einige sensationelle Überschriften — bitte, die recht fett stenographieren. Also: Fälschungen auf dem Schatzamt zu Washington! — Haben Sie?«
»Oho!« ließ sich Mr. World mit lächelndem Gesicht vernehmen.
»Weiter, die zweite Überschrift: Für hundert Millionen falsches Papiergeld!«
»Na, na,« meinte jetzt auch der stenographierende Journalist, »lassen Sie Ihrer Phantasie nur nicht gar zu sehr die Zügel schießen.«
»Wissen Sie was,« wandte sich da Nobody an Mr. World, »Sie sind jetzt hier ganz überflüssig, und wir haben keine Minute mehr zu verlieren, morgen früh muß die erste Nummer mit diesem Artikel wenigstens für New-York in 100 000 Exemplaren heraus sein, und da gibt es noch zu drucken. Was sehen mich denn die Herren so erstaunt an?«
Ja, die beiden Männer sahen den Sprecher allerdings mit ganz eigentümlichen Augen an. Es war heute ein sehr heißer Tag, und...
»Sie denken wohl, mir ist die Hitze zu Kopf gestiegen? Hier...,« er knöpfte Paddys Rock auf, unter diesem trug er seine eigene Weste, er knöpfte auch diese auf und zog aus den Innentaschen zwei große Pakete heraus. »Hier sind zweimal fünfhundert Tausenddollarnoten, also eine Million Dollar Falsifikate, aber nicht von echten zu unterscheiden, denn sie sind gedruckt im Schatzamt von Washington, Abzüge von den echten Platten — aber doppelte! — und es sind noch neunundneunzig Mal so viel da, fix und fertig, um in bares Geld verwandelt zu werden. — Also los!! Mr. World, gehen Sie in die Setzerei, machen Sie alles bereit, ich diktiere Mr. Law den Text.« —
Am nächsten Morgen wurde in den Straßen New-Yorks die erste Nummer von ›Worlds Magazine‹ ausgerufen, und was man da zu lesen bekam, das erzeugte erst in New-York, dann in ganz Amerika eine wahre Panik.
Ein hoher Staatsbeamter, welcher sich die neu herausgegebene Zeitschrift ahnungslos kaufte, schoß sich einige Minuten später eine Kugel vor den Kopf, bald darauf begingen in Washington zwei hohe, am Schatzamt angestellte Beamte ebenfalls Selbstmord, und fast das ganze Schatzamt wurde wie ein Räubernest von der Polizei ausgehoben.
Es war ein Fall, wie er nur in Amerika möglich ist. Auf dem Schatzamt waren von der Stahlplatte, welche die Tausenddollarnoten druckt, nach und nach 25 000 doppelte Abzüge gemacht worden, und es ist ganz selbstverständlich, daß sich im Bunde mit den Gaunern die höchsten Beamten dieses Staatsinstituts befanden. Nur noch einige Tage, dann wäre dieses falsche Papiergeld in bar umgesetzt worden, alles war schon vorbereitet gewesen, daher auch bei den Bankhäusern die große Nachfrage nach Gold, und wenn sich die Banknoten als doppelt erwiesen, wären die ungetreuen Beamten mit ihrer Beute von hundert Millionen schon längst über alle Berge gewesen. Und was das in ganz Amerika für einen Schaden angerichtet hätte, das läßt sich mit kurzen Worten gar nicht andeuten. Schon beim Lesen dieses Artikels drohte in New-York eine Panik auszubrechen. Die größten Bankhäuser wären krachen gegangen, ihr Sturz hätte sich auch noch dem kleinen Handwerker schmerzlich fühlbar gemacht.
Die neue Zeitschrift ›Worlds Magazine‹ hatte die Katastrophe noch rechtzeitig verhindert. Nein, nicht diese Zeitung, sondern ihr Berichterstatter, ein Privat-Detektiv, jener famose Nobody! Und ›Worlds Magazine‹ hatte für die nächsten Nummern Stoff genug, denn dieses erstemal schilderte Nobody ganz ausführlich, wie er einen Verdacht geschöpft hatte, daß auf dem Schatzamt etwas nicht recht geheuer sein könne, und wie er Schritt für Schritt vorgegangen war, bis er sich von der Tatsache der Fälschungen überzeugt und die Namen aller Beteiligten erfahren hatte. Auf diese Weise hatte er die drei Wochen ausgenützt, die letzte sogar im Schatzamt zu Washington an einer Druckmaschine gearbeitet als gewöhnlicher Tagelöhner.
Doch gerade dieser erste Fall interessiert uns sehr wenig. Genug, daß wir den Erfolg kennen. ›Worlds Magazine‹ hatte von der ersten Nummer an in Amerika einen Leserkreis von Millionen.
Als der alte Verlagsbuchhändler und jetzige Zeitungsherausgeber den Mann, den er so schmählich verkannt hatte, nach dem ersten Bombenerfolge wiedersah, wäre er ihm beinahe weinend um den Hals gefallen.
»Verzeihung, mein liebster, bester Nobody, ich habe Ihnen bitteres Unrecht zugefügt. Ich möchte es gern sühnen, verlangen Sie von mir, was Sie wollen — ehem — wollen Sie vielleicht eine Zigarre rauchen? Aber bei Gott, als ich die 500 000 Pfund Pap...«
»Lasten Sie es gut sein,« unterbrach ihn Nobody, aus dem präsentierten Etui eine Zigarre nehmend. »Aber von nun an vertrauen Sie mir, und passen Sie auf, wir machen noch ganz andere Geschäfte zusammen, die Sache muß noch ganz anders kommen. Wenn ich auch immer meinem Vergnügen nachgehe und Allotria treibe, das Geschäft lasse ich dabei niemals außer acht, denn das bringt Geld ein, und Geld muß ich haben, um es verhauen zu können. — Ja, Mr. World, nun wollte ich mit Ihnen noch einmal über die erwähnte Jacht sprechen.«
Au! das hätte nicht kommen dürfen! Der alte Herr war diesem Manne ja sehr, sehr dankbar, er hatte ihm doch auch schon eine Fünfcentzigarre geschenkt, aber eine Jacht, welche eine Million Mark kosten sollte — soviel brachte das Geschäft denn doch noch nicht ein.
Aber Nobody, der unbedingt ein Gedankenleser war, wußte ihn schnell wieder zu beruhigen.
»Es ist nicht nötig, daß Sie die Viertelmillion Dollar bar bezahlen,« fuhr Nobody lächelnd fort. »Zu Ihrer Beruhigung will ich Ihnen mitteilen, daß ich mir überhaupt nur einen Scherz erlaubte, als ich sagte, Sie sollten mir eine Jacht kaufen. Wenn ich eine Jacht brauche, und das ist allerdings der Fall, so bezahle ich Sie auch aus meiner Tasche...«
»O, wenn Sie unbedingt eine Jacht haben müssen, so trage ich natürlich gern etwas dazu bei,« mußte der Kompagnon jetzt doch einlenken.
»Nein, nein, das ist nicht nötig, das nehme ich auch gar nicht an. Da uns der Coup geglückt ist, wird mein wöchentliches Einkommen von jetzt an mindestens 5000 Dollar betragen, in spätestens einem Jahre habe ich die Jacht abbezahlt, so etwas wird überhaupt niemals sofort bezahlt...«
»Haben Sie denn schon eine bestimmte Jacht in Aussicht oder lassen Sie sich erst eine neue bauen?«
»Das ist, weshalb ich hauptsächlich mit Ihnen sprechen wollte. Ja, ich spekuliere auf eine bestimmte Jacht, sie liegt noch auf der Werft, wurde auf Bestellung von Mr. Mac Orphy gebaut. Kennen Sie diesen reichen Sonderling und Sportsman?«
»Reich? Der hat vor vierzehn Tagen bankrott gemacht.«
»Das ist es eben. Jetzt sitzen die Gebrüder Hiemann drin. Die Jacht liegt halbfertig auf der Werft, und Hiemanns werden wohl schwerlich einen anderen Käufer für das verrückte Ding finden. Orphy hatte einen Torpedojäger im Auge, nach solch einem Typ ist die Jacht gebaut, wer aber wird eine derartige Zigarre kaufen, die im Innern absolut keine Bequemlichkeit bietet, weil die Räume viel zu klein und zu niedrig sind, wenn jemand eine Lustjacht haben will. Und das Fahrzeug als Kriegsschiff an irgend eine Marine loszuwerden, dazu ist auch wenig Hoffnung vorhanden, dann müßte es gepanzert werden, und das läßt sich jetzt schwer machen. Für mich aber ist das gerade etwas. Ich lasse in die Stahlzigarre eine kolossale Maschine hineinbauen und werde dann das schnellste Schiff der Welt besitzen. Nun darf aber kein einziger Mensch wissen, daß Nobody der Besitzer dieser Jacht ist, daß er sich meistenteils darauf aufhält, daß er an Bord dieses Schiffes immer seinen äußerlichen Menschen verwandelt...«
»Ah, jetzt verstehe ich, wozu Sie eine Jacht haben wollen!«
»Dann ist es gut, dann brauche ich mich nicht länger dabei aufzuhalten. Die Welt wird noch viel von dieser Jacht sprechen, ihr Name soll noch berühmt werden...«
»Haben Sie schon einen Namen gewählt? Wie soll sie heißen?«
»Die Wetterhexe.« —
Die Waterstreet und nähere Umgebung mit ihren Boardinghäusern, Kneipen und Tingeltangels ist in New-York das Paradies der Seeleute.
Gegenwärtig war freilich eine sehr stille Zeit. New-York war mit Seeleuten überfüllt, es kamen und gingen keine Schiffe, und die regelmäßig fahrenden Linien haben ihre ständige Besatzung.
Ein Bild von dieser faulen Sommerzeit gab die Gaststube von Tiedemanns Boardinghaus. (Boardinghaus ist eine Matrosenherberge, der Wirt heißt Boarding-Master, in Deutschland wird er Heuerbaas genannt, und diese Herbergsväter sind in aller Welt auch Deutsche.)
Es sah traurig genug aus in der Gaststube. Von den Dutzend Matrosen und einigen Steuerleuten, welche bei Tiedemann im Logis lagen, spielten drei Mann Karten, spielten um Nasen...um Hosenknöpfe, wollen wir lieber sagen, die anderen hockten untätig herum, sogen an ihren kalten Pfeifen und bliesen samt und sonders Trübsal. Keiner hatte ein Glas Bier vor sich stehen, nicht einmal eine Pfeife Tabak gab es mehr, denn Heuerbaas Tiedemann behauptete, es sei schon genug, wenn er den Arbeitslosen Wohnung und Kost auf die zukünftige Heuer kreditiere.
Die meisten waren vor zwei Wochen von ein und demselben Schiffe abgemustert worden, und an jenem Tage, dem Gotte Mammon gewidmet, war es hier anders zugegangen. Auf der Bar, hinter welcher des Wirtes Töchterlein die Spiegel putzte, stand die Zierde dieser Gaststube, das Vermächtnis eines splendiden Steuermannes, ein Champagner-Service, der Eiskübel aus geschliffenem Krystallglas mit dazugehörigen Gläsern, und die konnten davon erzählen, wie man hier in dulci jubilo gelebt hatte, von früh bis abends und von abends bis früh. Dann folgten einige Tage, an welchen man die letzten Silberstücke zusammensuchte, dann einige Tage mit Zechkredit, und dann kamen diese Tage, von denen sie sagten, daß sie ihnen nicht gefielen.
Die Tür öffnete sich, ein neuer Gast trat ein, Kleidung und Gang, überhaupt sein ganzes Aussehen verrieten ihn gleichfalls als einen Matrosen.
Die Kartenspieler hielten einen Augenblick inne, die anderen blickten einmal nach dem Manne, der hier noch nie gesehen worden war, dann fielen sie alle wieder in ihre vorige Teilnahmlosigkeit zurück. Seeleute ohne Geld sind an Land Stockfische.
Was wollte der fremde Matrose? Nach einer Heuer fragen? Hier logieren? Da mußte man wohl lange warten, ehe man den Zweck seines Kommens erfuhr. Er ging an die Bar, bestellte ein Glas Bier, blieb an der Bar stehen und stierte vor sich hin, und so lange er bei diesem ersten Glase Biere war, würde er wohl schwerlich den Mund zu einer Frage auftun.
Da schnellte der eine, der den Blick zum Fenster gerichtet gehabt, wie elektrisiert auf.
»Kapitän Flederwisch!!!«
Dieser Ruf wirkte nicht anders, als ob in die Gaststube plötzlich eine Granate geschlagen wäre. Die Karten flogen an den Boden, alles sprang auf, daß die Stühle umstürzten, und rannte an die Fenster.
»Wahrhaftig, Kapitän Flederwisch!!!«
»Vater, Mutter, Kapitän Flederwisch kommt!!« rief die Wirtstochter zur Haustreppe hinauf, und die Gerufenen kamen so schnell herab, als es ihre Wohlbeleibtheit erlaubte, ihnen nach die Dienstmagd und der Hausknecht.
Die Tür ging auf, im Rahmen stand die sechs Fuß hohe, breitschultrige Gestalt eines noch jungen Mannes, als Seemann in den unvermeidlichen blauen Anzug mit trichterförmigen Hosen gekleidet, den der nordische Matrose auch im heißesten Sommer nicht ablegt, und es war schon eine große Ausnahme, daß dieser hier keine Weste trug, sondern unter der offenen Jacke das feine, gelbseidene Hemd zeigte, nur daß er noch um die Hüften eine rote Schärpe geschlungen hatte.
Der breite Strohhut beschattete ein tiefbraunes Gesicht von wahrhaft klassischer Schönheit, und was der gebildete Menschenkenner vor allen Dingen in diesen Zügen las, das war die liederliche Genialität.
»Hallo, Jungens! Steuert ihr wieder einmal mit der Ebbe? Aber Kapitän Flederwisch kommt stets mit der Flut. — Guten Tag, Vater! — Na, Gustel, was machst du? Komm her, Alte, gib mir einen Kuß. Ziere dich nur nicht, wenn der Alte tot ist, heirate ich dich doch. Aber nicht zu lange. — Bier her! — Halt, aus Gläsern wird nicht getrunken, das kann jeder. — Wieviel Fässer hast du im Keller? — Herauf damit! — Wir trinken heute aus...«
»Um Gottes willen, Kapitän!!« kreischte die Wirtin auf.
Als jener sie umschlungen hatte, um ihr einen Kuß zu rauben, obgleich ihr Mann daneben stand, war er gegen das Champagner-Service gestoßen, daß die Gläser klirrten.
»Ach wat! Was kostet das Zeug?«
»Fünfzig Dollar.«
Der junge Riese packte das Tafelbrett an, hob es in die Höhe — bruch! lag alles in Scherben am Boden.
Und dann griff er lachend in die Tasche und warf auf die Bar eine Hand voll Gold und Silber, mindestens das Dreifache der genannten Summe.
So fing es an, so ging es weiter. Die Bierfässer wurden hereingerollt, der sogenannte ›Kapitän‹ aber allem Anschein nach doch auch mir ein Matrose, bezahlte nach amerikanischer Sitte jedesmal sofort, aber immer nur in die mit Geld gefüllten Taschen greifend, ohne erst nachzuzählen, dann nahm er den ersten besten Filzhut vom Nagel und ließ ihn unter dem Hahn vollaufen, trank das Bier aus dem Hute, und alle folgten seinem Beispiele. Als die Fässer leer waren, mußte der Wirt an Wein und Schnapsflaschen herbeischaffen, was sich im Hause befand, an die 100 Flaschen waren es mindestens, eine Bowle sollte gebraut werden, das mußte aber auch wieder auf besondere Weise geschehen, als Bowlengefäß diente eine große Badewanne, in diese wurden der Wein, der Champagner, die verschiedensten Schnäpse und Liköre geschüttet, wie sie in die Hand kamen, ein Bündel Bambusrohre wurde aufgetrieben, und nun setzte sich die ganze Gesellschaft um die Badewanne herum und sog durch die Rohre das höllische Gebräu mit vollen Zügen ein, dabei als einzige Unterhaltung Matrosenlieder brüllend.
Das Ideal eines echten Matrosen war erreicht. Das menschliche Leben hat, so lange man an Land ist, nur einen einzigen Zweck: trinken... oder vielmehr saufen, immer saufen, und die höchste Glückseligkeit liegt darin, sinnlos betrunken zu sein. Lange würde es ja auch nicht währen, so war dieses herrliche Ziel erreicht.
Wenn nun auch bei einer derartigen Zechgesellschaft schwer eine Unterhaltung aufkommen konnte, so lag hier doch ein Rätsel vor, und jeder schien sich zu hüten, dieses mit einer Frage zu berühren.
Ganz offenbar war dieser Kapitän Flederwisch soeben erst an Land gekommen, war erst von einem Schiffe abgemustert worden, daher das viele Geld, welches schleunigst durchgebracht werden mußte. Aber der Mann zeigte auffallend viel Gold und Papiergeld, so viel kann ein Matrose nicht verdienen, auch wenn er eine zweijährige Reise gemacht hat, ohne Vorschuß aufgenommen zu haben, nicht einmal ein Kapitän hätte solch eine Summe mitbringen können, und dann hätte ein Kapitän sie doch auch nicht mit Matrosen in der ersten besten Spelunke verpraßt. Und keiner der Matrosen stellte eine Frage, auf welchem Schiffe und wie lange jener denn darauf gewesen sei.
Und dann kamen unter der um die Badewanne hockenden Korona manchmal doch merkwürdige Fragen vor.
»Das also ist dieser Kapitän Flederwisch, welcher... ?« flüsterte ein Matrose seinem Nachbar heimlich zu.
»Ja, das ist er,« wurde ebenso heimlich zurückgerannt. »St, nichts merken lassen, er will davon nichts wissen.«
Die Tochter verstieg sich zu einer offenen Frage.
»Wo ist denn Kapitän Flederwisch das halbe Jahr gewesen, daß er so viel Geld verdient hat?«
»Halts Maul!« fuhr sie der gefragte Vater barsch an, aber auch im leisesten Tone. »Das geht uns gar nichts an! Kapitän Flederwisch ist ein nobler Bengel, der sein Geld springen läßt, und damit basta! Gestohlen hat er es nicht, darauf kannst du dich verlassen, das ist der ehrlichste Kerl, den je die Sonne beschienen hat.«
Auch der fremde Matrose war bald in das Zechgelage gezogen worden.
Ein Matrose, der einen intelligenteren und einen weit weniger rohen Eindruck machte als die anderen, war auf ihn, der von der Bar aus dem wüsten Treiben zugeschaut hatte, als sich dieses noch um die Bierfässer drehte, zugetreten.
»Wie heißt du?«
»Ich heiße Ernst Mroch.«
»Bist wohl auch ein Deutscher?«
»Ja, aus Bremen.«
»Und ich aus Geestemünde. Komm, du mußt mitmachen, sonst nimmt's Kapitän Flederwisch übel, und das ist auch ein Deutscher, obgleich er's nicht mehr sein will. Kennst du den Flederwisch schon?«
»Gehört habe ich von ihm, aber sehen tue ich ihn jetzt zum ersten Male.«
»Komm nur, es sind hier noch genug, die den Kapitän auch nur vom Hörensagen kennen.«
Ernst Mroch setzte sich, also mit an die Badewanne, nutschte an seinem Bambusrohr und fiel mit ein in die »Shandies«, welche Kapitän Flederwisch anstimmte.
»Jetzt wollen wir erst etwas essen,« meinte nach einer Weile sein deutscher Kamerad. »Kommst du mit?«
Ernst kam mit, auch ein englischer Matrose schloß sich ihnen an. Die anderen dachten jetzt nicht an so etwas. Ja, wenn man den Hammelbraten, mit dem die Wirtin aufwartete, auch hätte trinken können!
»Es ist ein Fehler im Schöpfungsplan, daß man das Essen nicht auch saufen kann.«
Die drei begaben sich in ein Hinterzimmer, wo ihnen die Wirtin auftischte, natürlich immer auf Rechnung des splendiden Kapitäns. Ganz nüchtern waren sie nicht mehr, aber es ging noch.
»Ist der denn wirklich ein Kapitän?« begann Ernst das Gespräch.
»I wo,« meinte der Engländer, »der ist nichts weiter als ein Matrose wie ich. Nur weil er immer den feinen Kerl heraussteckt, etwas Besonderes sein will, wird er aus Spaß ›Kapitän‹ genannt.«
»Sooo?« sagte aber der Geestemündener, kein so junger Mann mehr. »Und ich sage dir, Flederwisch ist nicht nur in der chilenischen und in der holländischen Marine Offizier gewesen, sondern er hat auch das deutsche Kapitänspatent in der Tasche, und das will noch etwas ganz anderes heißen! Hat er doch auch bei uns als Einjähriger gedient, ich habe ihn in Kiel als Rekrut ausgebildet, ich kenne ihn doch ganz genau. Er ist nämlich sogar aus meiner Heimatsstadt, sein Vater war unser Nachbar.«
Der Mann erzählte, von dem fremden Matrosen, der sich sehr dafür interessierte, durch Fragen unterstützt. Wir geben die Erzählung, nur mit kürzeren Worten, wieder. —
Allzeit voran! — das war das Losungswort schon des Knaben gewesen, den eine gütige Natur verschwenderisch mit allen Gaben gesegnet hatte, die sie nur einem Menschen verleihen kann, mit Kraft und Geist, mit Gesundheit und Schönheit. Aber solche Gaben können auch gefährlich werden.
Paul — dieser Vorname möge genügen — war der späte Sprößling eines hohen Geistlichen, nicht nur eines Pastors, und wenn der alte Vater stolz auf seinen so aufgeweckten Jungen war, so blickte der erfahrene Mann doch auch mit bangen Augen in die Zukunft des sich körperlich und geistig gar zu schnell entwickelnden Knaben, welcher, während seine gleichaltrigen Kameraden verächtlich von den Mädchen sprachen und deswegen nicht mit ihnen spielen wollten, schon ganz toll hinter diesen her war.
Die trüben Ahnungen sollten denn auch in Erfüllung gehen, sie erfüllten sich ja überhaupt schon täglich, bis die Sorgen des Vaters einen Abschluß für immer fanden. Der zehnjährige Paul hatte wieder einmal einen Streich gemacht, gerade keinen schlechten, aber doch einen genügend dummen, und er entzog sich der Strafe durch Flucht aus dem väterlichen Hause, um dort niemals wieder gesehen zu werden.
An Bord eines amerikanischen Seglers auf hoher See tauchte Paul aus einem Fasse wieder auf. Man glaubte dem langaufgeschossenen Jungen, daß er schon 14 Jahre alt sei, man glaubte ihm seine anderen Flunkereien, wie er wegen schlechter Behandlung einem Waisenhause entlaufen wäre usw., und da in Amerika Papiere nicht nötig sind, wurde Paul als Schiffsjunge angenommen. Die weite Welt war immer seine Sehnsucht gewesen.
Gleich bei dieser ersten Reise erhielt er den Spitznamen, den er für immer behalten sollte.
Paul blieb auch an Bord der unverbesserliche Taugenichts, der nichts weiter als dumme Streiche im Kopfe hatte, dabei stahl er wie ein Rabe, aber nicht für sich, sondern für die Matrosen, welche er aus der Proviantkammer des Kapitäns mit Würsten, Schinken, Eiern und Schnaps versah. Das kam oft genug ans Licht der Sonne, aber merkwürdig, der amerikanische Kapitän, sonst ein roher Patron erster Güte, dem es nicht darauf ankam, nach den Beinen der auf der Raa stehenden Matrosen, wenn sie ihm nicht schnell genug arbeiteten, mit der Schrotflinte zu schießen, war in den Jungen ganz vernarrt, ließ ihm alles durchgehen, wobei freilich auch das in Betracht kommen mochte, daß der halbwüchsige Junge in der Seemannschaft der Tüchtigsten einer war.
»So ein Flederwisch!« schmunzelte der Kapitän dann jedesmal — und da war der Flederwisch eben fertig gewesen.
Unter featherbroom versteht der Engländer einen kecken, übermütigen, leichtsinnigen Gesellen, und das liegt wohl auch in dem deutschen Worte ›Flederwisch‹ ausgedrückt.
Aber dieser Name allein genügte noch nicht. Der Junge wollte immer gern kommandieren, und es war wirklich ganz merkwürdig, wie sich selbst die ältesten Matrosen dem zehnjährigen Bengel immer fügten. Zuerst merkte das der Kapitän, und als dieser eines Tages sagte: »Wo ist denn der Kapitän Flederwisch?« — da war aus dem zehnjährigen Paul eben schon ein Kapitän gemacht worden.
Er blieb bei der Seefahrt, avancierte rasch. Als er 14 Jahre alt war, also in einem Alter, da sich andere Knaben erst zu einem Berufe entschließen, war er schon weitbefahrener Vollmatrose mit einer Monatsheuer von 30 Dollar. In New-York hatte er sich gleich nach der ersten Reise ein Seemannsbuch auf den Namen Paul Flederwisch ausstellen lassen, und bei diesem Namen blieb es, er wurde in gewissen Kreisen sogar weltberühmt.
Der jugendliche Vollmatrose, auf dessen Oberlippe aber schon ein Bärtchen sproßte, kam im Laufe von drei weiteren Jahren noch weit in der Welt herum, und immer machte er seinem angenommenen Namen Ehre. Wie er an Land sein verdientes Geld durchbrachte, haben wir bereits vorhin gesehen, denn so hatte er es schon seit frühester Jugend gehalten, der schnöde Mammon mußte eben fort, eher hatte er keine Ruhe, und von den tollen Streichen, die er nebenbei beging, werden wir später noch genug zu hören bekommen. Es gab wenige große Hafenplätze in der Welt, von deren Polizei er nicht schon einmal ins Loch gesperrt worden wäre, nur daß Seeleute vor anderen sterblichen Menschen den Vorzug haben, daß sie bei Abgang ihres Schiffes sofort auf freien Fuß gesetzt werden müssen. Natürlich gilt das nur bei Polizeistrafen.
Nun mustern die gewöhnlichen Handelsschiffe die Mannschaft nach jeder Reise ab und neue wieder an, und wer schon einmal mit Kapitän Flederwisch gefahren war, der erzählte dann im Matrosenlogis von diesem Unikum und seinen losen Streichen, und die Seefahrt ist international, die Matrosen aller Nationen haben in jedem Hafen der Welt ihre Kneipen, wo sie sich zu finden wissen, und wenn nun irgendwo in der Welt die baumlange, charakteristische Figur in den Straßen auftauchte, so johlte allemal alles: »Hallo, Kapitän Flederwisch kommt, jetzt wird's lustig!!!« — so wie wir es vorhin gesehen haben, die Betreffenden brauchten ihn noch gar nicht persönlich gesehen zu haben, vom Hörensagen kannten sie den tollen Flederwisch alle. —
In seinem siebzehnten Jahre erinnerte sich Paul, einst eine Heimat besessen zu haben. Er begab sich nach Deutschland, und es gelang ihm gerade noch zur rechten Zeit, alles wieder zu ordnen, ehe er die Heimatsberechtigung verlor. Unterdessen war sein Vater gestorben, und obgleich Paul noch lange nicht mündig war, wußte der geriebene Junge es durch allerhand Manipulationen zu ermöglichen, daß ihm sein beträchtliches Erbteil in bar ausgezahlt wurde.
Mit diesem Gelde ging er nach Hamburg, bezog die Steuermannsschule, bestand schon nach drei Monaten sein Examen, obgleich eigentlich dazu ein Jahr fleißigen Studiums gehörte, und dabei brachte er es noch fertig, innerhalb dieser drei Monate sein ganzes Vermögen zu verprassen. Seine Lehrer begriffen nicht, wann dieser so überaus fleißige Mensch noch Zeit fand, einmal in die Kneipe zu gehen, und seine Kneipkumpane wußten nicht, wo dieser Saufbruder noch die Zeit zum Studieren hernahm. Ja, das ist eben, das Genie, und wenn's auch ein verlumptes ist!
Paul machte noch eine Reise als Steuermann, meldete sich dann zum Kapitänsexamen, bestand es wiederum glänzend und stellte sich hierauf in der deutschen Marine als Einjährig-Freiwilliger, wozu bekanntlich allein schon das Steuermannspatent berechtigt, von einer anderen Vorbildung wird in der Marine ganz abgesehen.
Offenbar hatte der junge Mann jetzt vor, seinem ferneren Lebenslaufe eine andere Richtung zu aeben. Er führte sich tadellos, und was er bezweckte, wurde klar, als er sich zum Kursus der Offiziers-Aspiranten anmeldete. Er wollte aktiver Offizier werden. Aber sein Gesuch wurde abgeschlagen, obgleich es dem tüchtigen Seemanne, der sich in jeder Weise auszeichnete, nicht an Protektion fehlte. Seinem Begehren stand ein unbesiegliches Hindernis entgegen. Nicht, daß er nicht das Reifezeugnis von der Schule aus hatte — dieses Hindernis ist in der Marine durch einen kaiserlichen Erlaß schon oft beseitigt worden — sondern sein Wunsch scheiterte an der kleinlichen Bestimmung, daß der Offiziers-Aspirant einen Bürgen stellen muß, welcher ihm während der Zeit seiner Einberufung oder für die ersten Jahre als aktiver Offizier einen gewissen Zuschuß zum ›standesgemäßen Leben‹ garantiert. Vermögen besaß Paul nicht mehr, einen Bürgen konnte er nicht stellen, hätte auch nichts geschenkt angenommen, und so wurde aus der ganzen Sache nichts.
Als Kapitän Flederwisch ging er wieder in die Welt hinaus. Aber Offizier wollte er noch immer werden. Er trat in chilenische Marine-Dienste, und schon nach einem Jahre hatte er es zum Offizier gebracht. Da eine Revolution, ein Präsidentenwechsel, und wiederum war alles vorbei. Und solch eines Umsturzes aller bestehenden Verhältnisse muß man ja in jeder dieser südamerikanischen Republiken jeden Augenblick gewärtig sein. In europäischen Staaten aber stand Paul zur Offizierskarriere überall das leidige Geld im Wege, ebenso auch in den Vereinigten Staaten. Nur noch einen Staat gab es, wo er sich in der Marine zum Offizier aufschwingen konnte: Holland — nur mußte er einen Umweg nehmen.
Er trat in die holländische Fremdenlegion ein, gleich als Leutnant, aber freilich bei der Infanterie, wurde in einem Feldzug gegen die Atschinesen zum Hauptmann befördert, und jetzt trat er als Kapitänleutnant zur Marine über. Da wegen einer Liebesaffäre ein Duell, in dem er seinen Vorgesetzten tötete, und wieder war alles aus.
Hatte der noch immer junge Mann eingesehen, daß er als ungehorsamer Sohn einen Fluch auf sich geladen hatte, dem er nicht mehr zu trotzen wagte? Oder gerade im Gegenteil, wollte er dem ihm feindlich gesinnten Schicksal Hohn sprechen? Wir sehen den ehemaligen Offizier als einfachen Matrosen wieder. Er hätte doch mit Leichtigkeit sofort eine Stellung als Handelskapitän gefunden, oder doch wenigstens wieder als Steuermann, er besaß doch seine Patente, seine Zeugnisse waren glänzend — nein, Flederwisch fuhr wieder als gewöhnlicher Matrose, und dabei blieb er.
Seine ehemaligen Kameraden freilich, mit denen er nun wieder zusammenkam, die fanden den Grund seiner freiwilligen Degradation bald heraus. Der gewöhnliche Matrose verdiente gar zu viel Geld, und mit seiner Anmusterung an Bord eines Schiffes war auch immer ein Geheimnis verknüpft.
Der ausrangierte Offizier hatte Bekanntschaft mit einer professionellen Schmugglerbande gemacht, war einer der ihrigen geworden, hatte sich ihr mit Leib und Seele verschrieben!
Auf welche Weise solch eine Schmugglerbande zur See, deren es genug gibt, operiert, kann hier nur mit kurzen Worten angedeutet werden.
Gewöhnlich sind es schon ältere Seeleute, am meisten ehemalige Kapitäne und Steuerleute, die wegen irgend eines Vergehens ihr Patent verloren haben, etwas Geld besitzen und von der Seefahrt nicht lassen können oder wollen. Sie rüsten auf eigene, und zwar auf geteilte Kosten ein Schiff aus, nehmen als sogenannte Deckung irgend eine solide Fracht und dann natürlich noch Schmuggelwaren, was das Schiff fassen kann. Nach Amerika werden Spirituosen gebracht, nach England Spirituosen und Tabak, für Frankreich ist die beste Schmuggelware Tabak und Streichhölzer, Streichhölzer desgleichen für die Türkei, für Nordafrika Salz, für Südamerika Oberhemden, Spitzenwäsche und Waffen, und so hat jedes Land sein Absatzgebiet für eine Ware, auf der ein besonders hoher Zoll steht.
Wie die zu schmuggelnde Fracht an Land gebracht wird, das ist ganz verschieden. Folgender Fall ist erst jüngst in Liverpool passiert.
Kommt da ein Dampfer von 4000 Tonnen an, dessen Solidität bekannt ist, er bringt aus Amerika ausschließlich Axtstiele mit, diese werden ausgeladen, da fällt es zwei Arbeitern ein, mit solchen Axtstielen Fechtübungen anzustellen, der eine zerbricht, es fallen aus dem hohlen Innern lauter Zigarren heraus. Die Untersuchung ergab, daß sämtliche Axtstiele mit Zigarren gefüllt waren, zusammen 1000 Tonnen oder zwei Millionen Pfund Tabak, wodurch, wenn der Coup geglückt wäre, der englischen Regierung sechs Millionen Mark Zoll hinterzogen worden wären, denn auf dem Pfund Tabak ruhen ca. drei Mark Zoll.
So etwas kommt aber in England täglich vor! Wenn nicht mit einem Male in solch großartigem Maßstabe, dann täglich in kleineren Portionen. Wieviel nach England geschmuggelt wird, zeigt folgendes Beispiel: In London befindet sich ein großer Ofen, oder vielmehr ein ganzes Gebäude, als ein einziger Ofen eingerichtet, im Volksmunde ›the Queens pipe‹ genannt, das ist auf deutsch ›die Tabakspfeife der Königin‹, und in diesem werden, damit sie den Markt nicht drücken, sämtliche mit Beschlag belegten Schmuggelwaren verbrannt, und dieser riesige Ofen brennt Tag und Nacht ununterbrochen.
In so kolossaler Weise betrieb die Gesellschaft, welcher Flederwisch angehörte, ihr Handwerk nun freilich nicht, es war auch mit mehr Romantik verbunden. Sie näherten sich mit ihrem kleinen Schoner heimlich der betreffenden Küste und paschten die verbotene Fracht in finsterer, stürmischer Nacht an Land, wo ihre bestimmten Abnehmer sie schon erwarteten. Falls sie ja schon vorher von einem Zollboot angehalten wurden, mußten sie auch eine Deckfracht an Bord haben. Außer dem Kampfe mit Klippen und Elementen bot diese Art des Schmuggelns keine besondere Gefahr. Gesetzt den Fall, sie waren einmal auf frischer Tat erwischt worden, so wurden natürlich Schiff und Ladung konfisziert, aber die Freiheitsstrafe wegen Schmuggelns ist nur eine sehr geringe, wenigstens für die Matrosen und sonstigen Leute, welche dabei mit geholfen haben, denn diese haben nur dem Kapitän gehorcht. Dieser freilich wird sehr hart bestraft, und vielleicht am härtesten dadurch, daß man ihm das Kapitänspatent entzieht.
Und dies war der Grund, weshalb Flederwisch nur noch als gewöhnlicher Matrose fuhr. Allerdings war er, der mit seiner Erfahrung die Küsten kannte und die Zollbeamten wie kein zweiter an der Nase herumzuführen wußte, immer die Seele des Ganzen, er war der eigentliche Kapitän, der Führer, aber anmustern tat er stets nur als gemeiner Matrose. Er hielt noch etwas auf sich, wollte sein Kapitänspatent nicht verlieren.
So trieb er es nun schon seit sechs Jahren. Das war bekannt, den Zollbehörden fast sämtlicher Länder war Kapitän Flederwisch als ein professionsmäßiger Schmuggler bekannt, und manch anderer dazu. Aber hinterher kann das Schmuggeln nicht mehr bestraft werden.
Die Regel bleibt bestehen: Das Schmuggeln ist erlaubt, man darf sich dabei nur nicht erwischen lassen!
»Wieviel verdient er denn bei so einem Schmuggeltransport?« fragte der fremde Matrose.
»Ach Gott, so happig ist das auch nicht. Das kommt auf seinen Einsatz an, den jeder einzahlen muß, das ist gewissermaßen eine Aktiengesellschaft, und dann bekommt Flederwisch noch etwas extra für seine besonderen Dienste. Jetzt ist er mit Tabak in Spanien gewesen, ich weiß es, er war ein Vierteljahr fort, und wenn er da 2000 Dollar verdient hat, so ist das schon sehr viel. Ich glaube es gar nicht. Er muß ja jedesmal das geliehene Geld doppelt und dreifach zurückbezahlen.«
»Was für geliehenes Geld?«
»Na, was er eben beizusteuern hat. Das muß alles auf geteilte Gefahr gehen, dann kann es keinen Verräter geben. Und Kapitän Flederwisch spart sich natürlich nichts. Er zahlt das geborgte Geld mit Zinsen zurück, und was dann noch übrigbleibt, das wird gleich am ersten Tage bis zum letzten Pfennig verhauen. Dann geht er wieder hin und pumpt sich das nötige Kapital.«
»Von wem?«
»Da ist kein Geheimnis dabei, das sagt er selbst. Härtung heißt er, er hat bei Brooklyn eine Mühle. Der leiht ihm immer das Geld, gehört also eigentlich auch mit zu der Schmugglerkompanie, wenigstens als stiller Teilhaber. Wieviel er ihm jedesmal gibt? Das weiß ich nicht. Tausend, ein paar tausend Dollar. Ein großes Risiko ist freilich vorhanden. Werden die Schmuggler einmal geklappt, dann hat natürlich auch Härtung sein Geld verloren. Aber was macht das? Der hat ja schon im ersten Jahre seinen Einsatz mindestens vierfach wieder herausbekommen, und, wie gesagt, Kapitän Flederwisch treibt's nun schon seit sechs Jahren, und Härtung ist gleich von Anfang an sein Bankier gewesen.«
Der fremde Matrose, welcher sich für alles dies so interessierte, fiel in ein tiefes Sinnen.
»Merkwürdig,« meinte er dann kopfschüttelnd, »solch ein Mann, aus guter Familie stammend, das Kapitänspatent in der Tasche, Offizier gewesen — — um ein paar Dollar mehr zu verdienen, so ein dunkles Handwerk zu betreiben, zu schmuggeln!«
»Halt, das sagt nicht!« fiel aber der andere schnell ein. »Des Verdienstes wegen schmuggelt Kapitän Flederwisch nicht! Denn ob er mit hundert Dollar wieder an Land kommt oder mit tausend Dollar, das ist ihm ja ganz gleichgültig, es wird doch am ersten Tage bis zum letzten roten Cent totgeschlagen, gleich in den ersten Stunden. Ihr seht ja selbst, wie er's treibt. Nein, die Lust an verwegenen Abenteuern, die Gefahr, das Spiel um Tod und Leben — das ist's, was ihn immer wieder dazu treibt. Es muß wieder einmal ein großer Seekrieg losgehen, darauf wartet Kapitän Flederwisch auch nur — dann sollst du mal sehen, was der noch aus sich zu machen weiß! Das wird ein Blokadebrecher, wie es noch keinen gegeben hat. Der bringt sein Schiff in jeden Hafen hinein und wieder heraus. — Hast du den Nobody gesehen, wie er sich im Atlantic-Garden immer verwandelte?«
Über das Gesicht des fremden Matrosen ging ein unmerkliches Zucken.
»Ja, den habe ich gesehen.«
»Na, was dieser Nobody mit sich selbst macht, daß man ihn im nächsten Augenblick gar nicht wiedererkennt, das macht Kapitän Flederwisch mit dem ganzen Schiffe. Er maskiert es. Aber wie! Wir hatten einen alten Schoner von 300 Tonnen, die englischen Zollbeamten hatten Wind von uns bekommen, wir waren signalisiert — ich ging vier Stunden zur Koje — nur vier Stunden! — als ich wieder an Deck kam, rieb ich mir immer nur die Augen — weiß Gott, ich erkannte unser Schiff selbst nicht wieder! Aus dem kleinen Schoner war mit einem Male ein großes Vollschiff geworden — freilich alles nur Bretter und Pappe — aber bei Gott, ich weiß heute noch nicht, wie dieser Kerl das fertig gebracht hat.«
»So so,« brummte Ernst wieder nachdenklich. »Da warst du also auch einmal dabei?«
Der Matrose blickte sich erst vorsichtig um, ob jemand von den Wirtsleuten im Zimmer sei, ehe er eine Antwort gab.
»Ja,« flüsterte er dann, »vor zwei Jahren. Aber nur eine einzige Fahrt habe ich mitgemacht. Denn ich sage dir: ich habe die Nase vollbekommen! Wir paschten eine Ladung Portwein an die englische Westküste. Im Januar, dazu noch ein bitterkalter Winter. Na, ich sage dir! Ich bin doch auch nicht von Kuchen, aber... Ich habe einmal mitten im Südwinter Schiffbruch bei Kap Horn gehabt, wir sind vierzehn Tage im offenen Boot gewesen. Alles voll Eiszapfen. Aber Kinderspielerei gegen das, was ich damals in jener Nacht an der englischen Küste durchgemacht habe. Ein furchtbarer Schneesturm, die Brandung voller Eisschollen, und wir mußten die schweren Weinfässer durchseilen. Na, ich sage dir! Guck dir einmal dem Kapitän Flederwisch seine Fäuste an. Vor sechs Jahren hat der noch nicht solche Bärentatzen gehabt.«
»Da kommt es wohl auch manchmal mit den Zollbeamten zum Kugelwechsel?«
»Nein, niemals! Das ist es eben, darauf hält Flederwisch. Der kann als ehrlicher Kerl jederzeit wieder als Steuermann oder Kapitän fahren. Daß er früher geschmuggelt hat, das hat dann nichts zu sagen. Er läßt sich eben dabei nicht erwischen. Aber einen Mord oder so etwas ladet er nicht auf sein Gewissen. Freilich, im Stich läßt der auch niemanden, und da ist schon manches passiert, was noch weniger als das Schmuggeln erlaubt ist. Mir ist's nämlich selber passiert. Eben bei jener Fahrt. Ich wurde von Zollbeamten festgenommen, mit noch einem anderen. Das heißt, der Portwein war schon in Sicherheit. Wir beide wurden noch hinterher gepackt, wir sollten sagen, was das in der Nacht für ein Schiff gewesen, wer der Kapitän usw. Natürlich sagten wir nichts, nannten nicht unsere Namen, und Papiere hatten wir nicht bei uns. Wir kamen ins Gefängnis. In Hamford war's, ein ganz ansehnliches Städtchen. Na, mir war's höllisch zumute. Die ließen uns unser ganzes Leben lang nicht wieder heraus, wenn wir nicht erzählten. Aber schon in der nächsten Nacht kam er und öffnete unsere Zellentüren. Wie ein schwarzer Engel. Wie er's so lautlos fertiggebracht hat — ich weiß es nicht. Wachtmeister und Konstabler, alles lag gebunden und geknebelt da. — Ja, wenn so etwas in Südamerika passierte oder in Spanien! Aber in England, mitten in einer Stadt! Wenn man's erzählt, glauben sie's einem nicht. So etwas bringt eben nur Kapitän Flederwisch fertig. Ein verwegener Satan!«
Die drei begaben sich in die Gaststube zurück, wo noch immer gejohlt und mit den Bambusrohren das höllische Gebräu aus der Badewanne gesaugt wurde. Aber nur die Hälfte noch kauerte um dieses Gefäß und brüllte, die andere Hälfte lag am Boden und schnarchte.
Nur noch eine halbe Stunde, draußen brach die Dämmerung an, als auch von jenen dreien, welche im Zechen eine Erholungspause gemacht hatten, einer nach dem anderen umfiel, bis zuletzt nur noch Kapitän Flederwisch allein dasaß.
Er erhob sich.
»Jungens, jetzt gehen wir alle zusammen nach Tinkys Tanzsalon, dort folgt die Fortsetzung. Wer kommt mit?«
Komische Frage! Nur ein allgemeines Schnarchen antwortete.
Da drückte sich in dem schönen, dunkelgeröteten Antlitz des jungen, riesenhaften Mannes etwas wie eine unsagbare Verachtung, sogar wie Ekel aus, als sein Blick die sinnlos Betrunkenen überflog, und seine Worte gaben seine Gedanken wieder:
»Ihr jämmerlichen Affen, ihr Schweine, ihr Schwächlinge. Und ihr sagt, ich sei euresgleichen?!«
Dann wandte er sich schnell an den Wirt, welcher sich mäßig gehalten hatte:
»Ist alles bezahlt?«
»Alles bezahlt, Kapitän.«
Ohne noch ein Wort zu verlieren, wandte sich der junge Riese, dem der Alkohol nichts anhaben konnte, und verließ das Zimmer, trat auf die Straße hinaus.
Ebenso schnell verschwand der Wirt durch die Hintertür, um den Hausknecht zu rufen, daß ihm dieser behilflich war, den noch beträchtlichen Rest des Gebräues aus der Badewanne auf Flaschen zu füllen und dann die Leichen zu bergen.
In demselben Augenblicke, da sich die zwei verschiedenen Türen hinter den beiden geschlossen hatten, erhob sich einer der schnarchenden Matrosen, spähte mit klaren Augen um sich, zog unter seiner Jacke den Hut hervor und trat ebenfalls in die anbrechende Nacht hinaus. Es war der fremde Matrose gewesen, welcher sich Ernst Mroch genannt hatte. —
»Kapitän Flederwisch kommt!!!«
So war es auch jubelnd in Tinkys Tanzsaal erschollen, nur daß hier in diesen Ruf sich viele Weiberstimmen eingemischt hatten.
Dann ging es auch hier wie dort, Bier und Wein und Whisky mußten fließen. Aber hier artete die Zecherei immer mehr zu einer Orgie wüstester Art aus.
Und dann fehlte bald der Gastgeber, aber ohne vermißt zu werden. Kapitän Flederwisch hatte sich bald auf die kleine Galerie zurückgezogen, auf welcher sich jetzt kein Mensch befand, und beobachtete von hier aus, hinter einer Portiere verborgen, das lärmende, frivole Treiben zu seinen Füßen, und wieder war es Verachtung und Ekel, was sich in seinen Zügen ausprägte.
»He, Kapitän Flederwisch, hihihihihi!« kicherte da hinter ihm eine dünne Fistelstimme.
Unwillig wandte sich der Einsame um und sah ein kleines, altes Männchen mit karfunkelroter Nase in dem verwitterten Gesicht, in einen sehr schäbigen, blauen Anzug gekleidet, einen schmutzigen Schal um den Hals gewürgt — eine jener Gestalten, wie sie jede Hafenstadt aufzuweisen hat, ein verlotterter Seemann, der nur noch auf Kosten jüngerer Kameraden lebt, regelmäßig dem Trunke ergeben, und dieser hier machte davon keine Ausnahme, das sagte mehr noch als die rote Nase das gläserne Auge, und außerdem zitterte der alte, widrige Kerl ebenso mit den Händen und Knien wie mit dem Kopfe.
»Was wollt Ihr von mir?« fragte Flederwisch verdrießlich.
»Na, Ihr kennt mich wohl nicht mehr, hihihihi?« feixte der Alte, der aber noch recht gute Zähne hatte.
»Nicht daß ich wüßte.«
»Vor zwei Jahren, als Ihr den Portwein nach England brachtet, in Hamford, hihihihi. Ich bin doch der Jimmy, hähähähä.«
»Ach, laßt mich in Ruhe! Ich kenne Euch nicht.«
Aber der Alte zog einen Stuhl heran, setzte sich und tätschelte dem Riesen auf dem Knie herum.
»Kapitän, um Euch ist's doch eigentlich schade,« begann er in vertraulichem Tone.
»Sooo?« meinte Flederwisch mit gezwungenem Spott. »Kommt Ihr her, um mir das zu sagen? Könnt Ihr mir vielleicht helfen?«
»Ja, ich könnte Euch wohl helfen, hihihihi,« fing der alte Jimmy wieder zu kichern an, jetzt aber im leisesten Tone.
»Wißt Ihr denn, was mir fehlt?«
»Geld, hihihihi.«
»Geld? Hm. Das wäre bei mir das wenigste. Oder doch, gerade die Hauptsache. Könnt Ihr mir vielleicht zu so viel verhelfen, wie ich brauche?«
»Eine Million — fünf Millionen — zehn Millionen, hihihi.«
»Millionen was? Streichhölzer?« spottete Flederwisch, der jetzt aber doch auf das Gespräch einging.
»Dollar oder auch rote Pfund Sterling, zehn Millionen, hihihihi.«
»Nur her damit!«
Der Alte beugte sich vor und machte ein geheimnisvolles Gesicht.
»Kapitän,« flüsterte er, »Ihr seid gerade der Rechte, den ich schon seit lange suche. Ihr könnt doch tauchen?«
»Ach so,« lachte Flederwisch, »das ist ja so ein alter Schatztaucher!«
Wenn man sich in den Matrosenspelunken einer größeren Hafenstadt herumtreibt, so kann man mit Sicherheit darauf rechnen, immer einige verkommene Individuen zu treffen, welche ›ihr großes Geheimnis‹ zu verkaufen haben oder zur Ausbeutung desselben einen Kompagnon mit Geld suchen. Entweder wissen sie, wo der Schatz der Flibustier liegt, oder wo ein spanisches Goldschiff gesunken ist, oder so etwas Aehnliches, getaucht muß dabei auf jeden Fall werden; diese Menschen leben in ihrer Phantasie nur noch auf dem Meeresgrunde, und daher tüfteln sie nebenbei immer an einem neuen Taucherapparat herum, welcher jede Meerestiefe erschließt, während man bis heute noch nicht tiefer als 40 Meter hinabkommen kann.
»Habt Ihr von Pueblo Morgana gehört, hihihi?« fuhr der Alte fort.
»Aha, richtig, ein Flibustier! Jawohl, der Cartagena und sämtliche Klöster von Zentralamerika geplündert hat und dessen Schiff dann mit der ganzen, riesigen Beute unterging. Ja, wenn ich wüßte, wo der Schatz läge, dann säße ich jetzt nicht hier.«
»Ich weiß es, hihihihi.«
»So geht doch hin und holt ihn Euch.«
»Ja, wenn ich das allein könnte. Aber tauchen, hihihihi, tauchen! Kapitän, Ihr seid der Kerl, den ich brauche, tauchen werdet Ihr können, und ich glaube, Euch kaun ich vertrauen.«
»Das könnt Ihr wohl,« ging Flederwisch scheinbar auf den abenteuerlichen Vorschlag ein.
»Schwört mir, keinem Menschen etwas zu verraten, dann nenne ich Euch die Stelle.«
»Unsinn, schwören tue ich nicht, ich fluche höchstens. Aber mein Wort habt Ihr, daß ich nichts verrate.«
»Gut, Kapitän, ich habe Euer Ehrenwort, das genügt mir.«
Der Alte stand auf und streckte sich auf den Fußspitzen empor, bis sein Mund das Ohr des Riesen erreichte.
»21 Grad 89 Minuten 18 Sekunden südlicher Breite; 87 Grad 14 Minuten 52 Sekunden westlich von Greenwich,« wisperte er ihm ins Ohr.
»21, 39, 18 südlich,« wiederholte der junge Kapitän aus dem Gedächtnis, »87, 14, 52...«
»St, nicht so laut!!« rief der alte Mann erschrocken. »Wißt Ihr, wo das sein könnte?«
»Natürlich, das ist die Westküste der Halbinsel Yukatan.«
Der alte Jimmy nickte geheimnisvoll.
»Da liegt das Schiff, und gar nicht tief, hihihihi, gar nicht tief. Aber freilich, ein Fahrzeug und Taucherapparate braucht man dazu, und das kostet Geld, und das muß man erst haben.«
Kapitän Flederwisch war aufgestanden.
»Mann, ich will Euch etwas sagen. Ihr habt das Delirium, der Schnaps sieht Euch ja aus den Augen. Wenn wirklich etwas an Eurer Behauptung wäre, so würdet Ihr doch nicht dem ersten besten, der Euch in die Quere kommt, Euer Geheimnis preisgeben. Denn Ihr kennt mich doch nur vom Hörensagen. Ich habe nämlich ein ganz vorzügliches Gedächtnis und weiß bestimmt, daß wir uns noch nie gesehen haben. Geht hinunter, dort gibt es eine neue Lage, haltet Euch dazu, es ist die letzte auf meine Rechnung. Good bye.«
Damit entfernte sich der Kapitän schnell.
So weit von der letzten Vorstadt Brooklyns entfernt, daß man nichts mehr von dem geräuschvollen Leben spürte, lag in idyllischer Gegend auf einem Hügel Hartungs Windmühle. Aber ringsherum ist sumpfiges Land, des Anbaues nicht wert. Erst wenn es dem Besitzer gelang, den Boden zu entwässern, dann konnte er aus seinem vielen Grund und Boden Geld schlagen, und zu diesem Zwecke hatte er bereits überall Gräben angelegt, welche immer mit einem schwarzen Morast angefüllt waren.
Neben der klappernden Mühle stand eine einsame Sykomore, und im Schatten derselben lag ein Mann. Wir erkennen ihn sofort wieder: es ist Kapitän Flederwisch. Er wartet auf die Rückkehr des Müllers, seines ›Bankiers‹, welcher mit Frau und Kind in die Stadt gegangen ist.
Hat er einen moralischen Katzenjammer? Denn daß seine Taschen keinen Cent mehr enthalten, das ist bei Kapitän Flederwisch ganz selbstverständlich, wenn er sich hier befindet. Mürrisch oder niedergeschlagen sieht sein schönes, rotbraunes Gesicht gerade nicht aus, wohl aber träumerisch, sogar wehmütig, was diesem Manne gar nicht recht stehen will.
Jetzt fängt er mit tiefer und doch so weicher Stimme zu deklamieren an:
»Ach, hätte ein Eiland ich, schimmernd und hehr,
Verlassen und einsam im bläulichen Meer,
Wo nie auf dem Baum welkt das blühende Laub,
Wo die Blumen nicht fallen dem Winter zum Raub;
Wo die Sonne nur fällt
Zur
heiligen Feier,
Um die Nacht auf die Welt
Zu
decken als Schleier,
Wo das Fühlen, das Atmen aus innigster Brust,
Ist die herrlichste Freud' und die seligste Lust!«
Ganz gewiß, Kapitän Flederwisch hatte einen Katzenjammer, und zwar einen tüchtigen!
Er war noch nicht fertig mit deklamieren, und jetzt mischte sich dem wehmütigen Ausdruck seiner Züge ein stark sehnsüchtiger, förmlich liebesschmachtender bei, und das hatte seinen guten Grund: denn jetzt kam in dem Gedicht auch das Ewig-Weibliche vor, er wollte nicht mehr allein sein auf seiner paradiesischen Insel.
Mit vor Sehnsucht zitternder Stimme fuhr er also fort:
»Da würden wir lieben auf sonniger Flur
Mit Seelen, so rein, wie die holde Natur;
Die Strahlen der Sonne, die Ruhe der Luft,
Sie würden Herzen uns füllen mit Duft.
Von den Lippen so weich
Würde
Liebe ich trinken,
Den Bienen gleich,
Die
in Blumen versinken.
Dann glich' unser Sein einem Tage voll Pracht,
Und der Tod käme still wie die heilige......«
Bumberumbumbumm!!!
Der Deklamierende schnellte auf, als ob ihn der Blitz getroffen hätte, obgleich es nur ein Donnerschlag gewesen war.
Der sonnige, stille Sommertag hatte sich verändert. Ein kühler Wind sauste durch die Zweige der Sykomore, am Horizonte stieg eine schwarze Gewitterwolke mit schwefelgelbem Saume auf.
Weit reichte der Blick von hier aus, der Mann sah noch das Meer, wie es brandend durch die Straße von Sandy Hook schoß, und das aufsteigende Gewitter und die weite See brachten den sentimental Gestimmten plötzlich auf andere Gedanken, was sich auch sofort in seinen Zügen und Augen ausdrückte, eine wilde Lust blitzte darin auf.
»Ach, ich Narr,« rief er mit weitschallender Stimme, »der ich von einer paradiesischen Insel und von weichen Lippen träume! Nein, das ist nichts für Kapitän Flederwisch, wenigstens nichts für die Dauer, da weiß er etwas anderes, was ihn fesseln kann:
»Weite See, wilde See,
Sturm und Schlacht auf wilder See,
Wo ich geh', und wo ich steh',
Seh ich mich auf wilder See!«
Wieder ein Donnerschlag mit langanhaltendem Murren, ohne daß ein Blitz zu sehen gewesen, jetzt ging durch die Sykomore ein heulender Sturm, der die Mühlenflügel peitschte, und wieder beeinflußte dies die Stimmung des Kapitäns, er streckte verlangend beide Arme nach der Gewitterwolke aus, dorthin, wo er das unruhige Meer schaute, und jetzt begann er sogar zu singen, und es war eine prachtvolle, gewaltige Stimme, den Sturm und das Mühlengeklapper übertönend:
»Und das war Olaf Trikvason,
Fuhr übers Nordmeer hin,
Zu suchen sich ein Königreich....«
»Das will ich dir wohl geben.«
Diesmal ein greller Blitz, der zur Erde niederschmetterte, ein furchtbarer Donnerschlag, und wie Kapitän Flederwisch herumfuhr, stand vor ihm der fremde Mann, der diese letzten Worte gesagt hatte, wie unter Blitz und Donner plötzlich aus dein Boden gewachsen.
»Wer seid Ihr?«
Jetzt war es der Fremde, welcher zu deklamieren begann, und zwar war es gleichfalls ein Gedicht des klassischen Burns, mit dem er die Antwort gab, oder doch der Anfang eines Gedichtes:
»Der auf dem Höllenthron ich sitze,
Der ich in Höllenflammen schwitze,
Der ich in Höllentiefen litze,
Wo Laven glühn,
Mit Pech und Schwefel um mich spritze,
Dich zu verbrühn!«
»Hallo!« lachte Kapitän Flederwisch. »Also der Höllenfürst in eigener Person!«
»Du sagst es. Nenne mich einfach Mephistopheles.« Wahrhaftig, einen passenderen Namen als Mephistopheles hätte dieser Mann gar nicht wählen können. Dieses bleiche, abgelebte Gesicht mit den großen durchdringenden Augen, der schwarze Zwickelbart, und nun vor allen Dingen dieses überlegene, spöttische, schadenfrohe, hinterlistige, boshafte, einfach satanische Lächeln, mit dem er den jungen Riesen anblickte — es war Mephistopheles in eigener Person. Nur der Pferdefuß fehlte. Heutzutage aber tritt der Teufel überhaupt nicht mehr als haariger Affe mit Hörnern und Schwanz auf, sondern immer als weltgewandter Kavalier, und das war auch dieser Mann. Der schwarze Gehrockanzug aus feinstem Tuche saß ihm wie der Zylinder tadellos, und an der weißen Weste brauchten nicht die schwergoldene Kette und an den Fingern mehrere kostbare Ringe zu blitzen, um sofort den reichen Herrn aus der großen Lebewelt erkennen zu lassen. Wer so auftritt, der kann unmöglich ein armer Schlucker sein.
»Das ist ja famos!« rief Flederwisch, immer noch lachend. »Den Teufel kennen zu lernen, habe ich mir schon immer gewünscht. Was willst du von mir, Freund Mephisto?«
»Dich selbst und deine Seele,« war die prompte Antwort.
»Hm. Höre, Freund, ich habe allerdings schon oft daran gedacht, mich dir mit Leib und Seele zu verschreiben. Aber die Sache hat einen bösen Haken. Ich bin nämlich ein viel zu ehrlicher Kerl, so ehrlich, daß ich dir ganz offen sage: mich kriegst du dereinst sowieso, dafür brauchst du mir gar nicht erst was zu geben.«
Das diabolische Lächeln trat noch stärker hervor, als jener erwiderte:
»Höre auch du, Freund Flederwisch, der du so oft sehnsüchtig an mich gedacht hast. Ich bin seit einigen Jahrhunderten verdammt vorsichtig geworden. Du kennst doch die Geschichte mit Gretchen — weißt du, die manchmal am Spinnrad sitzt und das bekannte Lied dazu singt — und dann den Doktor Faust, den Heimich, vor dem sich Gietchen manchmal graute, manchmal sich auch nicht vor ihm graute — — ich hatte die beiden schon so sicher in meiner Tasche, hatte für die beiden schon eine Wohnungseinrichtung auf Abzahlung gekauft — — und dann kommen die beiden doch noch in den Himmel... Pech und Schwefel! Wenn einem so etwas mehrmals passiert, i da möchte sich der Teufel ja gleich selber holen!!«
»Nee, ach nee,« lachte jetzt der junge Kapitän aus vollem Halse, »ich entgehe dir nicht. Überhaupt, ich will gar nicht in den Himmel kommen. Unter den Lebensbäumen ewig träumen — weiter fehlte nichts, das wäre mir viel zu langweilig, das hielte ich keine acht Tage aus.«
»Und ich sage dir, ich traue keinem einzigen von euch Menschen mehr. Wenn ihr alt werdet, denkt ihr manchmal anders, und ihr habt den Teufel schon gar zu oft übers Ohr gehauen. Und nun gar du, der Kapitän Flederwisch, du maskierst dereinst dein Schiff, auf dem du in die Ewigkeit hinübersegelst, fährst mit falscher Takelage keck am Höllentor vorbei, und ich habe das Nachsehen.«
»Sooo?« stutzte jetzt Flederwisch. »Kennst du mich denn?«
»Natürlich kenne ich dich, und ich komme doch eben, um deine Wünsche zu befriedigen, die du vorhin hattest. Gut, ich bin bereit, sie dir zu erfüllen. Aber schriftlich muß der Pakt abgemacht werden. Mit deinem eigenen Blute braucht der Kontrakt nicht geschrieben zu werden, aber notariell muß er beglaubigt sein, ein Siegel darauf! Dann lasse ich es mir auch etwas kosten, und das Geld spielt bei dem Herrn der Fliegen und des Goldes ja gar keine Rolle.«
Flederwisch war zu der Überzeugung gekommen, einen Mann vor sich zu haben, der ihm einen großen Schmuggeltransport übertragen wollte, vielleicht ein Millionengeschäft, nach welchem er sich schon immer gesehnt hatte, das mit einem Schlage alle seine Verhältnisse änderte. Bisher hatte er vergeblich gehofft.
Aber noch behielt er den humoristischen Ton bei.
»Gut, wenn es so ist, dann können wir ja einmal verhandeln. Aber billig verkaufe ich meine dir so wertvolle Seele nicht.«
»Nenne deine Wünsche!«
»Ein schnelles Schiff.«
»Sollst du haben.«
»Aber es muß mir gehören.«
»Sollst du haben.«
»Ein Dutzend Matrosen darauf.«
»Sollst du haben.«
»Aber keine Waschlappen, fixe Jungens, jeder muß ein ganzer Mann vom Scheitel bis zur Sohle sein. Die ganze Mannschaft muß ich mir überhaupt selbst zusammensuchen können.«
»Sollst du haben. Was sonst noch zu einem Schiffe gehört, welches doch auch unterhalten sein will, weiß ich allein. Wünschest du noch mehr?«
»Meine eigene Insel.«
»Sollst du haben.«
»Die ich mit Kanonen bespicken kann.«
»Meinetwegen kannst du doch darauf machen, was du willst. Wenn du nur immer das zu alledem nötige Geld hast.«
»Richtig. Also wenn ich in die Tasche greife, muß ich immer die ganze Hand voll Goldstücke haben.«
»Sollst du haben.«
»Donnerwetter, du bist generös!«
»Dafür bin ich der Teufel und der Herr aller Schätze der Erde, und etwas hexen kann ich auch.«
»Halt, wenn es so ist, dann will ich die Geldangelegenheit gleich etwas genauer definieren. Meine linke Hosentasche muß immer voll Silber sein, die rechte voll Gold, greife ich in die Westentasche, so finde ich das zum täglichen Leben nötige Kleingeld, und in der Brusttasche ist das große Papiergeld, mindestens Tausenddollarnoten. Denn wenn ich z. B. einmal eine Million zu bezahlen habe, und ich soll die in Goldstücken aufzählen, das würde doch etwas gar zu lange dauern.«
»Sollst du haben. Nur in etwas bitte ich um Nachsicht. Könnte nicht vielleicht das Silber in deiner rechten und das Gold in deiner linken Hosentasche sein? Dieses Arrangement wäre mir nämlich viel bequemer, das hängt mit der Zauberformel zusammen.«
»Well, das ist mir gleichgültig,« lachte Flederwisch. »Na, da wollen wir den Pakt abschließen. Komm, Freund Mephisto, wir trinken eine Flasche Bier dabei, ich bin durstig.«
Er schritt der Mühle zu und betrat den Eingang. Der andere war ihm gefolgt.
In der Flur, gleich neben dem Treppenaufgaug, lags seltsamerweise direkt am Boden, ein großer Haufen Mehl, daneben stand ein Mühlknappe, welcher an einer Holzschaufel einen Stiel befestigte.
»Was liegt denn das Mehl hier?« meinte Flederwisch im Vorbeigehen, leckte am Finger, tauchte diesen in die weiße Masse und kostete.
»Pfui Deiwel!!« rief er sofort, heftig ausspuckend. »Wie schmeckt denn das Mehl?«
»Nee, Gabidän, nee,« sang grinsend der Mühlknappe im schönsten Sächsisch, »das is geen Mahl, das is Sie mehrschtendeels Gibs, mir dun heite Gibs mahln.«
»Pfui Deiwel!« wiederholte der Kapitän mit aller Energie, und dann wandte er sich an seinen Begleiter. »Verzeihe, Freund Mephisto, mit diesem Deiwel habe ich nicht dich gemeint.«
Er ging die Treppe hinauf, und da er hier ganz zu Hause war, betrat er eine Stube, in welcher es eigenartig würzhaft roch. Das Zimmer war keine eigentliche Backstube, es enthielt auch einige Möbel, aber in ihm stand auf zwei Holzböcken ein riesiger Backtrog, über zwei Meter lang und dementsprechend breit, angefüllt mit einem blasentreibenden Teig, dem der würzige Duft entströmte.
»Ich liebe diesen Geruch,« erklärte Flederwisch, »er erinnert mich immer an...lassen wir das! Ich bin ein Mann der Arbeit, und schänden tut die Gegenwart eines Backtrogs mit Brotteig wohl auch keinen anderen Menschen. Die Hauptsache ist für mich, daß ich hier das Bier in meiner nächsten Nähe habe. Bitte, setzen Sie sich.«
Er entnahm einem Wandschrank zwei Flaschen und Gläser und setzte sich dem Fremden gegenüber.
»Sie kennen mich. Ich kenne nicht Sie,« begann Flederwisch dann in einem anderen Tone.
»Dorington.«
»Sehr angenehm. Was wünschen Sie, Mr. Dorington?«
›Ist Ihnen ein Mann Namens Jeremias oder Jimmy King bekannt?«
»Jimmy King?« wiederholte Flederwisch nachdenklich. »Nein.«
»Doch. Gestern abend in Tinkys Tanzhaus haben Sie mit ihm gesprochen.«
Sofort stutzte der Kapitän, der schon einmal sein ausgezeichnetes Gedächtnis erwähnt hatte.
»Der alte, verlumpte Kerl mit der roten Nase?«
»Derselbe.«
Kapitän Flederwisch bekam gleich ganz große Augen.
»Er schwatzte mir etwas von einem Geheimnis vor, von einem... einem... never mind. »Was ist mit diesem Manne?«
»Er sucht Sie schon seit langer Zeit.«
»Mich? Weshalb?«
»Um Ihnen das Geheimnis mitzuteilen, von dem ich annehme, daß er es Ihnen gestern abend anvertraut hat.«
Immer mehr stutzte der junge Kapitän. Wie, so sollte wirklich etwas daran gewesen sein? Er wußte sich zu beherrschen.
»Was wissen Sie von diesem Geheimnis oder von unserer gestrigen Unterhaltung?« fragte er kaltblütig.
»Wir können ja ganz offen sprechen. Was Ihnen der Alte da gesagt hat, das ist kein leerer Wahn. Der ist durch einen Zufall in den Besitz der geographischen Ortsbestimmung gekommen, an welcher Stelle der Westküste von Yukatan der bekannte Piratenkapitän Pueblo Morgana mit Schiff und ganzer Beute untergegangen ist. Dieser alte Jimmy King ist ein Sonderling. Er hat von Ihnen gehört und hat sich partout in den Kopf gesetzt, daß gerade Sie es sein müssen, mit dem zusammen er den unermeßlichen Schatz vom Meeresgrunde heben will. Aber dazu ist erst viel Geld nötig, vor allen Dingen müssen kostspielige Taucherapparate gekauft werden...«
»Halt,« unterbrach Flederwisch den Sprechenden, »ich denke, wir können unsere Unterhaltung sehr abkürzen. Dieser alte Mann hat mir allerdings eine geographische Ortsbestimmung bis zu den Sekunden gemacht.«
»Also wirklich!« flüsterte der Fremde erfreut. »Nun ja, ich habe es ja erwartet.«
»Aber ich habe dem Manne mein Ehrenwort gegeben, dieselbe keinem Menschen zu verraten.«
Der Fremde mit dem diabolischen Gesicht hob phlegmatisch die Schultern.
»Nonsense — Unsinn! Es handelt sich hier um ein Geschäft, wie ein solches Ihnen noch nie...«
»Halt,« unterbrach ihn Flederwisch abermals, »ich denke wirklich, wir können die Sache sehr abkürzen. Haben Sie verstanden, was ich Ihnen sagte? Ich habe diesem Jimmy King mein Ehrenwort gegeben, nichts von dem, was er mir mitteilte, zu verraten. Haben Sie das verstanden?«
»Allerdings, aber...«
»Und Sie wollen jetzt diese geographische Ortsbestimmung von mir erfahren?«
»Das ist es, wir wollen gemeinschaftliche Sache machen. Sie sind der Mann, den ich dazu brauche, und ich habe das dazu nötige Geld. Der alte, versoffene Kerl ist dabei überflüssig, den lassen wir ganz aus dem Spiele...«
»Herr,« unterbrach ihn Flederwisch zum vierten und letzten Male, »Sie haben sich erst für den Teufel ausgegeben, und da waren Sie mir angenehm, ich habe gar nichts gegen den Teufel, der Teufel ist ein ganz ehrlicher Kerl — — aber Sie, Mr. Dorington, Sie sind ein... Schuft!!!«
Quatsch! Der vornehme Mephistopheles hatte einen Schlag ins Gesicht bekommen, eine sogenannte Ohrfeige, auch Maulschelle genannt, und zwar eine derartige, daß er vom Stuhle geschleudert wurde.
Zu Boden stürzte er allerdings nicht, aber er flog gleich gegen die Wand, oder doch bis dicht an den Backtrog, hier suchte er mit den Händen nach einem Stützpunkt... und tauchte mit beiden Armen gleich bis an die Schultern in den weichen Teig hinein.
Im nächsten Augenblicke hatte er die Arme wieder herausgezogen und stand mit einem katzenähnlichen Satze vor dem Kapitän, den einen Arm, von dem der Teig in langen Nudeln herabtriefte,mit geballter Faust zum Schlage erhoben.
»Mensch, wenn du wüßtest, wer ich bin, ich könnte dich mit einem Schlage...«
Flederwisch war aufgesprungen, sich in Boxerpositur stellend, um den Angriff abzuwehren.
Aber der Schlag fiel nicht, Mephisto vollendete den Satz nicht, es sollte alles anders kommen.
Blitzschnell hatte der fremde Herr seinen Gegner unterlaufen. War diese Gewandtheit der schlanken Gestalt wohl zuzutrauen, so doch nicht die gewaltige Kraft, mit welcher der riesenhafte Seemann ausgehoben wurde, seine langen Beine quirlten in der Luft herum, und dann lag Kapitän Flederwisch plötzlich in dem Backtrog, mitten im Teig, und Mephistopheles griff auch noch mit beiden Händen hinein und quatschte ihm das klebrige Zeug immer ins Gesicht und drückte ihn hinein, bis jener ganz verschwunden war.
»Hier friß, Du Luder, friß den Teig, dann braucht er nicht erst gebacken zu werden...«
Da tauchten aus dem Teige zwei lange dicke Nudeln auf, das waren Kapitän Flederwischs Arme, sie griffen zu, Mephisto hatte zurückspringen wollen, allein es war zu spät gewesen, er befand sich in der Gewalt der teigigen Finger. Flederwisch zog, Mephisto riß — — und da stürzte der ganze Backtrog um, fiel auf den Boden, und auch Mephisto war gefallen, und jetzt wälzten sich am Boden zwei Menschen herum, die keine Menschenähnlichkeit mehr hatten.
Die Tür ging auf. Der Mühlknappe aus Sachsen war durch das Poltern heraufgelockt worden.
Mit starren Augen blickte er nach dem zappelnden Teighaufen. Denn die beiden ließen noch nicht von sich ab, auch in der zähen Substanz katzbalgten sie sich immer weiter herum.
»Nee awwer... nee awwer... nee awwer...«
Mehr brachte der biedere Sachse in seinem Staunen nicht hervor.
Da plötzlich richtete sich der lebendiggewordene Brotteig auf, zwei in die Länge gezogene Hefenklöße tanzten engumschlungen durch die Stube.
»Nee awwer... nee awwer... nee awwer, so was labt ja gar nich un wackelt doch mit'n Schwanz!«
Der brave Sachse sollte noch etwas ganz anderes erleben.
In der Stube stand ein kleiner Kanonenofen, zu dieser Zeit natürlich ungeheizt, gegen diesen prallten die beiden ungebackenen Pfefferkuchenmänner mit voller Wucht an, der ganze Ofen ging in Trümmer, das Rohr brach ab, und das Rohr war seit dem letzten Winter noch nicht gereinigt worden, eine Wolke von Ruß stob auf die beiden weißen Gestalten herab, aus den Mehlwürmern im Nu kohlschwarze Raben machend, und die Rußdusche schien ihnen noch nicht zu genügen, jetzt legten sie sich wieder hin und kollerten sich, immer eng umschlungen, noch in dem Ruße herum.
»Nee awwer... nee awwer... bin ich denn nur verrickt oder sind die's?«
Da kamen die beiden schwarzen Gestalten wieder auf die Füße, wieder tanzten sie eng umschlungen durch die Stube, jetzt wie zwei aus dem Leim gegangene Schornsteinfeger. Sie erreichten die Tür, diese stand noch offen, und polternd kugelten die beiden die Treppe hinab und... verschwanden in dem großen Gipshaufen!
Oben stand der Mühlknappe und stierte auf den lebendig gewordenen Haufen.
»Nee awwer... nee awwer... was machen die beeden denn eegentlich da in dem Gibse?!«
Er die Treppe hinab. Da aber richtet sich der Gipshaufen schon wieder auf, jetzt sind aus den beiden Schornsteinfegern abermals zwei weiße Mehlwürmer geworden, und immer dicker wird die Schicht, welche auf dem Teige vortrefflich hält.
Und noch immer wollen sie nicht von sich lassen, weiter geht die Katzbalgerei, weiter der tolle Tanz, zum offenen Mühlentor hinaus, und wie der Arbeiter draußen steht, da liegen die beiden schon wieder am Boden, kollern den Abhang hinab und verschwinden spurlos in der schwarzen Jauche eines Abzugsgrabens.
»Nee awwer... nee awwer... nu, was ham die beeden eegentlich da drin zu suchen?!«
Da aber geht dem hellen Sachsen doch ein Licht auf, um was es sich handelt, hier muß schnell geholfen werden oder die beiden, die gar nicht wieder zum Vorschein kommen, sind dem Tode geweiht.
»Färchtegott, he, Färchtegott, gomm mal fix her und bringe anne Ledder mit, hier sin zwee Gerle in de Sch... gefall'n!«
Färchtegott kam mit der ›Ledder‹, das heißt mit der Leiter, sie wurde über den Graben gelegt, und als man die beiden schwarzen Sumpfhühner glücklich wieder heraus hatte, da endlich ließen sie voneinander ab, ihr erster Griff war nach dem Mund, den mußten sie zunächst von der deliziösen Sauce aus Teig, Ruß, Gips und Schlamm befreien, sie waren schon dem Erstickungstode nahe, und dann begannen die Mühlknappen mit Feuerspritze, Bürste und Teigkratze zu arbeiten.
Das war eine Arbeit!! Zuletzt mußte Hammer und Meißel zu Hilfe genommen werden. Denn es war gebrannter Gips gewesen, und wenn der schwarze, stinkende Schlamm auch wenig Anspruch auf den Namen ›Wasser‹ machen konnte, es war doch solches darin enthalten, und dieses tat seine Pflicht, es verband sich mit dem Gips zur immer härter werdenden Kruste, bis diese eben losgepocht werden mußte.
Zuerst wurden die Köpfe in Angriff genommen, und kaum konnte Kapitän Flederwisch wieder aus den Augen blicken, als er diese auch schon weit aufriß und nach dem Mephistopheles stierte, dessen Gesicht unter Bürste und Scheuerlappen schon etwas menschenähnlicher geworden war.
»Kreuz Klüverbaum und Katzenschwänze, was ist denn das?!«
Ja, die verschiedenen Verwandlungsperioden mit der nachfolgenden Abwaschung hatten bei dem Mephistopheles einen ganz merkwürdigen Erfolg gehabt. Verschwunden war der schwarze Knebelbart, das schwarze Kopfhaar war plötzlich hellblond geworden, es war überhaupt ein ganz anderes Gesicht.
»Das ist ja... das ist ja... der... der... Nobody aus dem Atlantic-Garden!«
»St, still!« warnte der Erkannte. »Ja, ich bin's. Zwischen uns liegt ein Mißverständnis vor. Ich bin ja gestern abend auch der alte Jimmy mit der roten Nase selber gewesen. Ich erkläre mich dann.«
Flederwisch gab sich denn auch vorläufig zufrieden. Außerdem kam ihm erst jetzt zum Bewußtsein, was sie bei der Balgerei alles durchgemacht hatten, er brach in ein unauslöschliches Gelächter aus, und Nobody stimmte mit ein.
Dann fanden es die Mühlknappen für das beste, den beiden doch lieber gleich die Kleider vom Leibe zu schneiden, dann mußten sie ins Bad, und da nur eine Badewanne vorhanden war, wurden sie für einige Zeit getrennt.
In einem anderen Zimmer der Mühle trafen sie wieder zusammen, mit Müllerzeug bekleidet.
»Teufel, Mann, was fiel Euch ein, mich in den Brotteig zu stecken?«
»Der Teufel seid Ihr selbst. Was fiel Euch ein, mir eine runterzuhauen? Das hätte Euch schlecht bekommen können. Aber das beste ist dabei, daß ich dieser Jimmy King von gestern abend selber gewesen bin!!«
Wieder lachten sie beide aus vollem Halse. Das wenigste war den beiden der verunglückte Brotteig und der andere Schaden, den sie angerichtet hatten. Das wurde eben alles bezahlt.
Dann saßen sich die beiden wieder gegenüber, um ernsthaft miteinander zu reden.
»Könnt Ihr Euch entsinnen, wie gestern bei Tiedemanns ein fremder Matrose war, der sich Ernst Mroch nannte?«
»Nein. Es waren mir sehr viele der Matrosen ganz fremd.«
»Dieser Ernst Mroch war ich ebenfalls. Ich war auf der Suche nach einem... doch davon später. Ein Matrose, der Euch genau kannte, erzählte mir von Euch, und was ich da zu hören bekam, das gefiel mir, imponierte mir. Ihr wart der Mann, den ich brauchte. Um Euch zu prüfen, verkleidete ich mich nochmals, näherte mich Euch als jener verlumpte alte Kerl...«
»Wieso prüfen?«
»Ob Ihr ein Geheimnis bewahren könnt, ob man Eurem Worte trauen darf. Das braucht Ihr nicht übelzunehmen, Ihr habt die Prüfung glänzend bestanden.«
»Uebelnehmen tue ich Euch das überhaupt nicht, aber... hm... was ist's nun mit dem untergegangenen Flibustierschiffe?«
»Mit dem Schatze? Gar nichts. Das habe ich rein aus der Luft gegriffen. — Halt, Kapitän, macht nicht ein so verdrießliches Gesicht. Denn wirklich, ich weiß etwas, wenigstens so etwas Aehnliches, es gilt auch einen Schatz vom Meeresgrund zu heben, und dazu bedarf ich eines eigenen Schiffes und zu diesem eines tüchtigen Führers. Kapitän Flederwisch, wollt Ihr als solcher in meine Dienste treten?« —
Wir brauchen nicht mehr zu hören, was für einen Vorschlag Nobody dem Kapitän machte, auf welchen dieser einging. Die späteren Erzählungen werden das Resultat ihrer Unterhaltung schildern.
Dagegen sei hier etwas anderes im voraus erläutert.
›Featherbroom and Weatherwitch — — auf deutsch ›Flederwisch und Wetterhexe‹ — — das sind zwei Schlagworte, welche in England und im englisch sprechenden Amerika jedes Kind kennt.
Der tolle Kapitän Flederwisch, welcher auf seiner Jacht, genannt ›Wetterhexe‹, bis vor kurzer Zeit ruhelos auf allen Meeren herumsauste, war einer der populärsten Männer der Welt, ist es noch heute, noch heute existiert über ihn in der englischen Sprache eine eigene Literatur, noch heute ist er der Held von zwei zugkräftigen Theaterstücken, noch heute werden auf englischen und amerikanischen Variétébühnen Couplets über ihn gesungen, deren immer wiederkehrender Refrain zum Mitsingen ist:
»Flederwisch und Wetterhexe,
Flederhexe, Wetterfisch.
Lederwisch und Federhexe,
Lederhexe, Lederfisch.
Hexenfisch und Fettwischhexe,
Hexenleder, fetter Fisch.«
Da dürfte mancher deutsche Leser sagen: Ich habe noch nichts von diesem Kapitän Flederwisch oder Featherbroom und von seiner Jacht gehört.
Das ist glaubhaft.
Heute, da die Automobilrennen Mode sind, hat wohl jeder Deutsche den Namen Gordon Bennett gehört. Wieviel Deutsche aber haben noch vor wenig Jahren etwas von diesem exzentrischen Herausgeber des ›New-York Herald‹ gewußt?
Oder ein anderes, noch zutreffenderes Gleichnis.
Es gibt wohl wenig Deutsche, welche den Namen Baron Mikosch nicht kennen. Man mag nun die Nase rümpfen oder die Ohren spitzen — wenn der Name Baron Mikosch genannt wird, da weiß doch gleich jeder, was jetzt kommt.
Nun soll man aber in England jemanden fragen, ob er den Baron Mikosch kennt. Kein einziger Mensch!
Dieser Kapitän Flederwisch ist also der deutsche Baron Mikosch in englisch-amerikanischer Ausgabe, nur daß Kapitän Flederwisch wirklich existiert hat und heute noch lebt, und daß seine Originalität von einer ganz anderen Art ist. Wenn in England oder Amerika einmal der Name ›Kapitän Flederwisch‹ fällt, so weiß jeder sofort, was jetzt kommt, und da braucht keine Dame die Flucht zu ergreifen: ein neues, tollkühnes Stückchen von dem verwegenen Jachtkapitän, eine neue, verrückte Wette, eine neue phantastische Behauptung, woher er eigentlich das Geld nimmt, mit dem er achtlos um sich wirft, ein neues Geheimnis, wo sich die unerschöpfliche Schatzkammer des einstigen Matrosen befindet.
Das aber ist bisher unbekannt gewesen, davon hat auch niemals ›Worlds Magazine‹ berichtet, daß dieser Kapitän Flederwisch eigentlich nur ein von dem Detektiv Nobody ins Leben gerufener Schatten gewesen ist, daß Nobody der eigentliche Besitzer der Wetterhexe, daß es Nobodys Geld war, mit welchem Kapitän Flederwisch so freigebig umging.
Nobody brauchte diese Gestalt, deshalb schuf er sie.
Daher wird Kapitän Flederwisch in unseren Erzählungen noch öfters eine Rolle spielen.
Im St. Katharinen-Dock, dem ältesten Hafen Londons, welcher sich mitten im Zentrum der Riesenstadt befindet, lag schon seit zwei Wochen ein Schiff, von welchem damals in London viel gesprochen wurde. Es war ein ganz merkwürdiges Ding, sah fast aus, wie eine riesige Zigarre, mit zwei Schornsteinen und einem kurzen Signalmast darauf. Die Zeitungen machten darauf aufmerksam, daß dieses interessante Fahrzeug nach dem Typ der neuen Torpedojäger auf einer New-Yorker Werft erbaut worden wäre, auch aus Stahl, aber ohne Panzerung, denn es sei eine Privatjacht, freilich ein sonderbares Vergnügen, denn die runde Riesenzigarre mußte sich in der hochgehenden See förmlich umkugeln.
Wer war denn ihr Besitzer?
Als das Ding die Themse heraufgedampft war, hatte man sich nicht nur über die seltsame Zigarre gewundert, sondern auch über die merkwürdige Flagge am Heck: eine junge Hexe, welche auf einem Flederwisch durch Sturm und Gewitter reitet. Es gibt kuriose Schiffsflaggen, aber so eine hatte man doch noch nicht gesehen, das war originell. Daher also der Name ›Wetterhexe‹.
Als aber nun die Zollbeamten mit der Plombenzange an Bord kamen und von dem Kapitän empfangen wurden, da war das Staunen erst recht groß.
»Kapitän Flederwisch!!!« erklang es wie aus einem Munde, und dann vergaßen alle, diesen Mund wieder zuzumachen. Denn Flederwisch war doch sämtlichen englischen Zollbeamten als professionsmäßiger Schmuggler bekannt, man lauerte nur immer darauf, ihn dabei endlich einmal zu fassen.
»Was für Schmuggelware habt Ihr denn diesmal an Bord?« stellte dann einer die naive Frage.
»Nein, geschmuggelt wird nicht mehr, ich hab's nicht mehr nötig. Ich habe genug dabei verdient. Besonders bei meiner letzten Fahrt, vor einem Vierteljahre, als ich nach England 3000 Tonnen Tabak und ebensoviel Spirituosen paschte — es sollte mich doch sehr wundern, wenn die Herren nicht davon Witterung bekommen hätten, das heißt hinterher — das hat mich zum reichen Manne gemacht, jetzt habe ich mir eine eigene Lustjacht angeschafft, fahre bloß noch zu meinem Vergnügen in der Welt herum.«
So gemütlich wird es hinterher mit der Schmuggelei genommen.
Wir freilich wissen es besser, woher Flederwisch die Jacht hatte, und wer der eigentliche Besitzer derselben war. Aber die Zollbeamten wußten es doch nicht. Die mußten es wohl oder übel glauben, was ihnen der Kapitän da sagte.
Die ›Wetterhexe‹ nahm Kohlen ein, dazu mußte sie noch öfters von Beamten betreten werden, und diese konnten nicht genug erzählen, was sie an Bord zu sehen bekommen hatten.
Allerdings gerade mit verschwenderischer Pracht war die Jacht nicht eingerichtet, es fehlte schon dadurch an Komfort, daß alle bewohnbaren Räume nur sehr klein und niedrig waren. Was aber den Fachleuten am allermeisten imponierte, das waren die kolossalen Maschinen, welche der Jacht eine Schnelligkeit bis zu 24 Knoten verliehen, damals eine unerhörte Schnelligkeit.
Und dennoch, auch bei dem Mangel an Luxus, fehlte es nicht an Beweisen, daß Kapitän Flederwisch ein Mann war, der sein Geld anzuwenden wußte. So zum Beispiel, um nur ein einziges anzuführen, hatte er an Bord seinen eigenen Eisenbahn-Wagen, mit Küche und allem eingerichtet, was zu einem Luxuswaggon gehört, um darin völlig wohnen zu können.
Was man ferner an der Jacht interessant fand, das war die Besatzung, welche aus nicht weniger als 26 Mann bestand. Kapitän Flederwisch hatte da eine wahre Musterkarte von allen Nationen und allen Farben, vom tiefsten Pechschwarz an bis zum reinsten Weiß eines schwedischen Stewards. Es mußten alles tüchtige Seeleute sein, das sah man ihnen an, und ferner, daß sie an Bord dieser Jacht keine Not zu leiden hatten. Sie trugen sämtlich eine gleiche, schmucke Uniform.
Das Zusammensuchen dieser Leute war des Kapitäns Arbeit gewesen, so lange sich das Schiff noch im Bau befunden, fast ein halbes Jahr lang hatte er deswegen die weitesten Reisen gemacht, und in den Hafenstädten mochte er manchen alten Bekannten aufgetrieben und zu sich an Bord genommen haben. Nur einige wenige hatte Nobody selbst besorgt, unter diesen war einer, der vom ersten Tage an, da die Jacht im Hafen von London lag, in der weiteren Umgebung eine bekannte Persönlichkeit wurde.
Es war des Kapitäns Ordonnanz, die besonders die Post zu besorgen und dienstliche Wege zu erledigen hatte. Gleich als er sich das erstemal mit seiner großen Ordonnanztasche auf der Straße sehen ließ, da hatte er sofort seinen Spitznamen weg, sogar deren zwei — Nasenkönig oder Zwergnase — und alles blieb stehen und lachte, und dabei wäre ein Spitzname gar nicht nötig gewesen, denn der eigentliche Name dieses originellen Kerlchens war Puttfarken, Jochen Puttfarken — und Puttfarken ist doch gewiß auch ein schöner Name.
Es war gerade kein Zwerg, nur ein sehr, sehr kleiner Mann, wozu auch das viel mit beitrug, daß seine kurzen Beinchen noch etwas weiter nach außen geschweift waren, als es die Anatomie des Menschen für gewöhnlich erlaubt. Auf diesem Untergestell nun ruhte ein gewaltiger Oberleib mit noch gewaltigeren Schultern, und von diesen Schultern gingen ein Paar Arme herab, welche mit den Händen fast den Boden berührten — und was waren das für Hände! mit Gelenken, welche von keinem Griffe umspannt werden konnten — nein, das waren überhaupt keine Hände, sondern das waren fünfzinkige Kohlenschippen.
Trotz dieses kolossalen Knochenbaues schien der kleine Mann wie aus Kautschuck zusammengeknetet zu sein. Hiervon hatte er dem Publikum zwar noch keinen Beweis gegeben, aber das erkannte man schon aus seinem Gange — — oder das war eigentlich auch kein Gang, gehen konnte er gar nicht, sondern nur traben, ein ganz eigentümliches Rennen, wobei er mit seinen Kohlenschaufeln mächtig schlenkerte.
Das Interessanteste an ihm aber war das Gesicht, und das Hervorstehendste in diesem die Nase. Doch eigentlich war das auch wiederum keine menschliche Nase, auch kein Geierschnabel, auch kein Lötkolben, auch kein Leuchtturm — das war einfach ein Zinken. Unter diesem Zinken hatte er einen breiten Schlitz, der von einem Elefantenohre bis zum andern reichte, und über diesem Zinken war links und rechts dort, wo andere Menschen sonst ihre Augen haben, wieder je ein Schlitz, welcher immer pfiffig und vergnügt blinzelte. Aber von eigentlichen Augen gar keine Spur!
Nun, für sein Aussehen kann niemand etwas. Kapitän Flederwisch und sein Kompagnon wußten schon, wem sie ihre Brieftasche anvertrauten. Wir werden diese Ordonnanz später noch näher kennen lernen. Gleich im voraus sei nur noch erwähnt, daß sich Jochen Puttfarken selbst für den schönsten Mann auf Gottes Erdboden hielt, und hiervon war er allein schon deshalb überzeugt, weil ihm immer alle Menschen nachguckten, am allermeisten die ›Mächens‹.
Dem Quai, an welchem die ›Wetterhexe‹ lag, näherte sich in dunkler Abendstunde ein Mann in Fischertracht. Wir kennen ihn, es ist Nobody, welcher soeben von Rechtsanwalt Sir Clane kommt, dem er den spiritistischen Apport vorgemacht hat.
Vor dem Laufbrett hielt ein Matrose Wache.
»Ist der Kapitän schon wieder von Harrydocklane zurück?« wurde er von dem Fischer angeredet.
Der schwarze Matrose hatte den sich nähernden Mann gemustert, auf diese Frage hin trat er sofort zurück und ließ ihn passieren.
In London gibt es gar nichts, was ›Harrydocklane‹ heißt, das war eben ein Stichwort, und bei dem Verwandlungskünstler war ein solches auch stets unbedingt nötig, sonst hätten ihn ja seine eigenen Leute nicht erkannt, und Nobody konnte sich jeder nennen.
Er stieg durch eine Luke in einen engen, hell-erleuchteten Gang und klopfte an eine der Schiebetüren.
»Come in!«
Nobody trat in die kleine Kajüte, der eigentliche Jachtbesitzer, der aber keine Höflichkeit außer acht ließ, befand sich dem von ihm bezahlten Kapitän gegenüber.
»Ich gratuliere,« begrüßte der Kapitän seinen Schiffsherrn. Denn die beiden sahen sich nach Nobodys heutigem Riesenerfolge zum ersten Male wieder.
»Danke,« entgegnete der Detektiv kurz. »Ist Keigo Kiyotaki gekommen?«
»Ja, 20 Minuten nach 6 Uhr fand er sich an Bord ein. Ich war natürlich sehr erstaunt, als er sich zu erkennen gab.«
»Ich paßte auf, wann er aus dem Gefängnis entlassen wurde, heftete mich an seine Fersen und war im rechten Augenblick zur Stelle, ehe es so weit kam, daß er mit aufgeschlitztem Leibe in die Themse stürzte.«
»Also er wollte wirklich Selbstmord begehen? Ich denke, er ist ein Sintus, welcher nicht töten, also auch keinen Selbstmord begehen darf?«
»Er ist kein Sintus mehr. Er ist gar nichts mehr. Der arme Kerl, der aus Pietät gegen den Vater solch eine Tat beging, hat Vaterland und alles verloren. So sagte er mir. Aber ich habe ihm den Kopf gewaschen und ihm bewiesen, daß man auch ohne Heimat wahre Freunde haben kann, und als ich ihn entließ, da wußte ich, daß er sich an Bord meines Schiffes begeben würde, deshalb brauchte ich ihn nicht erst zu begleiten, ich hatte noch anderes vor. Wo befindet er sich jetzt?«
»Er hat gegessen, jetzt schläft er. Bleibt er an Bord, Master?«
Master war Nobodys gewöhnlicher Titel an Bord zum Unterschiede vom Kapitän.
»Gewiß bleibt er an Bord, ich muß dem Jungen doch wenigstens ein Heim bieten. Er ist ein Japaner, in alle Mysterien der Priesterkaste eingeweiht und... ich denke ihn noch recht gut gebrauchen zu können.«
»Darf ich Sie auf etwas aufmerksam machen?«
»Bitte sehr, Herr Kapitän.«
Jetzt ging es zwischen den beiden etwas anders zu als damals, da sie sich in Brotteig einwickelten.
»Es gibt mir zu denken, daß dieser Japaner während des Prozesses so gänzlich von seinen hier ansässigen Landsleuten verlassen, förmlich verleugnet wurde, die japanische Gesandtschaft lehnte sogar ab...«
»Ganz gewiß,« fiel Nobody seinem Kapitän ins Wort. »Keigo Kiyotaki hat ein Fürstengrab geplündert, so etwas ist auch bei uns schon ein ganz gehöriges Verbrechen — er hat ein Monikono-Schwert daraus entwendet — — das ist nach japanischen Ansichten ein Vergehen, so ungeheuerlich, daß wir es gar nicht mit Worten ausdrücken können. — Ja, Kapitän, wir werden uns in nächster Zeit nach China begeben, werden uns in nächster Nähe Japans befinden, es könnte doch bekannt werden, daß dieser Keigo Kiyotaki bei uns an Bord ist — — wir dürften noch die größten Unannehmlichkeiten von unserer Menschenfreundlichkeit haben, uns den größten Gefahren aussetzen, denn... ich kenne die Japaner, sie sind zu allem fähig, wenn es gilt, den Bruch eines Geheimnisses ihrer Kaste oder ein religiöses Vergehen zu rächen. Aber... wollen wir da zu Kreuze kriechen und den jungen Japaner nicht lieber doch von Bord weisen, ehe wir uns solchen Gefahren aussetzen?«
Kapitän Flederwisch hatte verstanden, was jener meinte, und er lächelte, als er seine riesige Gestalt zur vollen Größe aufrichtete, daß sein Kopf fast gegen die Decke stieß.
»Ich hatte Sie nur darauf aufmerksam machen wollen,« entgegnete er dennoch ganz einfach, weitere Worte verschmähend.
»Haben Sie schon von dem sogenannten Goto-Schatz gehört, Kapitän?« begann Nobody wieder.
»Ja, ich habe den ganzen Fall verfolgt, und dabei hat sich ja herausgestellt, daß Keigo der letzte Erbe einer ganzen Reihe von Familien ist, welche alle zum Goto-Geschlechte gehörten und riesig reich gewesen sind. Aber aus einer Erbschaft wird jetzt wohl nichts mehr werden, das ganze Vermögen konfisziert doch jedenfalls der Staat oder die Kirche.«
»Natürlich, da ist nichts mehr zu wollen,« bestätigte Nobody, sich wiederholt sinnend das Kinn reibend, »in dieser Hinsicht ist Keigo jetzt arm wie eine Kirchenmaus. Nein, ich meine mit diesem Goto-Schatze eigentlich auch etwas ganz anderes. Auch ich habe schon von diesem sagenhaften Schatze gehört, es könnte sein, daß doch etwas Reelles daran ist. Nun,« fuhr der Detektiv fort, aus seinem Sinnen erwachend, »ich werde meinen Schützling bei Gelegenheit auf den Zahn fühlen. — Sind Briefe für mich angekommen?«
»Wenigstens sechs Dutzend, Mr. Hawsken wird sie schon sortiert haben.«
Nobody verließ die Kajüte und betrat eine Kammer, in welche der enge Gang auf Backbordseite ausmündete. Diese kleine Kammer war als Toilettenraum eingerichtet, er enthielt einen riesigen Waschtisch, auf dem nichts fehlte, was ein Schauspieler zum Anschminken einer Maske braucht, und dann vor allen Dingen fielen die großen Spiegel auf, welche an allen Wänden angebracht waren.
Der Detektiv drückte auf einen Knopf und brachte den Mund an ein Sprachrohr, er wünschte einen Mann Namens Hassan, und gleich darauf erschien ein junger Araber. Diesem teilte er verschiedenes mit, wobei es sich zeigte, daß Nobody ebensogut das Arabische beherrschte, wie das Japanische. Wie mit Keigo, so redete er jetzt mit dem Araber in dessen Muttersprache.
Als Hassan die Kammer wieder verließ, trug er den Fischeranzug, dessen sich Nobody entledigt hatte, kunstvoll zusammengerollt unter dem Arm, das ganze Kostüm bis auf die hohen Seestiefel. Der Araber befand sich in dem sehr langen, aber kaum einen Meter breiten Korridor, der auf dieser Seite durch das ganze Schiff lief. Der Mann bückte sich. Plötzlich schob sich die ganze eine Wand in die Höhe und verschwand oben in der Decke, also eine Art von Rolljalousie, und eine Unmenge von Schubkästen zeigte sich, jeder mit einer Etikette versehen, welche sagte, was für ein Kostüm der betreffende Kasten enthielt.
Allein diese eine hohle Schiffswand barg mehr als 200 verschiedene Anzüge, und dann gab es auch noch auf dieser einen Seite besondere Abteilungen für Perücken, falsche Bärte und dergleichen.
Das war es, wozu dieser Detektiv eine eigene Jacht für sich selbst gebrauchte! Und weil er sie besaß; weil er auf diese Weise operierte, und weil er dieses stets als sein Geheimnis bewahrt hat — deshalb hat niemals jemand begreifen können, wie es dieser Privat-Detektiv ermöglichte, manchmal an einem Tage zehnmal und noch öfter sich zu verwandeln! Und es hat nicht an Leuten gefehlt, welche es sich förmlich zur Lebensaufgabe setzten, dieses Rätsel zu lösen.
Hiermit aber ist dieses Rätsel gelöst. Hinzu kommt noch, daß er auch in seinem eigenen Eisenbahnwagen diese Maskengarderobe immer mit sich führte, wenigstens einen großen Teil davon, den er während eines Ausflugs ins Land hinein zu benutzen gedachte.
Denn diese Verwandlungen in einem Hotel auszuführen, daran ist ja gar nicht zu denken, die Kellner würden ja gleich beim ersten Male stutzen, wenn sie aus einem Zimmer einen anderen Mann heraustreten sehen.
Nobody aber brauchte auch keinen direkten Aufpasser zu fürchten, er konnte seine Jacht als Matrose, seinen Eisenbahnwagen, den er irgendwohin rangieren ließ, in der Maske des Koches verlassen, und wenn er wollte, konnte er sogar als ein ganz anderer wiederkommen, denn jeher einzelne Anzug war wiederum doppelt, er brauchte ihn nur zu wenden, was an einem entlegenen Orte leicht zu bewerkstelligen war, und er erschien wiederum als ein vollkommen anderer.
Wir werden später noch sehen, wie er einmal einen Verfolger, der ihn entlarven wollte, auf diese Weise immer wieder getäuscht hat.
Der Jachteigentümer beanspruchte nur die hohlen Bordwände für seine Garderobe, die kleine Toilettenkammer und eine größere, zum Kontor eingerichtete Kabine, in welcher er auch schlief — wenn er wirklich einmal schlief! Es ging nämlich die Sage, daß Nobody überhaupt keines Schlafes bedürfe, oder mit offenen Augen schliefe — in allen übrigen Räumen des Schiffes konnte Kapitän Flederwisch walten und schalten, wie er wollte, er konnte darin Gesellschaften und Feste geben, Nobody behinderte ihn nicht dabei.
Als ein jugendschöner Lockenkopf, in einen bequemen, aber höchst eleganten Anzug gekleidet, ging der vor wenigen Minuten noch so plumpe Fischerknecht durch eine Spiegeltür aus dem Toilettenzimmer in sein Bureau.
Auf der einen Seite des doppelten Schreibtisches, auf welchem der kleinste Gegenstand seesicher befestigt werden konnte, erhob sich ein junger Mann, dessen blitzender, durchdringender Blick auffallend war.
Es war Mr. Hawsken, Nobodys Sekretär, der ehemalige Angestellte eines Detektiv-Institutes, den jener für seine eigenen Zwecke erzog, förmlich dressierte.
»Es sind 76 Briefe eingelaufen.«
»Mr. Hawsken, blitzen Sie mich nicht so an, wenn Sie mir dies melden, beherrschen Sie Ihre Augen, Sie müssen sich mehr vor dem Spiegel üben. Man sieht es Ihnen ja auf eine Meile Entfernung an, daß Sie ein Detektiv sind. — Ist etwas Besonderes darunter?«
Der so zurechtgewiesene Sekretär stattete Bericht ab.
Sämtliche Briefe waren an den Detektiv gerichtet, aber an die New-Yorker Redaktion von ›Worlds Magazine‹ adressiert, sie wurden ihm regelmäßig nachgeschickt. In den meisten wurde der in Amerika schon berühmt gewordene Detektiv gebeten, die Verfolgung eines durchgegangenen Kassierers oder eines anderen Individuums, welches mit Geld flüchtig geworden, aufzunehmen.
Denn Nobody hatte in Amerika bereits zwei durchgegangene Kassierer dingfest gemacht und ihnen die Beute wieder abgenommen, das eine Mal hatte es sich dabei um Millionen gehandelt.
Außerdem kamen immer noch gewöhnliche Einbrüche in Betracht, geheimnisvollere Diebstähle von Juwelen und dergleichen. Der Detektiv von ›Worlds Magazine‹ sollte vermißte Personen wieder herbeischaffen, und schließlich sogar wollte man ihn häufig in Spukgeschichten verwickeln.
Als Geisterbanner hatte er dadurch besonderes Renommee erlangt, daß er einmal ein spiritistisches Medium entlarvt, ein andermal einem Klopfgeist das Handwerk gelegt hatte.
Kurz und gut, Nobody war eben in den Ruf eines Geisterbeschwörers und Geisterbanners gekommen, und ein solcher hat ja nun in Amerika ein weites Feld. —
»Hier ist ein Brief, der wieder eine Spukgeschichte enthält,« sagte der Sekretär lächelnd, »und er wird Sie besonders deshalb interessieren, weil er gerade hier aus England kommt.«
Nobody nahm das Schreiben. Der Brief war von einer Frauenhand in unorthographischem Englisch und entsprechendem Stil geschrieben. Wir geben ihn in möglichst wortgetreuer Übersetzung wieder:
Hochgeehrter Herr Detektiv Nobody!
Sie wissen doch, daß mein seliger Mann vor acht Jahren die Red Farm bei Trura in Cornwall gekauft hat. 7000 Pfund haben wir für das kleine Ding bezahlt, aber mein Mann war ganz verrickt, und ich war auch ganz verrickt, weil zu der Farm das Red Castle gehört, und das riesige Schloß ist doch alleine 7000 Pfund wert, sogar wenn's auf Abbruch verkauft wird. Aber da sind wir ganz grimmig reingefallen. Wir sind nämlich aus Irland und wußten nichts davon und hatten's eilig und griffen gleich zu, weil's so billig war mit dem schönen, mächtig großen Schlosse. Aber in dem Schlosse spukt's nämlich, wie Sie doch auch schon wissen, und da will's kein Hund haben, nicht einmal geschenkt, und Steine gibt's hier so viele, daß man das Schloß nicht erst abzubrechen braucht, wo man die Steine erst den hohen Berg herunterschleppen muß.
Da ist nämlich vor so an die 200 Jahre der Lord Douglas gewesen, der letzte Schloßherr, der keine Kinder gehabt hat. Das war ein ganz wütender Mann, nur so zum Zeitvertreib hat er fremde Wanderer in sein Schloß gelockt und hat sie eingesperrt und hat sie verhungern lassen, seine eigene Frau hat er verhungern lassen, sogar seine Bauern hat er eingesperrt und hat probiert, wie lange sie's aushalten können, bis sie ganz tot sind. Und nebenbei hat er egal an die Wände gemalt. Daderwegen hat der Lord nun keine Ruhe im Grabe und muß in dem alten Schlosse noch jetzt das treiben, was er vor 200 Jahren bei Lebzeiten getrieben hat. Wenn jemand in das Schloß hereinkommt, dem schmeißt der Geist hinter dem Rücken die Türe zu und verriegelt sie, daß man verhungern muß, und dann malt der Geist auch noch egal an die Wände, besonders wenn nach einem recht hellen Tage eine recht finstere Nacht ist, und da will eben kein Hund das Schloß kaufen, weil sich doch niemand mit einem Male einsperren lassen will, um nachher zu verhungern, und dann die Malerei an die Wände, das ist doch auch zu dumm.
Hochgeehrter Herr Detektiv Nobody!
Ich weiß, daß Sie etwas dagegen tun können, und dann tun Sie's doch, ich bitte Sie aus ganzem Herzen vielmals darum, damit ich den Geist endlich aus meinem Schlosse bekomme und ich es verkaufen kann, und dann sollen Sie auch etwas davon abhaben, sagen Sie nur, wieviel Sie haben wollen. Ich habe nämlich schon viel von Sie gelesen. Meine Nichte, die in Amerika ist, hat mich nämlich einmal besucht und brachte mir aus Amerika drei Pfund Apfelmus mit, das war in Papier gewickelt, dadrauf stand ›Worlds Magazine‹, und was ich da von Sie lesen tat, das hat mir so gefallen, daß mein Verwalter gleich nach Amerika schreiben und die Zeitung bestellen mußte, und nun lese ich egal von Sie, und weil Sie doch schon eine ganze Menge Geister gehascht haben, da werden Sie doch auch den toten Lord fangen, daß er in meinem Schlosse nicht egal die Türen zuschmeißt und mir auch noch meine Wände vollmalt. Vielleicht brauchen Sie deswegen gar nicht erst hierher zu kommen, Sie können das gleich von Amerika aus machen, denn Sie wissen und können doch alles, und daß ich Ihnen etwas davon abgebe, wenn ich das Schloß verkauft habe, darauf können Sie sich verlassen, fragen Sie nur irgend jemand, ich bin eine ehrliche Frau. Oder vielleicht ist es doch besser, wenn Sie einmal herüberkommen, und wenn Sie Reisegeld brauchen, schreiben Sie's nur, ich schick's Ihnen, ich lasse es mir etwas kosten, wenn Sie nur den Spuk wegbringen...
Nach einigen Zeilen mit Grüßen und Respektbezeugungen, folgte der Name: Lydia Joke Mitchell — und dann die genaue Adresse: Red Farm bei Trura, Grafschaft Cornwall, England.
Geschrieben und zur Post gegeben war der Brief schon vor fast drei Wochen, er hatte ja seinen Weg über New-York zurück nach England genommen.
Nobody lachte aus vollem Halse.
»Nein, wahrhaftig, diese Missis Joke Mitchell möchte ich kennen lernen. In England hat man mich bisher nur verspottet, diese Frau macht meine Bekanntschaft durch drei Pfund amerikanisches Apfelmus, abonniert sofort auf meine Zeitung und kommt mir gleich mit solchem Vertrauen entgegen. Nein, wahrhaftig, diese Glaubensseligkeit sollte wirklich belohnt werden! — Hawsken, haben Sie schon etwas von diesem Red Castle gehört?«
Der Sekretär, obgleich ein geborener Engländer, mußte verneinen.
»Die Halbinsel Cornwall, hm,« fuhr Nobody nachdenklich fort, »wo jetzt, mitten im Winter, schon der Frühling beginnt. Ich habe sie schon immer gern besuchen wollen, und... ich möchte dieser braven Frau wirklich gern einen Dienst erweisen, und wenn ich ihr auch nur das verwünschte Schloß abkaufte. Gewiß, wenn es mir sonst gefiele, würde ich es gleich kaufen, unter solchen Umständen wird es ja nicht teuer sein. — Aber ich begreife gar nicht, wenn das Schloß gut erhalten, eine romantische Lage hat und einen mäßigen Preis wirklich wert ist, sollte sich denn da kein Mensch finden, der es kauft? Es gibt doch auch genug spukfreie Engländer.«
Hier zeigte es sich, daß der Sekretär ein kluger Kopf war, der auch einmal seinen Meister belehren konnte.
»Das wohl, aber die Sache ist die, daß man für solch ein unheimliches Schloß keine Dienerschaft findet. In Cornwall sicher nicht, dort ist der Aberglaube zu Hause, fremde Diener bekommen es schnell zu hören und werden angesteckt, und dann bedanken auch die sich.«
»Ah, da haben Sie recht! Nun, so etwas liebe ich gerade. Well, ich werde mir die Geschichte spaßeshalber einmal ansehen. Wo liegt dieses Trura? Wie und wann fahre ich hin?«
Das war auf der Karte und im Fahrplan schnell ausgekundschaftet. Jetzt war es noch nicht neun Uhr, kurz vor Mitternacht ging ein Schnellzug nach dieser Richtung ab, es war eine weite Fahrt; trotz der schnellsten Verbindung konnte Nobody erst morgen mittag in Trura sein. Aber sein Entschluß war sofort gefaßt.
»Hassan!«
Der gerufene Araber erschien.
»Dichter Nummer zwei — nein, Dichter Nummer eins. Ich muß einen kapitalkräftigen Eindruck machen.«
Nobody griff noch einmal zu dem Briefe, und wieder wandelte ihn eine Lachlust an, der er sich hier ungezwungen hingeben konnte.
»Ein Geist, welcher egal die Türen zuschmeißen tut und auch noch die Wände vollmalt, hahaha!«
So lachte Nobody. Aber er sollte in dem alten Schlosse etwas erleben, wobei ihm das Lachen verging! —
Schon unterwegs in der Eisenbahn, als man sich der Grafschaft Cornwall näherte und Leute aus dieser Gegend einstiegen, hatte Nobody über Red Castle Erkundigungen eingezogen und auch manche erhalten, aber nur ein einziger Herr konnte genauere Auskunft über den letzten Schloßherrn geben, er hatte einmal in einer Londoner Adelschronik darüber nachgelesen, und dabei hatte er eine Möglichkeit gefunden, wie die Sage von dem Spuk vielleicht entstanden sein konnte.
Da hatte es nämlich in krausem Stile geheißen, daß Lord John Douglas von Cornwall ein ›kluger Mann, aber auch ein böser Gesell', der jedem Schabernack spielte‹, gewesen sei. Er war viel gereist, war in Skandinavien und im heiligen Land gewesen, hatte von dort ›große Wissenschaft‹ mitgebracht. Dann zog er sich auf Red Castle zurück und wurde ein einsamer Sonderling, welcher ›geheime, teuflische Künste‹ trieb — also Alchimie. Sein Weib starb langsam an der ›zehrenden Sucht‹.
Vor Nobody öffnete sich ein freundliches Tal, zwischen dessen grünen Triften die Wirtschaftsgebäude der roten Farm lagen.
Er fand den Weg zum Herrenhaus, ein Mädchen führte ihn in den ›Parlour‹, was bei uns die gute Stube sein würde, und es dauerte nicht lange, bis eine alte dicke Frau mit allen Zeichen der Hast hereinkam.
Aber beim Anblick des langhaarigen Dichters Nummer eins blieb sie wie enttäuscht stehen.
»Ach, ich dachte, es wäre der Herr Detektiv Nobody! Nee, der sieht ganz anders aus.«
»Verzeihung, Mrs. Mitchell, daß ich nicht der bin, welchen Sie zu sehen erwartet haben,« lächelte der Dichter Nummer eins, »mein Name ist Ferrol. Aber in der Tat, Sie warten auf den Besuch dieses Detektivs, welcher auch mir von Amerika aus bekannt ist?«
»Nu freilich, ich habe ihm doch geschrieben, er soll mir wiederschreiben oder lieber gleich zu mir herkommen, ich will ja alles gern bezahlen, aber er soll mir nur den Geist weghaschen, daß ich das Red Castle verkaufen kann, sonst will's ja kein Hund haben.«
»Ah, Sie würden das Schloß verkaufen?« fragte der Dichter Nummer eins und Geisterhascher mit freudiger Überraschung.
»Nu freilich, na und ob! Wollen Sie's vielleicht kaufen?«
»Vielleicht, oder doch mieten, ich muß es mir nur erst einmal ansehen.«
Plötzlich machte die alte, brave Frau ein recht mißtrauisches Gesicht.
»Mieten? Wozu denn? Was wollen Sie denn mit dem alten Schlosse anfangen?«
»Nun, darin wohnen. Ich würde es mir behaglich einrichten lassen.«
Das Mißtrauen der alten Bäuerin wuchs nur noch.
»Wissen Sie denn, was es mit diesem Schlosse auf sich hat?«
»Es soll darin spuken.«
»Es soll? Nee, es spukt wirklich darin, und zwar tüchtig!! Und wissen Sie, wie es darin spukt?«
»Der alte Lord Douglas, der letzte Schloßinhaber, soll darin umgehen, soll an die Wand feurige Buchstaben malen und diejenigen, welche sein Haus zu betreten wagen, einschließen, damit sie verhungern.«
»Das wissen Sie? Und da wollen Sie in dem Schlosse wohnen?«
»Jawohl. Ich fürchte mich nicht; denn ich glaube nicht an so etwas.«
»So, glauben nicht daran, wo wir's alle ganz genau wissen? Wie heißen Sie denn eigentlich?«
»Ich stellte mich Ihnen schon vorhin vor. Ferrol ist mein Name.«
»Und was sind Sie denn eigentlich?« examinierte die brave Bäuerin weiter.
»Ich bin... Schriftsteller.«
»Schriftsteller? Was ist denn das?«
»Geschichten schreibe ich. Halten Sie sich nicht eine Zeitung? Da steht doch gewiß eine lange Erzählung drin, die teelöffelweise eingegeben wird, und am Schlusse heißt es jedesmal: ›Fortsetzung folgt‹.«
»Ach, ach so, so ein Geschichtenschreiber sind Sie?« rief die Bäuerin mit wahrer Erleichterung.
»Jawohl. Und wenn ich einmal die Dichteritis kriege, mache ich auch Verse. Ich bin auch Dichter.«
»Ach — ach so! Dichter sind Sie! Das hätten Sie mir gleich sagen sollen! Unser Pfarrer hat einen Neffen, das ist auch so ein verlorener Mensch, der macht auch Verse und schreibt solche Geschichten. Wie der einmal bei unserm Pfarrer zu Besuch war, schrie er schon früh um dreie nach Punsch, und unser Pfarrer meinte dann, so wären sie alle, die Dichter hätten alle einen Piepmatz im Kopfe, manchmal gleich sechse. Ja, wenn Sie so einer sind, dann wundert es mich nicht mehr, wenn Sie in dem alten Schlosse wohnen wollen.«
»Dann ist es ja gut, dann haben Sie es erfaßt. Jawohl, ich will in dem verwunschenen Schlosse Stoff zu einer Spukgeschichte suchen.«
»Stoff? Da drinne gibt's keinen Stoff, da gibt's nur Dreck und Ratten.«
»Na, Mrs. Mitchell, lassen wir dieses Thema nun einmal ruhen, in dieser Hinsicht können wir uns doch nicht verstehen. Also: ich besehe mir jetzt das Schloß, und wenn es mir gefällt, so miete ich es, um darin zu wohnen. Gefällt mir das Wohnen darin, so kaufe ich es vielleicht auch. Einverstanden?«
Ja, die Bäuerin war damit einverstanden, nachdem sie einmal erfahren, daß sie so einen verrückten Kerl vor sich hatte.
»Wieviel bezahlen Sie für das Schloß?«
»Was weiß ich? Erst muß ich es mir doch besehen. Aber wieviel Sie verlangen, das werden Sie wissen.«
»Gott, was soll ich dafür verlangen? So viel, wie es wert ist.«
Bei einem Bauern kann man doch nicht gleich so ohne weiteres einen Preis erfahren, auch nicht von einer englischen Bäuerin.
»Na, wieviel Miete wollen Sie denn da für ein Jahr haben?«
Wieder ein langes Schlüssen und Drucksen.
»Würden Sie... würden Sie... 5 Pfund dafür geben?«
»Für das ganze Jahr?« rief Nobody in einem Tone des Erschreckens.
»Ja... ich dachte... aber wenn Ihnen das zuviel ist...«
Na, wenn es hier so stand, für 100 Mark das riesige Schloß auf ein ganzes Jahr mieten... dann konnte das Schloß auch nicht viel kosten.
Noch eine Viertelstunde verging, dann hatte Nobody das Schloß für 1000 Pfund Sterling gekauft, in Gegenwart von Zeugen eine Anzahlung gemacht.
Die Bäuerin war glücklich, sie spendierte eine Flasche Whisky, und die Bauern blickten spöttisch nach dem verrückten Stadtherrn, der die Katze im Sacke gekauft hatte... »Dort kommt auch schon mein Koffer.«
Ein Mann tauchte auf, einen ziemlich gewichtigen Koffer tragend. Nobody bezahlte ihn und wandte sich wieder an die Bäuerin:
»Nun, meine liebe Frau, jetzt schmieren Sie mir wohl noch einige tüchtige Butterbrote, vielleicht legen Sie auch etwas Fleisch drauf, zwei Pferdedecken können Sie mir doch auch mitgeben, und dann kann ich ja mein neues Schloß beziehen.«
Die Frau riß vor Schreck die Augen weit auf.
»Doch nicht mehr heute abend?«
»Gewiß, heute abend noch, ich will gleich diese Nacht in dem verwunschenen Schlosse verbringen.«
Jetzt schlug die Frau die Hände über dem Kopfe zusammen.
»Um Gottes willen, das ist ja Ihr unvermeidlicher Tod!!«
»Warum denn?«
»Der spukende Lord schließt Sie ein, daß Sie unrettbar verhungern müssen!!«
»Aber, meine gute Frau, das ist doch ganz einfach: da kommen Sie morgen früh einmal hin, Sie werden schon hören, wenn ich rufe, und die verschlossene Tür riegeln Sie wieder auf. Bis dahin habe ich ja genug zu essen bei mir.«
»Ich? Ich werde mich hüten, ich gehe nicht in das Schloß.«
»Da schicken Sie jemand anderen hin.«
»Wen denn? In das Schloß ist niemand zu bringen, denn da ist noch keiner lebendig wieder herausgekommen.«
»Ist denn überhaupt schon jemals einer hineingegangen?«
»So lange ich mich entsinnen kann, nein.«
»Na, wer ist denn da eigentlich schon von dem Geiste eingeschlossen worden? Wer hat denn schon einmal die Flammenschrift an den Wänden gesehen?«
»Mein lieber Herr,« begann jetzt statt einer Antwort auf diese Frage die Bäuerin mit erhobenen Händen zu flehen, »wenn Sie durchaus in das Schloß gehen wollen, dann nur wenigstens nicht gerade heute, heute war ein sonniger Tag, und wir haben Neumond, es wird eine stockfinstere Nacht, und gerade in solchen finsteren Nächten nach einem sonnigen Tage treibt's der Spuk am allertollsten, Sie verlieren ganz sicher Ihr junges Leben, vielleicht dreht Ihnen der Spuk auch das Genick um, wenn er's auch bisher noch niemals getan hat — aber auch in der Nacht drinzubleiben, so etwas hat noch niemand gewagt, und wo wollen Sie denn schlafen, das ganze Schloß ist ja leer, sie müssen sich auf die nackten Steinplatten hinlegen.«
Es war alles vergebens, der Dichter Nummer eins beharrte bei seinem Entschluß, gleich diese Nacht in dem Spukschloß zu verbringen, er suche einen Stoff, wolle das Gruseln lernen, und den größten Eindruck machte das auf die Bäuerin, daß er doch das Schloß bereits gekauft habe, und er könne doch nun tun, was ihm beliebe.
Endlich ging die Frau, um das Verlangte zu besorgen.
Unterdessen überlegte Nobody alles das, was er früher und jetzt über Red Castle zu hören bekommen hatte.
Die Vermutung lag sehr nahe, daß sich in dem einsamen Schlosse eine Diebesbande oder wahrscheinlich eher, da es sehr nahe am Meere lag, eine Schmugglerbande eingenistet hatte, welche die Spukgeschichten verbreitete, bei Gelegenheit auch handgreiflichen Spuk erzeugte, um jedermann von einem Betreten des Schlosses abzuschrecken.
Allein bei reiflichem Nachdenken mußte man diese Annahme fallen lassen.
Diese Spukgeschichten zirkulierten schon seit Menschengedenken. Wäre das Schloß der Schlupfwinkel einer Gaunerbande gewesen, so konnte das auf die Dauer in dieser Gegend nicht unentdeckt bleiben, so dumm sind die Bauern hier auch nicht. Und dann vor allen Dingen hätten doch Polizei und Zollinspektion sehr bald ganz denselben Verdacht gefaßt und das Schloß einer gründlichen Revision unterzogen! Aber nichts von alledem.
Nein, hierüber war Nobody schon hinaus. Etwas anderes war es, was jetzt seinen grübelnden Kopf aufs lebhafteste beschäftigte.
Wie kam es nur, daß alle behaupteten, der Spuk zeige sich besonders, wenn einem sonnigen Tage eine recht finstere Nacht folge?
Das war es, was Nobody stutzig machte, was in ihm den Glauben erweckte, daß an der Sache doch irgend etwas Wahres sein müsse. Er dachte an irgend eine Naturerscheinung, an eine Einwirkung des Sonnenlichtes, er dachte an...
Die zurückkommende Bäuerin unterbrach sein Grübeln, Sie brachte ihm das Verlangte, zwei Pferdedecken und ein großes Paket mit Butterbroten.
»Befindet sich im Schlosse ein Brunnen?«
»Das wohl, aber der wird nicht mehr zu gebrauchen sein. Unten am Berge ist eine Quelle. Sie kommen vorbei.«
»Dann ist es gut. Muß ich einen Führer haben?«
»Einen Führer? Den bekommen Sie hier gar nicht. Na ja, bis unten ans Schloß. Aber Sie können den Weg gar nicht verfehlen, es geht hier immer geradeaus. Den Koffer kann Ihnen ja jemand bis unten an den Berg tragen, aber hinauf kommt niemand mit.«
»Wenn der Weg nicht zu verfehlen ist, dann ist es gut, den Koffer kann ich allein tragen. Das Tor ist nicht verschlossen?«
»Alles steht sperrangelweit auf.«
»Na, dann leben Sie einstweilen wohl, morgen früh auf Wiedersehen. Sorge um mich brauchen Sie nicht zu haben, ich werde so vorsichtig sein, alle Türen, die mich einschließen könnten, vorher auszuheben.«
»Das geht nicht, die sind viel zu schwer und auch so komisch eingerichtet, daran hat ja eben der alte Lord schon bei Lebzeiten gedacht.«
»Dann werde ich mir auf andere Weise zu helfen wissen, einsperren lasse ich mich jedenfalls nicht,« lachte Nobody, als er jener die Hand zum Abschied reichte.
Die Decken über der Schulter, in der einen Hand den Koffer, dessen Gewicht seinen elastischen Schritt nicht beeinträchtigte, verfolgte er den bezeichneten Weg, der ihn zunächst durch das Tal führte.
Seine Gedanken beschäftigten sich zunächst nicht mit dem Schlosse, welches für eine Weile wieder seinen Blicken entschwand, sondern mit jener Bäuerin, was er mit dieser für eine Unterhaltung gehabt hatte.
Er mußte immer noch einmal herzlich lachen, daß die Felswände des Tales widerdröhnten.
»Wenn ich das nächste Mal mit Bauern zu tun habe, wähle ich lieber die Maske eines Malers oder sonst eine, nur nicht wieder Dichter Nummer eins, auch nicht Nummer zwei oder drei.«
Da tauchte über seinem Haupte das mächtige Schloß auf, in dieser Nähe schon deutlich eine rötliche Farbe zeigend. Es war aus Porphyr erbaut, aus welchem Gestein hier alle Felsen bestanden, und mit Zinnen und Türmen geschmückt.
Der Aufstieg, welcher bei der aus dem Gestein sprudelnden Quelle begann, war erreicht. Er konnte zwischen einem breiten, sich rund um den Felsen ziehenden Fahrweg und einer steilen Rampe wählen, alles, da aus dem Felsen gehauen, wohlerhalten, und nur, wo sich die aus der Verwitterung entstandene Erde angesiedelt hatte, sproßte es trotz der Winterszeit in üppigem Grün hervor.
Nobody wählte den steileren, aber bedeutend kürzeren Weg. In zehn Minuten war er oben, ließ erst die Mächtigkeit des ganzes Baues auf sich wirken und betrat dann durch ein Tor den Schloßhof.
Alles leer, alles verödet, nur die Sperlinge trieben ihr Wesen. Aber verwildert sah es nicht gerade aus. Es war eben alles ausgeräumt, alles nackt, und auf dem Steinboden konnte nicht einmal Unkraut gedeihen.
Sämtliche nach dem Hofe führende Tore und Türen standen offen, fast alle waren von Eisen oder doch eisenbeschlagen, allerdings stark verrostet, aber hingen noch in den Angeln und waren sonst in Ordnung.
Ohne sich darum zu kümmern, daß er eingeriegelt werden könnte, was auch schwer zu machen gewesen wäre, da die Türen alle nur von innen Riegel besaßen, trat Nobody durch ein großes Tor ins Innere.
Er durchschritt Säle, Zimmer und Gemächer im Grundgeschoß, im ersten und zweiten Stockwerk. Überall dasselbe, alles leer und nackt, keine Spur von Möbeln vorhanden, höchstens steinerne Bänke und dergleichen. Hier innen aber zeigten die unbekleideten Wände keine rote Farbe, denn sie waren sämtlich — und das muß ausdrücklich erwähnt werden — mit weißen, sehr kleinen, wahrscheinlich marmornen Täfelchen mosaikartig ausgelegt, aber also einfarbig, alles im reinsten Weiß.
Allein diese marmorne Wandbekleidung machte dieses Schloß zu einem überaus wertvollen Objekt, das mußte eine riesige Arbeit gekostet haben; hier in dieser Gegend gab es gar keinen Marmor, der Erbauer des Schlosses mußte enorme Summen hineingesteckt haben.
Auch die Türen, sämtlich aus Eisen, was zu der anderen kostbaren Bauart gar nicht recht passen wollte, waren in tadelloser Ordnung, höchstens daß sie in den Angeln etwas eingerostet waren. Auch die Schlösser, nach Art unserer Klinken eingerichtet, funktionierten noch tadellos.
Zunächst suchte er nach dem Brunnen, und hierbei kam er zum ersten Male auf die Westseite des Schlosses.
Plötzlich, als er wieder ein Zimmer durchschritten hatte, fluteten ihm die Strahlen der untergehenden Sonne entgegen, mit einem Glanze, daß er zuerst die Augen schließen mußte. Es war das weite Meer, welches das Licht mit so grellem Scheine reflektierte, das Meer, welches zu seinen Füßen an den Porphyrfelsen brandete.
»Herrlich!« rief da der Mann, dem man sonst gar keine solche Begeisterung zutraute, in wahrer Verzückung. »Das ist auch so etwas für den Kapitän Flederwisch! Das Schloß am Meer! Wie weit mag die See von hier entfernt sein? Höchstens einen Kilometer. Da breche ich einen unterirdischen Tunnel durch den Felsen, dort wird ein Hafen gesprengt — — das wird ein Hafen für die ›Wetterhexe‹, da kann ich mit ihr unten durch den Felsen gleich bis in mein Schlafzimmer fahren!«
Er stand nicht eigentlich auf einem Altan oder Balkon, dieser Raum hier gehörte noch immer zum Inneren des Schlosses, aber die hohen Fenster waren so breit, daß die Zwischenräume nur Säulen bildeten. Luftig war das Schloß jedenfalls, nur schade, daß in dieser nebligen Gegend die Sonne sich so selten zeigte, sonst hätte sie von hier aus das ganze Schloß durchfluten können. Nobody berechnete sogar, daß hiernach auch die Türen angeordnet waren, die Nachmittagssonne mußte in jeden Winkel des ganzen Hauses dringen können.
Dies zu bemerken, scheint an sich nicht nötig, wird aber noch später von Wichtigkeit, und der scharfsinnige Detektiv, der nichts außer acht ließ, hatte denn auch sofort seine eigenen Gedanken.
»Hm. Ein sonniger Tag und eine recht finstere Nacht, dann zeigt sich der Spuk am handgreiflichsten oder doch am deutlichsten. Hängt das vielleicht damit zusammen, daß man hier so für ungehinderten Zutritt der Sonne gesorgt hat, wenn sie einmal scheint? Nun, wir werden sehen, da habe ich ja gerade die richtige Zeit getroffen.«
Also Nobody war schon zu der Vermutung gekommen, daß an der Fabel des abergläubischen Volkes vielleicht dennoch etwas Wahres sein könnte.
Den Brunnen fand er in einem Gewölbe des Erdgeschosses, dessen Fußboden der massive Felsen bildete. Nur hier war noch das Alter des Baues zu erkennen, denn neben dem Schacht befand sich ein mächtiges Tretrad, aber schon gänzlich unbrauchbar, von Würmern zerfressen, die Bretter zerfielen unter den Fingern in Staub.
Der Detektiv brachte aus seiner Tasche eine zusammenklappbare Blendlaterne zum Vorschein, entzündete sie und ließ ihren Strahl in den Schacht hinabfallen. Er sah rote Seitenwände, nichts weiter.
Die Laterne wurde mit Petroleum gespeist, er schraubte den Behälter auf, nahm aus der Tasche ein großes Stück Zeitungspapier, sah sich nach einem Stein um, einen solchen gab es hier nicht, nahm statt dessen eine halbe Krone, eine große, englische Silbermünze, unserem Taler entsprechend, wickelte sie in das Papier ein, tränkte dieses mit Petroleum, brannte es an und ließ es in den Schacht hinabfallen, nachblickend und sofort langsam zu zählen beginnend. Immer kleiner wurde die schnell fallende Flamme, bis sie plötzlich verlöschte, und obgleich sie eine ganz beträchtliche Tiefe erreicht haben mußte, war, weil der Schacht einem Sprachrohr glich, noch ganz deutlich das Zischen des Wassers zu hören gewesen,
Nobody hatte die Sekunden gezählt und machte im Kopfe eine Berechnung.
»Mindestens 120 Meter. Donnerwetter! Da haben die Kriegsgefangenen und Sklaven der alten Ritter tüchtig meißeln müssen!«
Daß auch sonst das steinerne Fundament des Schlosses unterhöhlt war, verriet schon eine Treppe, welche von hier aus hinabführte.
Aber Nobody ging jetzt nicht an eine Untersuchung dieser Kellerräume, es begann zu dunkeln, und er wollte sein Petroleum für die Nacht aufsparen.
Er begab sich nach dem Räume zurück, in welchem er seinen Koffer gelassen hatte, dieser Raum enthielt an der Wand auch eine Steinbank, und hier beschloß er sein Nachtlager aufzuschlagen. Es umgab ihn schon fast völlige Finsternis.
»Welch Zeit ist es? Erst sechs Uhr. Ja, wir sind noch im Winter.«
Schnell aß er etwas von dem Proviant der Bäuerin, labte sich an einer Flasche Wein aus seinem Koffer, dann legte er sich auf die Steinbank und wickelte sich in die Pferdedecken. Als Kopfkissen diente sein Koffer.
»Um zwölf Uhr will ich aufwachen, um die Geisterstunde zu genießen.«
Es waren für heute seine letzten Worte gewesen. Fast sofort verrieten seine regelmäßigen Atemzüge, daß er fest schlief, unbekümmert um den harten Stein, um die sich jetzt ganz empfindlich machende Kälte, unbekümmert auch darum, daß ihn eine Geisterhand einschließen könnte.
Wie das in diesem Räume freilich eine menschliche oder eine Geisterhand fertig gebracht hatte, war schwer zu verstehen. Von hier aus ging ein scheibenloses Fenster nach jenem Raum, in dem man sich so gut wie im Freien befand.
Schlief dieser Mann, welcher, wie er schon mehrmals bewiesen hatte, förmlich das Gras wachsen hörte, wirklich so fest? Wohl schwerlich.
Mochte der Wind auch in dem alten, winkligen Gemäuer heulen, mochte der Kauz auch krächzen, das störte ihn nicht im Schlaf — — aber wenn sich etwas geregt hätte, was nicht in dieses nächtliche Konzert paßte, so wäre dieser Mann ganz sicher sofort auf seinen Füßen gewesen.
Und dennoch!
Das, was jetzt um ihn herum vor sich ging, das merkte auch Nobody nicht, denn das spielte sich völlig lautlos ab.
Die Kirchturmuhr des Dörfchens verkündete die Mitternachtsstunde.
Es gibt energische Menschen genug, welche zur bestimmten Zeit, die sie sich vorgenommen, zur bestimmten Minute und Sekunde aufwachen können.
Nobody hatte sich doch auch vorgenommen, um 12 Uhr aufzuwachen — allein der Schläfer auf der Steinbank rührte sich nicht.
Minuten vergingen noch, und der energische Mann schlief ruhig weiter.
Dazu hatte er auch sein gutes Recht. Die Kirchturmuhr ging nämlich vor.
In demselben Augenblicke aber, da der Zeiger seiner großen, silbernen Taschenuhr, eines Monstrums von einer Uhr, auf den Strich der 12 deutete, richtete er sich mit offenen Augen von seinem Lager auf und...
Er fiel nicht wieder zurück, aber mit einem unartikulierten Schrei preßte er seinen Oberkörper gegen die Wand und stierte mit weitaufgerissenen Augen die Gestalt an, welche dicht vor ihm stand.
Doch lassen wir unseren Detektiv einmal selbst erzählen, so wie er es seinem Tagebuche anvertraut hat:
»Es war die leuchtende Gestalt eines Ritters in voller Rüstung, mehr als lebensgroß, in der Rechten eine mächtige Streitaxt wie zum Schlag erhoben. Etwas Menschliches, d. h. Irdisches, war nicht daran. Ich kannte die Bilder der Laterna magica, ich kannte das Leuchten von mit Phospor gezeichneten Bildern — nichts dergleichen. Es war ein schneeweißes Licht, welches von der Gestalt ausging, die ganze Gestalt selbst war ein weißes Licht, ohne daß dieses aber die Umgebung erleuchtete. Denn um mich her war es stockfinster. Es war ein Geist — das sagt alles.
»Ich werde niemals von beängstigenden Träumen gequält. Wenn ich erwache, bin ich sofort bei klarem Bewußtsein. Ich wußte auch jetzt, wach und bei klarer Besinnung zu sein.
»Ich glaube nicht an Geister, Gespenster und dergleichen. Ich habe noch keinen Geist gesehen. Ich kann nicht daran glauben, es geht gegen meine Vernunft.
»Da sah ich einen!
»Was ich dabei dachte? Ich weiß es nicht mehr. Ich fürchtete mich. Es ist kühn, dies zu gestehen, aber feig, es zu verheimlichen. Nur der Feigling und der Schwächling renommiert.
»Ich fürchtete mich nur? Nein, das kalte Entsetzen packte mich. Ich fühlte, wie mir plötzlich der Angstschweiß aus allen Poren brach.
»Aber das mag vielleicht nur eine einzige Sekunde gewährt haben. In solch einer Situation währt eine Sekunde sehr lange.
»Dann wandelte sich meine Stimmung um, es packte mich plötzlich etwas wie eine wilde Wut, ich weiß noch ganz genau, daß ich mit den Zähnen knirschte und dann laut aufbrüllte.
»›Himmel und Hölle, du oder ich!!!‹
»Mit diesem Ruf, mit diesem Brüllen stürzte ich auf die leuchtende Gestalt los und... erhielt einen Schlag auf den Kopf, der mich sofort bewußtlos niederstreckte.«
So weit Nobodys eigene Worte. Der Bearbeiter seines Tagebuches hätte es nicht über sich gebracht, zu sagen, daß sich dieser Mann gefürchtet hätte.
Nun, wir denken, wie er dann handelte, das spricht wohl auch etwas anders für ihn. Da hätte sich wohl mancher die Bettdecke oder Pferdedecke über die Ohren gezogen oder hätte sonst etwas getan, nur auf die weiße Gestalt wäre er nicht losgesprungen. Denn das geht wohl aus Nobodys eigenen Worten ganz deutlich hervor, daß hier nicht etwa an einen Menschen gedacht werden darf, der mit einem weißen Bettuch einen Geist zu spielen versuchte. Man darf wohl glauben, daß Nobody so etwas auch unterscheiden konnte.
Als Nobody wieder zu sich kam, war es schon heller Tag, und zwar abermals ein sonniger.
Trotz seines schmerzenden Kopfes war er sofort bei klarer Besinnung, was am besten daraus erhellt, daß er augenblicklich seine Uhr zog und konstatierte, 8 Stunden und 42 Minuten bewußtlos dagelegen zu haben, und zwar dicht neben der jener Steinbank gegenüber befindlichen Wand.
Sein Koffer war noch da, nichts fehlte.
Jetzt erst untersuchte er mittels eines Spiegels seinen Kopf. Oberhalb der Stirn eine tüchtige Brausche, nichts weiter, und dann, daß diese Stelle etwas blutrünstig war.
Er untersuchte die getäfelte Wand — richtig, da klebten etwa in Kopfhöhe einige Haare, von seinen eigenen, auch ein kleiner Blutfleck war sichtbar.
Nobody ging an die Steinbank, legte sich darauf, wickelte sich in die Pferdedecken ein, alles so wie gestern abend, richtete sich wieder halb empor, duckte sich zum Sprunge, dabei die Stellung seiner Beine und Füße beobachtend, sprang...
»Ja, es war nur eine Einbildung von mir, daß mich die Streitaxt getroffen hatte — eine leicht begreifliche Einbildung in dem Augenblick, da ich mit dem Kopfe dort gegen die Wand schmetterte. Aber das war keine Einbildung von mir, daß vor mir die weißleuchtende Gestalt eines geharnischten Ritters stand. Wo, das allerdings kann ich nicht mehr angeben, die Entfernung von mir war nicht zu schätzen. Aber auf sie zugesprungen bin ich, das weiß ich — nicht vorbei, sondern direkt auf sie zu, und ich glaubte schon, sie in meinen Händen zu haben, als ich den wuchtigen Schlag erhielt, den ich mir aber dort an der Wand selbst erteilt hatte.«
So wenig dachte Nobody daran, daß der Spuk von einem Menschen erzeugt sein könne, daß er nicht einmal nach einer Spur und dergleichen suchte.
Dann heißt es weiter in seinem Tagebuche:
»Unter unserer ausgemachten Chiffre setzte ich ein Telegramm an Kapitän Flederwisch auf, er solle sofort mit Mr. Hawsken hierherkommen, aber nach kurzer Überlegung zerriß ich das Telegramm wieder.«
Warum er so handelte, warum er die beiden nicht zu seiner Unterstützung herbeirief, davon steht kein Wort in seinem Tagebuche.
Wir aber wissen es, wir ersehen es aus dem, was er dann weiter tat.
Allein wollte er den Kampf gegen den Geist, gegen das Phantom oder was es sonst war, ausfechten, ganz allein! Dieser Mann brauchte keine Unterstützung, er schämte sich einer solchen, wenigstens in einer derartigen Geisterangelegenheit.
»Heute ist wieder ein sonniger Tag, in der Nacht nach Neumond, also ist alle Hoffnung vorhanden, daß der Spuk heute nacht wiederkommt. Ich werde ihn erwarten, aber nicht schlafend. Jetzt bin ich der Besitzer dieses Schlosses, habe es ehrlich gekauft — well, ich will doch sehen, wer hier Herr ist, ich brauche mein Haus weder mit einem Menschen, noch mit einem Geiste zu teilen, einer von uns muß weichen, und ich denke, ich werde es wohl sein, der den anderen hinausschmeißt.«
So sprach Nobody. Was würde wohl ein anderer Mann gedacht und getan haben, nachdem er in der Nacht so etwas erlebt hatte? Und der Betreffende brauchte dabei durchaus kein Angsthase und kein Gespensterseher zu sein!
Nobody setzte sich zum Frühstück an seinen Brotkorb und leerte die Flasche Wein.
»Mrs. Mitchell hat mich so reichlich mit Proviant versorgt, daß ich bis morgen früh bequem noch aushalten kann, frisches Wasser habe ich auch, also sehe ich gar keinen Grund, noch einmal ins Dorf zu gehen, und Zeit ist Geld. Ich werde bis heute abend mir das Schloß genauer besichtigen, eine Skizze zeichnen und meine Pläne, was aus diesem prächtigen Schlosse noch alles zu machen ist, weiter ausspinnen.«
Gedacht, getan. Als das Frühstück beendet war, holte Nobody zuerst das nach, was er gestern zu besichtigen versäumt hatte, er zündete seine Laterne an und... stieg in den finsteren Keller hinab!
Man muß nur bedenken, daß er kurz zuvor einen Geist oder sonst etwas gesehen hatte, was er sich nicht erklären konnte, und jetzt begab er sich mit der Laterne in den finsteren Keller hinab, um diesen zu untersuchen und auszumessen.
Mancher Leser mag dabei gar nichts weiter finden, die meisten werden doch auch nicht an Gespenster glauben, das tut ja überhaupt heutzutage kein Mensch mehr, lächerlich, aber... Hand aufs Herz!!
Richtig, der ganze Porphyrfelsen war, unterhöhlt, alles voll Gänge und Kammern. In dem ersten Kellergeschoß gab es noch schießschartenartige Fenster, eine Treppe führte noch tiefer hinab, hier fehlten die Fenster. Dann fand Nobody keine tiefer führende Treppe mehr. Er ging hin und her, leuchtete in alle Kammern, welche nur zum Teil mit eisernen Türen versehen waren, er glaubte konstatieren zu können, daß es keinen Gang gab, welcher nach dem Meere führte, dazu befanden sich diese Räume noch viel zu weit oben, noch in dem hohen Felsen selbst. Er begab sich wieder hinauf, um erst einmal das Gebäude richtig auszumessen.
Ein Metermaß hatte er bei sich, auch eine lange Schnur, aus dieser machte er ein Meßband und begann das ganze Schloß in allen Räumen auszumessen, danach in seinem Notizbuch Skizzen entwerfend.
Am Nachmittage gegen drei Uhr war er hiermit fertig. Das Mittagbrot hatte er dabei vergessen, oder er wollte, erst am Abend den Rest seines Proviantes verzehren, und nach seinem Magen schien sich dieser Mann nicht zu richten. Nur einmal frisches Wasser hatte er sich von unten aus der Quelle geholt, ohne dabei einen Menschen gesehen zu haben.
Jetzt wollte er auch noch die Kellerräume ausmessen.
In seinem Koffer hatte er eine Flasche Petroleum. Er füllte seine Laterne nach und begab sich wieder hinab in das dunkle Reich der Nacht, arbeitete mit Metermaß und Meßband und machte seine Skizzen.
Er wußte nicht, wie schnell ihm die Zeit dabei verging. Er merkte es erst, als er aus dem zweiten Kellergeschoß wieder in das erste hinaufkam, wo es trotz der Fenster auch stockfinster war. Er sah nach der Uhr.
»Donnerwetter, schon sieben geworden! Da muß ich schnell hinauf und Vorbereitungen treffen, um den Mitbewohner meines Schlosses zu erwarten. Miete muß mir der Kerl wenigstens bezahlen, sonst fliegt er die Treppe hinunter.«
Also er stieg wieder hinauf, kam zuerst in die Brunnenstube, mußte noch mehrere Wirtschaftskammern passieren, jetzt öffnete er die Tür zu einem größeren Räume, der auch schon mit Marmor getäfelt war und...
Vor ihm in dem finsteren Räume stand ein weißleuchtendes, menschliches Gerippe, drohend die Knochenfaust gegen ihn erhoben.
Wie es diesmal unserem Manne zumute war, wollen wir mit Schweigen übergehen. Jedenfalls prallte er diesmal nicht zurück, sprang nicht gleich darauf zu, sondern er ließ erst das Blendlicht seiner Laterne voll auf das weiße Skelett fallen, und da war dieses plötzlich verschwunden.
Er ließ das Blendlicht weiterstreifen — und sofort war das Gerippe wieder da, ganz genau an derselben Stelle. Unter dem Licht verschwand es wieder, nur im Finstern war es sichtbar. Also es konnte das Licht nicht vertragen, wie überhaupt alle Geister und Gespenster nicht, und bewegen tat es sich auch nicht, nicht einmal den drohenden Knochenarm.
Langsam ließ Nobody den Blendstrahl herabgleiten, und gehorsam kam der grinsende Totenschädel zum Vorschein, dann der Brustkasten, und so ging es weiter, bis das Skelett in voller Lebensgröße dastand, und ebenso konnte Nobody die Knochengestalt wieder langsam verschwinden lassen, je nachdem er die Laterne handhabte.
Jetzt ging Nobody, das Licht seitwärts fallen lassend, auf das Gerippe zu und schlug es vor die Brust, oder klatschte vielmehr mit der flachen Hand gegen die nackte Wand.
»Hallo, was ist denn das?! Weiß Gott, phosphorsaures Barium oder Calciumbaryt oder wie das Zeug heißt! Das ist ja großartig!! Ja, da freilich, deshalb also zeigt sich der Spuk besonders nach einem sonnigen Tage in finsterer Nacht!«
Nobody hatte das Richtige gefunden. Es war eine Mosaikzeichnung, in die Marmorplättchen war kunstvoll in Form eines Gerippes jener weiße Stein eingelassen worden, welcher die Sonnenstrahlen aufsaugt und diese in der Dunkelheit wieder ausstrahlt. Es gibt eine ganze Menge von Gesteinsarten, welche diese Eigenschaft in höherem und minderem Grade besitzen, jetzt kann man ihre Wirkung auch noch künstlich durch Chemikalien verstärken, und seit ungefähr zehn Jahren wird der in der Finsternis leuchtende Stein besonders zu Uhrgehäusen, Streichholzschachteln und anderen Gegenständen verwendet, welche auf dem Nachttisch liegen, damit man sie in der Dunkelheit gleich findet. Dieser leuchtende Stein ist schon seit vielen Jahrhunderten bekannt, die Kenntnis davon und seine Verwendung lag aber nur immer in Händen von Hokuspokusmachern, die ihr Geheimnis nicht verrieten. Denn der sogenannte ›spiritus familiaris‹, ein Hausgeist, den man in ein Fläschchen einsperrte, und aus dessen Leuchten oder Nichtleuchten man ein Unternehmen abhängig machte — auch Tilly trug einen solchen immer bei sich — das war nichts weiter als ein Figürchen aus einem derartigen Stein.
Daher auch die weiße Marmortäfelung. Am Tage war absolut nichts von der gleichfalls weißen Zeichnung zu bemerken, so wenig, wie bei Licht.
Dieses Gerippe war aber erst der Anfang. Als Nobody das nächste größere Zimmer betrat, wies ihm ein scheußliches Ungetüm von Riesengröße, auf dessen Rücken ein Teufel saß, die Zähne.
Dann kam er in einen weiten Saal, dessen Wände über und über mit Scheusalen, Skeletten und Teufelsfratzen bedeckt war, und heute hatte die Sonne auf sie gewirkt. Die Gemälde strahlten im reinsten Weiß, während der marmorne Untergrund völlig schwarz erschien. Dadurch wurde auch die Täuschung hervorgebracht, daß die leuchtenden Figuren dem Beschauer viel näher erschienen, als sie es in Wirklichkeit waren.
Nachdem sich Nobody an der Wunderlichkeit der phantastischen Gestalten zur Genüge ergötzt hatte, staunte er nur noch über die künstlerische Ausführung dieser Mosaikarbeiten.
Himmel, was hatte der letzte Lord Douglas da für eine Arbeit hineingesteckt! Diesen Stein hatte er doch jedenfalls von seinen Reisen mitgebracht, gewiß aus dem Orient, die Araber waren von jeher weit in derartigen Kenntnissen, die mit der Chemie zusammenhängen. Ja, freilich, da hatte sich der alte Sonderling manchen Jux machen können, das mußte ja in den Augen des damaligen Volkes ein Hexenmeister ersten Ranges gewesen sein, der selbstverständlich mit dem Teufel im Bunde stand.
Des damaligen Volkes? Noch das heutige Volk glaubte ja an den alten Zauberer, ließ ihn nicht einmal im Grabe zur Ruhe kommen! Merkwürdig ist dabei, wie solch eine Sage sich durch Jahrhunderte erhält, als Wahrheit geglaubt wird, wo doch gar keine Beweise mehr vorhanden sind oder vielmehr von dem Vorhandensein tatsächlicher Beweise keiner mehr eine Ahnung hat. Denn das mußte Nobody als bestimmt annehmen, daß seit einem Menschenalter dieses Schloß von keinem Menschen mehr betreten worden war, wenigstens nicht zu einer Zeit, da diese Wandbilder sichtbar waren. Denn wären sie einmal einem menschlichen Auge erschienen — na, was wäre das für ein Geschrei in den Zeitungen gewesen! Da wären doch sofort die Journalisten und andere neugierige Besucher in Scharen herbeigeströmt.
Und jetzt war dieses Schloß Nobodys Eigentum! War es für die Spottsumme von 1000 Pfund Sterling geworden!
»Na, da will ich wohl Geld herausschlagen! Allein durch Eintrittskarten!«
Nobody kam auch noch auf andere Gedanken.
Der alte Lord hatte diese wunderbaren Mosaikarbeiten wohl schwerlich selbst angefertigt, er hatte Künstler beschäftigt. Sollte er nun diese dann mit seinem Geheimnisse so ohne weiteres wieder haben ziehen lassen? Wohl kaum. Wie hatte er nun sein Geheimnis behütet? Jedenfalls dadurch, daß er diese Künstler einfach kaltgemacht hatte, das sah so einem damaligen Ritter ganz ähnlich. Auf welche Weise? Er sperrte die armen Kerls einfach ein und ließ sie verhungern. Und auf diese Weise war der zweite Teil der Sage entstanden! —
In dem Zimmer, in welchem er gestern nacht geschlafen hatte, fand Nobody auch seinen alten Bekannten wieder: den Ritter mit erhobener Streitaxt.
Wenn er nun nochmals die Säle durchmusterte, so tat er dies hauptsächlich deshalb, weil er bereits zwischen den Figuren einige Inschriften entdeckt hatte, meist Weisheitssprüche, in altem Englisch gehalten oder auch in arabischer Sprache und Schrift, welche Nobody zu entziffern verstand, und diese wollte er nun genauer studieren. Außerdem hatte er noch lange nicht alle Zimmer durchwandert, und jedes bot immer wieder neue phantastische Wandgemälde.
So kam er auch in ein Zimmer des Erdgeschosses, welches er bisher noch nicht betreten hatte, und in diesem leuchtete nur eine große Inschrift auf, von der aus sich ein weißer Streifen an der Wand hinzog.
Die kurze Inschrift lautete:
›Folge dem weißen Strich und drücke da gegen die Wand, wo er endet.‹
Jetzt wird es geheimnisvoll, dachte Nobody, was werde ich zu sehen bekommen?
Der weiße Strich, welcher also gleichfalls nur bei Nacht zu sehen war, vorausgesetzt, daß er am Tage genügend Sonnenstrahlen aufgesaugt hatte, lief noch auf einer anderen Wand entlang und endete scharf abgegrenzt.
Nobody tastete auf dieser Stelle, zu bemerken war nichts, keine Vertiefung, keine Erhöhung. Er drückte, drückte noch kräftiger... da vernahm er hinter sich ein leises Knarren, und wie er sich umwandte und mit dem Blendstrahle suchte, sah er in der gegenüberliegenden Wand ein viereckiges Loch, etwa einen Meter hoch und breit.
Es war eine Tür. Eine in Angeln gehende Marmorplatte, aber aus vielen Tafeln zusammengesetzt, hatte sich nach außen geöffnet, es zeigte sich eine hinabführende Steintreppe.
Ehe Nobody dieselbe betrat, untersuchte er die Tür. Sie paßte so genau, keine Fuge war zu bemerken, wenigstens keine größere, als die anderen Marmorplatten miteinander bildeten.
Sie ließ sich hier auch nicht wieder öffnen, nur, wenn auf der anderen Seite auf die betreffende Stelle gedrückt wurde, dann ging sie von selbst auf. Was das für ein Mechanismus war, wie er funktionierte, das konnte Nobody im Scheine der Laterne, die immer nur eine kleine Stelle beleuchtete, nicht erkennen, wie er auch spähte und tastete. Das wollte er morgen bei Tageslicht untersuchen, aber das Betreten der Treppe vermochte er nicht aufzuschieben.
Wie nun, wenn sich die Marmortür hinter ihm von selbst schloß, vielleicht auch wieder durch einen Mechanismus in Bewegung gesetzt? Dann hatte ihn ja die an die Wand malende Geisterhand richtig eingesperrt.
Aber Nobody dachte gar nicht an so etwas. Um diese Marmortür einzuschmettern, dazu brauchte er gar nicht seine Faust, das hätte schon ein Fußtritt besorgt.
Darauf aber achtete er, als er die Treppe hinabstieg und immer vorsichtig vor seine Füße leuchtete, daß er nicht etwa in eine Fallgrube stürzte, er tastete bei jedem neuen Schritt, ob auch der Boden nicht nachgäbe.
Einhundertundzweiunddreißig Stufen zählte er. Da diese sehr hoch waren, konnte er schon 30 Meter hinabgestiegen sein, und das ist schon sehr tief, das ist ein vier-, ein fünfstöckiges Haus mit sehr hohen Zimmern. Jetzt mußte er sich auch schon unter der Erdoberfläche befinden, denn so hoch lag das Schloß gar nicht, aber immer noch war alles Porphyr.
Die Treppe war zu Ende. Vor ihm lag ein schmaler Gang. Nobody wollte die Höhe messen, richtete den Lichtstrahl nach oben — sah keine Decke. Auffallend war die frische Luft. Offen war der Gang oben ja sicher nicht, es mußte aber wenigstens Spalten geben.
Er schritt vorsichtig weiter. Keine Tür, keine Nische — nur ein roh ausgehauener Gang. Da war er zu Ende. Eine eiserne Tür schloß ihn ab. An der Tür befand sich eine Klinke, den neuzeitlichen ganz ähnlich, nur sehr groß, das Niederfallen des Riegels besorgte dessen eigenes Gewicht.
Ohne zu zögern, klinkte Nobody auf. Er konnte die eiserne Tür trotz ihrer Stärke mit leichter Mühe nach außen öffnen, und so, wie er sie aus der Hand ließ, blieb sie stehen.
Der Strahl der Blendlaterne fiel in den dunklen Raum, und was Nobody da zu sehen bekam, hätte manch anderen Mann zurückschrecken lassen, mochte er sonst auch starke Nerven besitzen.
Mitten in dem fensterlosen Gewölbe stand ein steinerner Sarg, auf welchem in voller Lebensgröße ein Ritter lag, zu seinen Füßen ein Hund, alles aus Stein gehauen, also ein Sarg, wie sie in der englischen Ritterzeit allgemein üblich waren — aber die um diesen Sarg herumliegenden Menschenknochen und Totenschädel gehörten nicht mit dazu, so wenig wie das Fragment eines alten Stiefels.
Die Laterne vor sich haltend, trat Nobody näher, immer noch bei jedem Schritt vorsichtig mit dem Fuße tastend.
Da hinter ihm ein donnernder Krach, mit Blitzesschnelle sprang Nobody zurück — — zu spät!
Die Türe war hinter ihm ins Schloß gefallen, und innen befand sich keine Klinke, keine Vorrichtung, um den Hebel draußen zu heben!
Schnell setzte der Gefangene seine Laterne auf den Sarg, nahm einen Anlauf, rannte mit einer Wucht gegen die Tür, daß er wahrscheinlich jeden Ochsen über den Haufen geworfen hätte — aber diese gewaltige Tür spottete seiner Anstrengung wie der eines schwachen Zwerges.
Es sah fast komisch aus, wie Nobody verdutzt die Tür anblickte, dann langsam die Hand hob und sich hinter dem Ohre kratzte.
»Himmeldonnerwetter, jetzt ist der Herr Nobody, weiß Gott, einmal gefangen! Jetzt hat der Geist den Herrn Nobody richtig injespundt!«
Er untersuchte noch einmal genau die Tür — keine Handhabe, keine Möglichkeit, sie von innen zu öffnen.
Tragisch nahm er die Sache durchaus nicht, was sich schon daraus erkennen ließ, daß er dann gleich seine eingehende Aufmerksamkeit dem Steinsarge und den Gerippen zuwendete.
Der Steindeckel lag nur lose auf, aber es gehörte die außergewöhnliche Muskelkraft dieses Mannes dazu um diesen nur etwas beiseite zu schieben. Er leuchtete hinein, dann kroch er sogar einmal hinein, allein der Sarg enthielt nichts weiter, als was in einen Sarg, wenn er so alt ist, hineingehört: ein menschliches Gerippe nichts weiter, keine Urkunde und dergleichen.
»Verfluchter Kerl! Denn das ist natürlich derjenige, welcher. Und es scheinen schon zwei andere auf diesen Leim gegangen zu sein. Die reine Menschenfalle!«
Er hob einen Knochen auf, den einen Stiefel, einen anderen, betrachtete alles nachdenklich.
»Die sind schon lange tot. Die Stiefel sind auch nicht mehr modern, die stammen wenigstens aus den vorigen Jahrhundert. Also die Leute haben doch recht! Der M Lord John Douglas schmeißt auch noch nach seinem Tode die Türen hinter einem zu. Nu da! Die beiden sind doch sicherlich verhungert, und ich soll's wohl nun auch? I, ka Spur! Hereingekommen sind wir, wir werden auch wieder 'rauskommen. Bin ich doch hier in meinem eigenen Hause!«
Er sah sich genauer den Raum an. Es war ein Gewölbe, hatte aber an der Decke eine breite, offenbar natürliche Spalte.
Durch diese Spalte mußte frische Luft kommen. Nobody brachte es fertig, von dem Sarg aus in die Spalte hineinzuspringen und darin wie ein Laubfrosch kleben zu bleiben, dann kletterte er wie ein Schornsteinfeger aus der guten alten Zeit weiter, mußte aber seine Tour bald aufgeben, die Spalte verengerte sich immer mehr, und von oben starrte ihm undurchdringliche Finsternis entgegen.
Er ließ sich wieder herabfallen und begann nach dem Mechanismus zu suchen, welcher die Tür zugeworfen hatte. Er fand nichts, der war doch auch jedenfalls draußen angebracht.
Dann überlegte er. Die Bäuerin würde sich doch wundern, wenn der neue Besitzer des Schlosses, der nichts weiter als einen Koffer und ein Paket Butterbrote mit hineingenommen hatte, gar nichts mehr von sich hören und sehen ließ. Vermißt und gesucht wurde er auf alle Fälle, darüber war sich der Detektiv klar. Es fragte sich nur, wann man damit beginnen würde. Und ob dann noch die andere geheime Tür aufstand, welche den Suchenden den Weg zeigte? Daran zweifelte Nobody stark. Das hier war doch eine Menschenfalle, der alte Lord hatte doch ganz sicher dafür gesorgt, daß jenes Türchen auch wieder zufiel, wenn auch nicht direkt hinter dem Rücken des Durchkriechenden.
Nein, auf das ›Sichsuchenlassen‹ durfte man hier nicht warten. Selbst ist der Mann! Dort lagen die Knochen derer, welche auch gewartet hatten, und wie mochten die gebrüllt haben!
Er prüfte nochmals die Eisentür, klopfte daran.
»Eine Uhrfedersäge habe ich bei mir, die ihre Unverwüstlichkeit schon mehrmals bewiesen hat, aber ich kann sie nirgends ansetzen. Da muß ich wohl mit dem Bohrer fiddeln.«
Er brachte aus seiner inneren Westentasche einen kleinen Drillbohrer zum Vorschein, von dessen Spitze es im Scheine der Blendlaterne wie ein buntes Feuermeer ausging. Es war ein Diamantbohrer, und zwar mit einem Diamanten von ganz ansehnlichem Werte, der ein ansehnliches Vermögen repräsentierte.
Er stemmte das hintere Ende gegen die Brust, die Spitze gegen die Tür, und Herr Nobody begann zu ›fiddeln‹. Nach vier Stunden verlöschte die Lampe, und der Dichter Nummer eins ›fiddelte‹ im Dunkeln weiter, ein Loch neben das andere setzend, die Zwischenteile dann heraussägend.
Mrs. Joke Mitchell blickte nach dem Schlosse, alle Bauern und Mägde, die ganze Umgegend blickten ängstlich nach derselben Richtung.
»Wo bleibt denn nur der Mr. Ferrol?«
Wir wollen alles das verschweigen, was da zusammengeschwatzt wurde. Als der fremde Herr sich auch am dritten Tage noch nicht sehen ließ, überwog die Pflicht alle anderen Bedenken. Mit Mistgabeln und Dreschflegeln bewaffnet, zog eine tapfere Schar bis an den Fuß des Berges. Hier wurde Kriegsrat gehalten, dazu drei Flaschen Whisky getrunken, und dann zog sie weiter, die todesmutige Schar, bergauf, bis an das Tor des Schlosses — — aber weiter kam sie nicht.
»Es hat ja gar keinen Zweck, erst hineinzugehen, der ist ja schon lange tot.«
»Jau, jau, der ist schon lange tot.«
Die wackere Schar zog wieder heim. Jetzt setzte der Dorfschulze die Brille auf und meldete die Angelegenheit nach Trum.
Zwei Tage vergingen, ehe der Polizeiwachtmeister mit seinen Konstablern angerückt kam, begleitet von einem Detektiv.
Die drangen nun freilich ohne weiteres in das verwunschene Schloß ein. Den Koffer fanden sie, nichts weiter enthaltend, als was man zur Reise bedarf, aber von seinem Besitzer war keine Spur zu entdecken.
Nobody hatte ganz richtig geraten; die eiserne Türe war in der Dunkelheit nicht mehr zu bemerken.
Ein Konstabler hielt einen anderen heimlich zurück.
»Du,« sagte der eine, als sie sich beide allein in einem Keller befanden, »du hast doch zwei Schinkensemmeln mit.«
»Ja, mein Frühstück.«
»Und ich habe eine Büttel Bier mitgenommen. Teilen wir?«
Gut, der eine zog seine Schinkenbrötchen hervor, der andere brachte aus der Rocktasche eine riesige Schnapsflasche zum Vorschein, mehr als einen Liter fassend, mit Bier gefüllt.
Dieser setzte die entkorkte Flasche an den Mund, jener wickelte unterdessen seine Brötchen aus.
Bruch, kladderadatsch!... da kam jemand mit dem Kopfe durch die Tür geschossen, stand vor den Konstablern, nahm dem einen die Bierflasche vom Mund und setzte sie vor den eigenen — gulk gulk gulk gulk — und dabei griff er mit der anderen Hand nach den Schinkenbrötchen.
Solche behäbige Konstabler sind nicht so leicht außer Fassung zu bringen.
»Sind Sie Mister Ferrol?«
»Ja.«
»Wo kommen Sie denn her?«
»Dort durch die Tür. Was für ein Datum haben wir denn heute?«
»Den achtzehnten.«
Da hob Nobody die Augen zur Decke empor und sagte mit kauendem Munde, aber in so recht kläglichem Tone:
»Der achtzehnte! Also vier Tage und fünf Nächte hat mich der Schweinehund fiddeln lassen!!«
Ja, so sah er auch aus. Er war ganz ausgefiddelt. Das war kein Dichter Nummer eins mehr, auch kein Dichter Nummer zwei — sondern das war so etwa ein Dichter Nummer sechs bis zehn. Die Backenknochen traten ihm vor Hunger ganz spitz heraus, und alles ein Schweiß und ein Dreck. —
Dem Detektiv, einem gebildeten Herrn, gab er sich zu erkennen, stellte sich als Nobody vor, erzählte ihm seine Abenteuer und zeigte ihm seine Arbeit, wie er während vier Tagen und fünf Nächten ununterbrochen gebohrt hatte, ein Loch ans andere setzend, dann die noch vollen Zwischenräume durchsägend.
»Sie haben während dieser ganzen Zeit gar nicht geschlafen? Wie ist denn das möglich?«
Nobody zuckte die Schultern.
»Sitzen Sie einmal in solch einem Loche, dann werden Sie erfahren, wie so etwas möglich ist. Und alles wegen dieses...«
Plötzlich sprang Nobody nach dem Sarge, hob die rechte Faust, sie sauste herab...
»Da, du Schweinehund!!«
Mit einem Schlage seiner Faust hatte er den steinernen Kopf der Figur in kleine Stückchen zerschmettert.
Noch nicht genug, er griff in den Sarg, brachte einen Totenschädel zum Vorschein, nahm ihn in die linke Hand, hob die rechte...
»Warte, ich will dir...!«
Krach, auch der Totenschädel war wie weggeblasen.
»Schade, daß du schon tot bist!« —
Dann packte Nobody seinen Koffer wieder zusammen und begab sich nach Trura auf den Bahnhof, wo er sich erst ein Bäuchlein anmästete, und wie er in das weichgepolsterte Coupé stieg, sagte er:
»Jetzt gedenke ich einen langen Schlaf zu tun, denn dieser letzten Tage Qual war groß.« —
Auch die Sensation war groß, als Nobodys Abenteuer in Red Castle bekannt wurde. Jetzt meldeten sich Käufer genug, und Nobody schien das Schloß auch weiterverkauft zu haben.
Denn nicht sein Name wurde in das Grundbuch eingetragen, sondern der des Kapitäns Flederwisch.
»Ssssssssssssssssss...ie wünschen, Madam?«
»Ist Mr. World zu sprechen?«
»Vievievievievievielleicht, vievievievievielleicht auch nicht.«
Jetzt streckte der brave Paddy die Hand gegen die Dame aus und fing aus vollem Halse zu lachen an.
»Hahahahahahahahahaha...aben Madam vielleicht eine Karte bei sich?«
Ja, die Dame hatte eine Visitenkarte bei sich.
»Au-au-au-au-au-au-au-au-au-au-au-au-au-au...Himmeldonnerwetter noch einmal! Au-au-au-au-au-au-au... heute will's aber wieder einmal gar nicht gehen! Au-au-au-au-au...« und nun ein kräftiges Stampfen mit dem Fuße, und die Granate krepierte,... »augenblicklich werde ich Sie melden.«
Und Paddys krumme Beine marschierten durch die Nebentür.
Es war ein schönes Weib, welches in dem Vorzimmer von Mr. Worlds Kontor wartete. Schwarz wie die Nacht — das war der erste Eindruck, den man von ihr bekam. Eine Wucht von rabenschwarzen Haaren krönte den kleinen, stolz getragenen Kopf, auf der Oberlippe machte sich ein samtweicher, schwarzer Flaum bemerkbar, die nachtschwarzen, fast unheimlich großen Augen von hochgewölbten Brauen überschattet, welche über dem feinen Näschen fast zusammenstießen, und nun hierzu ein Gesicht so weiß wie Schnee.
Sie trug den Witwenschleier, war ganz schwarz gekleidet, wodurch ihre vollbusige Gestalt noch voller, ihre Taille noch schlanker und ihr Antlitz noch weißer erschien.
War dieser Witwenschleier daran schuld, daß ihr Auge so umflort, der ganze Gesichtsausdruck so teilnahmlos war? War in dieser jetzt so ruhig gehenden Brust ein übergroßer Schmerz siegreich niedergerungen worden?
Nein, der Menschenkenner wußte, daß diese schwarzen Augen noch immer in wilder Leidenschaft auflodern konnten, daß in diesem Busen noch immer ein Vulkan schlummerte, der nur eines Funkens bedurfte, um mit neuer Macht auszubrechen.
Ihr Alter war nicht zu schätzen. Es war ein gereiftes Weib, hatte aber wohl schwerlich schon die dreißig überschritten. Sie mußte den besten Klassen der Gesellschaft angehören.
Bei dem Gebaren des Stotterers hatte sie natürlich nicht gelächelt, war aber auch nicht stutzig geworden, nicht ängstlich, was bei einer Frau, die wohl manchmal an einen Betrunkenen glaubt, zu verzeihen ist. Sie war vollkommen teilnahmlos gewesen.
Paddy erschien wieder.
»Mimimimimimister World läßt bitten.«
Da, als sie der geöffneten Tür zuschritt, färbte plötzlich ein leises Rot ihre weißen Wangen, ihr Busen hob und senkte sich schneller, als ob gar viel von diesem Gange abhinge.
Sie war doch offenbar ganz fremd hier, und wenn sie den ersten Empfang durch den stotternden Paddy verfänglich gefunden hätte, so sollte sie in dem Kontor von dem Herrn Prinzipal erst recht etwas erleben.
Mr. World hatte sich kurz vorher ein rohes Ei in ein Glas Milch eingequirlt, ein zweites Ei lag noch auf dem Teller. Jetzt tänzelte er mit ausgestreckten Händen, im ganzen Gesicht lachend, auf die Dame zu.
»Na endlich, da sind Sie ja endlich wieder — Sie sind doch ein verfluchter Teufelskäfer, das haben Sie wieder famos gemacht!«
Wie gebannt war die Dame bei dieser Begrüßung an der Tür stehen geblieben, und man sah es ihr an, daß sie sich jetzt doch etwas zu fürchten begann.
»Mein Herr, Sie verkennen mich...«
»I Gott bewahre, ich kenne doch mein Nobodychen, ich lasse mich nicht mehr veralbern — — na, da kommen Sie nur her, mein Nobodychen, setzen Sie sich...«
Und er hatte die Dame um die Taille gepackt, drängte sie nach dem Sofa, drückte sie darauf nieder und setzte sich selbst daneben,
»Na, wie geht's Ihnen denn, mein Nobodychen?«
Und wuchtig schlug er mit der flachen Hand der Dame aufs Bein, daß es nur so klatschte, und dann griff er noch so mit den Fingern herzhaft nach, wie man es wohl bei einem guten Freunde macht.
»Donnerwetter, Sie sind aber dick geworden, Sie haben aber ein Paar Beine bekommen!«
»Aber um Gottes willen, Mr. World,« stöhnte die Dame, scheinbar einer Ohnmacht nahe. »Sie sind doch Mr. World? Sie erwähnen den Namen Nobody, wegen dessen ich hierherkomme — — hier muß ein Irrtum vorliegen!«
Jetzt wurde der alte Herr doch stutzig, er betrachtete sich das Gesicht der Dame genauer, nahm vom Seitentischchen eine Visitenkarte...
»Sie sind... Sie sind... doch nicht etwa... wirklich... diese Madame Lenois?«
»Ja, die bin ich.«
»Aber... aber... i machen Sie doch keinen Spaß, Sie sind doch Mr. Nobody?« fragte Mr. World noch einmal mit ängstlicher Schalkhaftigkeit von der Seite.
»Ich versichere Sie, ich bin diese Dame — — ich weiß allerdings, woher dieser Irrtum rühren mag, deshalb verzeihe ich Ihnen, so unangenehm es mir auch ist...«
»Nu aber mir erscht!!«
Mit diesen Worten sprang der alte Herr auf, steckte die Hände in die Hosentaschen und rannte mit geknickten Knien einige Male durchs Zimmer.
»Nee aber so etwas — — nee aber ich geniere mich — — und daran ist nur dieser verfluchte Kerl schuld, weil er mich immer so veralbert... aber auch diese Aehnlichkeit mit Ihnen...ganz genau dieselben Bein... dieselben Bei... Bei... Beißzangen im Gesicht, wollte ich sagen... nee, ich habe weiß Gott gar nischt gefühlt bei Ihnen... und sagen Sie's nur um Gottes willen nicht meiner Tochter, daß ich Sie... ehem!«
Die Dame hatte sich viel schneller wieder gefaßt.
»Es ist eben dieser Mr. Nobody, wegen dessen ich Sie um eine Unterredung bitten möchte.«
Diese Ruhe und der geschäftliche Ton gaben auch dem alten Herrn seine Fassung wieder. Er zog einen Stuhl herbei und ließ sich nieder.
»Well, ab! Mit was kann ich Ihnen dienen, Madam?«
Jetzt aber wurde sofort die Dame unruhig, sie wand das Spitzentuch in ihren weißen Händen.
»Mr. Nobody ist in letzter Zeit sehr bekannt geworden...«
»Bekannt? Weltberühmt!«
»Aber sein eigentlicher Name ist das nicht.«
»Nein.«
»Wie ist sein eigentlicher Name?«
»Das weiß kein Mensch, also auch ich nicht.«
»Aus welchem Grunde verschweigt er seinen Namen?«
»Auch das ist nicht bekannt, das ist wiederum ein Geheimnis.«
»Können Sie mir nicht sagen, wo er sich gegenwärtig aufhält?«
»In London.«
»Darf ich die Adresse erfahren?«
»Hm... ehem,« fing jetzt der alte Buchhändler wieder an. »Darf ich da erst fragen, wozu? Nobody ist nämlich gewissermaßen mein Kompagnon, und — ehem — man muß manchmal — ehem — sehr vorsichtig sein — ehem — wegen — ehem...«
»Ich suche schon seit vielen Jahren in aller Welt eine mir teure Person,« sagte da die Dame mit einem unendlich bittenden Blicke.
»Und das ist dieser Mr. Nobody?«
»Ich glaube es, ich hoffe es.«
Jetzt fing Mr. World an sich zu interessieren. Er hatte ja ebenfalls noch keine Ahnung, wer sein Kompagnon eigentlich war, und er hätte es doch gar so gern gewußt.
»Woraus glauben Sie das schließen zu können?«
»Ich habe schon viel über ihn gelesen, und... aus allem, was ich zu hören bekam... es ist schwer zu beschreiben, was mich auf die Vermutung brachte... ich kannte einst einen Jüngling, dessen höchstes Glück es war, mit seinem Leben zu spielen...«
»Konnte der Jüngling eine Grimasse schneiden, daß er gerade wie ein alter Jude aussah?«
»Nein, das konnte er nicht.«
»Dann war es Nobody auch nicht,« sagte Mr. World mit Überzeugung. »Oder konnte der Jüngling ein ganz schiefes Maul nach links und eine ganze schiefe Nase nach rechts machen?«
»Nein, das habe ich nie von ihm gesehen.«
»Dann war dieser Jüngling auch Nobody nicht. Oder konnte der Jüngling in 14 Tagen 10 000 Dollar verhauen?«
»Verhauen?«
»Verludern... verputzen, durchbringen wollte ich sagen.«
»Ich verstehe, was Sie meinen. Ja, er hatte immer eine sehr freigebige Hand, hatte aber selten etwas auszugeben, er wurde sehr kurz gehalten. Aber etwas anderes. Haben Sie diesen Nobody reiten sehen?«
»Reiten? Nee. Kann er reiten? Hat er bei mir nicht nötig. Ich kann auch nicht reiten und lebe doch.«
»Haben Sie ihn schießen sehen?«
»Bei mir hier wird nicht geschossen,« sagte Mr. World kurz und putzte sich die Nase, daß es knallte.
»Haben Sie ihn fechten sehen?«
»Nee, bei uns hier gibt es nichts zu fechten.«
»Haben Sie ihn schwimmen sehen?«
»Bei dieser Hundekälte? Nee. Warten Sie, nun will ich mal fragen. Hat dieser Jüngling vielleicht einmal eine große Erbschaft gemacht, so etwa zehn Millionen, und diese in zehn Jahren verlu... verputzt wollte ich sagen?«
»Zehn Millionen? Dollar?«
»Gleichgültig was. Hat er?«
»Nein, er hat niemals eine Erbschaft gemacht, das Erbteil dieses Jünglings ist noch unberührt.«
»Wie lange ist denn dieser Jüngling schon verschollen?«
»Seit etwa zwölf Jahren.«
»War dieser Jüngling während dieser Zeit einmal acht Jahre in China oder sonstwo in Asien in einem Kerker eingesperrt gewesen?«
»War dies Mr. Nobody?«
»Sehr wahrscheinlich.«
»Nein, so etwas ist mir von meinem einstigen Freunde nicht bekannt, obschon es immerhin möglich sein könnte.«
»Sind Sie — ehem,« fing der alte Herr jetzt wieder zu knurksen an, denn er überlegte scharf, »sind Sie — ehem — verwandt mit diesem Jüngling?«
»Er war... er war... mein... Bruder,« erklang es flüsternd, zögernd.
O, dieser alte Herr war nicht so dumm, wie er manchmal tat, wonach er auch gar nicht aussah, der wußte ganz genau, was er wollte.
»Dann, Madam, ist es ganz sicher nicht dieser Nobody.«
»Warum wissen Sie das mit einem Male so genau?«
»Weil hier auf dieser Karte einfach Madame Marguérite Lenois steht, und wenn Sie Mr. Nobodys Schwester wären, so müßte ich Sie Hoheit oder Durchlaucht, mindestens Mylady anreden, und so etwas wäre doch auch auf Ihrer Visitenkarte vermerkt,«
Wie von einer Natter gestochen fuhr die Dame empor, mit einem womöglich noch weißeren Gesicht.
»Hat er das gesagt, daß er aus... einem deutschen Fürstenhaus stammt?« stieß sie atemlos hervor.
»Das ist das einzige, was er uns zugestanden hat,« sagte Mr. World, wieder um eine Kenntnis reicher.
Von einem ›deutschen‹ hatte Nobody gar nichts gesagt, aber es schien doch ganz so, als ob hier diese Dame auf einer richtigen Spur wäre.
»Alfred — dann ist er es!!« hauchte die schöne Dame und sank in die Polster zurück, und jetzt drohte jener Vulkan auszubrechen, jetzt wogte ihr Busen, jetzt loderten ihre Augen in unheimlicher Glut.
Mr. World ließ sie sich erst etwas beruhigen. Ein ganz eigentümliches Lächeln umspielte seine scharfen Lippen, während er sie beobachtete.
»Gestatten Sie mir eine Frage,« nahm er dann wieder das Wort.
»Bitte,« kam es atemlos von den schönen Lippen.
»Sie trauern gewiß um Ihren Gatten.«
»Woraus schließen Sie das?« klang es schroff zurück.
»So... so... nachdrucksvoll... so ausgiebig kann eine Frau nur um ihren Gatten trauern.«
»Ja, Sie haben recht.«
»Ist Ihr seliger Gatte schon lange tot?«
Die roten Lippen des kleinen Mundes verzogen sich in einer unbeschreiblichen Weise, jedenfalls ganz unabsichtlich, aber doch die innersten Gedanken ausdrückend.
»Seit vier Wochen,« erklang es dann noch schroffer als zuvor.
»Na,« meinte der alte Herr jetzt mit väterlicher Gemütlichkeit, »nun gestehen Sie einmal, ich bin doch schon ein alter Mann, vor mir brauchen Sie sich nicht zu genieren... Sie waren doch keine Schwester von jenem Jüngling, überhaupt keine Verwandte, und wenn Sie's waren, da steckte doch ein bißchen mehr als nur verwandtschaftliche Liebe dahinter, was, wie, he?«
Es erfolgte keine Antwort, und das war auch eine Antwort, und man sah es ihr ja überhaupt an, daß er das Richtige getroffen hatte.
»Wissen Sie,« hob sie dann wieder mit fliegendem Atem an, »ob... ob Mr. Nobody... ob er...«
»Verheiratet ist?« kam ihr der alte Herr zu Hilfe. »Der? Nee.«
»Oder... oder...«
»Ob er eine Liebe hat oder so etwas Aehnliches? Nu ja — manchmal... wie's so kommt... das heißt... ach so, Sie meinen, ob er eine Braut oder so etwas Aehnliches hat? Nobody? Nee, der ist kalt wie ein nackjer Frosch.«
Aus der Sofaecke erscholl ein Seufzen.
»Und wollen Sie mir nicht seine jetzige Adresse geben?«
»An die Sie schreiben können?«
»Schreiben?!« erklang es heftig. »Sehen will ich ihn, muß ich ihn — nur einmal sehen! Schreiben hatte keinen Zweck.«
Wenn Mr. World Sorge gehabt hatte, daß die junge Witwe ihm seinen Kompagnon entführen, ihn in die Bande der faulen Häuslichkeit schlagen könnte, so war diese Sorge jetzt beseitigt. Nun konnte er auch offener sprechen, freilich war es noch wenig genug.
»Madam, die Geschichte ist die: gegenwärtig ist er in London; wir haben eine Postchiffre ausgemacht, unter der ich ihm die Briefe schicke. Aber seine eigentliche ›Adresse‹ weiß auch ich nicht. Der hat überhaupt keine Wohnung. Die ganze Welt ist seine Heimat. Herr ›Niemand‹ ist immer nirgendwo. Heute ist er hier, morgen ist er wer weiß wo. Da war er einmal wieder hier, logierte im Hotel Kalifornia...«
»Im Hotel Kalifornia in der Wallstreet?« wurde er hastig unterbrochen.
»Jawohl.«
»Unter dem Namen Nobody?«
»Jawohl, er hatte Zimmer Nummer 228, gleich unterm Dach.«
»Zimmer Nummer 228, gleich unterm Dach,« murmelte das schöne Weib traumverloren.
»Und wie ich ihn einmal besuchen wollte, da...«
Es klopfte, ein Kommis trat ein, Mr. World erhielt eine Depesche. Er erbrach sie sofort.
»Sehen Sie, da haben wir es schon wieder: Trete eine Reise um die Erde an, nächste Adresse von Kairo aus. — Die ist von Nobodyn. Diesmal ist es noch schlimmer, das vorige Mal blieb er doch wenigstens hübsch in Amerika, machte nur mit dem Blitzzug einen Abstecher nach Mexiko.«
Die Dame war aufgestanden.
»Nach Kairo?«
»Sie wollen hin?«
»Ich muß ihn sehen, ihn sprechen, ich muß! Denn brieflich ist er für mich unerreichbar. Wissen Sie schon die Chiffre, unter welcher er in Kairo seine Briefe abholen wird?«
»Nein, die telegraphiert er mir erst aus Kairo.«
»Mr. World, wollen Sie mir eine Bitte gewähren?«
»Ihnen allemal. Ach, Madam,« der alte Herr begann schmunzelnd von der Seite nach der schönen, jungen Witwe zu äugeln, »wenn ich Nobody wäre — oder wenn ich dreißig Jahre jünger wäre...«
»Ich werde im Hotel du Nil wohnen — Madame Lenois — wollen Sie mir die Chiffre zutelegraphieren?«
»Hm, das ist eigentlich ein grober Vertrauensbruch und könnte mich unter Umständen sehr schädigen.«
»Mr. World, bitte, bitte...«
Die schöne Frau hätte gar nicht so zu flehen und solche schmachtende Augen zu machen brauchen, der alte Mann hatte noch immer ein junges Herz.
»Hm, ehem...«
»Verlangen Sie von mir, was Sie wollen.«
»Nu... Nobody ist doch mein Kompagnon... wir arbeiten doch auf halben Gewinn... ach, Madam, wenn Sie mich vor dreißig Jahren gesehen hätten, wenn ich so mit der roten Nelke im Knopploch...«
Er war näher getreten.
»Na, darf ich mal? Nur einen. Nobody ist ja mein Kompagnon. Und wenn Sie mich vor dreißig Jahren gesehen hätten...«
Die schwarze Dame war gar nicht schwer von Begriffen, sie schloß die Augen und neigte den Kopf etwas zurück, und nun wußte auch der alte World, was es geschlagen hatte, er schlang den Arm um ihre Taille und preßte seine graubärtigen Lippen recht saftig auf die ihren, die sich ihm entgegenwölbten, und nun gleich noch einmal...
»Sssssssssssssssssssss,« fing es da zu zischen an. »... ie möchten doch so gut sein...«
Madame Lenois saß plötzlich auf dem Sofa und putzte sich die Nase, und Mr. World griff mit einer Kaltblütigkeit, die man ihm nach dieser Szene gar nicht zugetraut hätte, in die Brusttasche und zog sein Zigarrenetui.
»Ja, mein lieber Nobody, das Küssen müssen Sie doch noch erst lernen, das braucht auch ein Detektiv, sonst taugt er nichts, und so, wie Sie es mir jetzt vormachten, das ist noch gar nichts. Da hätten Sie mich einmal vor dreißig Jahren sehen sollen, wenn ich da meine... meine... meine Frau küßte, die leckte allemal alle zehn Finger danach ab, oder jetzt meine Tochter... rauchen Sie eine Zigarre?«
Und zu Paddy gewendet fuhr der alte Sünder fort: »Nun guck dir mal bloß den Mr. Nobody an, wie der sich wieder herausstaffiert hat. Sieht er nicht gerade wie eine Dame aus? Aber ich habe ihn sofort erkannt.«
Paddy ›guckte‹ die Dame an und machte dabei eines seiner dümmsten Gesichter. ›Nun, was gibt's?«
Der Kassenbote stattete Bericht ab und entfernte sich wieder.
»Himmelhund verfluchter!« brummte der alte Dun Juan ihm nach. Die Küßlust war ihm jetzt vergangen, er dachte an seine Tochter, vor deren sittlicher Strenge er eine Heidenangst hatte.
»Also Sie werden mir meine Bitte erfüllen?« begann die Dame wieder, welche viel weniger Verlegenheit zeigte, als man erwarten sollte.
»Sicherlich, mein Wort halte ich. Da vergessen Sie nur nicht, ein paar Billardbälle einzustecken.«
»Billardbälle? Wozu Billardbälle?« war die erstaunte Frage.
»Ja, sehen Sie, die Sache ist die. Ich will gleich von mir selbst sprechen. Ich habe nämlich dort auch einen ganzen Kasten voll Elfenbeinbälle, kosten mir ein schweres Geld, und jedesmal, wenn mich Nobody besucht, wird einer weniger. Denn ich selbst weiß ja noch gar nicht, wie Nobody eigentlich aussieht, er sieht immer anders aus, einmal kommt er so, und dann kommt er wieder so, als Droschkenkutscher oder als Dame, und wenn er nun wieder einmal kommt und will Geld haben, da weiß ich ja gar nicht, ob das wirklich der Nobody ist! Da muß er nun jedesmal so einen Billardball haben, den nimmt er so... sehen Sie, so, denken Sie, das hier wäre ein Billardball...«
Und der alte Herr nahm das rohe Ei in die linke Hand und holte mit der rechten Faust zum Schlage aus...
»Und nun macht er immer so... sehen Sie, so... und dann mit einem Male...bum!!!«
Es ›bumte‹ zwar nicht, aber der Erfolg ließ nichts zu wünschen übrig. Mr. World hatte vergessen, daß er keine elfenbeinerne Billardkugel, sondern ein rohes Ei in der Hand hielt, und das Eiweiß und Eigelb spritzte herum, daß es eine Lust war.
Die schwarze Dame hatte die Katastrophe vorausgesehen und sich schnell in gebückter Stellung retiriert, aber den Schläger selbst hatte es tüchtig ausgewischt, der konnte nicht aus den Augen sehen, und von seinem Rocke lief die weißgelbe Sauce herunter.
»Paddy! Paddy!« rief er im kläglichsten Tone, wie er so mit gespreizten Fingern dastand.
Paddy führte seinen blinden Herrn in die Garderobe und machte aus ihm wieder einen Menschen. Aber als World in sein Zimmer zurückkam, war die schöne Witwe bereits auf Nimmerwiedersehen verschwunden, und er hatte sie doch erst über Nobody ausforschen wollen, denn die wußte doch, wer er war, und jetzt war ihm nicht einmal ihre Wohnung bekannt. —
»Er ist es.«
Mehr sagte die in das Hotelzimmer Eintretende nicht zu der älteren Dame, die auf jene gewartet hatte.
Dann trat sie an das Fenster und blickte mit fest zusammengepreßten Lippen auf die belebte Geschäftsstraße hinab.
»Wollen Königliche Hoheit...« begann die alte Dame nach einer Weile.
Eine herrische Handbewegung schnitt ihr das Wort ab.
»Marguérite Lenois ist mein Name, ich wünsche nur mit Frau, Missis oder Madam angeredet zu werden. — Fräulein von Simken, Sie sind mir in das Exil gefolgt, welches ich freiwillig auf mich nahm. Sie haben mich nach New-York begleitet. Ich danke Ihnen, Sie haben sich als eine treue Seele bewährt. Werden Sie mir jetzt nach Kairo folgen?«
»Nach Aegypten?« sagte die alte Dame zaghaft. »Da ist wieder so eine lange Seereise nötig...«
»Und wenn Alfr... Fräulein von Simken, und wenn ich nun bis ans Ende der Welt müßte, würden Sie mich begleiten?«
»Ach, Königlich... Ach, Madam, geben Sie es doch lieber auf, auch ich kenne Prinz Alfred, Sie werden nichts bei ihm erreichen, nachdem Sie ihn einmal ver...«
Mit dem Sprunge einer Tigerin stand das üppige Weib plötzlich vor der Erschrockenen und deutete mit zornsprühenden Augen nach der Tür.
»Gehen Sie, Sie undankbares, Sie abscheuliches Geschöpf! Sie sind entlassen! Hinaus!! — Halt!« sie mäßigte sich wieder etwas, »entlassen sind Sie, und das sofort, aber in diesem Zimmer können Sie noch bleiben.«
Sie drückte den Knopf der elektrischen Klingel, ein Kellner kam.
Marguérite hatte sich überraschend schnell wieder in der Gewalt oder aber, war ein überaus launenhafter, wankelmütiger Charakter, denn jetzt dachte sie offenbar an etwas anderes, an das, was sie zu tun beabsichtigte, und augenblicklich prägte sich dies auch auf ihrem schönen Antlitz und in ihren Augen aus: etwas wie schmachtende Sehnsucht.
»Mir gefällt dieses Zimmer in der ersten Etage nicht, das Lärmen der Straße stört mich.«
»Madam können Zimmer in einer höheren Etage bekommen,« entgegnete der befrackte Geist mit einer Höflichkeit, die man an amerikanischen Kellnern sonst gar nicht gewöhnt ist, »sie bieten denselben Komfort, und wir haben Fahrstuhl.«
»Ich habe jetzt die Zimmer Nummer 19 bis 21. Welche Nummern sind in der... vierten Etage? Ich muß die Nummer nämlich gleich wissen, weil ich dann für einen Besuch meine Adresse anzugeben habe.«
»In der vierten Etage? Nummer 101 bis 130.«
»Wie hoch ist dieses Haus eigentlich?«
»Acht Etagen, gnädigste Madam,«
»Ist die achte Etage auch zum Bewohnen eingerichtet?«
Der Kellner verzog etwas den Mund. Das Hotelpersonal hatte schon herausgebracht, daß hinter dieser einfachen ›Madame Lenois‹ etwas anderes steckte, man hatte schon gehört, wie sie von ihrer Gesellschafterin ›Königliche Hoheit‹ oder manchmal kürzer ›Prinzeß‹ angeredet wurde, und gerade in dem freien, republikanischen Amerika hat man vor europäischen Titeln einen ganz gewaltigen Respekt. Und eine echte Prinzessin gehörte doch nicht in die Dachkammer! Sie hatte zwar hier unten gleich drei Zimmer genommen, jetzt aber zeigte sich, daß es mit ihrer Kasse schlecht bestellt war, die Zimmer waren ihr zu teuer; der Straßenlärm war doch nur ein Vorwand.
»Gewiß. Da sind die Zimmer Nummer 226 bis 232, aber das ist ja unterm Dach.«
»Das wäre mir gleichgültig, wenn ich nur Ruhe habe. Ist dort noch ein Zimmer frei?«
»Alle.«
»Dann werde ich auch alle nehmen, alle sechs oder sieben, das heißt, die ganze Etage. Ich will Ruhe um mich haben,«
Der Kellner bat die Prinzessin im stillen um Verzeihung.
»Warten Sie, ich komme sofort mit. Diese drei Zimmer hier bezahle ich nur noch bis morgen, dann mag diese Person, welche nicht mehr in meinen Diensten steht, darüber verfügen, wie sie will, ich bezahle nichts mehr.«
Schon in der Tür stehend, wandte sie sich noch einmal nach dem alten Fräulein um.
»Ihren rückständigen Gehalt bekommen Sie erst ausgezahlt, wenn sich mein gesamtes Gepäck in meinen Händen befindet, und vorausgesetzt, daß nichts daran fehlt.«
Nach diesen beleidigenden Worten folgte sie dem Kellner. Sie fuhr mit dem Fahrstuhl bis in die achte Etage hinauf, wo sie von einem anderen Kellner, der bereits durch das Sprachrohr unterrichtet worden war, in Empfang genommen wurde.
An den Dachzimmern war nichts auszusetzen, sie waren noch höchst komfortabel.
Sie besichtigte alle Zimmer und nahm die ganze Etage.
»Dies Zimmer hier gefällt mir am besten,« sagte sie, nachdem sie sich vorher überzeugt, daß es die Nummer 228 hatte.
Mit prüfenden Blicken schaute sie um sich, am längsten verweilte ihr Auge auf dem Bett.
»Ja, dieses werde ich nehmen. Wer hat dieses Zimmer zuletzt bewohnt? Ich bin darin etwas sonderbar.«
»Eine englische Dame, eine sehr exquisite Dame,« entgegnete der Kellner, ob er nun log oder nicht.
Malte sich da auf den schönen Zügen nicht etwas wie Enttäuschung?
»So. Ach, da fällt mir ein... hat in diesem Hotel nicht auch jener Nobody gewohnt, wissen Sie, als er vor etwa sechs bis acht Monaten im Atlantic-Garden als Verwandlungskünstler auftrat?«
»Allerdings, und zwar hat er zufälligerweise damals auch in diesem Zimmer hier logiert.«
»In diesem Bette hat er geschlafen?« erklang es wie erschrocken; die schöne, heikle Dame verzog den Mund dabei.
»O, Madame, bei uns herrscht doch Sauberkeit, die Bettwäsche wird alle Tage gewechselt... oder Sie können ja auch ein anderes Zimmer nehmen...«
»Es ist gut. Ich brauche nichts mehr.«
Als die Prinzessin allein war, schaute sie sich nochmals prüfend in dem Zimmer um, jetzt aber mit einem ganz anderen Gesichtsausdruck, sie preßte dabei die Hände gegen den wogenden Busen, dann schlich sie an das Bett, schlug die Oberdecke zurück und küßte mit innigster Zärtlichkeit das Kopfkissen!
Kann man denn mehr von der Liebe verlangen?
Die alte Hofdame hatte ihre Entlassung sehr ruhig hingenommen, man sah ihr an, wie willkommen ihr dieselbe war, aber die letzten Worte, die sie geradezu als Diebin verdächtigten, hatten sie natürlich äußerst beleidigt, und sie machte ihrem Zorn Luft.
»Du infame Kanaille! Eine Prinzessin willst du sein? Du beträgst dich wie eine Dirne und bist auch eine solche! Recht ist es gewesen, daß man dich und deine ganze Sippschaft aus dem Lande hinausgejagt hat! Nur Prinz Alfred war ein ganz anderer, der war auch so klug, gleich von vornherein auf alles zu verzichten, und ein Glück nur, daß du ihn damals betrogst, wodurch ihm gleich die Augen über deinen schändlichen Charakter aufgingen, sonst wäre der edle, junge Mann richtig in deine nichtswürdigen Schlingen gegangen, und du hattest ihn so unglücklich gemacht, wie es der Kronprinz gewesen ist. Und jetzt, da du deinen Mann endlich zu Tode gemartert hast, erwacht deine alte Liebe wieder?
Und du hast Prinz Alfred wiedergefunden? Und du denkst nun dein altes Spiel wieder anzufangen? Na, so dumm wird Alfred doch nicht sein! Und wenn er's wäre...warte, ich werde auch seine Adresse erfahren, so gut wie du, und dann werde ich ihm schreiben, was du für ein niederträchtiges, tiefgesunkenes Weibsbild bist!«
Darauf begann die alte Dame die Sachen ihrer einstigen Herrin und ihre eigenen zu packen.
Über dieser Beschäftigung wurde es Abend, Fräulein von Simken hatte schon das Gepäck der Prinzessin hinaufbefördern lassen, als ein Kellner eintrat, hinter sich die Türe offen lassend.
»Ein Herr wünscht Sie zu sprechen, Miß.«
»Mich?« fragte die alte Dame, welche nur sehr mangelhaft Englisch sprach, zaghaft. »Ich kenne hier gar niemanden. Er will wahrscheinlich zu Madame Lenois.«
»Nein, Fräulein von Simken, mit Ihnen möchte ich einige Worte unter vier Augen sprechen,« erklang es da auf deutsch, und auf der Schwelle stand ein fremder Herr.
Er machte einen sehr eleganten Eindruck, aber die Abenteurerphysiognomie, in der Leidenschaften aller Art ihre Spuren hinterlassen hatten, konnte er nicht wegbringen, und ein Juwelenkenner wäre wohl gleich auf den Verdacht gekommen, daß die vielen Diamanten, die an seinen Fingern blitzten, kein reines Feuer ausstrahlten, wahrscheinlich war nicht einmal die dicke, goldene Uhrkette echt.
So bestimmt, wie er jene Worte gesprochen hatte, so unverschämt trat er gleich in das Zimmer, bedeutete dem Kellner, es zu verlassen, und schloß hinter diesem die Tür.
»Mein Name ist Huxley. Ich bitte Sie um eine kurze Unterredung,« wandte er sich an die hilflos Dastehende.
Wir wollen die beiden allein lassen, wir brauchen nur zu wissen, daß der fremde Herr eine Andeutung machte, er sei Kriminalbeamter, ohne es gerade direkt zu sagen, was aber schon genügte, um die alte Dame, welche erst seit einigen Tagen in Amerika war, sich so verlassen fühlte, nicht einmal die englische Sprache beherrschte, immer mehr ins Bockshorn zu jagen, und der fremde Herr erfuhr von ihr alles, was er wissen wollte, er examinierte sie wie der Richter den Angeklagten.
Nach einer Viertelstunde verließ der Herr das Zimmer wieder, benutzte den Fahrstuhl bis zur achten Etage und beauftragte den Zimmerkellner, ihn, Mr. Huxley, der Madame Lenois zu melden.
Der Kellner kam gleich wieder zurück.
»In welcher Angelegenheit der Herr die Dame zu sprechen wünsche.«
Mr. Huxley hatte bereits Bleistift und Visitenkarte in der Hand, schrieb nur eine Zeile und steckte die Karte in ein Kuvert, das er gleichfalls bei sich gehabt.
»Geben Sie dies der Dame, und sie wird mich sofort mit Vergnügen empfangen,« sagte er in hochtrabendem Tone.
»Mrs. Lenois läßt bitten,« meldete denn auch der zurückkommende Kellner und öffnete die Tür eines Wohnzimmers.
Marguérite hatte geschrieben, war aber jetzt aufgestanden und blickte mit nervöser Spannung dem Eintretenden entgegen. In der Hand hielt sie noch die Karte, auf welcher unter dem Namen Edward Huxley die Worte standen: ›kommt in Sachen des Mr. Nobody.‹
»Was wünschen Sie, mein Herr?« fragte sie mit vor Erregung zitternder Stimme.
Der Fremde hatte die Tür mit auffallender Sorgfalt hinter sich zugemacht, überzeugte sich auch, der Dame den Rücken wendend, nochmals, ob sie wirklich geschlossen sei, dann wandte er sich langsam um, die glühenden Augen musterten erst das Zimmer, und dann blickte er mit einem Lächeln, wie es dem Abenteurergesicht entsprach, so einem recht frechen Lächeln, die vor ihm stehende Dame an.
Dieses geheimnisvolle, affektierte Gebaren mußte deren Unruhe natürlich nur noch vermehren.
»Sind wir hier ganz ungestört, Königliche Hoheit?« begann er flüsternd, immer mit seinem widerlichen Grinsen.
»Ja, das sind wir. Warten Sie...«
Sie vergewisserte sich, daß sich in den Nebenzimmern niemand befand, und verriegelte sogar die Türen. Eine etwaige Angst vor dem fremden Manne wurde durch die Spannung verdrängt, die sein geheimnisvolles Benehmen bei ihr hervorrief.
»Nun, mein Herr?«
»Ich darf wohl Platz nehmen in Gegenwart der Königlichen Hoheit?« fragte jener und hatte sich dabei, ohne erst die Erlaubnis abzuwarten, auf einen Stuhl gesetzt. Madame Lenois hatte sich ihm gegenüber niedergelassen, ganz von ihrer Erregung beherrscht, die dunklen Augen mit ängstlicher Erwartung auf den Fremden geheftet.
Jetzt hatte sie nur eins herausgehört.
»Woher... wissen Sie, wer ich bin?« flüsterte sie atemlos.
Sie meinte, wie er dazu käme, sie Königliche Hoheit anzureden. Es war eine sehr naive Frage. Der Herr hätte deswegen keine Erkundigungen bei ihrem soeben entlassenen Kammerfräulein einzuziehen brauchen, alle Kellner wußten ja, daß es eine inkognito reisende, französische oder wahrscheinlich deutsche Fürstin war, sie wurde ja von ihrer Gesellschafterin demgemäß tituliert! Die Dame aber schien sich ihres Inkognitos sehr sicher zu sein, und an ihr Kammerfräulein mochte sie im Augenblick nicht denken, daß sie jetzt so stutzte.
Der Fremde aber machte sich dies zunutze, er setzte eine noch geheimnisvollere Miene auf, zeigte sich noch dreister.
»Wir wissen alles — alles! Königliche Hoheit haben also die feste Absicht, jetzt, da Ihr hoher Gemahl, der Kronprinz von..., in Sommerset bei London gestorben ist, die Liebe Seiner Königlichen Hoheit, des Prinzen Alfred von..., der sich jetzt Nobody nennt, und den Sie einst aus Ehrgeiz von sich gestoßen haben, wiederzugewinnen? Sie wollen sich jetzt nach Kairo begeben, um ihn dort persönlich zu sprechen, ihm Ihre Liebe abermals anzubieten?«
Der Mann sprach die hier nur mit Punkten angedeuteten Namen immer aus. Wir wollen sie nicht nennen, denn die betreffenden Personen leben noch, und jener Nobody hat sein geheimnisvolles Inkognito dennoch zu wahren gewußt.
Obgleich es so überaus nahe lag, woher der Fremde dies alles erfahren hatte — eben von der Hofdame, von der er doch direkt kam — wurde Madame Lenois förmlich von Entsetzen gepackt.
»Herr, wer sind Sie nur, daß Sie dies alles wissen?« hauchte sie mit bleichen Lippen.
»Ich werde mich Ihnen dann zu erkennen geben, und Königliche Hoheit werden noch überraschter sein als jetzt. Bitte, antworten Sie mir zunächst: Sie wollen sich dem Prinzen Alfred wieder nähern?«
»Ja,« erklang es jetzt entschlossen.
»Königliche Hoheit, damals Baronesse von Astern, waren mit Prinz Alfred schon so gut wie verlobt, da geschah das politische Unglück, Prinz Alfred war so verständig, sofort auf alle Ansprüche zu verzichten, das aber hatten Sie nicht erwartet, das paßte Ihnen nicht in Ihre Pläne, denn Sie waren maßlos ehrgeizig — nun aber machte eben zu dieser Zeit der Kronprinz, der schon längst ein Auge auf die schöne Baronesse Marguérite geworfen hatte, und der von Ihrer heimlichen Verlobung mit Prinz Alfred nichts wußte, einen Antrag — hier hatten Sie einen einfachen Privatmann, denn Prinz Alfred legte sofort seinen Titel ab — dort winkte Ihnen eine Königskrone — — also Sie gaben Ihrem heimlichen Verlobten, der Sie innig liebte, einen Korb... nein, sagen wir doch lieber gleich: Sie gaben ihm einen Tritt — — und Sie denken, dieser jetzige Nobody wird nun der dreißigjährigen Witwe gleich mit offenen Armen entgegenfliegen? Das können Sie wirklich glauben? Hähähähähähä!!«
Es war nicht anders, als ob die schöne, blasse Frau von jedem dieser Worte wie von einem Keulenhieb getroffen worden wäre, und als der Fremde mit einem häßlichen, schadenfrohen Gelächter geendet hatte, saß sie zusammengebrochen da und stierte mit glanzlosen Augen auf ihre im Schoß verschlungenen Hände nieder.
»Und — ich — liebe — ihn — ja — dennoch!« kam es dann stockend von ihren farblos gewordenen Lippen, tonlos, und trotzdem war der furchtbare Seelenschmerz herauszuhören.
Mr. Huxley weidete sich mit sichtlichem Vergnügen an diesem Eindruck seiner Worte.
»Ja, ja, so geht's,« nahm er dann wieder in seinem unverschämten Tone das Wort. »Ich glaube schon, daß jetzt die alte Liebe wieder erwacht ist, aber nun ist es zu spät. Denken Sie doch ja nicht, daß sich dieser Nobody jetzt noch von Ihnen fesseln lassen wird, der hat unterdessen etwas in der Welt gelernt, der denkt über die Weiber jetzt ganz anders als vor zwölf Jahren als idealer, liebeschmachtender Jüngling. — Na,« lenkte der Sprecher dann ein, seinem gemeinen Gesichte und seiner Stimme einen wohlwollenden Ausdruck zu geben versuchend, »wenn Sie sich uns anvertrauen, dann ginge die Sache vielleicht noch zu arrangieren.«
Mit etwas Hoffnungsfreudigkeit blickte die schöne Witwe wieder auf.
»Sie glauben? Wie wäre das möglich? Was soll ich tun?«
Sie wußte gar nicht, wie sehr sie sich diesem Menschen, den sie noch gar nicht kannte, gleich auf Gnade und Ungnade auslieferte.
»Sie müssen sich uns anvertrauen,« grinste der Kerl im eleganten Anzug, aber mit falschen Brillanten und mit unechter Uhrkette.
»Fordern Sie von mir, was Sie wollen, wenn Sie nur ein Mittel wissen, mich wieder mit Prinz Alfred zu vereinigen.«
Sie mußte sehr wenig Hoffnung haben, dies durch eigene Kraft bewerkstelligen zu können, daß sie gleich auf das Hilfsangebot des ersten besten Menschen einging.
Freilich trug diese geheimnisvolle Annäherung viel mit dazu bei.
»Nehmen wir einmal ein Beispiel an, wie so etwas zu ermöglichen ist, nämlich, daß ein Mann die größte Zuneigung zu einem Weibe fassen muß, ob er nun will oder nicht...«
»Durch einen Liebestrank?« unterbrach ihn die Prinzeß, allerdings in sehr zweifelndem Tone. »Glauben Sie an so etwas?«
»Liebestrank? Unsinn!« knurrte Huxley. »Da gibt es etwas viel Einfacheres und absolut Sicherwirkendes, Sie werden mit Nobody in Kairo zusammenkommen, dafür werden wir schon sorgen, und wenn nicht dort, dann eben anderswo. Überall gibt es einsame, abgelegene Orte, wo nicht sogleich Hilfe zur Stelle ist, aber vielleicht eine Hütte ist in der Nähe, in die der Verunglückte schnell gebracht werden kann...«
»Der Verunglückte?« wiederholte die Dame staunend. »Von wem sprechen Sie eigentlich, mein Herr?«
»Immer von Mr. Nobody, Wenn Sie in der Einsamkeit mit ihm allein sind, stürzen plötzlich einige maskierte Banditen aus dem Hinterhalt, Schüsse krachen — — bums, liegt der Herr Nobody da, eine Kugel hat mit unfehlbarer Sicherheit seinen Schenkelknochen zerschmettert...wünschen Königliche Hoheit, daß die Kugel das Bein so trifft, daß es ihm abgenommen werden muß? Denn mit einem Beine läuft er Ihnen sicher nicht mehr davon, dann hat die Wanderlust ein Ende, dann bleibt er hübsch zu Hause bei seiner Frau und läßt sich von ihr den Bart krauen. Wünschen Sie das linke oder das rechte Bein? Verunstaltet ist er deswegen noch lange nicht, er trägt eben ein Gummibein, und die Hauptsache ist doch, daß Sie ihn zum Mann haben. Oder es braucht auch nicht das ganze Bein zu sein. Vielleicht nur so weit? Oder nur bis ans Knie? Länger aber würde ich ihm an Ihrer Stelle das Bein nicht lassen.«
Dieses Unikum von einem Gentleman hatte zum Überfluß auch noch einen Revolver aus der Tasche gezogen, setzte die Mündung hoch oben am Leib auf den Schenkel seines einen Beines, dann rutschte er mit dem Revolver immer etwas weiter nach unten, so markierend, wie weit Nobodys Bein abgenommen werden dürfte, bis er an seinem Knie Halt machte... »Länger aber würde ich ihm an Ihrer Stelle das Bein nicht lassen.«
Mit entsetzten Augen blickte Marguérite auf den höhnisch grinsenden Bösewicht, der ihr einen solchen Vorschlag machte, dessen eigentlichen Zweck sie aber noch gar nicht verstand.
»Herr, wer sind Sie?« brachte sie endlich hervor.
»Ein Mann, welcher mit einem Kompagnon zusammen derartige Geschäfte macht,« war die kaltblütige Antwort. »O, wir beide haben schon die schwierigsten Sachen fertig gebracht. Erst kürzlich, da kam ein Gentleman zu uns — der hatte es auf ein Mädchen abgesehen — gar nicht daran zu denken, das Mädel war ein Prachtweib und steinreich, und er war ein Habenichts und ein häßlicher Kerl, grundhäßlich, hatte auch noch einen Ansatz zum Buckel. — Gut, wird gemacht, sagten wir. — Die Dame befand sich auf einem Jagdausflug, in ganz einsamer Gegend, da krachte ein Schuß, die Kugel, wie ein solches Kaliber der Bucklige nicht führte — verstanden? — ging der jungen Dame durch alle Röcke und gerade in das Fleisch des rechten Schenkels — — wie sie hilflos dalag, da kam der Buckel — — daß kein anderer von der Jagdgesellschaft zugegen war, dafür hatten wir gesorgt, alles war aufs trefflichste arrangiert — — also kein Arzt, kein Mensch in der Nähe — — nur der Buckel — — na, der mußte natürlich helfen, er hatte überhaupt etwas ärztliche Kenntnisse — — also der zieht die junge Dame aus, da hilft doch alles nichts, er verbindet die Wunde — schleppt die Verwundete bis ins nächste Haus, bleibt bei ihr, pflegt sie getreulich, wäscht und verbindet weiter... na, da können Sie sich wohl denken, was daraus geworden ist. Das schöne Mädchen hat den buckligen Kerl dann geheiratet, mußte ihn ja geradezu heiraten, der hatte schon zuviel gesehen. Aber da war dann auch wirkliche Liebe dabei, das macht die aufopfernde Pflege — — wenn man so das Milchsüppchen bringt, hähähähä — — die beiden sind ein ganz glückliches Paar geworden. Dieses Kunststück hat uns 10 000 Dollar eingebracht,« setzte Mr. Huxley noch hinzu, »so etwas lassen wir uns natürlich gut bezahlen.« Die großen Augen der schönen Witwe blickten nur immer entsetzter auf den Mann, der das alles so gelassen hervorbrachte.
»Mensch, Herr, sind Sie denn... der Teufel?!«
»Nicht selbst, der Teufel ist nur mein Berater, und ich bin ihm sehr dankbar, daß er mich auf diese geniale Idee brachte. Wie es in Ihrem Falle gehalten wird, wissen Sie doch nun. Auf die Weise, als treue Pflegerin des Verwundeten, den Sie wie Ihr kleines Kind oder auch wie Ihren Gatten ganz intim behandeln müssen, erwerben Sie seine Liebe mit absoluter Sicherheit. Oder aber, wenn Ihnen an einem zweibeinigen Gatten sehr gelegen ist, kann ich Ihnen auch noch einen anderen Vorschlag machen. Die Ausführung dieses Planes kostet freilich viel mehr Honorar, denn wir haben viel mehr Mühe damit. — Haben Königliche Hoheit schon einmal einen blinden Liebhaber gehabt?«
Die vornehme Dame war so mit anderen Gedanken beschäftigt, daß sie das Zynische dieser Frage gar nicht empfand.
»Einen blinden Liebhaber? Nein,« entgegnete sie, was wiederum ein sonderbares Licht auf ihren Charakter warf.
»O, das sollten Sie einmal probieren. Ich kann davon erzählen. Das heißt, bei mir war es natürlich ein blindes Mädchen. Sie wissen doch, daß sich beim Blinden alle Sinne im Gefühl konzentrieren. Großartig! Na, das können Sie auch haben, und das für immer. Sie selbst können das natürlich nicht besorgen, ihm etwa eine Flasche Vitriol in das Gesicht gießen oder ein ähnliches Experiment versuchen. Das muß von fremder Hand geschehen und zwar auf eine ganz raffinierte Weise, daß auf Sie auch nicht der geringste Verdacht fällt. Sonst wäre es mit der Liebe natürlich aus. Sein Gesicht braucht dabei auch gar nicht entstellt zu werden, wir stechen ihm nicht einmal die Augen aus. Wir blenden ihn. Das ist ganz einfach. Tut auch gar nicht weh. Nur ein kleiner, stechender Schmerz — — weg ist das Augenlicht. Das wird alles arrangiert, er fällt Räubern in die Hände, die hinter dem gefährlichen Nobody her sind, sie blenden ihn, verlassen ihn aus irgend einem Grunde, hilflos irrt der Blinde in der Einöde herum, vielleicht in einem wilden Gebirge, da erscheinen Sie. Sie haben ihn aus Räuberhand befreien wollen, ergreifen des Blinden Hand, leiten ihn, daß sein Fuß nicht strauchelt... und Sie werden ihn fernerhin durch das Leben geleiten. Und nun geben Sie acht, was so ein blinder Ehemann, bei dem alles Abhängigkeit ist, für einen Spaß macht!... Halt, einen Schuß ins Bein muß er doch bekommen, in den Schenkel, aber nur ins Fleisch. Sie müssen ihn auch so pflegen, und Not kennt kein Gebot... Sie müssen ihn gleich von vornherein in einer Weise behandeln können, als wären Sie seine Ehefrau. Und dann haben Sie ihn mit absoluter Sicherheit... und noch dazu so ein hübsches, blindes Männchen, mit dem man machen kann, was man will!«
Der Unhold hatte gesprochen. Die schöne Witwe saß in tiefem Sinnen da. Aber man sah, was in ihr vorging, wie ihr Busen wogte, wie es in ihren schwarzen Augen immer mehr zu glühen begann!
»Sind Sie... befähigt dazu, so etwas fertig zu bringen?« erklang es dann mit etwas heiserer Stimme.
»Ich habe Ihnen ja gesagt, daß dies mein Beruf ist. Und noch nie ist es mir mißglückt.«
»Es dürfte sich... in Aegypten abspielen.«
»Ich bin in der ganzen Welt zu Hause, in Kairo so gut wie in New-York.«
»Und was... kostet das?«
Doch wir können die beiden jetzt allein lassen.
Eine Stunde später traf sich dieser saubere Gentleman, welcher sich Mr. Huxley nannte, mit einem Spießgesellen in einer obskuren Wirtschaft.
»Das war ein Einfall von mir, Bob,« sagte er flüsternd, als beide allein in einem dunklen Winkel saßen, »daß ich mich an diese fremde Dame, die mir auf der Straße auffiel, heranmachte. Weißt du, wer das ist?«
Er nannte ihren eigentlichen Namen, ihren Titel, erzählte mehr von ihr.
»Was du sagst!« staunte der andere.
»Sie hatte sich gerade mit ihrem Kammerfräulein überworfen, das kam mir zustatten...«
Und der Mann erzählte weiter. Das Staunen des anderen wurde immer größer.
»Und sie ging gleich wie eine Maus an den Speck. Es ist alles schon abgemacht, du bist mein Kompagnon, wir begleiten sie nach Kairo, wenn wir sie an Bord auch nicht kennen... du, Bob, erster Kajüte nach Alexandrien! Und das ist erst der Anfang! Die wollen wir aber noch ausnehmen! Denn was meinst du wohl? Sie bedauerte, nur zwei Hundertdollarnoten bei sich zu haben, und kleineres Geld wollte ich nicht annehmen, ich mußte doch etwas vornehm tun. Hier sind sie. Und hier, was ist das? Ein Scheck auf 10 000 Dollar... und der ist so gut wie Gold, morgen löse ich ihn ein... und das ist erst die Anzahlung auf das zukünftige Geschäft, hähähäha!! So ein dummes, verliebtes, vertrauensseliges Frauenzimmer ist mir denn doch noch nicht vorgekommen, hähähähähä!! Bob, jetzt endlich fängt unser Weizen an zu blühen.«
Es wurde Champagner bestellt, die Pfropfen wallten.
»Ja aber,« begann dann Bob wieder, als sich sein Freudenrausch etwas gelegt hatte, und ehe der Champagnerrausch kam, »willst du denn das mit dem Blenden wirklich ausführen?«
»Nu warum denn nicht?! Du, Bob, das ist eben ein genialer Gedanke von mir gewesen, ich weiß selber gar nicht, wie ich mit einem Male auf den Einfall kam, dem verrückten Frauenzimmer so etwas vorzuschwatzen. Ich glaube, der Teufel muß mit mir im Bunde gewesen sein. Ja, aber warum soll denn das nicht gehen, so, wie ich es gesagt habe? Bob, weiß Gott, das machen wir einmal... erst einen Anfang, dann sind wir drin in dieser Karriere, die ich erst geschaffen habe.«
Also nichts weiter, als zwei Gauner, Hochstapler, die im Trüben fischen, aber zu Verbrechern veranlagt. Und wahrhaftig, für einen Verbrecher war die Idee, die jener Mann so aus dem Stegreif entworfen hatte, wirklich genial.
»Daß du in Aegypten schon gewesen bist, weiß ich,« nahm Bob wieder das Wort. »Aber mit so etwas gerade bei Nobody anzufangen? Dieser Nobody...«
»Ist auch nur ein Mensch,« fiel ihm der andere geringschätzend ins Wort, »Einmal muß der Anfang doch gemacht werden, tun wir es also bei ihm; bange machen gilt nicht. Wir werden diesen unsichtbaren Menschen schon zu sehen bekommen, jenes Weib erhalt nämlich die Chiffre, unter welcher er in Kairo seine Briefe abholen wird. Dann heften wir uns an seine Fersen, und uns soll er nicht entgehen, was Bob? Da haben wir schon andere Sachen fertig gebracht. Sollte trotzdem aus irgend einem Zufall nichts daraus werden... diese Prinzessin wird uns nicht wieder los, darauf kannst du dich verlassen. Sie hat einmal A gesagt, jetzt muß sie nicht nur B, sondern das ganze Alphabet bis zum Z sagen. Die lassen wir nicht wieder aus unseren Fängen.«
Am anderen Morgen stellte sich Mr. Huxley wieder in dem Hotel ein und fand es in großer Aufregung, wenn man diese auch zu verbergen suchte. Von Madame Lewis erfuhr er den Grund. Heute morgen hatte man Fräulein von Simken tot im Bett gefunden, ein Herzschlag hatte ihrem Leben ein Ziel gesetzt. Ihre einstige Herrin schien sich wenig Vorwürfe zu machen, daß sie durch ihre gehässigen Vorwürfe den Tod der alten Dame herbeigeführt haben könnte. Sie wurde einmal von der Polizei vernommen, dann war sie noch so großmütig, die beträchtliche Summe zu deponieren, um die Leiche nach Deutschland transportieren zu lassen.
In New-York gibt es ein chinesisches Viertel, die Vereinigten Staaten stehen mit China in starker Handelsverbindung, deshalb ist China in New-York durch einen Konsul vertreten.
Dieser befand sich in seinem Bureau. Er hatte zwar noch einen Zopf, trug sich und benahm sich sonst aber ganz wie ein moderner Gentleman, und dasselbe gilt von allen in dem palastartigen Gebäude angestellten chinesischen Beamten, daher wollen wir die nachfolgende Unterhaltung auch nicht in chinesischer Ausdrucksweise wiedergeben — die höflichen Redensarten und Respektbezeugungen würden gar zu viel Platz wegnehmen.
Der Konsul wurde im Gespräch mit einem Sekretär von einem Kawassen gestört, der einzige Chinese, welcher im chinesischen Konsulatsgebäude wirklich in chinesischer Tracht ging.
›Kawaß‹ ist eigentlich ein türkischer Polizeisoldat, doch ist dies der Name aller Konsulatsdiener im Auslande geworden, welche im Vorzimmer Wache halten. Die Konsuln wählen dazu die schönsten Männer ihrer Nation aus und treiben mit ihnen immer einen großen Luxus. Dieser Kawaß hier zeichnete sich durch einen enormen Bauch aus, was in China bekanntlich als sehr schön gilt.
»Was gibt es?«
Nachdem der Chinese, der einen kleinen, schmutzigen Ballen in der Hand trug, den ganzen Vorrat von Titeln erschöpft hatte, welche diesem hohen Würdenträger zukamen, stattete er Bericht ab.
Seit heute früh würde das Vorzimmer von einem chinesischen Kuli belagert, welcher seinem Konsul ein großes Geheimnis zu verkünden habe. Der Kawaß kannte den verhungerten und zerlumpten Kerl, er kam erst heute von Sing-Sing, der Strafinsel, wo er wegen eines Diebstahls ein halbes Jahr hatte Baumwolle spinnen müssen, für diesen Mann eine um so furchtbarere Strafe, weil er dem Opiumgenuß ergeben war, und dem hatte er während seiner Gefangenschaft doch nicht frönen können, er zitterte deshalb an allen Gliedern. Der Kawaß hatte den Kerl, der doch nur betteln wollte, um sich Opium zu kaufen, hinausgeworfen, aber Lan Tschu war draußen auf der Steintreppe sitzen geblieben, immer noch von seinem ›großen Geheimnis‹ schwatzend, und der Kawaß war dadurch stutzig geworden, daß jener noch nicht ging, auch als ihm schon einige begüterte Landsleute, die aus dem Konsulat gekommen waren, Geld gegeben hatten.
»Jetzt schickt dir, o glanzvoller Stern des himmlischen Reiches, Lan Tschu diesen Brief.«
Mit diesen Worten wollte der Kawaß seinem Herrn das Bündel überreichen, einen zusammengeknoteten Fetzen Zeug von entsetzlicher Schmutzigkeit, im Rinnstein aufgelesen.
Aber der Herr Konsul wollte den sonderbaren Brief nicht annehmen.
»Was ist da drin?«
»Lan Tschu hat einen geschriebenen Zettel hineingelegt.«
Also das Bündel war nur das Kuvert.
»Knüpfe es auf!«
Der Kawaß tat es. Wirklich, der abgerissene, ehemals weiße Rand einer Zeitung kam zum Vorschein, auf diesen Zettel waren mittels Schlamm und der Fingerspitze Worte geschrieben. Der Konsul nahm das Papier mit einer Schere und las.
In deutscher Übersetzung lauteten die Worte:
»Der Perlenmacher lebt noch, welcher vor zwei Jahren dem Taotai von Hangtscheu entsprang, und Lan Tschu weiß, wo er sich befindet.«
Der Konsul wurde plötzlich von einer Aufregung befallen, welche eines echten Chinesen eigentlich ganz unwürdig ist. Hastig begab er sich in sein Privatkontor, jetzt den schmutzigen Wisch gleich zwischen den Fingern mitnehmend.
Ja, er wußte, was hiermit gemeint war, er kannte den ganzen Fall.
Zehn Jahre war es nun schon her. Da war es den Juwelenhändlern und anderen daran Interessierten aufgefallen, daß in Hangtscheu, der Hauptstadt der gleichnamigen Provinz, außergewöhnlich viel echte Perlen auf den Markt kamen, von einer Größe und Schönheit, wie die chinesischen Gewässer sie nicht liefern, und dabei auch noch zu einem ungewöhnlich billigen Preise.
Man forschte weiter und fand schließlich als letzte Quelle, von der all diese Perlen ausgingen, einen Chinesen Namens Tsin Hei, ein Mann aus der verachteten Kaste der Gaukler, der aber einst in hohen Ehren gestanden hatte, denn er war vor vielen Jahren der unübertreffliche Hofgaukler des Kaisers gewesen.
Jetzt war das Rätsel gelöst, und die ganze Provinz Hangtscheu wurde von einer Art Fieber ergriffen, das sich bis an den Hof von Peking erstreckte.
Dieser alte Gaukler hatte schon immer, ehe er am Hofe in Ungnade gefallen war und einen Kopf kürzer gemacht werden sollte, welcher unangenehmen Prozedur er aber durch Flucht aus dem Wege ging, sich mit Experimenten beschäftigt, echte Perlen auf künstliche Weise herzustellen, die Seemuscheln zu zwingen, Perlen zu liefern.
Das geht nämlich. Besonders die Chinesen haben es hierin weit gebracht. Sie setzen in die geeignete Muschel, wenn sie sich geöffnet hat, einen scharfen Gegenstand, etwa ein Quarzkörnchen, ein, welches die Schleimhaut der Muschel reizt, diese hüllt das unangenehme Objekt mit Schleim ein, und nach längerer oder kürzerer Zeit ist die Perle fertig.
Aber das liest sich viel leichter auf dem Papiere, als es in Wirklichkeit auszuführen ist. Man soll's nur einmal probieren. Das ist geradeso wie mit der Austernzucht. Mit dieser sind auch schon ungezählte Vermögen verpulvert worden.
Allerdings, es geht, aber vor allen Dingen scheint chinesische Geduld dazu zu gehören, und eine Perle, welche wie ein milcherner Tautropfen über die Handfläche rollt, wird es auch niemals. Eine solche Perle auf künstliche Weise zu erzeugen, das ist bis heute noch nicht gelungen. Wir wissen ja überhaupt noch gar nicht, wie die Muschel die Perle eigentlich bildet. Ein die Schleimhaut reizender Kern scheint gar nicht nötig zu sein, denn die meisten Perlen sind massiv und enthalten auch keinen mikroskopisch wahrnehmbaren Kern, auch kein Infusor, wie oft behauptet worden ist. Die Chinesen treiben denn auch mit diesen künstlich erzeugten Perlen mehr einen religiösen Hokuspokus; hauptsächlich bringen sie in die Muscheln winzige Figürchen aus Zinn, welche buddhistische Götzen darstellen, diese lassen sie mit Schleim umhüllen, das sind dann zauberkräftige Talismane, aber als Schmuck haben sie gar keinen Wert.
Doch was noch nicht gelungen ist, kann noch geschehen, und dem alten Gaukler, der schon ein Menschenalter an dem Problem experimentiert hatte, schien die Lösung endlich geglückt zu sein.
Der Taotai von Hangtscheu ließ ihn sofort festnehmen und einsperren. Tsin Hei war nicht allein gewesen, er hatte einen Kompagnon bei sich gehabt, seltsamerweise einen jungen, blondhaarigen Europäer. Der wurde natürlich ebenfalls in den Kerker geworfen, und beim hochnotpeinlichen Verhör zeigte es sich denn auch, daß man ganz recht gehabt hatte, ihn nicht laufen zu lassen.
Nach chinesischer Sitte hatten die beiden, wenn sie ihr Geheimnis nicht gestanden, welches selbstverständlich gleich ein kaiserliches Monopol geworden wäre, die Folter zu erwarten. Aber so weit ließen es die beiden nicht kommen, sie gestanden sofort, daß sie tatsächlich künstliche Perlen erzeugen könnten. Also auch der junge Europäer war in das Geheimnis eingeweiht.
Sie konnten die echten Perlmuscheln zwar zwingen, ›gefrorene Tautropfen‹ zu erzeugen, doch sonst mußte dies auf ganz natürliche Weise vor sich gehen, und zwar erforderte dies eine lange, lange Zeit, wie lange, das könne man gar nicht voraussagen, das hinge ganz von den Verhältnissen ab. Zu der großen Anzahl Perlen, die sie nach und nach verkauft, und wie man solche auch noch bei ihnen vorfand, prachtvolle Exemplare, von echten gar nicht zu unterscheiden, hätten sie drei Jahre gebraucht, sie hätten sie auf einer einsamen Insel erzeugt, von wo sie aber durch Seeräuber vertrieben worden wären.
Es handelte sich also nicht um eine chemische Herstellung von echten Perlen, sondern um eine künstliche Zucht von ertragsreichen Perlmuscheln, und das war schon ungeheuer viel wert. Wenn man bedenkt, wie begehrt im ganzen Orient die Perlen sind, welche Summen jährlich für sie ausgegeben werden, so konnte dieses Monopol dem chinesischen Reiche eine ganz andere finanzielle Lage geben.
Die Sache wurde nach Peking berichtet; ein kaiserlicher Befehl schützte das Leben der beiden — — gut, sie sollten haben, was sie wünschten, wenn sie nur echte Perlen lieferten.
So, wie es die beiden wollten, ging es nun freilich nicht. Sie hatten verlangt, auf einer einsamen Insel ihr Laboratorium einzurichten. Daraus wurde nichts, denn daß die beiden die erste Gelegenheit zur Flucht ergriffen, das war doch ganz klar. Aber eine Insel erhielten sie doch, nur eine solche in der Bucht von Hangtscheu, ganz nahe am Land, auf ihr befand sich ein starkes Fort, und in dieses wurden die beiden unter schärfster Bewachung eingesperrt. Sonst erhielten sie alles, was sie forderten. Zur Zucht der Perlmuscheln brauchten sie doch immer frisches Meerwasser, sie mußten es nach Belieben in besondere Bassins ab- und zuleiten können — und ein Jahr allein verging schon damit, um in die Felsen Bassins, Schleusen und dergleichen zu meißeln, wozu ihnen so viel Menschenhände zur Verfügung standen, wie sie nur wünschten.
Kurz, nicht weniger als 8 Jahre wußten die beiden die Sache hinzuhalten, immer wieder neue Entschuldigungen für die Resultatlosigkeit ihrer Experimente zu finden und ihren schatzgierigen Wächtern dennoch immer wieder neue Hoffnung auf ein endliches Gelingen zu machen. Daran ist gar nichts Unglaubliches. Wenn man bedenkt, daß im 18. Jahrhundert der Goldmacher Böttger den Kurfürsten von Sachsen 5 Jahre lang an der Nase herumführte, so darf man wohl glauben, daß im 19. Jahrhundert so ein raffinierter Gaukler, der am Hofe gewesen ist und alle Schliche kennt, einen chinesischen Statthalter 8 Jahre an der Nase herumführen kann. Denn in China kam noch religiöser Humbug in Betracht, von dem das Gelingen der künstlichen Perlenzucht abhängig war, die heiligen Drachenfeste, die Stellung der Gestirne usw.!
Es war aber wirklich etwas dabei, was die Hoffnung des Statthalters und des kaiserlichen Hofes immer wieder nährte.
Die Perlen wollten in den Bassins nicht ›wachsen‹. Wenn aber den chinesischen Herren endlich die Geduld ausging, wenn den beiden schon das Messer an der Kehle oder das Henkersschwert im Genick saß, dann untersuchten sie jedesmal die in den Bassins befindlichen Muscheln genau, und... wahrhaftig, da wurde jedesmal mindestens eine Muschel gefunden, welche eine prachtvolle, außergewöhnlich große Perle enthielt. Die ging dann immer an den kaiserlichen Hof, und dann war alles wieder gut; man ließ die beiden weiter experimentieren, man mußte sich eben in Geduld fassen.
Der geneigte Leser wird sofort auf den Verdacht kommen, daß die beiden noch von früherher echte Perlen bei sich hatten und, wenn es ihr Leben zu retten galt, immer eine solche in eine Muschel einschmuggelten. Aber so schlau, um auf diesen Verdacht zu kommen, sind die Chinesen auch. Die Gefangenen waren gleich im Anfang einer gründlichen Untersuchung im Adamskostüm unterworfen worden, mit Brech- und Laxiermitteln hatte man auch ihren inneren Menschen umgekehrt, und nichts war bei ihnen gefunden worden.
Nein, man mußte ihnen Glauben schenken, man mußte warten.
Da, nach 8 Jahren starb Tsin Hei plötzlich an Altersschwäche, und der ›weiße Teufel‹, sein Gefährte — jeder Europäer ist in China ein ›weißer Teufel‹, und einen anderen Namen hatte des Gauklers junger Leidensgefährte, dem aber die Gefangenschaft recht gut bekam, niemals erhalten — stand abermals in Gefahr, sein Leben durch Henkershand zu verlieren. Denn war der eine tot, mochte auch der andere draufgehen, man hatte die langweilige Geschichte endlich satt bekommen.
Aber der schlaue ›weiße Teufel‹ wußte wiederum sein Leben zu retten, sich wenigstens eine Gnadenfrist auszuwirken.
Der alte Gaukler habe ihn gezwungen, das Geheimnis zu wahren, die Wächter immer zu täuschen, sonst wäre es ihm ans Leben gegangen. Jetzt sei der Mann, vor dem er sich so gefürchtet habe, tot — und wenn er nicht innerhalb von vier Wochen echte Perlen in Hülle und Fülle liefere, so wolle er seinen Kopf verwirkt haben.
Gut, diese vier Wochen Frist konnte man dem ›weißen Teufel‹ noch gewähren.
Es vergingen nur drei Wochen, da... fanden die Wächter den weißen Vogel eines Morgens ausgeflogen. Staunend betrachteten die Chinesen die kolossale Arbeit, welche der Flüchtling, jetzt offen vor ihren Augen, hinterlassen hatte. Einen Tunnel von etwa 40 Meter Länge hatte er durch den massiven Felsen gemeißelt, bis er das offene Meer erreicht, in welches hinab er noch einen Todessprung hatte ausführen müssen. Diesen Fluchtweg hatte er sich natürlich nicht in den letzten drei Wochen gebahnt, daran hatten die beiden die ganzen acht Jahre gearbeitet; der alte Gaukler war nur kurz vor der Vollendung gestorben.
Jetzt erfuhr man auch, wie es kam, daß sich die von ihnen gepflegten Muscheln in den Bassins so zusehends vermehrt hatten. Dem war gar nicht so. Die Arbeitenden hatten das herausgemeißelte Gestein immer in die Bassins geworfen und die vorher abgenommenen Muscheln wieder daraufgelegt.
Die chinesischen Wächter hatten nicht lange Zeit, zu staunen und zu grübeln, sie mußten sämtlich den Weg zur Richtstätte gehen, und der erste, dem der Kopf von den Schultern geschlagen wurde, war der Taotai von Hangtscheu.
Doch diese Strafe brachte den Flüchtling nicht wieder. Uebrigens glaubte man nicht, daß er den Todessprung vom himmelhohen Felsen ins Meer hinab überstanden hatte, er mußte auf den Klippen zerschellt sein, wenn man seine Leiche auch nicht fand.
Dies alles war also dem chinesischen Konsul bekannt.
Und jetzt wollte jemand behaupten, daß jener Flüchtling noch am Leben sei, wollte seinen Aufenthalt kennen.
Der ausgemergelte Kerl, der sich das Geld für ein paar Pfeifen Opium verdienen wollte, wurde vorgeführt.
Ja, er, Lan Tschu, sei dabeigewesen, wie damals in der Provinz Hangtscheu der alte Gaukler und sein weißer Gefährte festgenommen wurden, und zehn Jahre später habe er, wie er im Atlantic-Garden als Fensterputzer angestellt war, den letzteren wiedergesehen.
Der weiße Teufel führe jetzt den Namen Nobody. —
»Und du weißt das ganz genau, Lan Tschu?« fragte der Konsul.
Lau Tschu versicherte es mit pompösen Redensarten.
»Und du denkst, das ist mir nicht schon längst bekannt?«
Ach, dieses enttäuschte Gesicht des armen Schluckers! Doch der chinesische Konsul war ein großmütiger Mann. Er hatte schon vorher aus einer Schublade seines Schreibtisches etwas Großes, Glänzendes genommen — Lan Tschu hatte es wohl beobachtet — und es aus irgend einem Grunde in Papier gewickelt.
»Da dein Lohn! Kaufe dir Opium dafür!«
Mit diesen Worten warf der Konsul das schwere Papier etwas hinter den Mann. Dieser drehte sich schnell um, bückte sich — ebenso schnell hatte der Konsul von seinem Schreibtisch einen großen, weit ausgespannten Zirkel genommen, und wie Lan Tschu noch so gebückt dastand, setzte ihm der Konsul die spitzen Enden des Zirkels mit ziemlichem Nachdruck auf sein Hinterteil.
Ein Schrei, und wie ein Blitz war der Gestochene zur Tür hinaus.
Draußen stand der dicke Kawaß.
»Hat er dich auch... ?« fragte dieser, aber gar nicht schadenfroh, sondern in einem recht kläglichen Tone, und dabei hatte er, ebenso wie der andere, die Hände schützend auf sein Hinterteil gelegt.
Der wußte aus eigener Erfahrung wozu der ›Stern des himmlischen Reiches‹ immer den ausgespannten Zirkel handbereit liegen hatte.
Doch Lau Tschu hatte ja den goldenen Lohn im Papier, er wickelte dieses auf und... fand einen großen Hosenknopf aus Messing.
Wir versetzen uns wieder nach London zurück an Bord der ›Wetterhexe‹.
Es war Abend. Kapitän Flederwisch saß rauchend in seiner Kajüte und machte sich Sorge über das Ausbleiben seines Freundes, der nun schon seit sechs Tagen nichts mehr von sich hatte hören lassen, als hastig die Schiebetür aufging und ein fremder Herr eintrat.
»Was macht Keigo Kiyotaki?« war die erste Frage des Fremden.
Mehr noch als aus dieser Frage merkte Flederwisch, daß er nur Nobody vor sich haben könnte, daraus, weil ein Fremder von den Matrosen überhaupt nicht an Bord gelassen worden wäre, ohne daß man den Kapitän vorher benachrichtigt hätte.
Flederwisch war freudig von seinem Sitze aufgeschnellt.
»Hallo, Master, das nenne ich eine Überraschung! Ich war wirklich schon besorgt um Sie...«
»Lassen wir das jetzt, ich erzähle Ihnen dann alles,« fiel ihm Nobody schnell ins Wort. »Ich habe es nicht umsonst so eilig mit meiner Frage: was macht Keigo Kiyotaki?«
»Er ist an Bord und befindet sich wohlauf.«
»Ist während meiner Abwesenheit ein fremder Japaner an Bord gewesen und hat Sie sprechen wollen?«
»Kein einziger.«
»Haben Sie keinen Brief wegen Keigos empfangen?«
»Nein. Wie wäre denn das möglich?« stutzte der Kapitän. »Sollte es denn bekannt geworden sein, daß er...«
»Es könnte doch sein, daß er einmal an Deck gesehen worden ist oder nur sein Gesicht an einem Fenster. Kurzum, in London lebende Japaner haben eine Witterung von der ›Wetterhexe‹ bekommen. Eben jetzt, als ich mich in der Dunkelheit der Jacht näherte, sah ich zwei Männer auf dem Quai stehen, ich konnte mich unbemerkt ziemlich nahe an sie heranschleichen, sie flüsterten japanisch zusammen, waren im Zweifel, ob beide an Bord gehen sollten oder nur einer. Was können sie anders wollen als... da kommen sie schon!«
Ein Matrose trat ein und meldete, ein Herr wünsche den Kapitän der ›Wetterhexe‹ zu sprechen.
»Es ist ein Japaner, aber er spricht ganz gut Englisch.«
»Sage dem Herrn im Namen des Kapitäns, er möchte einen Augenblick warten,« entschied Nobody, wandte sich schnell wieder an Flederwisch und erteilte ihm einige Instruktionen, so daß dieser den Japaner ebensogut empfangen konnte, wie Nobody selbst.
Als der Erwartete eintrat, sah er sich in der Kajüte nur dem Kapitän gegenüber.
Es war ein kleiner Mann mit ältlichen Gesichtszügen. Man kann jedem Japaner ansehen, zu welcher Kaste er gehört. Die eigentliche Kraft des Volkes bildet die 7. Kaste, das sind die kleinen Kaufleute und die Handwerker, und noch mehr die 8. und letzte Kaste, die Schiffer, Fischer und Bauern, und hier kann man wirklich von der Kraft des Volkes reden, denn die Männer dieser beiden Kasten, zwar auch klein von Gestalt, zeichnen sich durchweg durch eine kolossale Muskulatur aus.
Kapitän Flederwisch wußte hiervon genug, um schon aus dem dicken, von Adern und Sehnen starrenden Halse, auf dem das magere Gesicht mit den schwarzen, glühenden Augen saß, zu erkennen, mit wem er es zu tun hatte, und ferner sagte ihm jede Bewegung, daß er einen Seemann vor sich habe, also einen Vertreter der letzten Kaste. Deswegen aber konnte das vielleicht ein schwerreicher Schiffsreeder sein, den nur seine Geburt verhinderte, zur vornehmen Kaste der Großkaufleute zu gehören. Er war denn auch wie ein Gentleman gekleidet und benahm sich wie ein solcher, und dann kam noch etwas hinzu, was einem Manne steht: ein selbstbewußtes Auftreten, erzeugt durch das Vertrauen auf seine Kraft und Kühnheit.
»Jeriko ist mein Name,« begann der Japaner ohne Umschweife, die kleinen, funkelnden Augen fest auf den jungen Hünen gerichtet.
»Sehr angenehm! Kapitän Flederwisch, Besitzer dieser Jacht. Womit kann ich Ihnen dienen? Bitte, wollen Sie Platz nehmen.«
»Ich ziehe vor, stehen zu bleiben.«
Oho!! Daher auch die so feindselig funkelnden Augen! Nun, dem Kapitän Flederwisch gefiel ein solch offenes Auftreten, da weiß man doch gleich, woran man ist. Er richtete seine hohe Gestalt noch etwas höher auf und drehte lächelnd seinen Schnurrbart.
»Sie scheinen mich ja in recht feindlicher Stimmung zu besuchen.«
»Nicht in feindlicher Stimmung, aber in kampfbereiter, und ich setze mich nicht eher, als bis wir einen gütlichen Frieden geschlossen haben!«
»So befänden wir beide uns bereits im Kriege?«
»Allerdings.«
»Nicht daß ich wüßte. Was wollen Sie eigentlich von mir, Mr. Jeriko?«
»An Bord Ihrer Jacht befindet sich ein Japaner Namens Keigo Kiyotaki.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich weiß es. Er ist an Deck gesehen worden.«
»Ja, das stimmt, er befindet sich bei mir. Nun, und?«
»Ich bitte Sie, mir diesen Mann auszuliefern.«
»Wozu?«
»Damit er bestraft wird.«
»Weswegen soll er denn bestraft werden? Sie wissen doch, daß er an Loftus Deacons Ermordung unschuldig ist, und der arme Kerl hat schon genug durchgemacht.«
»Sie wissen ganz genau, was ich meine, und wenn ich so offen spreche, ist es eines Mannes unwürdig, mich mit solchen Redensarten hinzuhalten.«
Kapitän Flederwisch zuckte etwas zusammen. Er hätte den Mann, der an Bord seines Schiffes so auftrat, gleich hinauswerfen können, aber er beherrschte sich.
»Gut, wenn Sie's wollen, können Sie auch gleich meine offene Meinung zu hören bekommen. Grob brauche ich deswegen nicht zu werden, obgleich Sie sich mir gegenüber nicht gerade sehr höflich benehmen. — Sie denken, ich liefere Ihnen diesen Keigo Kiyotaki aus, weil er in Japan irgend etwas begangen hat, was Sie für ein großes Verbrechen erachten? — Nein. Keigo Kiyotaki steht unter meinem Schutze. Genug!«
Jetzt versuchte der erst so stolz und herrisch auftretende Japaner doch etwas einzulenken.
»Herr Kapitän! Lassen Sie mich ein vergleichendes Beispiel heranziehen, damit Sie besser verstehen, um was es sich handelt. Ich nehme an, Sie sind Engländer. Sie haben hier in England das Grab eines Vaters, eines Bruders, oder das Grab eines Fürsten, den Sie hoch verehren. Da wird dieses Ihnen teure Grab von einer schändenden Hand erbrochen; sie entwendet daraus ein Heiligtum; diese Hand gehört einem Engländer, den Sie kennen, er flieht nach Japan, und Ihre heiligste Pflicht ist es, dieses Heiligtum wieder herbeizuschaffen und den Grabschänder zu bestrafen...«
»Ist dies Ihre heilige Pflicht?« unterbrach den Sprecher der junge Kapitän etwas unwirsch, denn er wußte wohl, wo dieser hinaus wollte, und er konnte ihm nicht ganz Unrecht geben.
»Allerdings.«
»Es war auch die heiligste Pflicht des Sohnes, dem toten Vater das verlorene Katana wieder ins Grab zu legen.«
»Das geht mich nichts an. Nun weiter! Jener Engländer, den Sie verfolgen, hat sich in den Schutz eines Japaners begeben, der mächtig genug ist oder sich mächtig genug glaubt, den Mann wirklich zu schützen. Von seinem Verbrechen weiß er aber nichts. Der von Ihnen Verfolgte hat jenem durch irgend welche Vorspiegelungen das Wort abgelockt, ihn in Schutz gegen Sie zu nehmen. Da kommen Sie selbst, Sie erzählen dem Japaner, was für ein Verbrechen jener begangen hat, fordern seine Herausgabe. Ich bemerke gleich, daß Sie vergebens die Hilfe der japanischen Behörden anrufen würden...«
»Das glaube ich auch.«
»... so wenig es einen Zweck hätte, wollte ich mich hier wegen Auslieferung des Grabschänders an die englischen Behörden wenden. Deswegen will ich nicht an eine Ungerechtigkeit glauben. So etwas könnte diplomatische Verwicklungen nach sich ziehen, und diese müssen gerade jetzt vermieden werden. Ein ganzes Volk darf nicht für einen einzelnen büßen. Aber wenn Sie nun mit jenem Japaner gesprochen haben, so wird dieser Ihnen den Mann sofort ausliefern, darauf können Sie sich verlassen.«
»Weshalb?«
»Weil das japanische Gerechtigkeit ist.«
»Er würde ihn ausliefern, auch wenn er ihn vorher als Gast aufgenommen und ihm sein Wort gegeben hat, ihn gegen jeden Feind zu beschützen?«
»Ja, auch dann, das ist japanische Gerechtigkeit,« wiederholte Jeriko nochmals mit Stolz.
»So, das ist japanische Gerechtigkeit,« wiederholte auch Kapitän Flederwisch, aber in spöttischem Tone. »Nun, Mr. Jeriko, haben Sie schon einmal etwas von germanischer Gastfreundschaft gehört?«
»Germanische Gastfreundschaft? Nein, was ist das?«
»Sehen Sie, jetzt habe ich Sie gefangen!« konnte Flederwisch mit Recht triumphieren. »Aber wenn Sie nicht wissen, was Gastfreundschaft ist, dieses Wort noch gar nicht gehört haben, so würde ich vergeblich versuchen, Ihnen die Bedeutung dieses Begriffes klarzumachen. So wenig ich als Germane verstehe, wieso es japanische Gerechtigkeit sein soll, wenn man einen Verfolgten, dem man Schutz versprochen hat, seinem Feinde dennoch ausliefert, so wenig können Sie als Japaner verstehen, wie ein Germane, dem die Gastfreundschaft heilig ist, gerade das Gegenteil tut, nämlich den Verfolgten unter allen Umständen vor seinem Feinde schützt. Kurzum: ich habe Keigo Kiyotaki als meinen Gastfreund an Bord meines Schiffes genommen, und ich liefere ihn keiner Behörde aus, nicht Ihnen, keinem Menschen und keiner Macht der Erde!«
Der junge Kapitän hatte in einem Tone gesprochen, daß dem Japaner kein Zweifel übrigblieb, hier sei alles vergeblich. Das mochte er nicht erwartet haben, und wenn er auch äußerlich ruhig blieb, so sah man es doch seinen zornfunkelnden Augen an, wie enttäuscht er war, und seiner Stimmung gab er auch noch einmal durch Worte Ausdruck.
»Ja freilich,« sagte er im höhnischsten Tone, »Sie haben in diesem Falle einen guten Grund, mit Ihrer sogenannten germanischen Gastfreundschaft zu prahlen, denn Sie haben doch natürlich schon von dem Goto-Schatze gehört...«
Eine drohende Bewegung, die nicht mißdeutet werden konnte, ließ ihn mitten im Worte verstummen. Des Kapitäns erhobene Hand wies nach der Türe.
»Hinaus!!«
Noch einmal versuchte der Japaner einzulenken.
»Ist das Ihr letztes Wort?«
»Haben Sie nicht verstanden, was ich sagte? Hinaus!!!«
Da wandte sich der Japaner sofort zum Gehen.
In der Tür aber blieb er noch einmal stehen und sagte, drohend die erhobene Faust schüttelnd:
»Ich gehe jetzt — aber ich komme wieder! Sie werden den gelben Drachen noch kennen lernen!!«
Dann war er verschwunden.
»Bravo, das haben Sie gut gemacht!« erklang es da, und hinter der Portiere, welche einen Nebenraum abschloß, trat Nobody hervor, aber nicht allein, sondern in Begleitung Keigo Kiyotakis.
Flederwisch hatte gar nicht gewußt, daß auch dieser seiner Unterredung heimlich beigewohnt hatte, Nobody mußte ihn schnell herbeigeholt haben. Doch jetzt beschäftigte den Kapitän ein anderer Gedanke.
»Womit drohte der Kerl da zuletzt noch?« fragte er verwundert. »Mit dem gelben Drachen? Meinte er damit vielleicht seine Schwiegermutter?«
Nobody lachte aus vollem Halse, dann gab er seine Erklärung, und der junge Japaner mußte ihm in allem beipflichten; er als Priesterzögling der alten Religion wußte darin sogar sehr gut Bescheid, aber Nobody war in diesen Verhältnissen nicht minder bewandert.
Die Japaner sind nicht reine Mongolen, sondern haben auch viel malaiisches Blut in ihren Adern, was man ihnen überhaupt sofort ansieht. Nun gibt es auf der Erde keinen glühenderen Rassenhaß, als zwischen Japanern und Chinesen, besonders die letzteren werden von den Japanern wegen ihrer Unreinlichkeit unsäglich verachtet. ›Rattenfressendes Schwein‹ ist noch der gelindeste Ausdruck, mit dem der Japaner seinen langzöpfigen Nachbar belegt. Aber dieser Rassenhaß schwindet sofort, wenn es sich darum handelt, die weißen Teufel, also die Europäer, aus dem Lande zu treiben, besonders auch die christlichen Missionare. Dann sind sich Chinesen und Japaner stets einig — d. h., die Japaner, welche mit der bestehenden Regierung unzufrieden sind, weil diese Neuerungen einführen will, die bisherige Abschließung Japans aufgegeben hat, christliche Missionare und überhaupt Europäer bei sich duldet usw.
Die Führer dieser Bewegung gehören zum Geheimbunde des gelben Drachen. Das Losungswort desselben ist: Japan den Japanern — — und dann freilich setzen sie noch hinzu: und ganz China, ganz Asien uns Japanern. Und dazu sind sie auch berechtigt. Denn man wird immer sehen, daß, sobald es einmal darauf ankommt, der Chinese sich dem Japaner freiwillig unterordnet, weil er dessen Überlegenheit anerkennt. So ist doch bekannt, daß sich jetzt im russisch-japanischen Kriege schon chinesische Regimenter bilden, um tätig in den Kampf einzugreifen, und an der Spitze dieser Regimenter stehen ausschließlich japanische Offiziere unter dem Prinzen Ma. Das kann aber doch weder mit Billigung der japanischen, noch der chinesischen Regierung geschehen. Das alles geht eben von der geheimen Gesellschaft des gelben Drachen aus, der so viele Prinzen, Offiziere und Großkaufleute angehören wie einfache Arbeiter. Auch der Aufstand der Boxer wurde vom gelben Drachen geleitet.
Ferner kommen die chinesischen Seeräuber in Betracht.
Bis zum Jahre 1850 zahlte die chinesische Regierung dieser wohlorganisierten Piratenbande alljährlich einen enormen Tribut, so ohnmächtig war sie ihr gegenüber. Dann, also im Jahre 1850, veranstaltete einmal eine englische Kriegsflotte eine Razzia gegen diese chinesischen Seeräuber und sprengte sie auseinander; für einige Zeit wenigstens hatte man Ruhe. Aber was half's? Sie sammelten sich wieder. Unterdessen ist China ein Land geworden, welches von den europäischen Mächten als Zankapfel betrachtet wird, und so wagt niemand mehr, sich in die chinesischen Verhältnisse zu mischen — und die Piraten treiben ihr Wesen nach wie vor.
Was diese chinesischen Piraten für eine Macht bilden, erhellt daraus, daß, als die Russen einige Hafenfestungen räumten, von dorther sofort der Hilfeschrei erscholl: helft uns, die chinesischen Riffpiraten kommen! Ohne Garnison sind wir verloren!!
Allerdings ist noch heute kein europäisches Segelschiff bei Windstille vor diesen Räubern sicher, deshalb sind sie auch alle stark armiert, in der Hauptsache aber richten die bezopften Piraten ihre Angriffe doch auf die Dschonken ihrer eigenen Landsleute, und zwar nicht nur deshalb, weil sie mit diesen leichteres Spiel haben.
»Die jetzige chinesische Regierung ist nicht fähig, die fremden Eindringlinge aus dem Lande zu jagen, sie muß gestürzt werden, und deshalb schädigen wir sie, soviel wir können, um sie zu stürzen.«
Die chinesischen Piraten führen also einen offenen Krieg gegen die chinesische Regierung, und geleitet werden sie vom gelben Drachen, daher auch ihre treffliche und straffe Organisation.
Der Hauptsitz der Piraten ist die große, von zahllosen Felseneilanden und Riffen umgebene Insel Formosa. Dort sind sie absolut unangreifbar. Formosa hat keinen einzigen Hafen, in den ein Kriegsschiff einlaufen könnte, sonst wäre es der Schlüssel von China, und zwischen den Riffen sind die Piraten erst recht gesichert. Kein anderes Fahrzeug kann ihren flachgehenden Dschonken folgen, stets wissen sie es zwischen die Klippen zu locken, in ein richtiges Labyrinth, aus dem es keinen Ausweg gibt. Die Verfolger finden in dieser trostlosen Felseneinöde nichts zu essen, das in Zisternen gesammelte Regenwasser wird von den Piraten regelmäßig vergiftet, und außerdem stehen diese notorischen Vaterlandshasser als Republikaner, von denen man eine bessere Zukunft erhofft, nicht allein unter dem speziellen Schütze aller Fischer und Bauern von Formosa, die ihnen jegliche Hilfe gewähren, sondern auch die Offiziere der chinesischen Kriegsschiffe gehören vielleicht selbst mit zum Geheimbund des gelben Drachen.
So hatte Nobody erklärt, und alles war von Keigo bestätigt worden.
»Das beste ist dabei,« setzte Nobody lachend hinzu, »daß uns dieser Mann mit dem gelben Drachen gedroht hat, gerade, da wir beabsichtigten, uns direkt in die Höhle dieses gelben Drachen zu begeben!«
»Wohin?« stutzte Keigo.
Nobody breitete auf dem Tisch eine Seekarte der chinesischen Gewässer aus und deutete auf einen bestimmten Punkt in der Nähe der Insel Formusa.
»Hier diese kleine Felseninsel ist unser nächstes Ziel.«
»Das ist der Sitz der Riffpiraten.«
»Ich weiß es, nichtsdestoweniger dampfen wir noch heute nacht dahin ab.«
»Was willst du dort?«
Nobody wandte sich wieder dem Japaner zu, der ihn mit großen Augen betrachtete.
»Solltest du in deiner Heimat, auch wenn du in einem einsamen Kloster erzogen worden bist, niemals von einem chinesischen Gaukler Namens Tsin Hei gehört haben, welcher vor zehn Jahren von dem Taotai von Hangtscheu eingekerkert wurde...«
»Weil er den Seemuscheln echte Perlen abgewinnen konnte?« fiel der junge Japaner, dessen Augen immer starrer auf den Sprecher gerichtet waren, hastig ein.
»Du sagst es.«
»Tsin Hei starb nach acht Jahren im Kerker.«
»Ganz richtig, aber er hatte noch einen Mann bei sich, einen jungen Europäer.«
»Ich weiß es, und dieser entsprang einige Wochen später.«
»Der war ich.«
Das Staunen des Japaners war grenzenlos. Er wollte mehr erfahren.
»So konntet ihr wirklich Perlen machen?«
»Gott bewahre!« lachte Nobody. »Wenn ich das könnte, dann würde ich jetzt nicht nach China fahren!«
»Aber ihr liefertet doch ab und zu eine Perle von wunderbarer Größe und Schönheit ab.«
»Wir hatten eben noch welche bei uns, und das waren wirklich echte. Als wir festgenommen wurden und unser Schicksal voraussahen, ließ Tsin Hei noch schnell so viel wie möglich verschwinden, er verschluckte sie, versteckte sie im Mund oder in seinem Kropf oder Gott weiß wo — wozu ist man denn ein Gaukler, wenn man so etwas nicht kann — jedenfalls gab es kein Mittel, die Perlen bei ihm wieder zum Vorschein zu bringen, wenn er nicht wollte. Das war unsere Rettung, auf diese Weise hielten wir unsere perlengierigen Wächter immer hin, acht ganze Jahre lang, bis wir uns den Fluchtweg gebahnt hatten, den Tsin Hei freilich nicht mehr benutzen konnte. Der Sprung, den ich dann hoch oben vom Felsen noch ins Meer hinab zu machen hatte, wäre dem alten Manne wohl auch schwerlich gut bekommen.«
»Wo aber hattet ihr denn die vielen Perlen her, die ihr in der Provinz Hangtscheu verkauftet?«
»Eben von hier,« entgegnete Nobody, wieder auf den betreffenden Punkt der Seekarte neben der Insel Formosa deutend. »Es ist nicht wahr, daß die chinesischen Gewässer nicht ebenso gute Perlen hervorbringen könnten wie z. B. die indischen bei Ceylon. Allerdings mag es nur wenige Stellen geben, wo alle Bedingungen zum günstigen Gedeihen der Perlmuscheln vorhanden sind, aber auch bei Ceylon ist doch verhältnismäßig nur ein äußerst kleines Terrain vorhanden.
»Jener Tsin Hei hatte sich tatsächlich seit seiner frühesten Jugend mit der Zucht von Perlmuscheln beschäftigt, nicht aber mit fruchtlosen Experimenten, echte Perlen auf künstliche Weise herzustellen.
»Hier dieses kleine Felseneiland bei Formosa hielt er für den günstigsten Platz, indische Perlmuscheln auszusäen, weil hier die geeignete Ebbe und Flut und alle anderen Bedingungen zusammentrafen, unter denen die Perlmuscheln nur gedeihen und köstliche Ausbeute liefern können, und Tsin Hei, der ehemalige Hofgaukler, mußte diese Gegend am allerbesten kennen, denn der war von Haus aus selbst ein Riffpirat.
»Als er dann als Gaukler, ein alter Mann schon, am Hofe in Ungnade fiel und sich der Todesstrafe durch Flucht entzog, erinnerte er sich wieder der Perlmuscheln, die er in seiner Jugendzeit ausgesät hatte. Ohne von einem etwaigen Erfolge etwas zu wissen, machte er sich auf den Weg.
»Auch ich befand mich zu jener Zeit in dieser Gegend, aus keinem anderen Grunde, als um Abenteuer zu erleben. Eines Tages befreite ich einen alten Chinesen aus den Händen von Riffpiraten. Es war Tsin Hei. Er weihte mich in sein Geheimnis ein, nahm mich mit.
»Wir fanden die kleine Felseninsel. Wir sondierten, und die Ernte der einstigen Aussaat übertraf alle Erwartungen, Die wenigen ins Wasser gesetzten Muscheln hatten sich in etwa zwanzig Jahren ins Ungeheure vermehrt, bedeckten den Meeresgrund kilometerweit. Und ebenso günstig war die Ausbeute an Perlen. In einigen Muscheln fanden wir bis zu drei Dutzend, und in denen, welche nur einzelne bargen, manchmal Riesenexemplare.
»Schon am zweiten Tage wurde meine Taucherei beendet. Piraten hatten unsere Anwesenheit bemerkt und fahndeten auf uns. Wir entkamen ihnen mit knapper Not, aber doch auch so, daß sie nicht bemerkt hatten, was wir dort getrieben, dafür hatten wir gesorgt. Wir konnten mit unserer Beute zufrieden sein, wir nahmen einen ganzen Sack voll der prächtigsten Perlen mit. Außerdem hatte dies überhaupt nur ein Versuch sein sollen. Perlmuscheln können nicht mit Schleppnetzen und dergleichen Apparaten gefischt werden, sonst würde man das doch auch bei Ceylon tun, sie müssen getaucht und abgerissen werden, und wäre ich nicht wie ein Seehund im Wasser zu Hause, so hätte ich es nicht einmal den einen Tag ausgehalten, denn die Tiefe dort ist eine ganz beträchtliche, die letzten Male, wenn ich wieder an die Oberfläche kam, schoß mir schon das Blut aus der Nase.
»Also wir brachten den größten Teil unseres Schatzes in Sicherheit, verbargen ihn in einem Versteck, den kleinsten Teil machten wir zu barem Geld, um uns dann Taucherapparate zu kaufen, Waffen nicht zu vergessen, gleich ein mit Kanonen armiertes Boot, um uns der Piraten zu erwehren. Wir waren so unklug, die Perlen sofort in China zu verkaufen. Dabei wurden wir gefaßt. Das andere weißt du.«
Aufmerksam hatte der junge Japaner zugehört.
»Und nun willst du wieder nach jener Insel und Perlmuscheln fischen?«
»Gewiß. Der ganze Schatz muß heraus aus dem Meere. Gelegenheit, das auszuführen, was ich jetzt tun will, hätte ich allerdings schon seit zwei Jahren gehabt; denn, wie ich schon sagte, den größten Teil der Perlen hatten wir doch versteckt, und den holte ich mir zuerst und verkaufte ihn gegen eine enorme Summe, freilich nicht wieder in China. Ich hätte mir sofort ein Schiff wie dieses mit Kanonen, um allen Piraten Trotz zu bieten, kaufen können.«
»Warum tatest du es nicht schon vor zwei Jahren, wenn du aus dem Erlöse der Perlen das Geld dazu hattest?«
»Ja, mein lieber Freund,« lächelte Nobody, »sei du einmal wie ich, acht Jahre lang zwischen Kerkermauern eingesperrt, und ich bin nicht etwa ein asketischer Mönch, der Gefallen an so etwas hat. Als mir die Sonne wieder lachte, wollte ich mitlachen — ich stürzte mich ins Meer hinab und stürzte mich hinein ins lustige Leben — und hörte nicht eher wieder auf, als bis ich die letzte Dollarnote glücklich an den Mann gebracht hatte. Aber mir tut das nichts. In kurzer Zeit habe ich alles das wieder zusammengebracht, was ich brauche, um jenen Schatz vom chinesischen Meeresgrunde zu heben, und jetzt werde ich es tun.«
Das Gesicht des Japaners drückte die größte Besorgnis aus.
»Du wirst es nicht tun.«
»Weswegen nicht?«
»Ich habe dir gesagt, wer der Japaner war, der mich von euch zur Bestrafung forderte. Er heißt wirklich Jeriko, er scheut sich nicht, unter seinem wahren Namen im Auslande zu spionieren, welche Schiffe und mit was für Fracht nach China gehen, nämlich, um zu wissen, ob es sich lohnt, sie abzufangen — es ist Jeriko, der Seeräuber, einer der Hauptanführer des gelben Drachen!«
»Und du meinst, weil dieser Jeriko nun weiß, daß du bei uns an Bord bist, und weil er es nun auf die Wetterhexe abgesehen hat, wir werden uns scheuen, uns deshalb in das Gebiet zu begeben, in welchem dieser Seeräuber herrscht?! Da kennst du mich, da kennst du den Kapitän Flederwisch schlecht! Die Hauptsache ist für uns: wir brauchen Geld!«
»Nein, du brauchst kein Geld.«
»Oho!« lachte Nobody. »Weißt du das besser als ich? Und ich sage dir: wir brauchen sogar sehr viel Geld, denn ich und mein Freund hier, wir haben noch viel Pläne und Gründungen vor, mit denen wir die Welt überraschen wollen.«
»Aber dazu ist nicht nötig,« beharrte der Japaner, »daß du dich in solche Gefahren begibst, dir die Schätze aus dem chinesischen Meere holst.«
»Nicht? Weißt du einen anderen verborgenen Schatz, den man auf bequemere Weise heben kann, als erst auf den Grund des Meeres hinabzutauchen?«
Es hatte etwas Lauerndes in dieser Frage gelegen, wenn auch nicht äußerlich ausgedrückt. Kapitän Flederwisch, der bisher stillschweigend im Hintergründe zugehört hatte, ward plötzlich unruhig, und als der Japaner auf jene Frage Antwort geben wollte, trat der Kapitän hastig einen Schritt mit erhobener Hand gegen Keigo vor und stellte sich zwischen diesen und Nobody.
»Halt, Keigo Kiyotaki! Halten Sie ein, Mister Nobody!« rief er mit fast befehlender Stimme. »Jener Mann, Namens Jeriko, hat mich gehöhnt, wir hätten guten Grund, auf die uns heilige Sitte der germanischen Gastfreundschaft zu pochen, denn wir wüßten doch, daß unser Schützling im Besitze eines Geheimnisses sei, welches wir ihm natürlich ablocken wollten...«
Allein der einstige Schmuggler-Kapitän, der hiermit seinen edlen Charakter bewies, wurde von Keigo unterbrochen.
»Dieser Mann hat mir das Leben gerettet, er hat mich dem Leben erhalten, mein Leben gehört ihm,« rief er schnell, dabei auf Nobody deutend. »So gehört auch das ihm, was ich besitze, und das ist der Goto-Schatz. Ich besitze das Rezept des Ambras! Das ist das Geheimnis der Goto-Familie, das ist der Goto-Schatz, ich bin sein letzter Hüter, und ich lege ihn nun in eure Hände!«
Der eine von den beiden, welche diese Worte vernahmen, war ein Seemann, der schon selbst Ambra gefischt und verkauft hatte, und auch der andere, Nobody, kannte die Bedeutung des Wortes ›Ambra‹.
Ambra ist eine feste, dem Bernstein ähnliche Substanz, welche man in kleinen, aber auch bis zu 100 Pfund schweren Stücken frei auf dem Meere umherschwimmend, findet, allerdings sehr selten, am häufigsten in der Nähe von Madagaskar, Surinam, Java und Japan.
Glücklich der Matrose, welcher zufällig ein Stückchen Ambra, sei es auch noch so klein, auf dem Meere treiben sieht und es auffischen kann. In jedem Hafen der Welt sind Ambrahändler, und diese bezahlen für die Unze Ambra — die allgemein übliche Rechnungsart für diesen kostbaren Stoff — 120 Mark. 16 Unzen sind ein Pfund, also kostet das Pfund Ambra rund 2000 Mark und hat demnach den doppelten Wert von gediegenem Golde — und die Zwischenhändler wollen doch natürlich auch daran verdienen.
Der Wert des Ambras kommt von seiner Seltenheit und von der starken Nachfrage. Dem ganzen Orient, wie China und Japan ist Ambra ein förmliches Lebensbedürfnis.
Ohne den Moschus, der hauptsächlich aus einer Drüse des asiatischen Moschustieres gewonnen wird, ist unsere heutige Parfümfabrikation nicht denkbar. Es gibt zahllose Menschen, welche den Moschusgeruch hassen, sich vor ihm ekeln — jedes andere Parfüm, nur nicht Moschus! — und sie wissen nicht, daß es kein Parfüm gibt, welches nicht Moschus enthält. Die Parfümfabrikation braucht ihn, um das andere Odeur, sei es nun Veilchen oder Reseda oder sonst etwas, erst ›zu binden‹, wie es in der Kunstsprache heißt.
Ebenso ist es mit dem Ambra in bezug auf das ganze Arzneiwesen des Orients, Chinas, Japans usw. Seit alter Zeit hat dort in der Medizin das Ambra immer die Hauptrolle gespielt. Jede Arznei muß Ambra enthalten, ferner gilt es als Lebensverjüngungselixier, es ist tatsächlich ein starkes Aphrodisiacum, das heißt, ein Liebeerweckungsmittel — und zwar im realistischen Sinne gemeint! — in den orientalischen Harems werden ungeheure Mengen von Ambra in Form von Konfitüren genascht, und dasselbe gilt für Frankreich und alle anderen Länder. Gewisse Sorten Schokolade, Pastillen, Tinkturen, die besseren Zahnpulver — alles, alles enthält Ambra, und da darf man wohl glauben, daß mit dem Ambra jährlich nicht nur Millionen umgesetzt, sondern Millionen daran verdient werden.
Was ist Ambra eigentlich? Bis vor kurzem gingen über seine Entstehung noch die abenteuerlichsten Fabeln... Erst der neuesten Forschung ist es vorbehalten gewesen, das Rätsel des frei auf dem Meere schwimmenden Ambras zu lösen: es ist der krankhafte Auswurf eines Walfisches, des Potwals, es ist eine Art von Blasenstein, welcher nur dem Potwal eigentümlich ist. Der Potwal wird immer seltener, deshalb steigt auch der Wert des Ambras immer mehr. —
Dies alles wußten beide Männer. Nobody aber sah noch etwas weiter.
Wie nun, wenn jetzt jemand verstand, diese so überaus wertvolle Substanz auf künstlichem Wege darzustellen?
Das ist z. B. beim Moschus der Fall. Es ist noch gar nicht so lange her, daß ein deutscher Chemiker durch Zufall die Herstellung des Moschus in der Retorte entdeckte, es ist ganz der echte Moschus, sogar noch viel besser, weil viel reiner als der aus der Stinkdrüse des tibetanischen Moschustieres. Wenn der Moschus dadurch nur wenig im Preise gesunken ist, so kommt das nur daher, weil eine Aktiengesellschaft das Rezept gleich kaufte und dieses als Geheimnis bewahrt, aber das konnte nichts daran ändern, daß der ganze Moschushandel, der bisher ausschließlich in chinesischen Händen lag, dadurch vollkommen ruiniert war. In noch viel stärkerem Maße ist das mit dem Chinin der Fall. Früher wurde dieses fieberstillende, weiße Pulver mit Gold aufgewogen, jetzt kostet das Gramm nur ein paar Pfennige, alle Spekulanten in Chinarinde machten bankrott, die südamerikanischen Pflanzer konnten ihre kostbaren Bäume als Brennholz verwerten.
»Du weißt wirklich, wie man echtes Ambra auf künstlichem Wege herstellen kann?« fragte Nobody nochmals.
»In einer Stunde so viel du willst, in jeder Menge, und die Mittel dazu sind überall so gut wie umsonst zu haben. Dies ist das Rezept.«
Der Japaner sagte eine Formel mit Zahlen und Worten her, aber obgleich Nobody doch auch vollkommen Japanisch zu verstehen glaubte, so gut wie Englisch, und Keigo sich auch des Englischen zu bedienen schien, indem er die Zahlen englisch aussprach, waren es für Nobody doch gänzlich fremde Worte.
Bei solchen Rezepten gehört eben mehr dazu, als nur die Umgangssprache zu beherrschen, da kommen technische Ausdrücke in Betracht. Nur die Worte ›Kampfer‹ und ›Benzoe‹ hatte Nobody herausgehört.
Noch war der Japaner mit dem Herbeten der Formel nicht fertig, als es an die Tür klopfte.
»Herein!« rief Flederwisch.
Zwergnase trat ein, einen Brief in der Hand.
»Ein Brief für den Herrn Kapitän. Ein mir unbekannter Mann hat ihn mir gegeben, er wartet auf Antwort.«
Es war nicht das erstemal, daß der Kapitän einen Brief durch Boten erhielt.
»Wo ist der Mann?« fragte Flederwisch, während er nach dem Papiermesser griff.
»Er wartet auf dem Quai.«
Das Papiermesser schlitzte das Kuvert auf... da, in den Händen des Kapitäns ein greller Feuerschein, begleitet von einer furchtbaren Detonation, Flederwisch lag plötzlich in zusammengekauerter Stellung unter dem Schreibtisch und Keigo platt am Boden, Nobody wurde gegen die Wand geschleudert, und Jochen Puttfarken stak im Papierkorb und reckte die krummen Beine zum Himmel empor. Er war auch der erste, welcher nach einigen Minuten Todesstille zuerst Worte fand.
»So'n Lumich, hat der eine Kanone in das Kuvert hineingesteckt und mir dadermit meinen ganzen Schnurrbart weggeschossen!« heulte er.
»Knallquecksilber!!« schrie dagegen Nobody und stürzte zur Tür hinaus, ihm nach Jochen Puttfarken, dieser aber in ganz krummer Stellung, denn sein respektables Hinterteil war noch immer in den engen Papierkorb geklemmt!
Schon nach einer Minute kehrte Nobody wieder zurück. Er hatte den Überbringer des Briefes natürlich nicht mehr vorgefunden, und eine Verfolgung wäre fruchtlos gewesen.
»Ist jemand verwundet, verbrannt?«
Flederwisch, obgleich in dessen Härchen doch der mit Knallquecksilber imprägnierte Brief explodierte, war vollkommen unverletzt, ein Wunder war es nur, wie der riesenhafte Mann in die enge Höhlung unter den Schreibtisch hineingepreßt worden war, er hatte Mühe, wieder herauszukommen, so gewaltig war der Luftdruck gewesen. Auch Nobody war gänzlich unverletzt, und dem Zwergnase war nur der Schnurrbart verbrannt — das heißt, so behauptete Puttfarken, der Kerl hatte überhaupt noch nie einen Schnurrbart gehabt.
Am schlimmsten war Keigo Kiyotaki davongekommen, er hatte im Gesicht bedeutende Brandwunden, glücklicherweise aber waren seine Augen verschont geblieben.
»Das war der gelbe Drache!!« stöhnte er, als man ihn aufrichtete.
Nobodys grimmiges Lachen antwortete ihm.
»Ja, das war der gelbe Drache, der dieses stinkende Feuer ausspie, und wir wollen... weißt du, was das für eine Insel ist, wo jener Gaukler einst die Perlmuscheln aussäte? Das ist die heilige Insel des gelben Drachen. Vorwärts, Kapitän, Dampf auf!! Wir wollen diesen gelben Drachen in seiner eigenen Höhle besuchen und ihn ausräuchern, nun erst recht!!!«
Noch in derselben Nacht verließ die ›Wetterhexe‹ den Hafen von London. Sie dampfte dem Reiche des gelben Drachen zu.
Nobody aber hatte nur die hinterlistige Macht dieses einen Feindes kennen gelernt. Er wußte noch nicht, daß er unterdessen als jener Mann erkannt worden war, welcher vor zwei Jahren aus einem chinesischen Kerker ausgebrochen war, und dann hatte er jetzt auch ein Weib hinter sich, welches zu allem fähig war!
»Ordonnanz!!«
Der gerufene Puttfarken klappte die Hacken zusammen, so weit das seine krummen Beine erlaubten.
»Herr Kapitän befehlen?«
»Bist du schon einmal hier in Port-Said gewesen?«
»Zu Befehl, Herr Kapitän, schon ixmal.«
»Aber noch nicht in Kairo.«
»Da war ich schon zweimal.«
»So? Was hast du Wasserratte denn so weit drin in Aegypten zu suchen gehabt?«
»Ich wurde zweimal in Port-Said abbezahlt, bekam die Tasche voll Geld. Port-Said, Suez und die anderen Hafennester kannte ich damals schon, und da dachte ich: willst dir doch einmal Kairo ansehen, wo's so schön sein soll — und da bin ich eben hingefahren und habe mein Geld verjuxt, der Konsul mußte mich auf Regimentsunkosten wieder hierherschicken — und gerade so machte ich es auch das zweitemal, aber da wollte der Konsul nichts mehr von mir wissen, da mußte ich zu Fuß wieder nach Port-Said latschen.«
»Aber kennst du Kairo auch gründlich?« examinierte Flederwisch nach diesem offenen Geständnis weiter.
»Wie meine Hosentasche, Herr Kapitän,« versicherte Zwergnase.
»Na na, renommiere mal nicht. Kennst du in Kairo die Muski?«
»Das ist die Hauptstraße.«
»Kennst du in Kairo das Hotel du Nil?«
Zwergnase blinzelte vergnügt mit den Schlitzaugen und schmunzelte, daß er sich beide Ohren hätte abbeißen können. Er merkte, wie ihm sein Kapitän auf den Zahn fühlen wollte, weil er ihm nicht ganz traute.
»Das ist ja eben in der Muski, vom Eskanderiah-Platz gleich die zweite Straße rechts, eine sehr enge Gasse, geht steil bergab, aber dann wird's fein, dann kommt erst der berühmte Palmengarten, in dem das Hotel du Nil liegt. Da habe ich nämlich die Köcksch zur Liebsten gehabt, das Weibsbild war ganz vernarrt in mich, und als ich dann...«
»Schon gut, schon gut,« fiel ihm der Kapitän ins Wort; denn wenn Jochen Puttfarken von seinen Liebesabenteuern anfing, dann wurde er niemals fertig. »Hast du auch schon vom Mehemed-Kanal gehört?«
»Nu freilich, das ist doch der Süßwasser-Kanal, welcher Ismailia und den ganzen Suez-Kanal mit Kairo verbindet, und ich werde doch Ismailia kennen! Ich habe zwar nur einmal ein paar Stunden dort gelegen, aber gleich hatte sich so eine kleine hübsche Griechin in mich...«
»Schon gut, schon gut, stopfe deiner Worte Schleusen... auf gut deutsch ausgedrückt: halt's Maul! Kennst du den Ort, wo der Mehemed-Kanal in den Nil einmündet?«
»Gerade dort steht eine Wirtschaft, die gehört einem Deutschen, oder einem Oesterreicher. Alois Sterzel heißt, er.«
»Himmeldonnerwetter!« rief jetzt Kapitän Flederwisch in aufrichtiger Bewunderung, »Kerl, hast du aber eine Ortskenntnis in Kairo!«
»Nu, die Sterzels werd' ich doch kennen! Als ich kam, war die alte Frau Sterzel gleich ganz weg in mich, sie war mir nur ein bißchen zu dick, sonst hätten wir beide...«
»Schon gut, schon gut. Ich sehe, Jochen, du hast deinen zweimaligen Aufenthalt gut angewendet, wenigstens für meinen Fall, worauf es jetzt bei mir ankommt. Nun fragt es sich bloß noch: kannst du Arabisch?«
»Arabisch? Nee, das ist das einzige in Kairo, was ich nicht kenne. Das hat man in Aegypten auch gar nicht nötig.«
»Ich weiß es. Es war auch nur eine Frage von mir. Arabisch hast du gar nicht nötig. Sonst bist du zu gebrauchen zu dem, was ich mit dir vorhabe, denn als intelligenten Burschen kenne ich dich schon. Die Sache ist also folgende: wenn die ›Wetterhexe‹ hier Kohlen und Frischwasser eingenommen hat, dampft sie sofort in den Suezkanal, aber vorläufig nur bis Ismailia, dort bleibt sie liegen, mitten im großen Bittersee, dort liegt sie sicher vor Anker, dann kann auch ich nach Kairo reisen, um mich zu amüsieren, und getrost ein paar von euch Burschen mitnehmen...«
»He jü!!« rief Puttfarken, im ganzen Gesicht freudestrahlend.
Jochen Puttfarken war nämlich aus der Gegend von Danzig — ein ›Danzikmann‹, wie er sich mit Stolz selbst nannte — und als solcher fing er mit Vorliebe jeden Satz mit ›He jü‹ an, seinem Kapitän als Respektperson gegenüber allerdings nicht, nur wenn er sich vergaß.
»Halt's Maul und beiß' dir nicht die Ohren ab. Mit dir habe ich noch etwas ganz anderes vor. Du sollst jetzt sofort nach Kairo vorausreisen.«
»He jü! Als Quartiermacher?«
»Als Quartiermacher für mich und für die Leute der ›Wetterhexe‹? Nein du sollst in Kairo überhaupt nichts mit der ›Wetterhexe‹ zu tun haben, du reist auch nicht als Matrose, sondern als Gentleman mit Zylinder und weißer Kravatte.«
»Ich mit der Angströhre? He jü!« rief Zwergnase, aber jetzt noch freudestrahlender als zuvor. »Wozu denn das?«
»Das wirst du dann alles noch erfahren. Auch einen Diener wirst du mitnehmen.«
»Ich einen Diener?«
»Hier von Bord.«
»Wen denn? Den Klaus? Den Paul?
Flederwisch hob warnend den Finger und beugte sich etwas vor.
»Ich will es dir verraten — den Master — der begleitet dich als dein Diener.«
»Den — den — den — unseren Master?« stotterte Puttfarken.
»Jawohl, Mister Nobody, das ist dein Diener — und du selbst sollst in Kairo als Mister Nobody auftreten. Verstanden?«
Ja, jetzt hatte Puttfarken sofort verstanden, so dumm war er nicht, und er schmunzelte nicht schlecht. Nobody, sein eigentlicher Herr und Meister, wollte sich eben nach der langen Seereise wieder einmal amüsieren, hatte irgend einen Streich vor.
»Jetzt gehe dorthinein in sein Kontor,« schloß Flederwisch, auf eine Seitentür deutend, »du erhältst von ihm selbst ausführliche Instruktion.«
Nach diesem Vorspiel in Port-Said versetzen wir uns direkt nach Aegyptens Hauptstadt, nach Kairo, von der internationalen Lebewelt das afrikanische Paris genannt, und zwar auf den Hauptbahnhof.
Der von Alexandrien kommende Schnellzug lief in die Halle ein.
»Kairo! Caire! Medinet el Kahira!« riefen die Schaffner in drei Sprachen und rissen die Coupétüren auf.
Während die dritte Klasse ausschließlich Araber und arme Juden enthalten hatte, strömten aus der ersten und zweiten alle die eleganten Herren und Damen heraus, welche nur zum allergeringsten Teil des Geschäftes wegen nach Kairo kommen, sondern welche das afrikanische Paradies als Tummelplatz aller raffiniertesten Leidenschaften schon kennen oder erst kennen lernen wollen.
Draußen vor dem Hauptportal lauern die Eseljungen mit ihren Grautieren, und wehe dem Unglücklichen, der sich ihnen unkundig naht, um einen Esel auszusuchen. Im Nu ist er von Dutzenden der braunen, halbnackten Burschen umringt.
»Sieh, Herr, diesen Dampfwagen von einem Esel, wie ich ihn dir anbiete, und vergleiche mit ihm die übrigen, welche die anderen Knaben dir anpreisen. — — Nein, Herr, nimm meinen, alle anderen müssen mit dir zusammenbrechen, denn du bist ein starker Mann. — — Alle anderen sind erbärmliche Geschöpfe, aber der meine! mein Esel! er wird mit dir wie eine Gazelle davonlaufen. — — Doch der meine ist ein Kahiriner Esel, sein Großvater war ein Gazellenbock und seine Urgroßmutter ein Strauß der Wüste...«
So schwirrt es dem Fremden von allen Seiten in die Ohren.
Nun, das ist doch ganz manierlich, diese Art von Anpreisung.
Ja, das ist aber auch erst die Einleitung!
Die poesievollen Knaben haben sich erst der arabischen Sprache bedient, dabei aber auch schon Brocken von sämtlichen Kultursprachen mit einfließen lassen, und nun haben sie es heraus, der Fremde ist ein Deutscher, und nun wird ein anderes Register in der Orgel gezogen.
»Herr Baron, mein Esel, hier, mein Esel!! — — Mein Esel, Herr Graf, mein Esel gutster Esel! — Herr Oberst-Leutnant, mein Esel Kaiser-Wilhelm-Esel, Achtung, prääääsentiert die Gewehr, maaaaaars! — — Mein Esel Bismarck-Esel, nickt mit die Kopf, nickt mit die Schwanz...«
Wenn nun aber auch das nichts hilft, der Fremde in seiner Wahl noch immer schwankt — seinen Entschluß kann er überhaupt gar nicht ausführen — dann wird zugepackt, drei Dutzend schmutzige Hände krallen sich in seiner Kleidung fest, jeder zieht, jeder reißt, und wenn der elegante Fremdling endlich auf dem Rücken eines Esels sitzt, hat er sicher kaum noch das Hemd auf dem Leibe. Und da ist nichts zu machen, da gibt es keine Entschädigung oder so etwas.
Entweder man muß mit einem frischen Anlauf auf den nächsten Esel springen, oder besser noch wendet man sich an einen der mit Spazierstöcken bewaffneten ägyptischen Soldaten, welche bei jeder Eselstation stehen und auch die Rolle von Schutzleuten spielen.
Dies tat auch eine durch ihre Schönheit auffallende Dame. Wenn wir noch hinzufügen, daß sie noch durch ihre schwarze Witwentracht auffiel, so weiß der geneigte Leser, daß er nicht glauben darf, er habe etwa den als Dame verkleideten Nobody vor sich, sondern daß es Madame Lenois ist, welche Kairo erreicht hat.
Der angesprochene Soldat pfiff, wohl kamen die Eseljungen mit ihren Tieren in Sturmschritt angerannt, aber angesichts des Auges des Gesetzes ging hier alles mit Ruhe ab.
Die Dame schaute noch einmal um sich, sah zwei elegante Herren, welche sich gleichfalls auf diese Weise Esel verschafften, dann trat sie auf die untergehaltene Hand des Jungen, der diesen Ritterdienst mit Geschick ausführte — er hatte ja auch nichts weiter zu tun, als sich in so etwas zu üben — und schwang sich mit Grazie in den Sattel.
»Hotel du Nil.«
»Fliehe hin, du meine Gazelle, meine Schwalbe, o du mein Augapfel,« sagte der Eseltreiber und stach mit dem spitzen Stock seinem Augapfel ins Hinterteil.
Hierauf sagte die Schwalbe »hi — i — hi — i — hi — i — — aaaaaahhhhh!«, schlug einmal nach hinten aus, trat einem Soldaten und Schutzmann in den Bauch, und dann ging es fort wie ein Donnerwetter.
Denn diese ägyptischen Esel sind keine faulen, degenerierten Mülleresel. Ein guter Reitesel wird dort so hoch wie das beste Reitpferd bezahlt, denn er leistet auch ebensoviel.
Die Reiterin hatte das Gartenportal des Hotels erreicht.
»Ist eine Depesche aus New-York für mich angekommen — für Madame Lenois?« war ihre erste Frage, hastig an den Portier gestellt, noch ehe sie aus dem Sattel gestiegen war.
»Ich werde gleich nachsehen, Madam.«
Man sah ihr an, wie erzürnt sie war, daß der Mann dies nicht gleich aus dem Kopfe wußte.
Während der Portier in seiner Loge zwischen Briefen und Papieren kramte, kamen die beiden Herren angeritten, nach denen sich die Dame vorhin umgeschaut hatte. Auch jetzt wurde ein Blick gewechselt, Marguérite hob leise die Schultern; aber sonst taten die beiden Parteien, als ob sie einander nicht kennten. Die zwei Herren machten sich in dem Portal zu schaffen, studierten die Fahrpläne.
»Nein, Madam, es ist nichts für Sie da, weder Brief noch Depesche,« meldete der zurückkommende Portier.
Die Enttäuschung war in ihrem Gesicht noch deutlicher zu lesen, als vorher ihr Unmut. Der Portier mußte ihr nochmals versichern, daß wirklich nichts für sie eingetroffen sei.
Schließlich schien sie sich in das Unvermeidliche zu ergeben, sie stieg vom Esel.
»Bezahlen Sie den Jungen! Ich werde hier logieren. Hier sind die Gepäckscheine. Kann ich zwei Zimmer bekommen? Ein Schlafzimmer und einen Salon.«
Ein Kellner nahm sie ins Schlepptau, und dieser scharfblickende Geist ließ sich nicht dadurch beirren, daß die schöne Dame etwas verstaubt aussah, die hatte Geld im Beutel — er zeigte ihr in der Beletage die teuersten Zimmer, und in Preisen kann Hotel du Nil etwas leisten! Dieses Hotel rühmt sich, in seinem Fremdenbuch mehr Fürstlichkeiten und berühmte Persönlichkeiten verzeichnet zu haben, als jedes andere Hotel der Welt, Und das mit Recht. Für diese Fremdenbücher des Hotel du Nil sind von reichen Autographensammlern schon enorme Summen geboten worden.
»In diesen Zimmern hat zuletzt die Herzogin von Cleveland gewohnt,« erklärte der Kellner.
Hastig wandte sich ihm die Dame zu.
»Warum betonen Sie das so?!«
»Nun... nun... das macht unser Renommee aus, und es ist doch ein Unterschied, ob in einem Zimmer, welches man beziehen will, zuletzt Ihre Durchlaucht die Herzogin von Cleveland gewohnt hat oder der Totengräber von Trippsdrille.«
Marguérite hatte sich schnell wieder beruhigt.
»Ja, diese beiden Zimmer gefallen mir. Aber wohin führt hier diese Tür vom Salon aus?«
»In ein anderes Schlafkabinett.«
»Zeigen Sie mir dieses einmal!«
»Bedauere, das ist besetzt.«
Marguérite begab sich aus dem Salon in das Schlafzimmer zurück, und jetzt mit einem Male gefiel ihr auch dieses nicht mehr.
»Zeigen Sie mir zwei andere Zimmer.«
»In dieser Etage?«
»Ganz gleichgültig. Ein Schlafzimmer und einen Salon.«
Bei der nächsten Besichtigung stellte sie wieder dieselben Fragen, sie wollte auch das andere an den Salon grenzende Zimmer sehen, dieses war abermals besetzt — wieder nichts! — und als sie nun einem dritten Salon, an dem sie wahrhaftig nichts auszusetzen gehabt hatte, der aber nur mit einem einzigen Schlafkabinett in direkter Verbindung stand, gar keine Beachtung schenkte, da wußte der befrackte Geist, was es geschlagen hatte. Denn der kannte doch seine Pappenheimer, auch seine Pappenheimerinnen, und nun hier in Kairo, im Hotel du Nil!
»Wollen sich Madam in die nächste Etage hinaufbemühen?«
Der Salon, den er ihr oben zeigte, besaß wieder zwei Türen.
»Sie können von den beiden Schlafkabinetten wählen, welches Sie belieben, beide sind frei.«
Jetzt hatte die verwöhnte Dame ihre Wahl sofort getroffen — — und richtig, es kam alles ganz genau so, wie der Kellner es vorausgesehen hatte, beobachtete er doch auch, wie sich die Dame draußen beide Zimmernummern besehen hatte.
»Gut, ich werde dieses Kabinett hier links nehmen. Kann man jene andere Tür dort auch fest abschließen?«
Nu natürlich, bombensicher! Der Kellner zog gleich den Schlüssel ab und überreichte ihn ihr.
»Sie können auch noch von innen verriegeln,« sagte er, lächeln tat er freilich nicht dabei, über so etwas muß solch ein Kellner erhaben sein.
»Ich werde erst noch einmal hinab zum Portier gehen, vielleicht ist jetzt die Depesche eingetroffen.«
Jawohl, gehe nur zum Portier! Der Kellner ging einstweilen in das andere Schlafzimmer, rückte gleich eigenhändig das Bett von der Türe ab, damit das dann nicht erst der zu erwartende Gast zu tun brauchte.
Richtig, da kam er schon — sogar gleich zwei!
»Wir möchten ein Zimmer haben.«
»Bitte sehr, vielleicht gleich dieses hier?«
Komisch sah es aus, wie sich die beiden erst vergewisserten, was das angebotene Zimmer für eine Nummer habe — ob die Nummer, welche die wieder hinabgegangene Dame ihnen unten im Portal beim Vorbeigehen zugeflüstert hatte.
»Aber wir möchten zwei Betten haben.«
»Gewiß. Sie können auch drei hereinbekommen.«
»Nein, wir sind zu zweit. Wohin geht diese Tür hier?«
»In einen Salon, welchen eine Dame innehat, Madame Lenois. Die Tür ist gut verschlossen, die Herren können auch zuriegeln.«
Jetzt war die Sache arrangiert. Drüben die Dame, hüben die beiden Herren, und in der Mitte das neutrale Gebiet, der ›Treffpunkt aller Fremden‹.
Warum nicht? Never mind. Deshalb verzog von dem Hotelpersonal niemand eine Miene. Man war doch in Kairo. Amüsant war höchstens, wenn die da drin glaubten, sie hätten ihre Sache recht gut gemacht, niemand könne ahnen, was sie beabsichtigten.
Nur der jüngste Kellnerstift hatte daran etwas auszusetzen.
»Aber gleich zwee, das ist doch ein bißchen viel,« grinste er und erhielt dafür eine Backpfeife.
Ja, es war so, und doch irrte man sich vollkommen. Aber das war ja den Kellnern auch höchst gleichgültig.
In ihre Zimmer zurückgekehrt, verriegelte Marguérite die nach dem Korridor führenden Türen, dann lauschte sie an der dritten, dann ein ›Pst‹, sie schloß auf und befand sich ihren beiden Reisegefährten gegenüber, obgleich sie während der ganzen Reise nichts von ihnen hatte wissen wollen, Mr. Huxley nannte sich noch immer so, der von ihm in New-York Bob Angeredete hieß jetzt Mr. Wall.
»Mr. World hat mir noch keine Depesche geschickt,« begann Marguérite.
»Dann ist Nobody eben noch nicht da, hat an Mr. World also auch noch nicht telegraphieren können, oder...«
Ein Klopfen an der Korridortür des Salons ließ alle zusammenschrecken. Schnell wurde die Barriere wiederhergestellt.
»Wer ist da?« rief Marguérite.
»Ein Gentleman bittet Madam, ihr seine Aufwartung machen zu dürfen,« erklang draußen des Kellners Stimme.
»Was für ein Gentleman?«
»Ein Gentleman aus London, ich habe seine Karte hier.«
»Einen Augenblick.«
Marguérite schlüpfte geräuschlos nach der Tür, schloß sie ganz leise auf, öffnete sie nur ein wenig, der Kellner steckte ihr sofort durch die Spalte die Karte zu.
»Lassen Sie den Herrn eintreten, ich will nur noch etwas Toilette machen.«
Sie eilte in ihr Schlafzimmer zurück. Allein schon das Wort London hatte auf das reizbare Weib einen großen Einfluß, denn in London war Nobody doch zuletzt gewesen, und ihr Kopf beschäftigte sich ausschließlich mit diesem Manne.
Zunächst betrachtete sie die Visitenkarte:
Gewiß, er kam aus London, er mußte mit ihm — mit ihm! — wenigstens in irgend einer Verbindung stehen!
Der in den Salon Tretende war ein karrierter Engländer, wie er im Buche steht, wenn er auf Reisen ist. Das sagt schon genug. Nun braucht solch ein Engländer aber doch nicht gerade eine dürre Hopfenstange zu sein, es gibt auch dicke Engländer genug,
sogar sehr dicke — und solch ein sehr dicker Engländer von Mittelgröße war das hier, und trotzdem war es ein karrierter Engländer mit allem, was dazu gehört, also auch mit Bartkoteletten und mit einem grünen Nackenschleier um den hohen Strohhut.
Doch diesen Strohhut müssen wir uns etwas genauer ansehen. Er trug noch einen seltsamen Schmuck, er war nämlich ringsherum und überall mit langen, dünnen Nadeln gespickt, mit sogenannten Insektennadeln, und an jede, war eine Fliege gespießt — nicht etwa Käfer und Schmetterlinge, sondern nur Fliegen — Fliegen und nichts als Fliegen, freilich kleine und große, darunter auch ansehnliche Brummer, und keine einzige hatte den Kopf mehr.
Ferner muß noch eine andere Eigentümlichkeit dieses dickbäuchigen Engländers erwähnt werden — eine Eigentümlichkeit, welche nicht zu seiner Kleidung, sondern direkt zu seiner eigenen Person gehört.
Mit offenem Maule — — Pardon, mit offenem Munde war Mr. Cerberus Mojan in den Salon getreten, mit weit geöffnetem Munde blieb er stehen, mit weit geöffnetem Munde sah er sich nach einer Person um, und als er nun keine fand, da... sperrte er seinen Mund noch etwas weiter auf.
Mr. Cerberus Mojan gehörte nämlich zu jenen seltenen Menschen, welche immer den Mund offen haben, mit Ausnahme wenn sie sprechen oder essen, und Mr. Cerberus Mojan hatte den Mund immer ganz besonders weit offen, etwa so weit, daß man bequem einen Kartoffelkloß hineinstecken konnte. Nun sind freilich Kartoffelklöße von sehr verschiedenem Kaliber, und so wollen wir sagen: einen von jenen Kartoffelklößen, von denen ein normaler Mensch mit normalem Appetit vier verspeisen kann. Genauer ist die Weite von Mr. Mojans chronischer Maulsperre auch in Nobodys Tagebuch nicht angegeben.
Ein Glück nur, daß der Mann wenigstens gute Zähne hatte.
Die Seitentür öffnete sich, Marguérite trat ein. Ihr sonst so bleiches Gesicht war etwas gerötet.
Nein, das kann er unmöglich sein!
Das war ihr erster Gedanke, und wieder prägte sich in ihrem schönen Antlitz Enttäuschung aus. Sie hatte geradezu geglaubt, es müsse Alfred sein, der sie besuchen wollte, und in einer unklaren Vorstellung mischte sich nur immer noch der Gedanke ein, daß er jetzt doch ein Verwandlungskünstler war, der sein Talent in Ernst und Scherz ständig verwendete.
Der karrierte Engländer machte seinen Mund mit einem hörbaren Klappen zu und neigte seine Gestalt etwas vornüber.
»Cerberus Mojan, Schmieröl Schwefel Schokolade,« sagte er dabei mit schnarrender Stimme, klappte seine Figur wieder in die Höhe und machte wieder den Mund möglichst weit auf.
Das Weib war für alles andere, was sich nicht mit ihrem einzigen Gedanken verbinden wollte, unempfänglich.
»Sehr angenehm. Was verschafft mir die...«
Das Wort erstarb ihr im Munde. Da nämlich geschah etwas, was sie in der Erinnerung plötzlich nach New-York in das Kontor des alten Verlagsbuchhändlers zurückversetzte — drei Wochen später, hier im afrikanischen Kairo, sollte sie etwas ganz Aehnliches erleben, nur daß es hier nicht gar so weit kam wie damals.
Über das steife Gesicht des Engländers ging es plötzlich wie Sonnenschein, und, den Schmerbauch hin- und herwiegend, tänzelte er mit ausgestreckter Hand auf Marguérite zu.
»Endlich, Mr. Nobody, ich warte schon seit drei Tagen auf Sie!«
Marguérite prallte mit weitgeöffneten Augen zurück. Sie hatte nur ein Wort gehört.
»Aber, mein Herr, Sie verkennen mich, ich bin...«
Dieser Engländer hier machte es viel kürzer, als Mr. World, er war leichter von einem Irrtum zu überzeugen.
»Sie sind nicht Mr. Nobody?«
»Nein doch, nein, aber...«
Klapp, verschwunden war das sonnige Lächeln, das steife Gesicht war wieder da, Mr. Mojan machte wieder den Mund auf und griff in die Brusttasche, brachte ein dickes Notizbuch zum Vorschein.
»Aber so sagen Sie mir doch, mein Herr...«
»Cerberus Mojan, früher in Firma Cerberus Mojan und Ko., Schmieröl Schwefel Schokolade. Sie kennen doch diese Londoner Firma, nicht wahr? Ja, da war ich früher drin, ich war der Hauptmacher, ich reiste. Vor einem Jahre bin ich ausgetreten, habe mich zur Ruhe gesetzt. Es war ein Fehler von mir. Ich reise noch immer für diese Firma. Gegen Provision, wissen Sie. Na, Madam, wie wär's denn mit etwas Schmieröl? Geben Sie mir einen Auftrag.«
Also schnarrte der Mann in abgerissenen Sätzen, dazwischen immer den Mund sperrangelweit aufmachend, und jetzt, wie er so dastand, Notizbuch und Bleistift in der Hand, verwandelte sich wiederum sein Gesicht. Mit vertraulichem Schmunzeln, ohne aber dabei den Mund zuzumachen, blickte er seitwärts nach der Dame, von welcher er den Auftrag erhoffte.
Marguérite wußte nicht, was sie davon denken sollte. Sie dachte überhaupt gar nichts. Sie hatte nur gehört, wie dieser Mann gesagt, er erwarte schon seit drei Tagen Mr. Nobody.
»Mein Herr, ich bitte Sie...«
»O, Sie haben doch schon von Mojans patentiertem Schmieröl gehört!« tat Mr. Cerberus jetzt etwas beleidigt. »Der Hauptbestandteil ist Klauenfett. Haben Sie nicht eine Nähmaschine? Sie können es auch innerlich einnehmen. Es führt großartig ab. Ebenso dienlich ist es zum Befördern des Haarwuchses. Und einem Hottentotten habe ich einmal damit fünf Bandwürmer und achtundfünfzig lebendige Spulwürmer abgetrieben. Na, da bestellen Sie doch ein Tönnchen, Madam.«
»Ja,...ja,...« begann Marguérite zu stottern, »ja...«
»Danke, Madam, danke sehr. Also eine Tonne Schmieröl...« die Bestellung wurde notiert, »... nicht wahr, Sie brauchen's recht bald? Gewiß, wird noch heute geliefert, frei ins Hotel. Ich habe nämlich ein großes Lager, führe es stets bei mir auf der Reise. — Na, Madam, wie wär's denn nun noch mit etwas Schwefel? Mojans patentierter Schwefel, Sie wissen doch. Weltberühmt! Ich würde Ihnen Schwefelblume anraten. Das ist bei uns gepulverter Schwefel, den können Sie essen, da ist keine Schwefelsäure drin. Sie scheinen überhaupt etwas skrofulös zu sein. — Na, Madam, ein Tönnchen Schwefel? Tun Sie es doch mir zu Gefallen. Es ist heute mein erstes Schwefelgeschäft. Also darf ich ein Tönnchen notieren?«
»Ja... ich... ich... ja...«
»Danke, Madam, danke sehr, also eine Tonne Schwefel...«
Während er notierte und nicht sprach, hatte er natürlich wieder den Mund weit auf, und da bekam Marguérite etwas zu sehen, was sie mit Entsetzen erfüllte und ihr vollends den Glauben an den Verstand dieses Mannes raubte.
Plötzlich sah sie nämlich in dem Munde desselben eine große Fliege herumschwirren, und das war leicht begreiflich, daß sich die dahinein verirrt haben konnte — — klapp! ging es. Mr. Cerberus Mojan hatte nämlich den Mund zugeklappt, die Fliege war in der Falle gefangen, und der Engländer legte schnell das Notizbuch auf den Tisch, schlug den Rock etwas zurück, Marguérite sah ein ganzes Arsenal von dünnen Nadeln, er zog eine solche heraus, jetzt brachte er die Fingerspitze vor den Mund, die unglückliche Fliege wurde mit der Zungenspitze vorgeschoben und von den Fingern vorsichtig in Empfang genommen, ihr — Marguérite sah es ganz deutlich — der Kopf abgerissen, dann wurde sie auf die Nadel gespießt und als neue Jagdtrophäe an den Hut gesteckt.
Dies alles war aber viel schneller geschehen, als sich hier erzählen läßt. Mr. Mojan mußte schon eine außerordentliche Uebung darin besitzen — das sah man doch auch seinem Hute an.
Hiermit war er aber noch nicht fertig.
»Wieder eine,« schmunzelte er vergnügt, als er ein anderes Notizbuch aus der Tasche zog, »das war die...? Die sechstausendzweihundertdreiundachtzigste. Wartet, ich will euch Geschmeiß schon noch die Lust vertreiben, meinen Mund als Asyl für Obdachlose zu betrachten. So, die war wieder notiert, — Nun, Madam,« er steckte dieses Notizbuch ein und nahm wieder das andere vom Tisch, »nun mache ich Sie noch auf meine appetitliche Schoko...«
Er verstummte, er erstarrte, er lauschte.
»Moooooiiiaaaa,« erklang es unten im Hofe oder auf der Straße in singendem Tone, »Mooooiiiaaaa!«
»Das ist er, da kommt er, er ruft mich schon!!!«
Mit diesen Worten war Mr. Cerberus Mojan zur Tür hinausgestürzt, diese offen lassend, und Marguérite sah auf dem Korridor ihren Zimmerkellner stehen, oder vielmehr noch im Zurückprallen begriffen, denn er hatte jedenfalls an der Tür gelauscht oder durchs Schlüsselloch gespäht.
Nur von einem einzigen Gedanken beseelt, war Marguérite ebenfalls sofort nach der Tür gesprungen, jedenfalls, um den Flüchtling festzuhalten, mehr von ihm zu erfahren, aber der war schon fort, und sie traf mit dem Kellner zusammen.
»Wer war dieser Herr? Kommen Sie herein! Wer war dieser Herr?«
Der Kellner hatte Mühe, seine Würde zu wahren.
»Das war Mr. Mojan aus London. Er logiert seit drei Tagen hier, es ist ein sehr merkwürdiger Herr, jedem will er Schmieröl, Schwefel und Schokolade...«
»Ich weiß, ich weiß, das ist mir gleichgültig. Er erwartet hier einen Herrn?«
»Ja, den Mr. Nobody. Haben Sie vielleicht schon von diesem Detektiv...«
»Gewiß doch, gewiß doch,« drängte Marguérite, »ich meine, ob er ihn wirklich hier erwartet.«
»Es scheint so, und das Kuriose dabei ist, er hält zuerst jeden Menschen für den Erwarteten, fragt ihn, ob er Mr. Nobody ist, und es ist ja wahr, dieser Detektiv soll sich in die verschiedensten Gestalten verwandeln können, aber so, wie es dieser Engländer treibt — — es ist sogar schon passiert, daß er einen alten arabischen Bettler ohne Beine, der immer vor dem Hotel auf der Straße liegt, gefragt hat, ob er nicht...«
»Ich meine,« unterbrach das immer aufgeregter werdende Weib den Kellner abermals, »ob dieser Mr. Mojan ihn wirklich hier zu treffen glaubt.«
»Er behauptet, Mr. Nobody habe ihn hierher nach Kairo in das Hotel du Nil zu einer Unterredung bestellt, und es muß wohl so sein, denn wenn auch Mr. Mojan sehr eigentümlich ist, sonst ist er gar nicht der Mann, sich...«
Marguérite eilte schon die Treppe hinab. — —
Es war ein arabischer Wasserträger gewesen, welcher sich mit dem Rufe ›moia‹, welches auf deutsch ›Wasser‹ ist, in der engen zum Hotel du Nil hinabführenden Gasse angekündigt hatte.
In Kairo herrscht nämlich unter der arabischen Bevölkerung ständiger Wassermangel. Diese Leute wohnen nicht zur Miete, jeder hat sein eigenes Häuschen, und wenn es auch nur eine Lehmhütte ist, wie sich solche sogar noch in der glänzenden Muski finden — eine Wasserleitung, welche wohl vorhanden ist, lassen sich die doch nicht legen. Sämtliche Brunnen liefern salziges Wasser, welches wohl zum Waschen zu gebrauchen ist, aber nicht zum Trinken, und so wandern durch die Straßen von Kairo, wie schon vor Hunderten von Jahren, noch heute die Wasserträger, auf dem Rücken den gefüllten Ziegenschlauch, aus dem sie gegen ganz geringes Geld in den arabischen und griechischen Häusern die Wasserurnen füllen. Das heißt, als eine Wasserkalamität wird das dort nicht empfunden, die Leute sind es nicht anders gewöhnt, so gut wir uns Kohlen kaufen müssen, während in holzreichen Gegenden die Bauern sich ihr Feuerungsmaterial aus dem Walde holen.
Außerdem bedienen diese Wasserträger die Durstigen gleich direkt.
Es war ein riesenhafter Araber, nackt bis auf ein kurzes Höschen, der vor dem Hotel du Nil sein ›mooooiiiaaaa‹ sang.
Aus der Nebengasse kam ein junger Mann im seidenen Kaftan, unter dem einen Arm einige Bücher, mehr noch als durch diese durch den rotseidenen Sonnenschirm als arabischer Student ausgezeichnet, er ging auf den Wasserträger zu, gab ihm einen Piaster, 20 Pfennige, neigte den Kopf zurück, sperrte den Mund auf, der Riese hob das über seine Schulter hängende Rohrstück hoch empor, drückte mit der anderen Hand hinten auf das auf seinem Rücken hängende Ziegenfell, und in großem Bogen sprang das Wasser aus dem Rohre direkt in den offenen Mund und wurde so geschickt aufgefangen und geschluckt, daß auch nicht ein einziger Tropfen verloren ging. Freilich will dieses Auffangen und Schlucken gelernt sein.
Der Student ging weiter. Das war ein teurer Trunk gewesen. Sonst kostet von diesem filtrierten Nil-Wasser die große Urne voll, welche einen Haushalt für den ganzen Tag versorgt, nur zwei Pfennige, d. h. man gibt dem Träger immer nur die kleinste Kupfermünze. Aber der junge Student brauchte deshalb nicht verschwenderisch gewesen zu sein.
Ein Bettler nahte sich dem Wasserträger, ließ sich tränken und ging davon, ohne etwas bezahlt zu haben. Dann kam ein zerlumpter Judenjunge, von dem der Mann erst recht wußte, daß er nichts bekam, und doch blieb der Wasserträger sofort stehen und ließ das erquickende Naß dem Durstigen in hohem Bogen in die Gurgel laufen, und er hatte ein Werk der Barmherzigkeit getan, welches Gott wohlgefällig ist, nicht dem Gotte der Mohammedaner oder der Juden, sondern jenem Gotte, welcher es vom Himmel regnen läßt, auf daß die von ihm geschaffenen Wesen nicht dursten.
»Mooooiiiaaaa!«
»Hier bin ich, Cerberus Mojan,« erklang es da jauchzend. »Mr. Nobody, nicht wahr? Freut mich sehr.«
Der Riese blickte herab in das offene Maul, das sich ihm entgegensperrte, es gehörte einem Franken an, dem mußte er eine ganz besondere Ehre antun, also er hob das Wasserrohr noch etwas höher und drückte auf seinen Wassersack noch etwas kräftiger als sonst, und wohl spritzte der mächtige Wasserstrahl direkt in den offenen Mund, aber Mr. Cerberus Mojan verstand die Kunst dieses Trinkens nicht, er fing gleich an zu gurgeln und zu spucken, und da bekam er den kleinen Wolkenbruch in Form einer kalten Dusche erst ins Gesicht und dann über den ganzen Kopf.
»Aber... aber... Mr. Nobody...« gurgelte der in- und auswendig Gebadete.
»Das ist nicht Mr. Nobody, das ist Ali der Wasserträger, ich kenne ihn doch,« erklärte der Portier, welcher die wenigen Schritte herbeigeeilt war.
»Sie sind wirklich nicht Mr. Nobody?« fragte der Engländer, und dann glotzte er wieder mit offenem Maule zu dem Riesen empor.
Der hatte mitleidig lächelnd auf den ungeschickten Franken herabgeblickt, und weil der ihm immer noch das offene Maul entgegenhielt, dachte er, der wolle es noch einmal probieren, und Ali war gutmütig — — klatsch, Mr. Cerberus Mojan bekam einen neuen Wolkenbruch in den Hals und ins Gesicht, noch einen ganz anderen als vorhin.
Als er wieder sehen konnte, war der Riese verschwunden.
»Es scheint doch nicht Mr. Nobody gewesen zu sein, sonst hätte der sich doch zu erkennen gegeben. Aber rief er mich nicht beim Namen?«
Der Portier erklärte ihm, daß Wasser auf arabisch moia hieß.
»So, so. Wo ist der Kerl? Er hatte doch einen Ziegenschlauch auf dem Rücken? Da könnte er vielleicht ein Tönnchen Schmieröl ge...«
»Mein Herr, darf ich mit Ihnen noch ein Wort sprechen?«
»Aaah, Madame Lenois! Richtig, wir wurden unterbrochen, ich wollte Ihnen gerade eine Offerte in Schokolade machen. Einen Augenblick, gestatten Sie nur, daß ich mich etwas abtrockne.«
»Ich stehe Ihnen dann zu Diensten, bitte Sie jetzt nur um Beantwortung einer Frage. Sie erwarten hier Mr. Nobody?«
Mr. Mojan rumpelte sich mit dem Taschentuch im Gesicht herum. Schließlich war es ja nicht so schlimm gewesen, das genau abgemessene Quantum Wasser war nur für einen Durstigen berechnet gewesen, und ebenso war Mr. Cerberus Mojan gar kein so schlimmer Handlungsreisender, es ließ sich ganz gut mit ihm reden, nicht bloß von Schmieröl, Schwefel und Schokolade. Für einen Engländer war er sogar außerordentlich zuvorkommend und redselig.
»Ja, ich erwarte Mr. Nobody. Er hat mich hierherbestellt. Kennen Sie diesen berühmten, amerikanischen Detektiv?«
»Ich... ich... kannte ihn vor vielen Jahren.«
»Was?!!« fuhr da der Engländer empor. »Sie kannten ihn schon vor vielen Jahren?! Da wissen Sie auch, wer dieser Mann eigentlich ist?«
Mit Weiberschlauheit erkannte Marguérite sofort den gewonnenen Vorteil.
»Ja, ich weiß, wer er ist,« entgegnete sie, obgleich sie durchaus nicht daran dachte, sich jenem zu offenbaren.
»Kommen Sie, kommen Sie, wir setzen uns hier in die Laube. Das müssen Sie mir erzählen — weiß Gott, ich gebe Ihnen auch zehn Prozent Diskont.«
Sie setzten sich in eine der Lauben des Palmengartens.
»Ja, ich kann Ihnen ganz genaue Auskunft über diesen mysteriösen Mann geben,« begann Marguérite wieder, »aber erst müssen Sie mir eine Frage beantworten. Ich habe ein ganz besonderes Interesse daran, zu erfahren, ob Sie Mr. Nobody wirklich hier erwarten.«
»Wie ich Ihnen sage, er hat mich hierherbestellt.«
»Weswegen? Halten Sie mich nicht für unbescheiden oder neugierig, aber...«
»Inwiefern? Das kann jeder erfahren. Er will mich den spiritistischen Apport lehren.«
»Den spiritistischen... was?« staunte Marguérite.
»Den spiritistischen Apport. Wissen Sie nicht, was das ist?«
»Ja,« sagte Marguérite nach kurzer Überlegung, »so nennen die Spiritisten die Herbeischaffung von Gegenständen durch die unsichtbare Kraft des Mediums, oder kurz gesagt, durch Geisterhände.«
»Das ist's. Sind Sie Spiritistin?«
»Nein.«
»Schade! Sie müssen Spiritistin werden. Ich will Ihnen die ganze Geschichte des Spiritismus erklären, und ich bin überzeugt, ich werde aus Ihnen noch die treueste Anhängerin unseres Glaubens machen. Fangen wir mit den ersten Anfängen des Spiritismus an und gehen wir seine ganze Geschichte gewissenhaft durch. Schon etwa fünf- bis siebentausend Jahre vor Christi Geburt begegnen wir in Indien...«
O weh, dachte Marguérite. Diese Sorte kannte sie.
»Das heißt,« sagte sie schnell, »ich glaube an Geister, ich habe mich bisher nur noch keinem Vereine angeschlossen. Haben Sie schon einen spiritistischen Apport gesehen?«
»Ich? Nee. Sie?«
»Auch ich nicht. Kann ihn Nobody herbeiführen?«
Das in gewisser Beziehung sehr schlaue, jedenfalls sehr gewandte Weib hatte das Richtige getroffen, um den Mann wieder auf das Hauptthema zurückzubringen.
»Ja, der kann's. Kennen Sie den Sir Edward Clane, den Londoner Rechtsanwalt?«
Auch über diesen konnte Marguérite mitsprechen.
»Das ist mein spezieller Freund. Wir haben uns im Spiritisten-Klub kennen gelernt. Sie kennen doch den Fall, wie Nobody in London den Mörder von Deacon fand?«
Auch das war der Dame alles bekannt.
»An jenem Abend war ich bei Clane, um ihm zu gratulieren. Kurz zuvor war Nobody bei ihm gewesen, wegen jenes unschuldigen Japaners, das Gespräch war auf Spiritismus gekommen, und da hatte Nobody meinem Freunde einen spiritistischen Apport vorgemacht. Passen Sie auf, ich will Ihnen alles anschaulich schildern. Ich nehme hier diesen Ring...«
Und der dicke Engländer erläuterte seine Handlungen, alles wurde durchgemacht, das Ziehen des Striches am Boden mit einem Stock und alles, so wie es früher ausführlich geschildert worden ist... nur daß dann Mr. Cerberus Mojans Siegelring auf dem Stückchen Papier liegen blieb, ohne sich zu rühren — das war der einzige Unterschied dabei.
»... schwubb, war der Ring in Nobodys Hand! So erzählte mir Sir Clane. Und Sie kennen doch Sir Clane. Ich kenne ihn vielleicht noch besser. Wenn aus Sir Clanes Mund je ein unwahres Wort gekommen ist, will ich sämtliches Schmieröl, welches die Firma Mojan und Ko. fernerhin fabriziert, selber saufen, obgleich ich an der Fettsucht leide. Dieser Nobody ist eben ein außergewöhnlich kräftiges Medium. Wissen Sie daß er acht Jahre lang in Indien gefangen gewesen ist?!«
»Ja, das habe ich in der Zeitung gelesen.«
Nobody hatte doch damals bei seinem ersten Interview nur von einem ›asiatischen‹ Machthaber gesprochen, und Mr. Law hatte daraus einen indischen gemacht.
»Sehen Sie. Mit einem indischen Fakir ist er zusammen acht Jahre lang eingesperrt gewesen. Von dem hat er es gelernt. Ich bin in Indien gewesen, habe Fakire experimentieren sehen. Großartig! Und Nobody hat gesagt, das könnte jeder lernen, jedes Kind. Ich glaube es. Ich weiß es. Es gibt in Indien auch Fakire genug, welche sich als Lehrer anbieten, sie wollen einem übernatürliche Kräfte beibringen, Gurus nennen sie sich, ich habe selbst ein Paar gehabt — — aber es geht nicht, es wird nichts draus. Es sind nicht etwa Betrüger, aber die Sache ist die: sie dürfen ihre Geheimnisse gar nicht verraten, sonst ist ihnen Nirvana verschlossen, und da führen sie die dummen Europäer, die sich als Schüler melden, nur an der Nase herum. Aber hier ist einmal ein Europäer. Na, kurz und gut, ich war außer mir, ich mußte diesen rätselhaften Mann kennen lernen... happ!!«
Mr. Cerberus Mojan, welcher sehr abgerissen sprach und bei jeder Pause einmal den Mund aufmachte, hatte wieder eine Fliege gefangen, die sich in diesen verirrt hatte, und mit einer Geschwindigkeit, welche keine Hexerei ist, wurde diese Fliege ans Tageslicht befördert, enthauptet, an den Hut gespießt und als Nummer 6284 im Jagdbuche registriert.
Marguérite überwand ihr Grauen.
»Haben Sie ihn gesprochen?«
»Nein. Wo wäre er zu finden gewesen? Aber an jenem Tage, hatte ›Worlds Magazine‹ doch in London eine Filiale aufgemacht, und der Hauptmacher ist doch Nobody, dort mußte man seine Adresse wissen. Ich schrieb also einen Brief und trug ihn hin...«
»Was schrieben Sie?«
»Was Nobody verlangte, wenn er mich den spiritistischen Apport lehre. Jawohl, ich will auch ein Medium werden. Das war schon lange mein Entschluß. Er sollte nur fordern, ich kann's bezahlen, ich hab's dazu. Ich habe vor zwanzig Jahren ganz klein mit Klauenfett angefangen, dann ging ich nach Südafrika und legte eine Faktorei an, kaufte Palmöl auf, und das war damals noch eine andere Zeit als heute, da...«
»Hat Ihnen Mr. Nobody geantwortet?« führte Marguérite den Verirrten wieder auf den rechten Pfad zurück.
»Jawohl. Nach sechs Tagen bekam ich die Antwort. Gewiß, er wäre dazu bereit, mich in alle seine Geheimnisse einzuweihen, wegen einer Bezahlung sprächen wir persönlich, aber er müsse sofort abreisen, nach Aegypten, wenn ich Zeit hätte, solle ich nach Kairo kommen, wo er sich längere Zeit aufhalten wolle; hier, im Hotel du Nil wolle er logieren, nach Europa käme er nicht so bald wieder, und Zeit habe ich, ich kann es mir leisten...«
»Wahrhaftig?!« rief Marguérite in der größten Erregung.
»Warum denn nicht? Freilich kann ich mir das leisten. Sehen Sie, Madame, ich habe vor zwanzig Jahren ganz klein mit Klauenfett angefangen, dann...«
»Ich meine, er hat wirklich ausgemacht, sich mit Ihnen hier zu treffen?«
»Wie ich Ihnen sage.«
»Und Sie glauben zuversichtlich, daß er kommt?«
»Ob ich's glaube? Ei der Deiwel, wenn er's nicht täte, sein Wort nicht hielte, dann könnte er den Cerberus Mojan aber kennen lernen!« rief der Dicke erbost. »Aber der hält sein Wort, ich hab's doch schriftlich.«
»Haben Sie den Brief noch?«
»Den habe ich sogar bei mir.«
»Darf ich ihn einmal sehen? Bitte sehr, ich interessiere mich so sehr dafür, ich kenne auch seine Handschrift.«
»Gewiß, den Brief können Sie...«
Der Engländer stockte im Wort und in der Bewegung nach seiner Brusttasche, während Marguérite erschrocken in die Höhe fuhr.
Plötzlich erscholl in ihrer Nähe, aber wahrscheinlich noch auf der Straße, ein Gebrüll — ein Gebrüll, wie es die beiden noch nicht gehört hatten! Es kam ihnen zwar bekannt vor, und dennoch glaubten sie, daß dieses trommelfellzerreißende und nervenzerstörende Gebrüll keinen irdischen Ursprung haben könnte, da mußte ein Tier der Unterwelt an die Erdoberfläche gekommen sein und seinen Gefühlen Luft machen.
Wir begeben uns nochmals auf den Bahnhof.
Wieder war ein Schnellzug eingelaufen, und zwar derjenige, welcher in Tanta die durchgehenden Wagen von Port Said aufnimmt.
Der Zug war gar nicht stark besetzt gewesen, vor der Halle standen noch genug Esel, und doch war keiner zu bekommen.
Wer von den Passagieren unbefangen auf die Straße trat, der merkte überhaupt gleich, daß hier etwas Außergewöhnliches vor sich ging. Die Eseljungen rannten mit und ohne ihre Grauschimmel hin und her, einige elegant gekleidete Herren schienen Geld unter sie zu verteilen, andere Gentlemen standen in Gruppen zusammen und lachten, aber gerade die wachestehenden Soldaten konnten keine Auskunft geben, was hier eigentlich vorlag. Diese Unruhe vor dem Portal war erst losgegangen, als der Zug eingelaufen war, als die ersten Passagiere herausgekommen waren.
»Es handelt sich um eine Wette von Engländern,« hörte man wohl einmal sagen, aber mehr erfuhr man nicht.
Am allerauffälligsten war es, daß von allen Seiten neue Eseljungen mit ihren Tieren herbeiströmten, sie sammelten sich um ein Zentrum, wie die Fliegen um das Aas, sie wurden von ihren Kollegen mit Johlen empfangen, erhielten von einigen Herren Geld und stellten sich mit ihren Eseln in einer Reihe auf. Hundert Esel waren mindestens schon da, und immer mehr strömten herbei, und immer lärmender und immer toller wurde dieses Treiben.
Wir wollen zur Erklärung das Gespräch zweier Freunde belauschen, von denen der eine mit diesem Zuge angekommen ist, der andere ihn vom Bahnhofe abgeholt hat. Eine lange Begrüßung war nicht nötig, es war nur eine kurze Trennung gewesen.
»Was ist denn hier nur los? Es ist kein Esel zu bekommen.«
»Ich weiß es,« entgegnete der Angekommene, »und ich selbst gehöre mit zur Verschwörung. Laß dir erzählen: Wir sitzen zu viert im Coupé, das Gespräch kommt auf die allgemeine Eselei. Du weißt doch, daß in Kairo oder wohl in allen ägyptischen Städten auf der Straße nur Eselstuten oder Wallache erlaubt sind, keine Hengste.«
»Nein, das ist mir neu! Darauf habe ich noch gar nicht achtgegeben. Warum denn keine Hengste?«
»Weil da der Spektakel gar zu groß wäre. Die Eselinnen, die wir hier nur kennen, brüllen so schon genug, wenn aber nun einmal ein Hengst seine lockende Stimme auf der Straße hören lassen würde, na, da könntest du etwas erleben! Ganz Kairo würde mit yahn. Nun wirst du fragen: ja, wenn aber nun ein Wallach brüllt? Das ist es eben, wir sprachen von der verkannten Intelligenz des Esels, er muß sogar ein sehr musikalisches Gehör haben. Für uns ist yah ein yah, ein Esel brüllt wie der andere — aber der Esel unterscheidet feiner. Wenn ein Wallach singt, da fällt es keiner Eselin ein, mitzusingen. Dann zogen wir Vergleiche mit den italienischen und besonders mit den Gebirgseseln, wie deren Verhalten doch ein so ganz anderes ist. In den Alpen braucht eine ganze Reihe von Eseln nur einen einzigen Treiber, der muß allerdings als Leittier einen Hengst haben, dem folgen gehorsam alle anderen Esel, treten bei gefährlichen Stellen sogar in seine Hufspuren — und wie so ganz anders ist es doch in dem flachen Aegypten! Hier kümmert sich kein Esel um den anderen, jeder muß seinen eigenen Treiber haben, es ist ganz undenkbar, daß nur eine Eselin geritten würde und andere folgten ihr freiwillig nach... so weit sind wir in unserer mit Schnurren gewürzten Unterhaltung gekommen, da tritt aus dem Nebenabteil zu uns ein Herr, ist sehr höflich, behauptet aber auch ganz energisch, was wir da sagten, sei nicht wahr. — Oho!!! — Gewiß, er wolle irgend eine Eselin besteigen — oder auch einen Wallach, ihm ganz gleich — und davonreiten, und alle hinter ihm in einer Reihe angestellten Esel würden seinem Tiere gehorsam folgen, freiwillig, die Treiber brauchten nicht an ihrer Seite zu sein. Wetten? Gut, wir wetten. Für jeden Esel, der ihm freiwillig folgt, bekommt er einen Schilling, wenn nicht, dann hat er uns so viel Schillinge zu zahlen, als er in seinem Übermut Esel hinter sich angestellt hat. Und der verlierende Teil muß natürlich auch die gesamten Kosten tragen. — Na, das wird für den Herrn eine teure Geschichte, das sind jetzt doch schon wenigstens hundert Esel, und dort hinten kommen immer noch mehr! — Er hat sich verpflichtet, von hier bis zum Hotel du Nil zu reiten und rund um den Eskanderiah-Platz auch noch eine Polonäse aufzuführen. — Und nun, davon habe ich noch gar nicht gesprochen, nun mußt du dir das originelle Kerlchen ansehen! Er hat zwar einen ganz patenten Diener bei sich, aber ich halte ihn für nichts anderes als für einen Zirkusclown. Die sollen ja freilich auch schweres Geld verdienen. Da steht er.«
Ja, da stand er — stand mit olympischer Ruhe in dem um ihn wogenden Gewimmel, wie der siegesbewußte Feldherr im Schlachtgetümmel.
Sie hatten ihn nicht schlecht herausstaffiert, unseren Jochen Puttfarken.
Der blanke Zylinder war nicht allzu hoch gewählt worden, dazu schwarzer Anzug, weiße Weste, hoher Stehkragen, in dem das Kinn verschwand, weiße Krawatte. Daß die Hose viel zu lang war und infolgedessen zahllose Querfalten schlug, das hatte nichts zu sagen, — nein, das mußte sogar so sein, das paßte zu der ganzen Figur.
Nicht auf das Aeußere kommt es an. Ob in Lumpen, ob in Purpur — der Cäsar bleibt ein Cäsar, er kann sich nicht verleugnen. Und wie der Jochen Puttfarken hier so dastand, mit unnachahmlicher Grazie den linken, mit einem quadratischen Lackschuh bekleideten Fuß etwas vorgesetzt, die rechte Hand im Schlitz der weißen Weste, wie er seine kleinen Aeuglein umherblitzen ließ und dabei mit den Elefantenohren wackelte — da war er eben der geborene Cäsar. Veni, vidi, vici.
Ein reich livrierter Diener mit einem hageren Jockeigesicht näherte sich ihm und blieb respektvoll vor ihm stehen.
»Es sind gerade 200 Esel, Sir.«
»Noch meeehr,« näselte der krummbeinige Feldherr, ohne sich sonst zu rühren.
Der Jockei ging, kam wieder.
»225 Esel, Sir.«
»Noch meeehr.«
Der Jockei eilte wieder nach hinten, erschien von neuem.«
»232 Esel, Sir.«
»Noch meeehr.«
»Es sind keine weiter da, Sir.«
»Very well. All right?«
»All right, Sir.«
Da endlich kam in den Feldherrn Leben, er wollte zum Angriff übergehen, trat auf das Straßenpflaster und besichtigte die Schlachtordnung.
In schier endloser Reihe zogen sich die Esel entlang, einer hinter dem anderen stehend, jeder neben sich seinen Treiber, der den Zügel hielt. Das letzte Paar war kaum noch zu erkennen.
Den Anfang bildete eine Urgroßmutter von einer Eselin, ein kleines, elendes Tierchen, aber durch mächtige Ohren ausgezeichnet. Auf dieses trat Puttfarken zu.
»Sobald ich mich in Bewegung setze und das Zeichen zum Abmarsch gebe, springen sämtliche Treiber von den Tieren zurück.«
»All right, Sir, ist den Jungen schon alles bekannt.«
»Very well. Aufgepaßt!«
Puttfarken hob nachlässig den linken Fuß, als hielte er es für ganz selbstverständlich, daß man ihn sofort verstand, und sein Eseljunge bückte sich denn auch sofort und setzte die Hand unter den quadratischen Lackschuh. So ließ sich der Feldherr langsam in den Sattel heben, langsam setzte er sich zurecht, endlich saß er wirklich drin.
»Stillgestanden!!!« kommandierte er mit Stentorstimme. »Richt' euch!!! Augen gerade — — aus!!! Abteilung — — marsch!!! Hi — i — hi — i — hi — i — hi — i...«
Was nun geschah, läßt sich mit Worten gar nicht beschreiben!
Für denjenigen, welcher die höhere Eselei noch nicht genauer studiert hat, oder der am Ende noch gar keinen Esel gesehen und ihn nicht hat brüllen hören, sei nur eines erwähnt. Das Brüllen des Esels drückt man gewöhnlich mit den Buchstaben yyyyyyyah aus. Wer dieses Wort in der deutschen Rechtschreibung eingeführt hat, der hat niemals einen Esel brüllen hören, und alle Esel verachten ihn unsäglich.
Wenn du, geneigter Leser, Interesse für die Eselsprache hast — und das darf durchaus nicht lächerlich aufgefaßt werden, die Kenntnis der Eselsprache ist höchst wichtig und kann, wie Beispiel gleich lehren soll, sehr gewinnbringend sein — so stelle dich vor den Spiegel, sage das Wörtchen ›hi‹, aber indem du dabei die Luft einziehst, und um den richtigen Ton zu treffen, mußt du dabei auch mit einer energischen Bewegung den Bauch einziehen — dann reckst du den Bauch schnell wieder vor und sagst mit ausgestoßenem Atem den Buchstaben i, und wenn du das nun so abwechselnd tust — mit den Ohren dabei zu wackeln hast du nicht nötig, aber schön ist es, wenn man es kann — und wenn dir das keine Schwierigkeiten mehr bereitet, dann hast du dir den ersten, aber auch den schwersten Teil der Eselsprache angeeignet. Das nachfolgende aaaahhh ist ganz leicht zu lernen. Natürlich kann das nur eine kleine Anleitung sein; um alle Feinheiten des Eselgesanges zu beherrschen, dazu ist ein jahrelanges Studium unter einem vierbeinigen Lehrmeister notwendig, und wer kein Talent dazu besitzt, der lernt es doch nie, und der mag denn bei dem ganz unnatürlichen Yyyyah bleiben.
Jochen Puttfarken aber war in alle grammatikalischen und stilistischen Feinheiten der Eselsprache eingedrungen.
»Hi — i — hi — i — hi — i — hi — i...«
Die Eselurgroßmutter, auf der er saß, spitzte die Ohren. Sofort stimmte sie mit ein, sie gab den Ton an den nächsten Esel, jetzt fielen gleich zehn mit in die Ouvertüre ein, und die Urgroßmutter war noch bei dem Schlußakkord, bei dem melodischen ›aaaaahhhh‹, als weit hinten der zweihundertundzweiunddreißigste Esel mit seinem ›hi — i — — i — hi — i‹ einsetzte.
Der Spektakel ist nicht zu beschreiben, auch nicht sein Erfolg, der Erfolg der ganzen Harlekinade.
Wer nicht ganz starke Nerven hatte, der hielt sich die Ohren zu und rannte davon, und die anderen schienen Lust zu haben, vor Lachen sich auf dem Trottoir herumzuwälzen. Denn der lange Eselzug hatte sich in Bewegung gesetzt, und nun vorn auf dem ersten, kleinen Grauschimmel die göttliche Gestalt mit den krummen Beinen und dem Zylinderhute, wie die gravitätisch im Sattel saß — und nun immer wieder dieses erste lockende ›hi — i — hi — i — hi — i‹ und dann nach und nach das Einfallen von sämtlichen Eseln: ›hi — i — hi — i — aaaahhh — hi — i — aaaahhh — hi — aaaahh — i — aaaahh — hi — i — hi — i — hi — i«... ein feister Pfaffe hatte einen Laternenpfahl gepackt und dachte wohl, es wäre ein Apfelbaum, so schüttelte er den eisernen Pfahl, und dabei rannen dem würdigen Manne vor Lachen die Tränen über die dicken Backen.
Nur ein Teil der Zuschauer lachte nicht mit. Das waren die Eseljungen. Sie waren, wie ihnen gesagt worden, sobald sich der erste Esel in Bewegung setzte, davongesprungen, jeder sein Tier freigebend... und nun standen sie sprachlos vor Staunen da!
Diese Jungen kannten doch ihre Esel, jede Schwanzbewegung, jedes Ohrenwackeln — die kannten doch auch alle Gewohnheiten ihrer Tiere — und daß nun die freigelassenen Esel nicht sofort durcheinanderliefen oder jeder zu seinem Herrn eilte, daß sie alle in einer Reihe blieben, einer dem anderen gehorsam folgte, das ging über den Verstand dieser Jungen. Man muß eben die ägyptischen Esel kennen, um das richtig würdigen zu können. So etwas, in einer Reihe zu marschieren, das gibt es nicht bei dem ägyptischen Esel. Und auch dieses gehorsame Mitbrüllen war den Jungen ein unergründliches Rätsel! Die konnten die Stimme ihrer Lieblinge auch recht hübsch nachahmen, wohl kam es oft genug vor, daß ein und der andere Esel antwortete, aber so wie hier — — keine Spur!
Und in diesem Brüllen lag natürlich der Witz der ganzen Sache. Jochen Puttfarken hatte die Eselsprache gründlich studiert und seine Stimme auf dem hohen Konservatorium für sangesbegabte Esel ausgebildet. Er sang als männlicher Esel vor, und Frau und Fräulein Eselin sangen mit. Nun sagte sich jede: »Dort vorn ist dein Herr und Meister, die vor mir trabende Dame marschiert dem Herrn nach, also marschier' ich dieser Dame nach,« und wenn auch welche dazwischen waren, welche nicht zum schöneren Geschlecht gehörten, so fühlten sich diese doch auch nicht mehr als Männer, sie sangen und marschierten anstandshalber mit — und schließlich ist der Esel doch ein Herdentier, durch diesen Lockruf des vermeintlichen Leithengstes wurden sie wieder daran erinnert.
Von einer johlenden Menschenmenge begleitet, nicht nur von der Straßenjugend, sondern auch von Herren, und selbst von Damen, bewegte sich der endlose Zug durch die Straßen, dem Eskanderiah-Platz zu, vornweg gravitätisch Jochen Puttfarken.
Es war nicht nötig, daß er immer lockte, jetzt folgten ihm die Esel von ganz allein. Aber ab und zu mußte er doch seine Stimme ertönen lassen.
Die Polonäse auf dem Eskanderiah-Platz, wo die Lebewelt ihre Korsos abhält, hatte begonnen.
Hinter einer Baumgruppe tauchte im Gänsemarsch ein französisches Töchterpensionat auf. Erstaunt blieben Schülerinnen und Gouvernanten stehen und betrachteten die Eselschlange wie sie eine solche noch nie gesehen hatten.
»Hi — i — hi — i — hi — i,« fing da der menschliche Leithengst wieder zu locken an, und von neuem brach das furchtbare Konzert los, und was nicht kreischte, das lachte und schrie und brüllte mit.
Alle Fenster einer großen Fabrik waren mit männlichen und weiblichen Köpfen besetzt. Man hatte wohl von weitem ein entsetzliches Geschrei gehört, aber jetzt sah man den grauen Zug ganz ruhig daherkommen.
»Hi — i — hi — i — hi — i — hi — i,« fing Jochen Puttfarken wieder an und wackelte dabei mit den Ohren, und gehorsam wurde aus 232 Eselkehlen das Ständchen gebracht, gehorsam wackelten alle mit den Ohren.
Aber nicht nur 232 Esel brüllten, nach und nach brüllten sämtliche Esel der Stadt mit, auf der Straße und auf den nahen Feldern und in den Ställen, ganz Kairo und Umgebung stimmte mit ein in das Eselkonzert, und es blieb auch nicht bei den 232 Eseln des Zuges, denn welcher Reiter sein Tier nicht völlig in der Gewalt hatte, dem ging es durch, es schloß sich dem Zuge an oder drängte sich zwischen zwei andere Genossen, und den Treibern liefen die sonst so treuen Lieblinge davon, sie wollten die Polonäse auch mitmachen.
So rückte der sich immer mehr verlängernde Zug in die Muski ein, und es war die höchste Zeit, daß Puttfarken sein Ziel erreichte, denn die Polizeibehörde gab schon den Befehl, diesem Unfug ein Ende zu machen, der ganze Verkehr stockte.
Jetzt ritt Puttfarken in das enge Gäßchen ein.
»Hi — i — hi — i — hi — i,« kommandierte er, und das der Unterwelt entstiegene Ungetüm, welches an der Erdoberfläche seinen Gefühlen Luft machen wollte, antwortete mit entsetzlichem Gebrüll.
Der livrierte Diener mit dem Jockeigesicht, welcher nach dem Ausspruch jenes Herrn einen solch patenten Eindruck machte, hatte den Zug nicht begleitet, sondern eine der in Kairo seltenen Droschken genommen oder vielmehr eine der zweispännigen Mietsequipagen, und war in dieser mit zwei großen Koffern nach Hotel du Nil vorausgeeilt.
Hier verlangte er sofort den Hotelier oder dessen Stellvertreter zu sprechen, und der Direktor, in der Meinung, es handele sich um den Diener einer großen Herrschaft, leistete dem Rufe schleunigst Folge. Die Unterredung fand in einem Privatzimmer des Direktors statt.
»Kann ich drei oder auch nur zwei nebeneinanderliegende Zimmer bekommen?«
»Die sind frei. Für wen, wenn ich bitten darf?«
»Monsieur Bourget, Sie werden doch mein Inkognito wahren, wenn ich mich Ihnen anvertraue?« lächelte der Diener höflich.
Der Direktor stutzte natürlich sehr. Inkognito stiegen bei ihm ja hohe Persönlichkeiten genug ab, aber doch nicht als livrierte Diener verkleidet!
»Unbedingt!«
»Ehe ich mich Ihnen anvertraue, eine Frage: logiert hier ein Engländer Namens Cerberus Mojan?«
»Ach — — Mr. Nobody?« stieß der Hotelier in höchster Überraschung hervor.
»Ich bin's. Logiert dieser Herr also hier?«
Der Hotelier bejahte und gab in aller Kürze Aufschluß über den seltsamen Gast. Hierbei nun zeigte sich, daß Nobody den Cerberus Mojan schon recht gut kennen mußte, oder aber er hatte vorher die genauesten Erkundigungen über den Engländer eingezogen. Jedenfalls wußte Nobody noch mehr über ihn als der Hotelier.
»Er trägt eine Brille?«
»Nein.«
»Aber er ist sehr kurzsichtig.«
»Davon habe ich noch nicht das geringste bemerkt.«
»Dann sucht er das mit Energie zu verbergen, und das kann stimmen, denn er ist Junggeselle und dürfte infolgedessen sehr eitel sein, — Nun, Monsieur Bourget, ich habe mit diesem alten Sonderling einen Scherz vor und bitte Sie, mir den Spaß nicht zu verderben...«
»Gewiß doch nicht, und wenn ich Ihnen dabei behilflich sein kann, so stehe ich ganz zu Ihren Diensten,« fing der joviale Hotelier schon zu lachen an.
»Ich habe einen Gentleman mitgebracht, eine köstliche Figur, der meine Rolle spielen soll. Es ist Mr. Puttfarken und bleibt Mr. Puttfarken, und nur einzig und allein Mr. Mojan soll der Meinung werden, er habe es mit Nobody zu tun. Das besorge ich dann durch eine Karte, ich arrangiere überhaupt alles. Nur um eins muß ich Sie bitten. Ich möchte als Hotelkellner auftreten, und Sie müssen dafür sorgen, daß, wenn in dem Zimmer, in welchem sich die beiden befinden, geklingelt wird, keiner Ihrer Kellner kommt, und daß nicht von anderer Seite bemerkt wird, wenn ich als Kellner jenes Zimmer betrete, wieder herauskomme, überhaupt als in diesem Hotel angestellter Kellner figuriere.«
»Da nehmen Sie einfach ein abgeschlossenes Appartement, in dem Sie ganz ungestört sind!« rief der Hotelier. »Es kommen doch oft genug Herrschaften hierher, welche sich nur von ihren eigenen Dienern aufwarten lassen.«
»Ah, das geht, das ist famos! Ich wußte nicht, daß Sie solche abgeschlossene Appartements haben. Dann ist alles übrige, um was ich Sie bitten wollte, überflüssig. Nur noch eins: ist da auch ein Zimmer mit einem großen, weichen Teppich?«
»Alles vorhanden. Bitte, kommen Sie mit!«
Das in der ersten Etage liegende Appartement bestand aus vier Zimmern, welche also einen eigenen Korridor hatten, so daß sie gar nicht mit dem Hotel zusammenhingen. Es war auch für diesen Korridor eine besondere Tür vorhanden.
Ein mit Holz getäfeltes Zimmer, dessen Boden vollkommen mit einem weichen Teppich bedeckt war, erklärte Nobody als das für seine Zwecke geeignetste.
»Wohin führt diese Tapetentür?« fragte er und drückte gegen die Wand.
»Welche Tapetentür?« meinte der Hotelier harmlos.
»Hier, diese.«
Nobody markierte an der getäfelten Wand die Umrisse einer Tür.
»Da ist keine Tapetentür.«
»Gewiß doch. Hier, sehen Sie nicht?«
Nein, der nähertretende Hotelier konnte nichts von einer Fuge bemerken, wie er auch seine Augen anstrengte.
»Na, Herr,« lachte er dann, »ich habe das Hotel du Nil zwar nicht gebaut, aber es ist doch schon länger als zwölf Jahre in meinem Besitz, ich muß doch wissen, daß hier keine Tapetentür ist. Wo soll denn die sein?«
»Na hier. Hier ist doch auch ein Knopf, der wird wohl —«
Nobody hatte gegen die Wand gedrückt, ein schmales Türchen sprang auf, in der Füllung zeigte sich wiederum eine Holzwand, aber etwas abstehend.
»Da scheint im anderen Zimmer ein Schrank davor zu stehen.«
Er ging durch die richtige Tür hinüber, rückte einen großen Schrank zur Seite und kam durch das Tapetentürchen wieder herein, untersuchte es genauer, wie es sich öffnete und tadellos wieder schloß.
»Prachtvoll, alles wie geschaffen zu meinem Vorhaben.«
Der Hotelier hatte gleich, als die Tapetentür unter Nobodys Hand aufsprang, große Augen gemacht, und so stand er noch immer da.
»Ja... zum Donnerwetter...« brachte er endlich hervor. »Woher wissen Sie denn das eigentlich? Mir ist von der Existenz dieser Tür nichts bekannt gewesen! Waren Sie denn schon hier? Oder haben Sie dieses Hotel denn gebaut?«
»Ich bin zum ersten Male hier!«
»Ja, aber woher wissen Sie denn da das?«
»Ich sah auf den ersten Blick, daß hier eine Tapetentür ist, ich bemerkte auch gleich hier die kleine Erhöhung.«
»Und seitdem ich dieses Hotel habe, wirtschaften in diesem Zimmer täglich Stubenmädchen, Kellner und Gäste, und noch keinem ist etwas aufgefallen, so wenig wie mir! Mann, müssen Sie aber Augen haben!!«
»Daher der Name Detektiv,« lächelte Nobody, »es mag bei mir auch etwas Instinkt sein. — Also, Monsieur Bourget, vor allen Dingen meine beiden Koffer! Die Zeit drängt, und ich habe noch manches zu arrangieren.«
Als ein Hausknecht die Koffer brachte, hatte Nobody bereits mit einer Schnelligkeit, wie sie kein in Akkord arbeitender Dekorateur entwickeln kann, die Tapetentür mit einer Portiere drapiert, und der Hotelier hätte wiederum nicht gewußt, woher er dieselbe genommen. Es war ein dünner Teppich, den er aus einem anderen Zimmer geholt hatte, und er hing diesen nicht direkt vor der Türe auf, sondern seitwärts, bildete eine Art von Verschlag, aber alles künstlerisch arrangiert.
Von den Arrangements oder Manipulationen, die er sonst noch in dem Zimmer vornahm, wollen wir nur eine einzige erwähnen.
Er trat hinter die neugeschaffene Portiere, spähte durch eine Spalte ins Zimmer, trat mit drei großen Schritten hervor, legte auf eine bestimmte Stelle des Teppichs einen weißen Papierschnitzel, einen Schritt entfernt davon ein Streichholz, rückte einen Tisch, einige Stühle, trat wieder hinter die Gardine und musterte sein Werk, dabei nach dem Papierschnitzel und dem Streichholz visierend, die Lage des letzteren dann um eine ganz geringe Kleinigkeit verändernd.
Grundlos war er bei diesen merkwürdigen Arrangements natürlich nicht so peinlich, und das war also nur das eine, er nahm noch andere solche seltsame Handlungen vor, ein Wandspiegel mußte eine Idee nach links schief hängen, und so weiter, und dies alles führte er mit einer fabelhaften Geschwindigkeit aus; wie ein Affe sprang er im Zimmer herum, gleichzeitig drei Handlungen ausführend; während das Auge die Wirkung des Spiegels prüfte, rückte die eine Hand die Stühle, mit der anderen Hand entkleidete er sich schon — dann ein Sprung nach dem Koffer, während er diesen aufschloß, zog er sich die Gamaschen aus — an dem Frack, den er hervorholte, waren Vorhemdchen und Manschetten angenäht — die eine Hand zog Lackschuhe an, die andere Hand vertauschte die Perücken — ein Sprung vor den Spiegel, mit den Fingern im Gesicht massierende Bewegungen gemacht — — und plötzlich stand da ein süßlich lächelnder Kellner, welcher mit dem hageren Jockei auch nicht die geringste Aehnlichkeit mehr hatte!
Doch das sollte man gar nicht beschreiben, denn die Beschreibung nimmt viel länger Zeit in Anspruch, als dieser Mann zu so einer Verwandlung nötig hatte.
Es war auch die höchste Zeit gewesen, denn da meldete sich schon Jochen Puttfarken mit seinem Gefolge an, obgleich er sich noch auf der Hauptstraße befand.
Wie nun, wenn Jochen Puttfarken jetzt gleich mit Mr. Mojan zusammentraf und von diesem — wenigstens versuchsweise — als Mr. Nobody angeredet wurde, ohne daß Nobody dabei war?
Man darf wohl glauben, daß dieser geborene Schauspieler und Regisseur, welcher die Stellen, auf den seine Puppen zu stehen hatten, mit Papierschnitzeln und Streichhölzern markierte, auch an so etwas gedacht hatte. Es hätte nichts geschadet. Zur eigentlichen Zusammenkunft wäre es doch nicht eher gekommen, als bis Nobody wieder die Leitung übernehmen konnte.
Doch zu dieser frühzeitigen Begegnung sollte es nicht kommen.
Jochen Puttfarken hatte an der Spitze seines vierbeinigen Gefolges das Gartentor mit der Portiersloge erreicht.
»Hat mein Diener, der Jockei, mich schon angemeldet?« fragte er von oben herab.
Es wäre gar nicht nötig gewesen, daß der Hotelier, von dem fürchterlichen Gebrüll herbeigelockt, zur Stelle war. Jetzt wußte er natürlich sofort alles. Er verbiß sein aufsteigendes Lachen und nahm den krummbeinigen Nasenkönig in Empfang.
Dieser verabschiedete sich gar nicht erst von seinen Eseln, kümmerte sich auch gar nicht um die Herren, mit denen er gewettet hatte, er überließ ihnen die Bezahlung der Eseljungen und alles andere, und das mit Recht, er ignorierte auch die Hotelgäste, welche herbeiströmten, um zu staunen und heimlich zu lachen — er folgte sofort dem Hotelier.
Als Mr. Mojan und Marguérite aus der ziemlich weit entfernten Laube herbeigeeilt kamen, um sich über das furchterweckende Gebrüll Aufklärung zu verschaffen, sahen sie nur noch die vielen Esel, konnten sich den ganzen Spaß erzählen und das originelle Kerlchen beschreiben lassen.
»Das war kein anderer als Mr. Nobody!!« rief Mr. Mojan sofort.
Die Hotelgäste kannten den alten Sonderling ja schon zur Genüge, und es mußte ein Neuling oder ein sehr beschränkter Mensch sein, der ihn noch ausdrücklich darauf aufmerksam machte, es wäre ein sehr, sehr kleiner Mann mit fürchterlich krummen Beinen gewesen.
»Warum soll Mr. Nobody nicht krumme Beine haben?«
»Er hatte kolossale Ohren und eine noch kolossalere Nase.«
»Warum soll Mr. Nobody nicht einmal kolossale Ohren und eine noch kolossalere Nase haben?« verteidigte Cerberus Mojan den, den er bewunderte.
»Jawohl, ich glaube auch, es war Mr. Nobody,« versicherten dagegen jene, welche wußten, daß ein Narr mehr fragen kann, als zehn Kluge zu beantworten wissen, und sie machten sich weiter über den merkwürdigen Kauz lustig.
Und Mr. Mojan sollte denn auch recht behalten — in seinem Glauben. Der Herr Hotelier selbst brachte ihm eine kuvertierte Karte, welche ihn an das Ziel seiner Wünsche führte, und der Hotelier selbst geleitete ihn auch zu dem sehnlichst Erwarteten.
Beim Betreten des Appartements nahm er diesmal sogar seinen Hut ab, hing ihn mit Nichtbeachtung aller seiner Jagdtrophäen auf dem Korridor an einen Nagel. Der gute Mann hatte einen triftigen Grund, daß er so ungern sein Haupt entblößte: dieses glänzte durch Abwesenheit sämtlicher Haare.
Jochen Puttfarken empfing den Bestellten wieder in seiner unnahbaren Cäsarenstellung, die wir schon einmal an ihm beobachtet haben — das krumme Bein mit dem quadratischen Lackschuh elegant vorgesetzt, die rechte Hand im Westenausschnitt.
»Mr. Mojan?« fragte er mit stolzer Herablassung.
»Cerberus Mojan, Schmieröl Schwefel Schokolade,« schnarrte der dicke Engländer gewohnheitsmäßig herunter. »Mr. Nobody?«
»Bin ich.«
Wieder war es seine unnachahmliche Bewegung, mit welcher das kleine Krummbein auf einen Stuhl deutete.
»Nehmen Sie Platz!«
Der Engländer tat es, Puttfarken setzte sich ihm gegenüber, und da der Stuhl für einen normalen Menschen berechnet war, so baumelten seine kurzen Beinchen in der Luft.
Eine Pause entstand. Mr. Cerberus Mojan war von Natur etwas spleenig veranlagt und hatte sich einmal in Afrika einen tüchtigen Sonnenstich weggeholt, aber dumm war er nicht etwa! Die Sache kam ihm nicht recht geheuer vor. Daß er wirklich sehr kurzsichtig war, hatte man vorhin gemerkt, als er die Karte gelesen hatte, aber diese krummen Beine, diese ungeheuren Ohren und vor allen Dingen diese gewaltige Nase seines Visavis konnten ihm nicht entgehen.
»Sie denken wohl, ich bin gar nicht der Nobody, weil Sie mich so mißtrauisch ankieken?« fing da dieses Visavis mit einem Male an.
»O, mein Herr...«
»Sie denken wohl, weil ich eine so große Nase habe?«
»Allerdings, ich habe Sie auf Bildern schon in vielen Ihrer Charaktermasken gesehen, aber ich dachte, Sie veränderten Ihre Gesichtszüge nur immer in natürlicher Weise, ohne Kunstmittel zu Hilfe zu nehmen.«
»Kunstmittel?«
»Diese Nase ist doch von Wachs.«
»Wachs? Greifen Sie mal die Nase an, ob die von Wachs ist.«
Und Puttfarken beugte sich vor, Mr. Mojan beugte sich ebenfalls vor und nahm den dargebotenen Nasenzinken zwischen die Finger — und er wollte es nicht glauben, daß er wirklich Fleisch fühle, er brachte seine kurzsichtigen Augen ganz dicht daran...
»Nee, nee, nee, nee,« rief Jochen erschrocken und zog seinen Nasenkolben schleunigst zurück, »anfühlen können Sie meine Nase, aber neinbeißen dürfen Sie nicht!«
Neben der Tapetentür hinter der Portiere stand Nobody und beobachtete alles.
Wir haben diesen Mann schon als einen sehr heiteren Charakter kennen gelernt, lachte er doch auch gern und dann aus vollem Herzen, auch er konnte lachen, daß ihm die Tränen über die Wangen rannen. Jetzt aber durfte er nicht lachen, um sich nicht zu verraten, und so zuckte in seinem Gesicht keine Muskel, aber was in ihm vorging, als er so sah, wie der Engländer die mächtige Nase betastete, und wie Puttfarken sein Eigentum so erschrocken zurückzog, weil er glaubte, jener wolle zur Probe hineinbeißen — das verriet er dadurch, wie er den Oberkörper leicht zusammenkrümmte. Das durfte er ja auch tun, dadurch wurde seine Anwesenheit nicht verraten.
»Das ist wirklich Fleisch?«
»Was dachten Sie denn sonst?«
Mr. Mojan schlug den Rock zurück und zeigte sein Arsenal von Insektennadeln.
»Darf ich wenigstens mal hineinstechen?«
»Nu nee! Nu nee!!« rief Puttfarken wieder erschrocken, schützend die Hand vor seinen Rüssel haltend.
»Tut denn das weh?«
»Na, ich will mal in Ihre Nase stechen, ob das nicht weh tut!«
»Aber das ist doch nicht Ihr eigenes Fleisch.«
»Nich? Na, denken Sie denn etwa, ich habe mir eine Schweinsroulade ins Gesicht gebunden?!« rief Puttfarken empört.
»Ja aber... aber... Sie haben doch sonst, wie ich auf Bildern gesehen habe, eigentlich eine kleine Nase, Sie zeigten sich doch auch oft als Dame... wie machen Sie denn das da?«
»Wie ich das mache? Ganz einfach. Sie haben doch schon so einen kleinen Ballon gesehen, aus dünnem Kautschuk, man bläst ihn auf...«
»Jawohl, und hinten ist eine Fiebe dran, und wenn man die Luft wieder herausläßt, dann fiebt's.«
»Ganz richtig. Sehen Sie, genau so kann ich auch meine Nase aufblasen und aus ihr dann wieder die Luft herauslassen... nur daß es dabei nicht fiebt.«
»Was Sie nicht sagen!« rief Mr. Mojan, machte dabei aber ein sehr ungläubiges Gesicht.
»Sie glauben's wohl nicht?«
»Ach, bitte, machen Sie mir das doch einmal vor!«
»Das geht nicht. Das heißt jetzt nicht. Unter dieser Maske bin ich nach Kairo gekommen, und ich will sie beibehalten. Das geht nämlich nicht so schnell, dazu brauche ich fast einen Tag. Aber etwas anderes will ich Ihnen zeigen — hier, können Sie das auch?«
Puttfarken steckte die Zunge heraus, packte sie mit der Hand, zog sie weit heraus, noch etwas weiter, und ließ sie wieder zurückschnellen. Zehn Zentimeter weit hatte er sie mindestens herausgezogen, und das will etwas heißen.
»Sehen Sie, bei mir ist alles Kautschuk.«
Ja, Nobody hatte diesen Matrosen, den er einmal in einer fremden Hafenstadt zwischen Kollegen als Kautschukmann sich produzieren sah, nicht umsonst für seine Jacht engagiert, hatte es sich nicht umsonst viel Zeit und viel Geld kosten lassen, um Jochen Puttfarken, dessen Namen er aber noch gar nicht gekannt hatte, wieder aufzufinden, um ihn an sich zu fesseln.
Und dann krümmte sich der heimliche Beobachter wieder etwas, was er wohl anstatt des Lachens tat.
Wie gesagt, es ist sehr viel, wenn man die Zunge 10 Zentimeter weit aus dem Munde herausziehen kann, da könnte man gleich von einer Elle sprechen. Mr. Mojan war denn auch zuerst sprachlos vor Staunen, wie jener das Experiment mehrmals wiederholte, seine Zunge wie ein Gummiband hervorzog und mit einem hörbaren Schnappen zurückschnellen ließ.
»Alles Kautschuk, bei mir ist alles Kautschuk.«
Jetzt kam aus Mr. Mojans immer geöffnetem Rachen die rote Zunge zum Vorschein. Er packte an und zog daran... es ging nicht.
»Bitte, Mr. Nobody, darf ich einmal an Ihrer Zunge ziehen?«
»Ja, aber sie nicht herausreißen,«
»O nein.«
»Und nicht hineinstechen und auch nicht hineinbeißen.«
Hinter der Portiere krümmte sich Nobody zu einem rechten Winkel zusammen, wie jetzt Puttfarken dem dicken Engländer die lange Zunge herausreckte, wie dieser sie vorsichtig anpackte und sie langsam herauszog, immer weiter und weiter aus dem Halse heraus...
»Oäh — oäh — oäh,« machte Puttfarken, und da ließ Mr. Mojan die malträtierte Zunge wieder zurückschnellen.
»Na, hören Sie mal, Sie denken wohl, meine Zunge ist ein Bandwurm ohne Ende?«
»Ist das wirklich Ihre Zunge?«
»Wem seine denn sonst? Ich habe doch keinem anderen seine Zunge im Halse? Wollen Sie sonst noch einen Beweis, daß ich wirklich Nobody bin?«
»Ach ja, machen Sie mir doch das einmal vor, wie Sie einen Billardball mit einem Faustschlag zerschmettern.«
In diesem Augenblick hatte Nobody plötzlich drei verschieden gefärbte Billardkugeln in der Hand, und er schien noch mehr bei sich zu haben, er hatte noch die Hand in der Tasche.
»Wie Sie wünschen. Haben Sie gleich einen mitgebracht?«
»Nein, das habe ich nicht.«
Sofort verschwanden die drei Elfenbeinkugeln wieder in Nobodys Tasche, geräuschlos öffnete er die Tapetentür, blieb aber noch lauschend stehen.
»Dann lassen Sie einen vom Kellner besorgen oder mehrere, treffen Sie die Auswahl, damit Sie nicht etwa denken, ich habe den Kellner bestochen, klingeln Sie auch selbst, ich will gar nichts damit zu tun haben.«
»O, Mr. Nobody, daß Sie es können, ist doch schon zur Genüge bekannt, ich möchte es nur gern selbst einmal...«
»Na, klingeln Sie nur, dort an der Tür ist die Klingel.«
Gut, Mr. Mojan stand auf und ging nach der Tür, klingelte und Nobody verschwand durch die Tapetentür.
Vom Korridor aus betrat er das Zimmer als der gerufene Kellner.
»Die Herren haben geklingelt?«
»Besorgen Sie mir eine elfenbeinerne Billardkugel,« sagte der Engländer.
»Sehr wohl, mein Herr.«
Da Nobody doch einige Minuten verstreichen lassen mußte, ging er einstweilen, den Weg natürlich durch den Korridor nehmend, wieder auf seinen Lauscherposten hinter die Portiere.
Besonderes zu hören gab es allerdings einstweilen nichts. Puttfarken war sehr genau instruiert, er fragte, wie lange Mr. Mojan sich schon hier in Kairo aufhalte, ob er schon früher in Aegypten gewesen sei — — und das währte ja auch nur zwei Minuten, so trat der Kellner wieder ein, einen Kasten mit drei Billardbällen bringend, unter dem Arm ein dickes Buch.
»Hier sind die drei französischen Billardbälle. — Bitte, mein Herr,« wandte er sich dann an Puttfarken, ihm das Buch auf den Tisch legend, auf welchem ein Schreibzeug stand, »wollen Sie sich gleich in das Fremdenbuch eintragen.«
Das war ein ganz raffinierter Kniff, selbst wenn er bei diesem leichtgläubigen Engländer ganz überflüssig war. Hierdurch legitimierte sich Nobody als ein in diesem Hotel angestellter Kellner, hierdurch wäre auch jeder andere getäuscht worden.
Doch bei Mr. Mojan war so etwas gar nicht nötig. Während Puttfarken sich und seinen Groom in das Buch — gleichgültig, ob dies nun das wirkliche Fremdenbuch war oder nicht — eintrug, nahm jener die drei Billardkugeln zur Hand. Sie waren alle weiß, nur durch schwarze Punkte markiert, und zwar waren es tadellose Elfenbeinbälle.
Der Kellner entfernte sich wieder mit dem Fremdenbuche und... stand natürlich wieder auf seinem Posten hinter der Gardine.
»Nun, sind es wirklich Elfenbeinkugeln? Sie haben doch keine Sprünge? Das frage ich nämlich auch deshalb, weil ich bei einem Balle, der schon einen Sprung hat, leicht einmal meine Hand verletzen kann.«
So hielt Puttfarken den Engländer noch eine Minute hin, bis er genau wußte, daß er wieder seinen Herrn und Meister hinter sich hatte.
»Die sind noch ganz neu.«
»Welchen soll ich denn zerschmettern?«
»Irgend einen. Diesen hier.«
»Diesen? Gut. Stellen Sie sich etwas hier zur Seite, daß Sie nicht von den Splittern getroffen werden. Jawohl, dorthin.«
Puttfarken hatte den Engländer etwas zurückgedrängt, freilich nur ganz sanft, und dies war der Augenblick, in welchem Puttfarken den Ball, den er in der Hand hielt, mit einem anderen vertauschte.
Denn vertauscht mußte der Elfenbeinball mit einer präparierten Kugel werden! Trotz seiner sonstigen Kraft, und trotz seiner gewaltigen Fäuste konnte es Zwergnase nicht seinem Herrn nachtun, wie dieser einen Elfenbeinball mit einem Schlage zu zerschmettern.
Die Vertauschung geschah auf eine höchst einfache Weise. Aber nicht etwa, daß Puttfarken diesen Ball in die Tasche steckte und einen präparierten dafür aus dem Aermel oder sonstwoher rutschen ließ. Das wäre das allerplumpste Manöver gewesen... oder aber das allerschwerste, was nur die geübte Hand des geschulten Taschenspielers fertig bringt. Soll einmal jemand auf diese Weise zwei Billardbälle vertauschen, ohne daß es der vor ihm Stehende merkt, mag dieser auch sehr kurzsichtig sein.
Nein, der Trick wurde in viel einfacherer Weise ausgeführt. Freilich, von der anderen Seite aus betrachtet, in einer ganz raffinierten Weise. Ein Mitspieler mußte doch ein Eskamoteur sein oder wenigstens eine besondere Geschicklichkeit besitzen.
Puttfarken stand dicht neben dem Diwan, der nach orientalischer Sitte mit vielen Kissen belegt war. Wie er nun mit der rechten Hand den Ort andeutete, wohin Mojan sich begeben sollte, und dieser sich ganz naturgemäß etwas nach der bezeichneten Richtung umdrehte, schob Puttfarkens linke Hand die Billardkugel unter solch ein Kissen, legte dieselbe Hand, die Finger etwas gekrümmt, auf den Rücken, und in demselben Augenblick kam hinter der Portiere hervor eine weiße Billardkugel geflogen und hatte sich zwischen Puttfarkens Finger festgeklemmt.
Wie gesagt, in einer einzigen Sekunde war der Austausch geschehen. Allerdings hatte dazu ein Mann gehört, welcher mit solch absoluter Sicherheit zu werfen verstand. Das Fangen war Nebensache, der Ball klemmte sich gleich zwischen den griffbereiten Fingern fest. Und wäre er nicht gefangen worden, so wäre er eben hinter Puttfarkens Rücken zu Boden gefallen, dann hätte er eben den Elfenbeinball fallen lassen, er hätte ihn wieder aufgehoben.
Nur auf diese Weise wäre der Austausch sogar geglückt, auch wenn Mojan seinen eigenen Billardball mitgebracht hätte. Denn Nobody hatte präparierte Bälle von allen Farben bei sich, und das andere ging so schnell, daß der Engländer gar keine Zeit fand, eine nochmalige Untersuchung anzustellen.
»Sehen Sie hier...« Puttfarken ahmte die Bewegungen Nobodys nach, »eins — zwei — drei — bruch! Da haben Sie die Brühe zum Kloße!«
Die Kugel war zu Staub zermalmt. Gleichgültig, aus was für Substanz sie zusammengeleimt gewesen — der Engländer hätte die Splitterchen getrost untersuchen können, er wäre nicht auf den Verdacht gekommen, daß es nicht sein Elfenbeinball gewesen sein könne. Aber er dachte gar nicht an solch eine Untersuchung.
»Fabelhaft! Phänomenal!« staunte er.
»Nun, Mr. Mojan,« begann Zwergnase jetzt sofort mit erkünstelter Gleichgültigkeit, »Sie wollten also von mir den spiritistischen... spiritistischen... den spiritistischen...«
Himmelsakra!! Bisher hatte er seine Sache so gut gemacht, dessen war sich Jochen wohlbewußt, und jetzt fiel ihm dieses Malefizwort nicht ein, obgleich es ihm der Master wohl hundertmal auf der Eisenbahn vorgesagt und er es nachgesprochen hatte.
»... den spiritistischen...«
Zwergnase fiel aus der Rolle, er warf nach der Portiere, hinter der er seinen Herrn und Meister wußte, einen ängstlichen, hilfeflehenden Blick — — und siehe da, da hatte er das gesuchte Wort auch sofort auf der Zunge!
»Sie wollten also von mir den spiritistischen Abtritt lernen?«
Der befrackte Kellner hinter der Portiere knickte etwas in den Kniekehlen zusammen.
Machte dieser unglückselige Kerl jetzt aus dem spiritistischen Apport einen spiritistischen Abtritt!! Und da hatte er ihn nun stundenlang instruiert! Himmel, hast du keine Flinte! »Einen... was?« fragte denn auch Mr. Mojan erstaunt.
Jetzt aber wurde Jochen Puttfarken unangenehm! Erst hatte er so lange über das fehlende Wort nachgegrübelt, hatte sich dabei fast die Zunge abgebrochen, und nun wollte ihn dieser Mensch auch noch nicht einmal verstehen.
»Einen spiritistischen Abtritt!!« schnauzte er ihn an. »Wissen Sie nicht, was das ist?! Sie wissen wohl überhaupt gar nicht, weswegen Sie hierhergekommen sind?«
»Mr. Nobody meinen wohl den spiritistischen Apport?« lenkte der alte Engländer sehr höflich ein.
Möglich, daß Jochen Puttfarken den begangenen Fehler einsah und dachte, wenn er einmal A gesagt hatte, müsse er nun auch B sagen; möglich, daß er wirklich glaubte, recht zu haben, daß er der Sache eine ganz andere Bedeutung gab, daß er einen spiritistischen ›Apport‹ von einer anderen Seite betrachtete — jedenfalls wußte er sich auf eine feine Weise aus der Patsche wieder herauszuhelfen.
Zuerst setzte er das linke Säbelbein vor, dann steckte er die rechte Tatze in den Westenausschnitt, hierauf warf er den Kopf mit dem Elefantenrüssel zurück und sagte gelassen von oben herab:
»Meinetwegen nennen Sie es einen spiritistischen Abort — meinetwegen nennen Sie es ein spiritistisches Wasserklosett — ich nenne es einen spiritistischen Abtritt, und ich dächte, meine Bezeichnung wäre an dieser Stelle maßgebend. Was? Wie? He?«
Der Engländer war durch dieses Auftreten und dadurch, daß er gar nicht verstand, was jener eigentlich meinte, so bestürzt, daß er nicht wußte, was er sagen sollte.
»Na, was wollen Sie nun sehen,« nahm Puttfarken in gemütlicherem Tone wieder das Wort, »Ihren spiritistischen Abort oder meinen spiritistischen Abtritt?«
Hoffnungsfreudig blickte Mr. Mojan wieder auf.
»Genau so einen, wie Sie dem Sir Clane geliefert haben?«
»Ganz genau denselben.«
»Hier in diesem Zimmer?« fuhr der alte Spiritist immer freudiger fort.
»Na, wo denn sonst? Sie dachten wohl, ich ließe mir dazu erst eine große Kirche bauen?«
»Ach bitte, bitte, machen Sie mir das einmal vor, liefern Sie mir einen spiritistischen...«
»Na ja, ich sag's doch, ich will's ja tun, Männchen, beruhigen Sie sich man bloß — aber, wohlverstanden, ich liefere Ihnen einen Abtritt und keinen Abort oder wie Sie es sonst nennen. Haben Sie 'nen Ring anstecken? Ziehn Sie'n ab! Und daß Sie nicht etwa denken, ich will Sie bemogeln. Das kann ich nicht vertragen. Ich bin hier zum ersten Male in diesem Hotel, kenne kein Luder. Hier,« Puttfarken nahm von der Wanddekoration eine lange Lanze herab, »hier haben Sie einen Spieß, stochern Sie damit unter die Schränke, und wenn Sie einen Kerl drunter finden, den stechen Sie in Gottes Namen tot, die Verantwortung übernehme ich!«
Mr. Mojan verzichtete aus Höflichkeit auf eine Untersuchung. Er hatte auch nichts gefunden, Nobody stand schon im Rahmen der Tapetentür.
Die Einleitung zu diesem Experiment war ganz genau dieselbe wie die, welche damals Nobody bei Sir Clane gebraucht hatte. Es kamen sogar sehr oft genau dieselben Fragen und Antworten dabei vor.
Puttfarken ließ sich von dem Engländer ein Stückchen Papier geben, hauchte dieses auf beiden Seiten an und legte es auf das Tischchen, welches zwischen den beiden Fenstern stand. Dann nahm er anstatt des hölzernen Lineals die Lanze, magnetisierte den Schaft durch streichende Bewegungen — wenigstens tat er so, aber der ihn scharf beobachtende Mojan stellte wirklich dieselbe Frage wie damals der Rechtsanwalt, und Puttfarken bestätigte natürlich immer, jawohl, jetzt magnetisiere er den Schaft — dann berührte er mit dem Ende desselben das Papier, fuhr über den Tisch bis an den Rand, am Tischbein hinab und dann weiter über den Teppich hinweg nach der Tür zu.
»Das ist der magnetisierte Weg, welchen der Ring nehmen wird?«
»Nu allemal.«
»Er kriecht diesen vorgeschriebenen Weg am Boden entlang?«
»Nu ganz sicher. Das heißt — manchmal kriecht er, manchmal fliegt er. Jetzt stelle ich mich also hierher und sage keinen Mucks mehr. Nun legen Sie Ihren Ring dort auf das Papier und kommen Sie ebenfalls hierher.«
Der Engländer tat es, legte seinen Siegelring auf das Papier und ging hin.
Es war die durch das Streichholz markierte Stelle, auf die sich Puttfarken stellte, und den Engländer dirigierte er so, daß er auf dem kleinen Papierschnitzel zu stehen kam. Puttfarken wendete der Tür den Rücken, blickte also nach dem Tischchen mit dem Ringe, Mojan drehte diesem den Rücken zu. Demnach wurde es jetzt also anders, als Nobody es bei Sir Clane ausgeführt hatte. Der ganze Apport sollte überhaupt anders werden. Nobody hatte sich doch beide Hände festhalten lassen und hatte dann den Ring plötzlich in der Hand gehabt. Puttfarken erzielte einen anderen Erfolg, aber nicht minder verblüffend.
Puttfarken nahm, ohne seine Stellung zu verändern, mit ausgestrecktem Arm von einem Spiegelkonsol eine gläserne Urne, bedeutend größer als ein Wasserglas, oben mit weiter Oeffnung, und hielt diese mit beiden Händen in Brusthöhe vor sich hin.
»Legen Sie Ihre Hände ebenfalls an diese Urne.«
Mr. Mojan tat es, berührte ohne Aufforderung mit den Fingerspitzen Puttfarkens Hände.
»Jetzt stellen wir die magnetische Kette her, nicht wahr?«
»Nu allemal, das ist die magnetische Kette. Wollen Sie sich nun erst noch einmal umsehen, ob Ihr Ring auch wirklich noch auf dem Tische liegt?«
Ein jäher Schreck durchzuckte ihn! Schnell hatte sich Mojan umgedreht und war nach dem Tische geeilt!
Himmel Herrgott, wenn jetzt Nobody schon...
Er war unnötig erschrocken. Allerdings hatte Nobody schon wieder hinter der Portiere gestanden, hinter welche Mojan, wenn er am Tisch stand, blicken konnte, aber Nobody war eben nicht der Mann, der sich überraschen ließ.
In dem Moment, da Mojan nur den Fuß zum ersten Schritte hob, war Nobody auch schon hinter der Tapetentür verschwunden!
Der kurzsichtige Engländer beachtete aber die Portiere überhaupt gar nicht, er ging nur an den Tisch, berührte fast mit der Nase den Ring und kam wieder zurück — und da befand sich auch Nobody schon wieder im Zimmer.
»Ist er noch da? Ja? Das freut mich. Nun passen Sie auf — packen Sie wieder den Glastopf an — so — so ist es recht — eins, zwei, drei — allez, marchez, hoppala!!«
Klirr — der Ring lag in der Glasurne. Er war von oben durch die Luft geflogen gekommen.
Mr. Mojan nahm ihn, brachte ihn dicht ans Auge, steckte ihn an den Finger — es war sein Ring! — und wie er an den Tisch eilte, konnte der Ring dann natürlich nicht mehr daliegen.
Wie das geschehen war, das bedarf wohl keiner näheren Erklärung. In dem Augenblick, als sich der Engländer wieder umdrehte und die Urne anfaßte, als Jochen zu zählen begann, hatte sich Nobody hinter der Gardine vorgebeugt, vom Tisch den Ring genommen und ihn mit einer ganz eigentümlichen, langsamen Handbewegung in großem Bogen über des Engländers Kopf hinweg direkt in die Urne geworfen.
Solch ein Werfen will freilich gelernt sein! Was dazu für eine Berechnung und sonst noch alles gehörte! Die Entfernung betrug mindestens vier Meter, und Nobody konnte die Urne überhaupt gar nicht sehen! Puttfarken mußte nur durch den gläsernen Boden nach einer bestimmten Stelle des gemusterten Teppichs visieren, daß sich die Urne genau über diesem Punkte befand. Alles andere besorgte dann sein unsichtbarer Hexenmeister.
Doch um eine derartige Gewandtheit und Berechnung zu beobachten, deshalb braucht man nicht nach China oder Indien zu gehen. Derartiges bringen unsere europäischen Jongleure auf der Bühne auch fertig.
Bewundernswerter war hierbei eigentlich diese ruhige Schnelligkeit und diese Zeitberechnung, mit welcher Nobody seine Manipulationen ausführte. Das mußte alles bis auf den Moment, bis auf den Bruchteil eines Momentes abgepaßt sein, wollte er der Möglichkeit vorbeugen, durch einen Zufall entlarvt zu werden.
Dieser Eskamoteur wußte ganz genau, was jener Mann in dem gegebenen Augenblick dachte — jetzt will er wieder die Urne anfassen, dieser Entschluß geht von seinem Gehirn aus, also kann er jetzt nicht daran denken, sich umzudrehen — und da hatte Nobody auch schon den Ring in seiner Hand und ließ ihn in hohem Bogen durch die Luft fliegen — und wie der Ring über den Köpfen der beiden schwebte, da war Nobody auch schon wieder verschwunden.
Nun dürfte mancher Leser fragen, und das mit Recht: ja, aber wer hat denn damals in dem Zimmer von Sir Clane Nobody den Ring in die Hand gespielt, welche doch auch noch von Sir Clanes Händen festgehalten wurde?
Das hatte Nobody eben wieder auf eine ganz andere Weise gemacht! Er hätte auch jetzt seinem Gehilfen den Ring auf eine ganz andere Weise zukommen lassen können, hätte den Ring ihm ebenfalls direkt in die geschlossene Hand praktizieren können!
Wir werden uns später noch einmal mit indischen und chinesischen Gauklern zu beschäftigen haben, und nur eines soll jetzt erwähnt werden: kein orientalischer Gaukler zeigt dem Publikum irgend ein Kunststück, welches er mit dem gleichen Endresultat nicht auf die ganz verschiedensten Weisen ausführen kann!
Das ist nämlich der Witz, wodurch diese orientalischen Gaukler so zu blenden verstehen, daß auch der nüchternste Zuschauer förmlich gezwungen wird, an eine übernatürliche Kraft des Experimentierenden zu glauben. So ein nackter Kerl macht einem etwas vor — man lächelt, man paßt auf — er führt dasselbe Kunststück zum zweiten Male aus — jetzt, denkt man, weiß man es, wie der Hokuspokus zustande kommt — da macht er es zum dritten Male, und man steht da wie vor den Kopf geschlagen, denn der Gaukler hat gerade das, worauf man gelauert hat, nicht getan!
Dann allerdings haben diese Gaukler noch ihre ganz besonderen Kniffe und Hilfsmittel — Hilfsmittel, welche sich nur in ihrer heißen Heimat bewähren, in kalten Gegenden versagen, weshalb auch ein indischer Fakir vergebens nach Europa kommen würde, um hier seine scheinbar übernatürlichen Künste zu zeigen. Doch davon also später mehr. —
Kurz und gut, das Experiment war geglückt, es wäre auch ohne die zufällig entdeckte Tapetentür geglückt, dann hätte Nobody eben ein anderes Mittel gefunden, um sich unsichtbar zu machen.
Mr. Mojan stand wie vom Donner gerührt da und sperrte — mit Respekt zu sagen — Maul und Nase auf, und das erstere sperrte er ja auch wirklich auf, und zwar ungewöhnlich weit. Ein Brummer hatte sich hinein verirrt und summte in dem Rachen herum, und der Fliegenjäger vergaß, ihn zu fangen. Ein Sperling hätte in dem aufgerissenen Munde sein Nest bauen können, und Mr. Mojan hätte es auch nicht gemerkt.
Jochen Puttfarken aber setzte das linke Säbelbein vor, steckte die rechte Pfote in den Westenausschnitt, warf den Kopf zurück und sagte gravitätisch:
»Sehen Sie, das war mein spiritistischer Abtritt! Nun machen Sie's mal nach.«
Da endlich kam wieder Leben in den Erstarrten.
»Wie machten Sie das? Wie erlangten Sie diese übernatürlichen Kräfte? Wie haben Sie sich dazu ausgebildet?« rief er außer sich.
»Das will ich Ihnen sagen. Wissen Sie, was... was... wissen Sie, was...«
Himmeldonnerwetter, jetzt fiel ihm wieder so ein vermaledeites Fremdwort nicht ein, was sein Herr und Meister ihm beigebracht hatte, und das war jetzt unbedingt nötig!
Wieder warf er einen ängstlichen, hilfeflehenden Blick nach der Portiere, aber von dorther kam ihm keine Unterstützung.
»Wie meinen Sie, Mister Nobody?«
Halt, auf die ersten beiden Silben konnte er sich wenigstens ungefähr besinnen!
»Wissen Sie, was... was... Schoko... Schokola... nein, Schokolade war's nicht, aber so ungefähr klang's, wissen Sie, was... was... was Yokohama ist?« platzte der verzweifelte Jochen jetzt heraus.
»Ah, Sie meinen Yoga, das indische Yoga?!« rief Mr. Mojan erfreut.
»Jawohl, Yoga!« wiederholte Jochen Puttfarken nicht minder erfreut. »Wenn ich Yokohama sage, dann meine ich allemal Yoga. Wissen Sie, was das ist?«
»Gewiß. Yoga nennen die indischen Fakire die körperlichen Uebungen, durch welche sie ihre Willenskraft und seelischen Fähigkeiten ausbilden.«
»Ja, da haben Sie's! Hier, das ist Yoga.«
Und Jochen Puttfarken griff noch einmal in sein Maul, packte die Zunge, zog sie so weit hervor, daß er sie hätte über den Kopf legen können, und ließ sie mit einem hörbaren Schnappen wieder zurückschnellen.
»Können Sie das auch?«
Mr. Mojan probierte es nochmals, prüfte das eigene Geschmacks- und Leckorgan auf seine Dehnbarkeit, nahm sogar beide Hände zu Hilfe, wickelte sogar sein Taschentuch um die Zunge, allein sie wollte sich nicht herausziehen lassen.
»Na, sehen Sie. Das müssen Sie erst können, dann werden wir weiter über den spiritistischen Abtritt reden. Oder können Sie wenigstens das?«
Puttfarken zog sein rotes Taschentuch, nicht zu dem Zwecke, um sich die Nase zu putzen, aber da er gerade das Bedürfnis hatte, so tat er es, und das Bedürfnis war ein sehr großes gewesen, und das war doch keine irdische Nase, Puttfarken trompetete wie ein zum Zorne gereizter Elefant, trompetete noch einmal, daß die Fensterscheiben klirrten, und wie er sich ausgetrompetet hatte, warf er dieses Taschentuch an den Boden, stellte sich dahinter, aber den Rücken dem Tuche zu, daß es fast seine Hacken berührte, beugte sich hintenüber, immer tiefer und tiefer, bis sein Kopf die Hacken berührte und er mit dem Munde das Taschentuch aufhob.
Aber nicht genug hiermit — in dieser unnatürlichen Stellung begann der Schlangenmensch den Lappen auch noch aufzufressen, und er beharrte mit dem Kopfe am Boden, bis das große, rote Taschentuch vollständig in seinem Munde war.
Mit ehrfurchtsvollen Augen betrachtete Mr. Mojan diesen Vorgang.
»Ja, ich weiß, ich weiß,« murmelte er, »das ist das indische Yoga, auf diese Weise bildet man seine Seele bis zur höchsten Entwickelung aller Kräfte aus.«
Langsam hatte sich Puttfarken wieder aufgerichtet und brachte das delikate Taschentuch, mit dem er seine Seele ausgebildet hatte, aus dem Munde wieder zum Vorschein. Bei der langen Rückenbeuge hatte sich abermals das Bedürfnis des Schnäuzens eingestellt, und so benutzte er das Taschentuch zunächst nochmals zu dem Zwecke, zu welchem ein Taschentuch für gewöhnlich bestimmt ist — er trompetete wieder mit Macht.
»Na, können Sie das? Machen Sie's mal nach.«
Schön, Mr. Mojan war bereit dazu, er stellte sich breitbeinig in Positur, reckte den dicken Schmerbauch so weit wie möglich heraus... aber weiter ging die Rückenbeuge nicht.
»Muß man das wirklich können, ehe man zum spiritistischen Apport... zum spiritistischen Abtritt fähig ist, wollte ich sagen?«
»Nu freilich. Yoga, mein lieber Mann, Yoga, egal Yoga machen! Können Sie denn wenigstens das?«
Puttfarken kauerte sich nieder, stemmte die Hände gegen den Boden, hob die krummen Beine in die Luft und begann so im Zimmer herumzulaufen und andere Exerzitien anzustellen. Er konnte als Parterregymnastiker wirklich etwas leisten, ein Zirkus hätte ihn bei Bedarf sofort engagiert. Schon dieser Handstand aus der Kniebeuge ohne Abstoß ist eine schwere Sache, und nun kletterte er auch noch auf diese Weise auf einen Stuhl und von diesem auf den Tisch, spazierte auf diesem herum, tanzte auf den Händen und ging vom Tisch mit einem eleganten Sprung wieder ab und auf seine zwei Beine.
»Können Sie wenigstens auf den Händen laufen? Wenn Sie das können, dann können wir erst vom spiritistischen Abtritt sprechen.«
Mr. Mojan wollte es einmal probieren; also der dicke Kerl kauerte nieder, hob das eine Bein, quirlte damit in der Luft herum und stöhnte dabei.
»Höher, höher!« kommandierte Puttfarken.
Der schwitzende Engländer quirlte mit dem Beine noch höher in der Luft herum.
»Aber nun das andere Bein auch hoch!«
Gut. Mr. Cerberus Mojan stellte das eine Bein wieder hin und quirlte dafür mit dem anderen in der Luft herum.
Hinter der Portiere stand Nobody und krümmte sich wie ein Wurm.
»Nee, nee, so war das nicht gemeint,« sagte Puttfarken. »Alle beide Beine müssen hoch. Geben Sie sich mit dem linken einen kräftigen Abstoß!«
Mr. Cerberus befolgte die Anweisung, gab sich einen kräftigen Abstoß — wirklich, jetzt hatte er beide Beine vom Boden abbekommen... plautz! da lag er auf dem Bauche und zappelte mit Armen und Beinen — gerade wie eine auf den Rücken gedrehte Riesenschildkröte.
Er stand wieder auf, was er ohne Hilfe konnte, nur daß er dabei längere Zeit auf einem Beine balanzieren mußte, bis er das Gleichgewicht wiederhatte, und wischte sich den triefenden Schweiß vom Gesicht.
»Ja, das nennt man Yoga,« ächzte er. »Mr. Nobody, Sie sind ein Guru.«
Weiß der liebe Himmel, was für eine Bedeutung Jochen Puttfarken diesem ihm fremden Worte ›Guru‹ gab.
Plötzlich reckte er den Kopf aus dem hohen Stehkragen weit hervor, immer weiter, auch dieser sonst so dicke, kurze Hals schien aus Kautschuk zu bestehen.
»Wuat?«
Der sein Gesicht abrumpelnde Engländer sah diese herausfordernde Gebärde und das drohende Gesicht nicht.
»Sie sind ein Guru,« wiederholte er seine vermeintliche Schmeichelei.
Jetzt aber wurde das kleine Krummbein falsch, es machte aus seinen fünfzinkigen Kohlenschippen zwei respektable Schmiedehämmer.
»Wuat?! Wuat bin ick? Ein Gu... ein Gu... einen Kuckuck nennt Ihr mich? Ei, nun schlage doch Gott den Deiwel tot!!!«
Erst als Puttfarken mit boxgerechten Fäusten auf ihn eindrang, merkte Mr. Mojan die ihm drohende Gefahr.
»Aber... aber, mein Herr,« stotterte er, Schritt für Schritt vor den gefährlichen Schmiedehämmern zurückweichend, »ich habe Sie doch nur einen Guru genannt, und das ist doch...«
Puttfarken hatte jedenfalls den Auftrag bekommen, sich des Engländers, wenn der Komödie genug war, zu entledigen, diesen Auftrag führte er nun aus, aber wohl schwerlich in dem Sinne, wie es Nobody beabsichtigt hatte.
Jochens Gesicht ward nur immer noch grimmiger, jetzt begannen sogar seine Augen wie bei einem Laubfrosch herauszuquellen.
»Wuat? Nicht einmal ein Kuckuck — — ein Gu... Gu... ein Guru soll ich sein. Na, nun hat's aber dreizehn geschlagen! Männicken, jetzt setz' dich mal zur Wehr...«
Der erschrockene Engländer retirierte immer weiter nach der Tür.
»Aber... aber... Mr. Nobody... ich ich ich ich... ich wollte doch den spiritistischen Apport lernen... und ich will's ja bezahlen... und ich kann's bezahlen... ich ich ich ich habe vor zwanzig Jahren ganz klein mit Klauenfett angefangen, dann ging ich nach Südafrika und legte mich...«
Mr. Cerberus hatte mit dem Rücken die Tür erreicht, wollte sich daranlehnen, aber er fand keine Tür, diese war von unsichtbarer Hand geöffnet worden, dadurch verlor der dicke Herr die Balance und legte sich... nicht in Südafrika auf den Palmölhandel, sondern sich selber draußen auf dem Korridor mit dem Rücken auf den Boden.
Statt seiner stand im Türrahmen plötzlich eine schwarzgekleidete Dame.
Der verdutzte Puttfarken gab seine Boxerstellung auf, er sah, wie die schöne, junge Dame auch noch die Tür hinter sich zuzog, was seine Bestürzung nur noch vermehrte.
»Ist Mr. Nobody zu sprechen?« kam es in großer Aufregung von den Lippen der Dame.
Dieses eine Wort gab dem Verwirrten all seine Ruhe wieder, sofort war er sich bewußt, was für eine Rolle er zu spielen hatte, und ein Nobody durfte nie verlegen werden, und er fühlte die Augen seines Herrn und Meisters auf sich ruhen... und er setzte also das linke Säbelbein vor, steckte die Hand in den Westenausschnitt und warf den Elefantenrüssel zurück.
»Bin ich.«
»Ich meine Mister Nobody, den amerikanischen Detektiv und Berichterstatter von ›Worlds Magazine‹.«
Jochen warf sich noch etwas mehr in die Brust und wippte mit dem quadratischen Lackschuh.
»Yes. Bin ick!«
Marguérite, die etwas vorgetreten war, prallte mit ausgestreckten Händen einen Schritt zurück, den krummbeinigen Zwergnase mit entsetzten Augen wie ein Gespenst anstierend.
»Nein,« hauchte sie, »nein... Alfred... das bist du nicht... das kannst du nicht sein!«
»Wie nennt die mich?« dachte Puttfarken. Aber er war beauftragt, Nobodys Rolle zu spielen, und nun war ihm alles egal.
»Nicht? Ich wäre nicht Nobody? Ich muß doch am besten wissen, wer ich bin. Aber wer sind denn Sie eigentlich, daß Sie hier so...«
»Sie wünschen, Madam?« wurde er von einer sonoren Stimme unterbrochen, und im Zimmer stand der wirkliche Nobody, aber nicht als süßlich lächelnder Kellner, sondern als stolzer Mann mit jugendschönen, aristokratischen Zügen, und es war ja ein tadelloser Frackanzug, den er trug.
»Alfred!!« schrie die schöne Witwe beim Anblick dieses Mannes auf, und dann preßte sie beide Hände gegen den wogenden Busen und rang nach Fassung. Eine solche Begegnung hatte sie nicht erwartet. Sie sah ihn ja wieder vor sich, wie sie ihn vor langen, langen Jahren treulos verlassen hatte. Sie war unterdessen ein gereiftes Weib, eine Witwe geworden, und was hatte sie in diesen langen, langen Jahren nicht alles erlebt und erlitten — — an dem Jugendgeliebten aber schien die Zeit spurlos vorübergegangen zu sein.
Nicht mit feindseligen, nur mit forschenden Augen betrachtete Nobody die vor ihm Stehende, und er benutzte ihre Fassungslosigkeit, um sich erst noch einmal an Puttfarken zu wenden.
»Geh hinaus, ich höre Mr. Mojan noch auf dem Korridor, entlasse ihn höflich, entschuldige dich, und dann sorge dafür, daß nicht wieder eine fremde Person in dieses Appartement dringen kann.«
Puttfarken entfernte sich.
»Alfred,« begann da Marguérite mit fliegendem Atem, »kennst du mich noch?«
»Haben Sie nicht gehört, wie ich meinem Diener sagte, er solle dafür sorgen, daß nicht noch einmal eine fremde Person hier hereindränge?« war die kalte Gegenfrage. »Darf ich Sie um Auskunft bitten, Madam, wie Sie hier hereingekommen sind? Nein, ich bitte nicht darum, sondern ich fordere diese Auskunft von Ihnen!«
»Die Vorsaaltür war nur angelehnt. — Alfred, so empfängst du mich?! Ich weiß, was ich dir zugefügt habe, aber ich habe bereut — und ich will büßen — und ich komme hierher, um dich...«
»Halt!« unterbrach Nobody die hastig mit flehender Stimme Sprechende. »Ehe wir weiter verhandeln können, muß ich unbedingt eins wissen: woher erfuhren Sie, daß sich hinter dem Namen Nobody... jener Mann versteckt, den Sie kannten?«
Marguérite mußte ihm wohl ansehen, wie ungeheuer wichtig ihm die Beantwortung dieser Frage war, und sie wollte ihm ja entgegenkommen. So beherrschte sie ihre Leidenschaft.
»Ich hatte viel von diesem Detektiv gelesen, ich interessierte mich für ihn, und je mehr ich über ihn las, desto lauter fragte mich immer eine innere Stimme: ob dieser von Lebenskraft überschäumende Mann nicht der verschollene Alfred sein könnte? — Und ich fand keine Ruhe bei Tag und bei Nacht, ich schrieb nach New-York an ›Worlds Magazine‹. Meine Briefe blieben unbeantwortet — ich wollte ein Detektiv-Bureau beauftragen... da mit einem Male waren meine Fesseln gebrochen, ich selbst reiste nach New-York, ging zu Mister World und erfuhr, daß du es wirklich bist. — Es war Vorsehung, meine innere Stimme hatte mich nicht getäuscht.«
»Was konnte Ihnen Mr. World sagen? Er weiß selbst nicht, wer ich bin.«
»Er offenbarte mir, daß du einem deutschen Fürstenhause entstammtest, das wußte er von seinem Berichterstatter, und das genügte mir. — Alfred, verzeihe mir, ich...«
»Halt! Ich bin noch nicht zu Ende. Wie kommen Sie hierher nach Kairo? Und ich erkenne, daß Sie erst heute eine lange Reise gemacht haben. Hat Ihnen Mr. World auch gesagt, daß Sie mich hier treffen würden?«
»Ja, er sagte es mir auf meine Bitten,« gestand Marguérite nach kurzem Zögern.
Nobody senkte die Stirne. Dann blickte er schnell wieder auf.
»Haben Sie Mr. World gesagt, wer ich bin?«
»Nein, mit keinem Worte,« entgegnete Marguérite in einem Tone, dem man die Aufrichtigkeit sofort anhörte. »Unsere Unterhaltung wurde jählings unterbrochen, und da ich weiß, daß du unerkannt sein und bleiben willst, so hatte ich dein Geheimnis auch unter allen Umständen gewahrt.«
»Gut, ich danke Ihnen,« sagte Nobody mit sanfter Stimme, was sofort auf des Weibes Antlitz einen glücklichen Schein hervorzauberte.
»Aber noch mehr,« fuhr Nobody fort. »Wer weiß es sonst noch, daß Nobody dieser...Prinz Alfred ist?«
»Das weiß kein anderer Mensch als ich!« rief Marguérite mit auffallender Hast, und dann errötete sie und wurde gleich darauf weiß wie Schnee unter den Blicken, die ihr entgegenblitzten.
»Madam, wie wollen Sie das behaupten, daß Sie allein die Wissende sind?« fragte er kalt, auch etwas spöttisch.
Wiederum stieg ein heißes Rot in dem weißen Antlitz auf.
»Ich meine, ich, ich selbst habe es keinem anderen Menschen verraten,« versicherte sie abermals mit ganz auffallender Hast, »ja, doch, einer einzigen Person, meiner Kammerdame, Fräulein von Simken, die mir nach New-York gefolgt war, aber die ist am anderen Tage im Hotel an einem Herzschlag verschieden.«
Nobody wollte diesen Fall näher beschrieben haben, und Marguérite erzählte bereitwilligst.
»Und sonst haben Sie wirklich keinem einzigen Menschen gesagt, wie Sie erfahren haben oder zu dem festen Glauben gekommen sind, daß Prinz Alfred und dieser Detektiv ein und dieselbe Person sind?« fragte Nobody nochmals aufs eindringlichste, und seine Augen, mit denen er das Weib fixierte, nahmen plötzlich einen ganz eigentümlich stechenden Blick an.
»Wenn er seine Augenlider niederschlägt, so ist es, als wenn ein zweischneidiges Schwert in die Scheide gesteckt würde,« hatte sich damals an Bord der ›Persepolis‹, da wir unseren Helden zum ersten Male kennen lernten, eine poetisch veranlagte Dame geäußert.
Jetzt aber wurde dieses zweischneidige Schwert entblößt!
»Wahrhaftig nicht, ich schwöre es!« rief Marguérite und hob wirklich die rechte Hand zum Schwure empor, während sie die linke auf das Herz legte.
»Madam, sehen Sie mich an!!« sagte Nobody im schärfsten Tone.
Da klopfte es an der Tür.
»Wer ist da?« fragte Nobody.
»Es möchte Sie jemand sprechen, Sie kennen ihn,« entgegnete draußen Puttfarkens Stimme.
Nobody schritt an Marguérite vorüber — es war eine höchst eigentümliche Szene, die aber gleich ihre Aufklärung findet — und öffnete die Tür.
»Aahh, Kapitän Flederwisch! Das nenne ich eine Überraschung! Treten Sie ein, mein Lieber!«
Flederwisch folgte der Aufforderung, aber sehr zögernd, verdutzt, denn er sah da mitten im Zimmer, ihm den Rücken zudrehend, eine schwarzgekleidete Dame stehen, welche die rechte Hand mit zwei gestreckten Fingern erhoben hatte, und so in dieser einem Schwure angemessenen Stellung verharrte die Dame regungslos, auch bei des Kapitäns Eintritt.
»Sie sind schon da? Ich habe Sie noch gar nicht erwartet,« nahm Nobody im unbefangensten Konversationstone wieder das Wort, als er jenem die Hand geschüttelt hatte.
»Ja, wir wurden durch nichts aufgehalten,« entgegnete Flederwisch, immer noch zögernd, den Blick unsicher auf die ihm den Rücken kehrende Dame geheftet, »die ›Wetterhexe‹ liegt sicher im Bittersee... auch die Bootsfahrt auf dem Mehemed-Kanal ging glatt vonstatten... und ich...ja, Mr. Nobody, wer ist denn das nur?« unterbrach er sich flüsternd.
»Das? Das ist die Dame, von welcher ich Ihnen erzählte, als ich mich Ihnen offenbarte,« erwiderte Nobody mit lauter Stimme. »Ihre Königliche Hoheit, Prinzessin Margarete, deren hoher Gemahl kürzlich in seinem englischen Exil gestorben ist. — Kommen Sie, betrachten Sie sich mal meine einstige Braut von vorn.«
Der junge Hüne wußte sonst ganz sicher nicht was Furcht ist, aber wie er jetzt dem Freunde folgte, da prägte sich in seinen gebräunten Zügen eine ängstliche Scheu vor dem rätselhaften Überirdischen, und so schlich er auf den Zehenspitzen um die Gestalt herum.
Marguérite stand also noch immer mit zum Schwure erhobener Hand da, die andere auf das Herz gelegt, aber sie blickte nicht mehr geradeaus, sondern ihre Augäpfel hatten sich ganz nach oben verdreht, so daß man nur noch das Weiße sah.
»Nobody — um Gott! — erklären Sie mir dieses Rätsel — was ist mit dieser Dame?!« flüsterte der Kapitän außer sich.
»Sie fragen auch noch?« lächelte Nobody. »Können Sie sich nicht mehr entsinnen, wie ich das Gespräch einmal auf den Hypnotismus brachte? Sie spotteten darüber, Sie hätten zwar schon hypnotischen Vorstellungen beigewohnt, aber die Personen, mit denen experimentiert wurde, seien bestochen gewesen, sich zu verstellen, und den wollten Sie einmal sehen, der Sie hypnotisieren könnte. — Ich schwieg, denn hätte ich einen von unseren Leuten hypnotisiert, so hätten Sie wiederum geglaubt, der Mann wäre mit mir im Bunde und simuliere nur, und hätte ich Sie selbst hypnotisiert, so hätten Sie das hinterher nicht gewußt, und die Leute konnten Ihnen dann viel erzählen. — Und Sie waren im Recht mit Ihrem Unglauben. Denn die in allen Fragen kompetente Pariser Akademie der Wissenschaften hatte im Jahre 1784 den Hypnotismus, damals noch Mesmerismus genannt, als einen Schwindel bezeichnet, im besten Sinne als eine Einbildung. — Und was kompetente Männer der Wissenschaft erklären, muß man als Tatsache anerkennen, das ist die Pflicht des Laien, sonst verfällt man dem Fluche der Lächerlichkeit. — Die Erde dreht sich um die Sonne. Woher weiß ich das? Meine gesunden Augen sagen mir gerade das Gegenteil, ich fühle auch nicht, daß ich mit einer ungeheuren Geschwindigkeit auf der Erde durch den Weltenraum sause und manchmal mit dem Kopfe nach unten hänge. Das kann ich mir nicht berechnen, das könnte mir auch kein Astronom mit Zahlen beweisen, auch Ihnen nicht, Herr Kapitän, obgleich Sie selbst zur Nautik eine große Portion Astronomie nötig haben. Denn dazu gehört eine ganz andere Art von Mathematik, die man nicht in ein paar Jahren auf der Schule eingetrichtert bekommen kann. Wir würden den Beweis der Astronomen gar nicht verstehen. Trotzdem nun glauben wir beide mit allen Menschen, welche auf das Wort ›Bildung‹ Anspruch machen oder machen wollen, an das Weltsystem des Kopernikus und des Galilei. Weshalb? Die meisten Menschen halten das für ganz selbstverständlich, daß sich die Erde um die Sonne bewegt — — weil eben die meisten Menschen gedankenlose Papageien sind, welche einfach nachschwatzen, was alle Welt schwatzt. Wir beide aber wollen unsere Unkenntnis offen eingestehen und sprechen: ich glaube, daß sich die Erde um die Sonne bewegt, weil dies Männer behaupten, welche mehr wissen als ich — Männer, welche sich zu diesem Beweise ein mühsames Studium zur Lebensaufgabe gemacht haben — darunter auch Männer, welche für ihre Überzeugung im Kerker geschmachtet und selbst auf dem Scheiterhaufen geendet haben, auf daß sie nicht die Sünde begingen, welche die einzige ist, die nie, nie verziehen werden kann, die Sünde gegen den heiligen Geist, welcher die Wahrheit ist — und deshalb glaube ich, was sie mit ihrer heiligsten Überzeugung behaupten!«
Mit einer Feierlichkeit, die man bei diesem Manne gar nicht vermutete, hatte Nobody gesprochen.
»Deshalb waren Sie berechtigt, den Hypnotismus bisher zu verspotten,« fuhr er dann in etwas leichterem Tone fort. »Aber jetzt muß das vorbei sein. Wir haben auf See keine Zeitungen zu sehen bekommen. Ich werde es Ihnen dann zeigen: jetzt, nach über 100 Jahren, hat die Pariser Akademie ihr damaliges Urteil zurückgenommen, sie hat den Hypnotismus als eine Tatsache anerkannt! — Und hier sehen Sie eine Person, welche sich in diesem Zustande befindet. Das ist der Hypnotismus, welcher in der Hand eines würdigen Arztes des Leibes und der Seele noch zum unaussprechlichen Segen der physisch und psychisch leidenden Menschheit werden wird — das ist der Hypnotismus, mit dem ein unmoralischer Mensch furchtbaren Mißbrauch treiben kann!«
»Wie haben Sie die Hypnose herbeigeführt?« fragte Flederwisch, jetzt mit staunendem Auge das Weib betrachtend, welches noch immer mit erhobenem Arm dastand, aber es war zu bemerken, wie dieser Arm nach und nach herabsank.
»Durch einen einzigen Blick. Nein, durch meine Willenskraft. Doch was bedeutet das Wort Hypnose und Hypnotismus? Es ist ein leerer Schall. Was ist unser Schlaf? Wir wissen es nicht. Der Hypnotismus ist uralt und jetzt erst wieder neu entdeckt worden. Aber die Indier haben ihn fort und fort gepflegt und benutzt, die indischen Fakire wissen ihn in allen Graden zu erzeugen. Sie sehen, wie ihr Arm erlahmt. Sie will ihn wohl hoch halten, aber sie vermag es nicht auf die Dauer. Jetzt erzeuge ich in diesem hypnotischen Schlafe noch eine andere Art von Hypnose — oder wie man es sonst nennen mag.«
Nobody trat hinter Marguérite, richtete ihren Arm wieder höher und griff gleichzeitig mit der freien Hand in ihren Nacken, und der Kapitän sah wohl, daß er durchaus nicht sanft zugriff, wie seine Finger sich in das weiße Fleisch gruben.
»Jetzt befindet sie sich in einem Zustande von Starrsucht,« sagte er, als er zurücktrat. »Haben Sie gesehen, wenn ein Fakir oder Derwisch die Tierverwandlungen unter dem Korbe ausführt? Gewöhnlich beginnt er mit einem Hunde, und diesem Hund greift er jedesmal zuerst auf eine eigentümliche Art ins Kreuz. Dann kann sich der Hund nicht mehr bewegen, und er ist nicht nur von der Starrsucht befallen, sondern er ist tatsächlich hypnotisiert. Aber das Wort ›hypnotisiert‹ will nicht recht passen, weil wir unter Hypnose eigentlich etwas ganz anderes verstehen. Die Fakire wissen überhaupt selbst nichts über die Natur des ganzen Phänomens, sie kennen nur die dazu notwendige Manipulation und deren Erfolg.«
Nobody blickte nach der Uhr.
»Ich muß mich beeilen oder mich doch erst vergewissern, ob sie Zeit hat und nicht erwartet wird.«
Er trat einen Schritt vor sie hin und sah sie fest an. Es war zu bemerken, wie er seine Willenskraft konzentrierte.
»Margarete, hörst du mich?« fragte er in scharfem Tone.
»Ich höre dich,« klang es sofort fließend zurück.
Flederwisch hatte also hypnotischen Vorstellungen beigewohnt, wenn auch als ungläubiger Zuschauer, und da war ihm immer aufgefallen, wie sämtliche Hypnotisierte stets eine stockende, mühsame Sprache ›simulierten‹.
Das ist nun auch tatsächlich der Fall. Für gewöhnlich fällt dem Hypnotisierten das Sprechen sehr schwer, er ringt mit den Worten. Diese Frau aber sprach ganz fließend. Es war eben eine andere Art des hypnotischen Zustandes, und Nobody hätte wohl auch die natürliche Lage ihrer Augen wiederherstellen können.
»Du wirst mir der Wahrheit gemäß alles beantworten, was ich dich frage. Ich befehle es dir!«
»Ja.«
»Wann bist du nach Kairo gekommen?«
»Heute morgen um elf Uhr.«
»Bist du allein gekommen?«
»Nein.«
»Wer war noch bei dir?«
»Zwei Herren.«
»In deiner Begleitung?«
»Wo sind diese beiden Herren jetzt?«
»Sie sind nach der Post gegangen.«
»Wie heißen sie?«
»Monsieur Huxley und Monsieur Wall.«
»Sie wohnen auch in diesem Hotel?«
»Ja.«
»Woher kennst du sie?«
»Aus New-York,«
»Kanntest du sie schon von früherher?«
»Nein.«
»Wie machtest du ihre Bekanntschaft?«
»Sie boten sich mir an.«
»Wozu boten sie sich dir an?«
»Sie wollen Alfred blenden,« erklang es ohne Zögern.
»Blenden?« wiederholte Nobody.
»Ja.«
»Soll das heißen, sie wollen ihn... blind machen?«
»Ja.«
»Sie wollen ihn des Augenlichtes berauben?« vergewisserte sich Nobody nochmals.
Und Nobody erfuhr alles. Von selbst erzählte die Hypnotisierte allerdings nicht, aber durch geschickte Fragen holte er alles aus ihr heraus, und er begann noch einmal von vorn. Er erfuhr, wie sie sich mit Fräulein von Simken überworfen hatte, wie sie an jenem Abend den geheimnisvollen Besuch des Fremden bekommen, was ihr dieser alles erzählt und ihr für einen Vorschlag gemacht hatte, worauf sie eingegangen war.
Zuerst wollte Marguérite in Güte versuchen, sich mit dem einstigen Geliebten zu versöhnen, das alte Verhältnis wieder anzuknüpfen. Aber die Hypnotisierte gestand ganz offen, wie wenig Hoffnung sie habe, daß ihr das gelingen würde.
Dann also waren ihre beiden Kumpane zur Stelle, um den Anschlag auszuführen. Die Absicht, ihm ein Bein abzunehmen, damit ihr das zukünftige Männchen nicht wieder ausreißen könne, hatte Marguérite aufgegeben. Sie wollte ein Männchen mit zwei gesunden Beinen haben. Nur im höchsten Notfalle, wenn dem Wildfang nicht beizukommen war und er bei der Prozedur des Blendens nicht stillhalten wollte, dann sollte doch noch zuerst der verhängnisvolle Schuß fallen, und dann allerdings sollte das Bein getroffen werden, das war doch kein edler Teil, aber es sollte womöglich auch nur ein kräftiger Fleischschuß sein.
Die Hauptsache aber war: blenden! Blind gemacht mußte er auf alle Fälle werden! Der Gauner hatte dem Weibe einen Floh ins Ohr gesetzt, sie mochte sich das Tag und Nacht ausgemalt haben, und das blinde Männchen, dessen Gesichtssinn sich fortan im Gefühl konzentrierte, hatte dem lüsternen Weibe immer mehr imponiert.
So erzählte die Hypnotisierte, durch entgegenkommende Fragen angeleitet, ganz offen. Bisher hatte sie den beiden Gaunern einen Vorschuß von etwa 11 000 Dollar gegeben, die Prämie bei Ablieferung des blinden Mannes betrug nicht weniger als 100 000 Dollar, und diese Prinzessin konnte sich das auch leisten.
Das Blenden geschah mittels eines glühenden Eisens, das dem Gefesselten dicht vor die Augen gehalten wurde. Wo der ›Trick‹ ausgeführt wurde, war noch nicht bestimmt. Jedenfalls mußte Nobody, vielleicht durch die Einladung eines englischen Großen zur Jagd, in eine einsame Gegend gelockt werden, womöglich in ein Gebirge, wozu sich das Geiergebirge in der Oase Fayum recht gut eignete. Denn dort sei Mr. Huxley vortrefflich orientiert, dort wüßte er gleich arabische Wüstenräuber zu engagieren, die sich zu so etwas eigneten. Dann mußte Madame Lenois von dem Anschlag gehört haben, sie eilte dem gegen sie so obstinaten Geliebten nach, wollte ihn warnen, kam zu spät, befreite ihn durch eigene Kraft aus den Händen der Wüstenräuber, die den Aermsten zur Erzwingung eines Lösegeldes schon geblendet hatten, und nun führte sie den Blinden aus dem Gebirge heraus und in ein neues Leben an ihrer Seite hinein. —
Während Nobody bei diesen Geständnissen ganz kaltblütig blieb, nur darauf achtend, daß er durch geschickte Fragen in möglichst kurzer Zeit von der Hypnotisierten alles erfuhr, was er wissen mußte, geriet Kapitän Flederwisch immer mehr außer sich, was er zuerst nur durch Gebärden ausgedrückt hatte.
»Mein Gott, mein Gott,« rief er zuletzt, »hält man denn solch eine Schlechtigkeit und Verworfenheit nur für möglich?! Sind denn das nur wirklich wahre Gedanken, welche dieses Weib da ausspricht?!«
»Gewiß, im Zustande der Hypnose gibt es keine Lüge und Verstellung, da hat man seine innersten und verborgensten Gedanken auf der Zunge. Und Sie halten das für eine so unerhörte Schlechtigkeit? Kapitän, da kennen Sie die Menschen noch nicht richtig. Und was dieses Weib anbetrifft, so will ich dann später mit Ihnen darüber sprechen. Wollen Sie jetzt hinter die Gardine treten und sich nicht bemerkbar machen, ich werde sie wecken, ich weiß genug, gar zu sehr soll sie dann die Dauer der verträumten Zeit nicht empfinden.«
Flederwisch gehorchte, er verbarg sich hinter der Portiere.
»Weißt du, Margarete, was wir jetzt gesprochen haben?«
»Ich weiß es.«
»Wenn ich jetzt zu dir sage: Erwache! — so wirst du erwachen und nichts mehr von dem wissen, was du mir jetzt gestanden hast.«
»Ich werde erwachen und nichts mehr von dem wissen, was ich dir jetzt gestanden habe,« wiederholte sie, wie immer, seine Worte.
Das war nur eine Vorsicht von Nobody. Der Hypnotisierte weiß überhaupt niemals nach dem Erwachen, was er getan und gesprochen hat.
»Ich befehle dir ferner, daß du dich von jetzt an von niemand anderem mehr hypnotisieren läßt.«
»Von niemand anderem.«
»Nur von mir.«
»Nur von dir.«
»Sobald ich zu dir die Zahl sage: zweihundert!! — bist du hypnotisiert.«
»Sobald du zu mir die Zahl zweihundert sagst, bin ich hypnotisiert.«
Staunend hatte Flederwisch diese Instruktionen vernommen, staunend wurde er Zeuge des weiteren Verlaufes, und sein Staunen wäre noch größer gewesen, hätte er gewußt, was dieser Hypnose vorausgegangen war, was das Weib gesprochen hatte, ehe es in diesen Zustand des Schlafwachens verfiel.
»Blicke mich an!« befahl Nobody.
Gehorsam rollten die Augäpfel, die ständig nach oben gerichtet gewesen waren, herab. Aber die Augen hatten einen seltsam starren Ausdruck, sie waren gebrochen wie die einer Leiche.
»Erwache!!!« rief Nobody im schärfsten Tone.
Flederwisch konnte zuerst gar keinen Erfolg dieses Befehls wahrnehmen. Sie blieb so stehen, wie sie gestanden hatte, den rechten Arm mit zwei ausgestreckten Fingern zum Schwure emporgehoben, die linke Hand auf dem Herzen. Der Beobachter stand zu weit entfernt, um sehen zu können, wie in ihr erloschenes Auge plötzlich das Leben zurückkehrte.
»Ich glaube Ihrem Schwure, Madam,« sagte Nobody.
Da sank der Arm herab — und Marguérite glaubte nicht anders, als sie habe soeben unter Schwur versichert, außer ihrer verstorbenen Kammerdame keinem einzigen Menschen verraten zu haben, daß sie wisse, wie Nobody und der ehemalige Prinz ein und dieselbe Person seien — alles andere, die ganze Viertelstunde, welche ihr hypnotischer Zustand in Anspruch genommen hatte, existierte nicht in ihrem Gedächtnis.
Es war kein falscher Schwur gewesen, sie hatte ja wirklich nichts zu Huxley gesagt, dieser hatte es bereits selbst gewußt — aber eine verwerfliche Handlung hatte sie dennoch begangen, denn sie wußte recht wohl, daß Nobody etwas ganz anderes gemeint hatte — ob sie noch eine Person wisse, der dies bekannt wäre.
»Alfred,« begann sie jetzt wieder in flehendem Tone, »wenn du wüßtest, was ich durchgemacht habe...«
Zum ersten Male brach bei ihm etwas wie bitterer Spott hervor.
»Und wissen Königliche Hoheit, was der harmlose Jüngling damals durchgemacht hat, als Sie eine Krone seiner wahren Liebe vorzogen?«
»Alfred!« flehte sie von neuem mit erhobenen Händen.
»Ich habe meinen Schmerz schon längst überstanden,« unterbrach er sie kalt, »und ich dächte, Sie wären in den Jahren, da man gelernt haben muß, seine Leidenschaften zu bändigen.«
Da lag sie vor ihm auf den Knien.
»Alfred, verstoße mich nicht, laß mich nur bei dir bleiben als deine Magd, als deine...«
»Geben Sie sich keine Mühe, Madam. Stehen Sie auf. Verlassen Sie mein Zimmer oder ich rufe meinen Diener.«
Sie sah sofort ein, daß dieser Mann, der mit über der Brust verschränkten Armen dastand, kein Mitleid kannte, nicht zu rühren war, und sie stand auf.
»So... auf diese Weise stößt du mich von dir?!« kam es zischend über ihre Lippen, und doch wollten ihre Augen ihn noch in wilder Leidenschaft verschlingen.
»Es tut mir leid. Es ist das beste so. So kurz wie möglich.«
Diesem Manne gegenüber war jedes weitere Wort vergeudet.
»Gut... ich gehe... aber... auf Wiedersehen... nein, nicht auf Wiedersehen, sondern auf... auf... auf... ja, doch auf Wiedersehen, Alfred! Ich verliere den Mut nicht, du wirst dennoch mein... weil du mich und meine Liebe zu dir noch erkennen wirst.«
Nach diesen hastig und ruckweise hervorgestoßenen Worten, mit welchen sie ihren schändlichen Plan auch im wachen Zustande fast verraten hätte, eilte sie hinaus.
Nobody folgte ihr langsam, vergewisserte sich, daß sie wirklich das Appartement verlassen hatte und die Vorsaaltür geschlossen war, und kam zurück.
»Ich erkannte sofort, daß sie log, daß sie einen triftigen Grund hatte, mir etwas zu verheimlichen,« sagte er zu dem aus seinem Versteck hervortretenden Kapitän, »deshalb hypnotisierte ich sie schnell. Nette Geschichten, die wir da zu hören bekommen haben, was? Ja, die Weiber, die Weiber!«
Während Nobody so ganz gleichgültig sprach, rang der ehrliche Flederwisch noch immer mit seiner Erregung; solch eine Schlechtigkeit, die sich ihm da enthüllt hatte, brachte ihn ganz aus der Fassung,
»Und sie hat wirklich die Wahrheit gesprochen? Sie glauben, daß sie dieses Vorhaben wirklich ausführen wird?«
»Ganz sicher. Das heißt, sie wird es auszuführen versuchen, gelingen dürfte es ihr schwerlich.«
»Dann sofort sie festgenommen, und mit ihr die beiden Verbrecher, die ja im Hotel wohnen!!« rief Flederwisch.
»Ich werde mich hüten!« lachte Nobody sorglos.
»Was? Sie wollen es nicht tun?«
»Ich werde mir doch dieses famose Abenteuer nicht entgehen lassen. Und dann noch etwas anderes: der Hypnotismus ist jetzt von der Akademie der Wissenschaften als Tatsache anerkannt worden, aber in der Praxis hat das noch nicht viel zu bedeuten und dürfte auch in den nächsten Jahrzehnten keine Bedeutung finden, am wenigsten vor Gericht. Gehen Sie jetzt einmal nach der Polizei und sagen Sie: das Weib dort hat zwei Gauner engagiert, die sollen mich mit einem Stück glühenden Stahl blind machen, das habe ich aus ihr heraushypnotisiert, und in der Hypnose spricht sie die Wahrheit, die Pariser Akademie hat's auch gesagt, hier steht's in der Zeitung... hahahaha, die würden Sie nicht schlecht auslachen! Beweise, lieber Freund, Beweise! In flagranti erwischen! Und das ist's ja eben, worauf ich mich freue. Hoffentlich erhalte ich die Einladung zur Jagd recht bald. Hei, wenn die mich blind machen wollen, dann werde ich ihnen etwas zeigen, daß ihnen die Augen übergehen sollen!«
Jetzt wunderte sich Flederwisch nicht mehr. Er kannte die verwegene Abenteurernatur seines Freundes, für den das Leben nur dazu da zu sein schien, es aufs Spiel zu setzen, nun schon zur Genüge.
»Ich habe auch noch verschiedene andere Gründe, daß ich diesem Weibe und seiner Sippschaft nicht sofort das Handwerk lege,« fuhr Nobody fort, mit auf dem Rücken verschränkten Armen im Zimmer hin- und hergehend. »Der Wille ist schon die Tat. So steht's in der Bibel. Aber ich denke hierüber anders. Schon mancher hat sein geplantes Vorhaben nicht ausgeführt, und soll er dann bestraft werden? Nein, sie müssen zur Tat schreiten, und dann heißt es, ihnen zuvorkommen. Gegen das Weib habe ich überhaupt gar nichts. Marguérite ist entschuldbar...«
»Ist entschuldbar?« wiederholte der junge Kapitän staunend. »Obgleich sie entschlossen ist, Sie des Augenlichtes zu berauben?!«
»Jawohl. Ich habe hierüber meine eigenen Ansichten. Marguérite liebt mich. Das ist ein Faktum. Mag es nur eine augenblickliche, neu erwachte, zügellose Leidenschaft sein — gleichgültig, sie liebt mich. Und das Weib, welches liebt, ist zu allem fähig, ist zu jedem Opfer bereit — und wenn man das im guten Sinne anerkennt, so muß man das auch im schlechten Sinne anerkennen, das fordert die Gerechtigkeit — und mag also das Weib in seiner leidenschaftlichen Liebe auch ein noch so ungeheures Verbrechen begehen — es ist zu entschuldigen.«
So konnte eben nur dieser Mann sprechen! Er setzte aber auch noch gleich etwas anderes hinzu:
»Das ist auch schon seit alters bis auf den heutigen Tag vom Gericht anerkannt worden — instinktiv, möchte ich sagen. Wenn ein Weib eine Nebenbuhlerin mit ihrem Manne oder nur mit dem Geliebten in flagranti erwischt und die Nebenbuhlerin sofort tötet, so wird das Weib fast immer freigesprochen. Unzurechnungsfähig! Und hätten wir weibliche Richter, so würden Frauen noch viel öfter freigesprochen werden — nicht etwa aus Parteilichkeit, auch nicht aus falscher Weichherzigkeit, sondern aus Einsicht, aus Erkenntnis der wahren Ursache. Unzurechnungsfähig! Wenn eine Mutter für ihr hungerndes Kind stiehlt, so ist das etwas total anderes, als wenn ein Mann, als wenn der Vater dasselbe für sein Kind tut. Der Mann weiß, daß er stiehlt; dem Weibe, welches für das Kind sorgt, geht im Augenblicke der Tat das Bewußtsein ganz ab. Aber das können wir gar nicht verstehen. Man muß ein Weib sein, um ein Weib be- und verurteilen zu können. — Ein Weib bin ich nun nicht. So weit, daß ich mir jener zuliebe die Augen ausstechen lasse, geht meine Gutmütigkeit nicht. Ich muß mich schützen. Ich wüßte ein sehr einfaches Mittel.«
»Welches?«
»Haben Sie schon von dem sogenannten posthypnotischen Befehl gehört?«
Ja, gehört hatte der Kapitän schon davon, aber noch weniger daran geglaubt, als er bisher überhaupt an den ganzen Hypnotismus geglaubt hatte.
»Es geht. Auch der posthypnotische Befehl ist eine Tatsache. Sie hörten doch, wie ich zu der Frau sagte, sobald ich ihr das Wort ›zweihundert‹ zurufe, solle sie sofort wieder in hypnotischen Schlaf fallen?«
»Und Sie meinen, das würde wirklich geschehen?!« fragte Flederwisch ungläubig.
»Das meine ich nicht nur, sondern das weiß ich ganz bestimmt! Hätten Sie ungläubiger Thomas sich etwas mehr um Hypnotismus gekümmert, so würden Sie wissen, daß dieses Geben eines Stichwortes, bei welchem ein schon einmal Hypnotisierter sofort und mit unbedingter Sicherheit wieder in schlafwachen Zustand fällt, der allereinfachste posthypnotische Befehl ist. Ein komischer Zufall ist nur, daß meine alte Bekannte mit der Zahl zweihundert gerade das Hundert vollgemacht hat.«
»Was wollen Sie damit sagen?« fragte Flederwisch.
»Nun, das ist nicht etwa die erste Person, der ich so ein Stichwort gebe. Ich bin so menschenfreundlich, die betreffende Person durch meinen Befehl davor zu schützen, daß sie fernerhin von keinem anderen hypnotisiert werden kann, und meine Willenskraft nimmt es mit der von jedem anderen Hypnotiseur auf, und darauf kommt es nämlich an, ich habe schon manchen Hypnotiseur von der Bühne herunterhypnotisiert — aber ich bin auch so egoistisch, mir selbst meinen einmal gewonnenen Vorteil zu wahren. Ich bediene mich als Stichwörter ganz einfach der Zahlen. Jeder, den ich einmal hypnotisiert habe, bekommt eine Nummer, und wenn ich diese nenne, nur so oberflächlich im Gespräch, muß er sofort einschlafen. Aber ich habe gleich mit Nummer einhunderteins begonnen, denn die kleineren Zahlen kommen doch häufig im Laufe des Gespräches vor, und da kann es passieren, daß so ein Kerl mitten in der Gesellschaft die Augen zu verdrehen anfängt und wie eine Statue dasitzt, und das wäre für mich doch unangenehm. Buch darüber brauche ich nicht zu führen, ich habe die Nummern alle im Kopf. Keigo hat Nummer hundertsechsundsiebzig.«
»Keigo?! Den haben Sie auch schon hypnotisiert?!«
»Damals, als ich ihn mit Sir Clane im Untersuchungsgefängnis besuchte. Verstehen Sie denn immer noch nicht, wie ich das machte? Erst hypnotisierte ich den Japaner, er mußte mir alles beichten — hallo, sagte ich mir, also er hat für das Masamune ein Monikono gegeben. Ja, wo ist aber nun dieses Monikono? Jetzt erst, nämlich erst an dem Abend des Tages, an dem ich vor Gericht dem Japaner auf den Kopf zusagte, daß er dem Loftus Deacon ein Monikono gegeben, drang ich in das Mordhaus und fand denn auch richtig das zweite Schwert in dem ehernen Götzen — und den verhungerten Mörder dazu.«
Kapitän Flederwisch glaubte, seinen Freund doch nun schon zu kennen, und jeder Tag belehrte ihn, daß dies noch gar nicht der Fall war. Jeden Tag brachte ihm dieser Mann neue Rätsel, dieser ganze Mann war selbst ein unergründliches Rätsel.
»Ja, da war aber doch Sir Clane dabei, und der schien dann doch gar nicht begreifen zu können, woher Sie das alles plötzlich wußten?«
»Der Rechtsanwalt konnte auch gar nichts davon wissen, denn den hatte ich gleichfalls hypnotisiert.«
»Was, in der Zelle des Untersuchungsgefangenen gleichzeitig mit diesem?« rief Flederwisch förmlich bestürzt.
»Alle beide gleichzeitig,« bestätigte Nobody. »Dazu bedarf es nur eines einzigen Blickes. Keigo mußte mir beichten, der Rechtsanwalt durfte nichts davon hören, und dann wußten alle beide nicht, was in der Gefängniszelle passiert war.«
Das war schon mehr Entsetzen als nur Staunen, mit welchem der Kapitän auf diesen Mann blickte, der auf seine Mitmenschen eine solch furchtbare Macht ausüben konnte.
»Mit jenem Weibe bin ich fertig,« nahm Nobody wieder das Wort. »Sie tut mir leid, sehr leid, ich kann mich recht lebhaft in ihre Lage versetzen, aber aus Gefälligkeit ihr Liebe zu heucheln, so weit geht meine Weichherzigkeit eben nicht. Wie soll ich sie nun von ihrer Leidenschaft zu mir kurieren? Ich könnte ihr einen posthypnotischen Befehl suggerieren mit dem Inhalte: Laß ab von mir, ich bin dir von jetzt an ganz gleichgültig!! Aber ich habe ein Gewissen, und ich halte auf ein reines Gewissen. Was du nicht willst, daß man dir tu, das füg' auch keinem andern zu. Das ist in Sachen des Gewissens mein Glaubensbekenntnis. Gesetzt den Fall, ich wäre ein Schuft, ich verbärge in meinem Innersten irgend ein verbrecherisches Geheimnis, und es kommt jemand, dessen Willenskraft stärker ist als die meine, und er hypnotisiert mich, um dieses mein verbrecherisches Geheimnis mir zu entlocken, zum Nutzen für sich, zum Nutzen anderer, vielleicht der ganzen Menschheit — so ist das ganz recht von ihm gehandelt, und eben deswegen tue auch ich so. Aber wenn ich daran denke, es könne mir jemand einen posthypnotischen Befehl geben, der mich unbewußt zum Sklaven seines Willens macht, und wenn er mir auch ein noch so gutes, noch so edles Vorhaben suggerierte, das ich ausführen soll — nein, nein, das ist für mich ein entsetzlicher Gedanke, der Willenssklave eines anderen Menschen zu sein — frei soll der Mensch sein!!! — und wenn es auch der gemeinste Bösewicht ist, er muß frei über seine Handlungen bestimmen können! — und deshalb werde auch ich nie, niemals einen posthypnotischen Befehl anwenden! Verstehen Sie, Kapitän, was ich hiermit meine?«
»Ja, ich verstehe,« entgegnete Flederwisch mit einem tiefernsten Gesicht. »Erlauben Sie mir noch eine Frage. Sie hatten doch von vornherein die Absicht, von Keigo Kiyotaki zu erfahren, was es mit dem Goto-Schatze für eine Bewandtnis habe?«
»Gewiß, daran dachte ich, als ich den aus dem Gefängnis Entlassenen bewog, sich an Bord meiner Jacht unter meinen Schutz zu begeben,« gestand Nobody ganz offen. »Das heißt, ich hätte den von aller Welt Ausgestoßenen sowieso bei mir aufgenommen, auch wenn er keinen Schatz zu hüten gehabt hätte, das war ich dem Unglücklichen doch schuldig. Aber daß er im Besitze eines geldbringenden Geheimnisses war, war doch eine sehr angenehme Mitgift. Warum fragen Sie das, Kapitän?«
»Sie hatten den Japaner durch Hypnose doch schon einmal in Ihrer Gewalt.«
»In meiner völligen Gewalt.«
»Sie hätten doch sofort aus ihm herausbringen können, was es mit dem Goto-Schatze für eine Bewandtnis habe.«
»Natürlich, das hätte ich können. Keigo hätte mir alles gestehen müssen und hätte hinterher nicht einmal etwas davon gewußt.«
»Und Sie taten es nicht?«
»Kapitän, halten Sie mich denn für einen Schuft?
Doch ich weiß, was Sie meinen. Das ist es eben, was ich niemals tue. Ich mißbrauche diese geheimnisvolle Kraft nicht, die mir durch Veranlagung gegeben worden ist, und die ich immer weiter ausgebildet habe. Ich wäre vielleicht imstande gewesen, diesen Japaner mit der Pistole zu zwingen, mir sein Geheimnis zu offenbaren — ja, ihn sogar deswegen zu foltern — deswegen lasse ich ihm doch noch immer seine Willensfreiheit, er kann wie ein Mann sterben, er kann sich stumm zu Tode martern lassen — — aber jemandem in seiner Willenlosigkeit sein Geheimnis, durch welches ich mich bereichern will, hinterlistig zu entreißen — — nein, niemals, niemals! Ein verfluchter Schuft, ein Hundsfott, wer so etwas tut!«
Der junge Kapitän machte plötzlich ein ganz merkwürdiges Gesicht, als er jenem die Hand hinhielt, seine Stimme zitterte wohl sogar etwas.
»Mr. Nobody, erst jetzt lerne ich Sie richtig kennen! Meine Hochachtung vor Ihnen! Ich habe Sie schon immer ob Ihrer außerordentlichen Fähigkeiten bewundert, als einen kraftvollen und kühnen, als einen tüchtigen Mann — nein, als einen tüchtigen Kerl! — jetzt bewundere ich auch Ihren Charakter. Nobody, Sie sind ein edler Mensch! Ich schätze mich glücklich, von Ihnen Freund genannt zu werden.«
»Na, lassen wir das,« meinte Nobody leichthin, desto kräftiger aber dem Kapitän die Hand drückend. »Dadurch aber bin ich noch nicht aus der Kalamität heraus. Sie können sich gar nicht denken, wie peinlich es mir ist, hinter mir ein Weib zu wissen, welches mich leidenschaftlich liebt, welches sich in Gedanken ständig mit mir beschäftigt, und welches mir ganz gleichgültig ist. Das irritiert mich. Und wie gesagt, Margarete tut mir aufrichtig leid. In dieser Hinsicht bin ich eben wirklich ein Gemütsmensch. Ich muß sie auf irgend eine Weise von dieser aussichtslosen Liebe kurieren. Aber wie?«
Nobody ging wieder sinnend im Zimmer auf und ab.
»Ja, jetzt weiß ich, wie ich es mache,« begann da Nobody wieder. »Ich fange sie in ihrer eigenen Schlinge. Doch lassen wir das jetzt, ich teile Ihnen den Plan ausführlich mit, wenn er in meinem Kopfe fix und fertig ist. Sie müssen auch in der Komödie mitspielen. — Jetzt will ich Ihnen erst etwas anderes erzählen.«
Und er begann sein Erlebnis mit Mr. Cerberus Mojan zu schildern.
Nobody hatte in London richtig den Brief erhalten, in welchem der spleenige Engländer bat, daß jener ihn den spiritistischen Apport lehren möchte, und wenn Nobody auch von vornherein beabsichtigte, mit Mr. Cerberus Mojan, dessen seltsamen Charakter er schon aus diesem Briefe erkannte, sich ein Späßchen zu machen, so doch nicht jetzt, er wollte ja nach China dampfen, allerdings in Kairo einen Aufenthalt nehmen — und um nun den alten Spiritisten einstweilen loszuwerden, ohne ihn direkt abzuweisen, schrieb er ihm, er solle nach Kairo kommen, im Hotel du Nil könne er ihn treffen.
Nobody hatte also keine Ahnung gehabt, daß der wiß- und lernbegierige Spiritist wirklich gleich seine Koffer packen und nach Kairo reisen würde.
Es ist schon wiederholt gesagt worden, daß unser Held seinen Beruf als Detektiv und Berichterstatter nur als Nebensache betrachtete. Die Hauptsache war ihm: das Leben zu genießen — und da ein jedes Tierchen sein eigenes Pläsierchen hat, so war das Pläsier dieses kraftvollen Mannes: Abenteuer zu bestehen. Aber während er so das Leben nach seinem Geschmacke genoß, versäumte er dabei niemals seine Pflicht, hatte trotzdem immer seine gewinnbringenden Geschäfte im Auge.
Diese Art von Lebensauffassung ist eine sehr gesunde, vielleicht die gesündeste. Freilich will dieses Verbinden von lebensfreudigem Genuß mit nüchterner Tätigkeit gelernt sein — wenn dies nicht eine köstliche Gabe ist, die überhaupt niemals gelernt werden kann.
So war die ›Wetterhexe‹ während der Fahrt nach dem Suezkanal schon einmal in Lissabon und in Gibraltar vor Anker gegangen, weil Nobody mit seinem Freunde wieder einmal ein Abenteuerchen erleben wollte.
Sie hatten es denn auch erlebt, viele sogar, aber wir brauchen sie nicht zu erzählen.
Durch diesen Aufenthalt war es gekommen, daß auch Marguérite von Amerika aus eher in Aegypten eintraf, als Nobody mit seiner schnellen Jacht, und daß er auch von Mr. Mojan überholt worden war.
In Aegypten nun wollte Nobody sich einen Jux mit seiner krummbeinigen Ordonnanz machen. Zwergnase sollte in Kairo als Nobody auftreten, er selbst spielte den Diener; außerdem hatte Nobody mit Zwergnase noch anderes vor, er wollte ihn einmal — wie man sagt — in die Patsche bringen und dann als ›deus ex machina‹ erscheinen — kurz und gut, es handelte sich wieder einmal um eine regelrecht ausgearbeitete Komödie.
Diese ist denn auch noch aufgeführt worden, und wird dies auch noch später erzählt werden.
In Tanta hörte Nobody in dem Hotelgarten den Namen ›Cerberus Mojan‹ nennen, er stutzte, erkundigte sich weiter und erfuhr, daß vor drei Tagen ein spleeniger Engländer Namens Cerberus Mojan hier gewesen war, der von dem bekannten Detektiv Nobody nach Kairo ins Hotel du Nil bestellt worden sein wollte, um dort den spiritistischen Apport zu lernen.
Na, nun freilich wurde der Plan geändert. Solch eine Gelegenheit ließ sich Nobody doch nicht entgehen!
Nobody begann nun zu schildern, zuerst wie er Puttfarken instruierte, wie dieser den Engländer empfing, wie er sich die Zunge aus dem Halse zog, wie er fürchtete, Mr. Mojan wolle ihm in die Nase beißen.
Flederwisch lachte gleich von vornherein aus vollem Halse.
»Ach, warum haben Sie nicht noch etwas gewartet, da hätte ich dabeisein mögen!!«
»Ein Glück, daß Sie's nicht waren.«
»Weshalb ein Glück?«
»Sie haben aber eine schöne Hose an!« sagte Nobody plötzlich, beugte sich im Stuhle vor und befühlte prüfend den Stoff von Flederwischs Beinkleidern.
Der Kapitän war nicht im blauen Seemannsanzuge gekommen, er trug ein modernes Kostüm.
Flederwisch war von dieser Zwischenfrage natürlich sehr überrascht.
»Das ist echter Nanking. Was in aller Welt aber hat denn meine Hose mit dieser Geschichte zu tun?!«
»Na, es wäre schade um diese schöne Hose gewesen; denn die hätten Sie nicht mehr anziehen können. Die wäre hin gewesen.«
Für Flederwisch genügte diese zarte Andeutung, und er lachte nur noch stärker.
Nobody machte ihm alle die Szenen vor, und jetzt zeigte sich einmal der geborene Schauspieler in seiner ganzen Genialität.
Er hatte keine zweite Person nötig, er spielte den krummbeinigen Puttfarken und den dicken Engländer mit dem offenen Munde zugleich, und Kapitän Flederwisch lag auf dem Sofa und drohte vor Lachen zu ersticken.
»Hören Sie auf, hören Sie auf, oder ich sterbe!!«
Es klopfte, Puttfarken trat ein.
»Da draußen ist ein Mann, der will Mr. Nobody sprechen.«
Noch ehe Nobody ihm die Visitenkarte abnahm, wechselte er schon mit dem Kapitän, dem das Lachen plötzlich erstarb, einen bedeutsamen Blick.
»Aah, richtig, Mr. Louis Wall! Da kommt er schon, um mich zu der Jagd im Geiergebirge einzuladen! Donnerwetter, die haben es aber eilig! — Hast du den Herrn gesehen? Kam er persönlich?«
»Ja, aber ich machte ihm nicht auf, ich ließ ihn draußen brüllen, daß er Mr. Nobody sprechen wolle, und ich brüllte durch die geschlossene Tür zurück, er solle sich durch einen Kellner anmelden lassen, so wie sich's gehörte. Denn der Kerl durfte mich doch nicht sehen, ich bin doch selber der Nobody.«
»Das war sehr weise von dir gehandelt,« lobte ihn sein Herr, »ich erkenne diese deine Vorsicht an, aber sie war unnötig, denn ich selbst muß als Nobody diesen Mann empfangen. Ich erwarte ihn.«
Mit einem etwas griesgrämlichen Gesicht entfernte sich Zwergnase, um den Auftrag auszuführen. Da war er also wieder degradiert worden, und das paßte ihm nicht. Als Diener wollte er sich aber deswegen immer noch nicht ausgeben.
Flederwisch mußte sich hinter die Portiere stellen, und sehr bald trat der Erwartete ein.
Mr. Louis Wall, wie er sich nannte, war ein noch junger Mann. Wenn sein Freund und Kompagnon ein Gauner war, so war es dieser doch auch, aber die Abenteurerphysiognomie fehlte ihm, er hatte sogar recht einnehmende Züge, einnehmend wenigstens für gewisse Leute, vielleicht besonders für Frauen, denn es waren auffallend sanfte, weiche Züge, es war ein Weibergesicht, daran konnte der starke, sorgsam gepflegte Schnurrbart nichts ändern, und ebenso sanft blickten auch die von Ringen umränderten Augen.
»Pfui Deiwel,« dachte Nobody sofort, »das ist so eine Physiognomie, die ich für den Tod nicht leiden kann! Da ist mir ein richtiges Verbrechergesicht doch tausendmal lieber. Ich brauchte nicht schon zu wissen, was dieser semmelblonde Adonis von mir will — dem traute ich keinen Schritt über den Weg.
»Sie wünschen, Mr. Wall?«
»Habe ich die Ehre, Mr. Nobody zu sprechen?«
»Ja, ich bin es. Woher aber weiß denn der Herr, daß ich Nobody sein könnte?«
Mr. Wall erklärte es. Mojan hatte unten im Hotel gleich erzählt, was er gesehen und erlebt habe, und wenn sein Nobody auch krumme Beine und eine riesige Nase gehabt habe — Mr. Wall ahnte sofort, daß der spleenige Engländer nur mystifiziert sein könne, aber der echte Nobody müsse dennoch im Hotel anwesend sein.
Das war die Einleitung, dann nannte sich Mr. Wall einen Hilfsbedürftigen, welcher die Dienste des berühmten amerikanischen Privat-Detektivs in einer heiklen und diskreten Angelegenheit in Anspruch zu nehmen wünsche, selbstverständlich gegen reichliches Honorar.
»Sie werden gewiß schon von dem Falle der Komtesse Cécile de Bauvaignon gehört haben, welche kürzlich in Paris auf eine geheimnisvolle Weise verschwunden ist?« fragte Mister Wall mit sichtlichem Zögern.
Obgleich Nobody den Fall kannte, verneinte er die Frage, jener mußte ihm die ganze Geschichte erzählen.
Diese kann mit kurzen Worten abgetan werden: die Komtesse, ein sehr schönes Mädchen, noch nicht 15 Jahre alt, hatte vor etwa vier Wochen eine Freundin besucht und war von diesem Besuche nicht wieder nach Hause zurückgekehrt. Jede Spur von ihr fehlte. Die Eltern setzten Himmel und Hölle in Bewegung, die ganze französische Polizei ward aufgeboten — — alles vergebens, Komtesse Cécile war und blieb verschwunden.
»Nun, und?«
So fragte Nobody ruhig, und dabei wußte er schon ganz genau, wo dieser Mann hinauswollte.
»Mein Herr, jetzt muß ich Sie erst, bevor ich mich Ihnen rückhaltlos anvertraue, um Ihre strengste Diskretion bitten. Geben Sie mir Ihr Ehrenwort, daß Sie mich nicht...«
»Unsinn! Sie haben das minderjährige Mädchen entführt!«
Anscheinend von einem Todesschreck gepackt, fuhr der Herr zurück.
»Woher... woher... wissen Sie...« brachte er stammelnd hervor und konnte dabei sogar seine Lippen zittern lassen.
»Ei bist du ein raffinierter Schuft,« dachte Nobody grimmig. »Dieses arme Mädchen, welches viele Juwelen trug, ist ganz sicher einem Raubmorde zum Opfer gefallen, dieser Überzeugung bist auch du, und eben weil auch du ganz bestimmt glaubst, daß der Leichnam der Unglücklichen in der Seine oder in einer Pariser Kloake liegt, benutzt du jetzt ihren Namen, um mich ins Gebirge zu locken. Ei, bist du ein Halunke! Aber warte, dir will ich einen Denkzettel anhängen!!!«
So dachte Nobody, und laut sagte er:
»Na, nach Ihrer Einleitung und nach Ihrem ganzen Benehmen muß ich doch sofort wissen, was es geschlagen hat, sonst wäre ich ein verdammt schlechter Detektiv. Also Sie haben das minderjährige Mädchen entführt.«
»Sie werden mich doch nicht der Polizei anzeigen?«
»Hören Sie, mein Herr,« sagte Nobody schroff, »wenn Sie so anfangen, dann verlassen Sie mich lieber gleich! Was kümmert mich denn die Polizei? Ich bin ein Privat-Detektiv, ich mache dem Staate Konkurrenz. Also?«
Der Mann tat, als ob er erleichtert aufatme, und er gestand, er erzählte sein fein ausgesonnenes Märlein.
Er hieß in Wirklichkeit gar nicht Louis Wall, war auch gar kein Engländer, sondern ein Franzose, Baron de Lasage.
Ja, er hatte die Komtesse Cécile de Bauvaignon vor vier Wochen entführt. Eine wahnsinnige Leidenschaft für das schöne, noch so jugendliche Mädchen, welches aber kein Kind mehr war, die heißblütige Südfranzösin erwiderte die Liebe — der dumme, um nicht zu sagen schlechte Streich wurde verabredet und ausgeführt. Die beiden flohen.
Das Pärchen ging nach Aegypten. Die Oase Fayum ist ein irdisches Paradies, und im Paradiese wollten die beiden leben — sie wandten sich also dorthin, wo ihre Entdeckung nicht so leicht zu befürchten war. Sie schwelgten in ihrer seligen Liebe, und es schadete nichts, daß man leider auch im Paradiese Geld braucht — Baron de Lasage hatte es im Überfluß.
Zwei Stunden von Medinet el Fayum entfernt, der Hauptstadt dieser zwei Quadratmeilen großen Oase, liegen an dem Salzsee Birket el Kerun die Trümmerreste der ältesten Pyramiden, überhaupt der ältesten Bauwerke der Welt, desgleichen die Ruinen des Labyrinthes von Möris, oder einfach das ägyptische genannt, und wenn man einmal in der Oase Fayum ist, so muß man doch auch solche Sehenswürdigkeiten besichtigen, und selbst ein durchgebranntes Liebespärchen kann sich doch nicht fortwährend küssen.
Gut, die beiden brachen mit Führer und Eseln, welche Proviant und auch ein Zelt trugen, nach dem einsamen Wüstensee auf.
»Haben Sie schon von Jussuf el Fanit gehört?« fragte der Erzähler.
Ja, Nobody hatte schon genug von diesem Wüstenräuber gehört, hatte sich immer lebhaft für diesen Beduinen-Scheikh interessiert, über den die abenteuerlichsten Sagen gingen. Aber wiederum verneinte er. Er wollte wissen, wie weit sich dieser Pseudo-Baron orientiert hatte, ehe er zu lügen anfing.
Nun, er war recht gut beschlagen.
Seit etwa drei Jahren machte Jussuf el Fanit mit seiner Bande die lybische Wüste unsicher, brandschatzte die von Fayum in das Innere von Afrika gehenden Salzkarawanen, aber noch lieber fing er die zurückkommenden ab, wenn sie das Salz schon gegen Goldstaub vertauscht hatten.
Doch er wollte nicht etwa als Räuber gelten. Nein, er nannte sich den Herrn der Wüste, und als solcher hatte er das Recht, von den durch sein Gebiet ziehenden Karawanen Tribut zu fordern, und zwar verlangte er den zehnten Teil der Waren, und gab man ihm den, so geleitete Jussuf el Fanit die Karawane sicher bis an die äußerste Grenze seines Gebietes, bis nach dem quellenreichen Tihbu oder dem waldigen Wadai.
Aber der Wüstenräuber machte zwischen den Karawanen einen Unterschied. Der Mann, dessen Gesicht noch kein Mensch gesehen, mußte einen glühenden Haß gegen die Engländer haben, denn nur diejenigen Karawanen hielt er an und machte bei Weigerung des Tributes die Begleitmannschaft nieder oder führte sie als Gefangene fort, welche mit englischem Gelde ausgerüstet waren und handelten, die auf Rechnung von Franzosen und Arabern gehenden ließ er in Ruhe, gab ihnen sogar durch unsicheres Gebiet freiwillig kostenloses Geleit. Nun aber liegt der von Fayum ausgehende Salzhandel zum größten Teil in englischen Händen, Jussuf el Fanit machte also das beste Geschäft, und es entging ihm keine einzige Karawane, und es nützte nichts, daß die englische Karawane unter — wie der Seemann sagt — unter falscher Flagge segelte, das sei das Salz und der Goldstaub eines französischen oder arabischen Händlers — der Wüstenräuber war ganz genau orientiert, der Beduine mußte geradezu wie in Medinet el Fayum, so auch sogar in den Londoner Bureaus seine Spione haben, er ließ sich weder durch Schwüre, noch durch Papiere beirren — er forderte seinen Tribut, und wenn man nur etwas zögerte, so kam es zum Kampf, und Jussuf nahm alles, und niemals hatte er sich getäuscht — wirklich waren es stets englische Waren gewesen.
Schon dieses eine, wie dieser Wüstenräuber, seinem Auftreten nach ein echter Beduine, so in den kaufmännischen Bureaus zu Hause war, mußte auf ihn ein rätselhaftes Licht werfen. Wer war das eigentlich? Man hielt ihn für einen vornehmen Araber, der eine gute Erziehung genossen, dem die Engländer ein Leid zugefügt hatten, und der dann unter die Beduinen gegangen war, um sich an jenen zu rächen.
Aber warum enthüllte er niemals sein Gesicht? Und dann führte er eine ganz eigentümliche Waffe, die man in der Wüste, in ganz Afrika sonst gar nicht kennt.
›Fan‹ heißt auf deutsch die Schlinge, el Fanit ist der Schlingenwerfer. Die Endsilbe ›it‹ ist die Kontraktion eines arabischen Wortes, welches ›werfen, schleudern‹ bedeutet. So ist ›dscherr‹ im Arabischen der Speer, und den Ehrennamen el Dscherrit, das ist also der Speerschleuderer, führt unter den Beduinen ein ganzes Geschlecht.
Aber einen el Fanit hatte es bisher noch nicht gegeben. Es war ein lederner Lasso, den dieser Wüstenräuber mit staunenswerter Geschicklichkeit handhabte, und die Beduinen, welche so etwas gar nicht kannten, konnten nicht genug von der Furchtbarkeit dieser ›stummen‹, so unschuldig aussehenden Waffe erzählen. Wenn nur das Wort ›Fan‹ genannt wurde, so bekreuzigten sie sich nach ihrer Weise.
Nun kam noch hinzu, mit welcher Kühnheit Jussuf auftrat, wie er sich mitten in dem stark bevölkerten Medinet el Fayum zeigte, um mit den Kaufleuten zu verhandeln, um der Wüstenpolizei und den Zollbeamten gleich in ihren Kasernen Vorschriften zu machen, wie er den ihm gestellten Fallen stets entging, wie er plötzlich verschwand, um an einer ganz anderen Stelle ebenso plötzlich wieder aufzutauchen — nun seine zahllosen Abenteuer, die von Mund zu Munde gingen, seine List, seine Kühnheit, seine Großmut, die er bei Gelegenheit zeigte — — kurz und gut, in jener Gegend war Jussuf el Fanit der Held des Tages, umgeben von einem Sagenkranz, ein moderner Rinaldo Rinaldini der Wüste, und es blieb den englischen Kaufleuten nichts anderes übrig, als ihm den geforderten Tribut gutwillig zu zahlen.
Nun darf der Leser mit Recht verwundert fragen: Wie ist denn so etwas am Ende des 19. Jahrhunderts möglich!?
Man muß noch dazu wissen, daß England in Aegypten eine ansehnliche Streitmacht hat, in der Oase Fayum selbst liegen drei Schwadronen englischer Dragoner, abgesehen von dem ägyptischen Militär, auf Kamelen beritten, eben zum Schütze des Salzhandels dort in der einsamen Oase stationiert.
Und dieses Militär, dessen Soldaten auch so halbe Beduinen und in der Wüste zu Haus sind, können solch einer lumpigen Räuberbande nicht das Handwerk legen?
Es ist ein gottloser Wunsch, aber interessant wäre es, wenn es zwischen den Beduinen der lybischen Wüste und einer europäischen Macht einmal zu einem Kriege käme. Dieser Fall würde eintreten, wenn Aegypten als Vasallenstaat der Türkei von einer Kriegsmacht angegriffen würde. Die Beduinen der lybischen Wüste, welche noch zu Aegypten gehört, bilden — ganz den russischen Kosaken entsprechend — im Kriegsfall die irreguläre Reiterei, und zwar sollen sie etwa 50 000 Lanzen und 15 000 Gewehre stellen können. Dieser Gehorsam beim Kriegsaufgebot ist kein erzwungener, hat auch nicht viel mit Patriotismus zu tun, sondern das hängt mit der Religion zusammen. Der Sultan ist zugleich der mohammedanische Papst, die Beduinen sind strenggläubige Muselmänner, der Vize-König von Aegypten ist des Sultans Vasall, also gehen die Beduinen für diesen, der die heilige Fahne trägt, auch durch Feuer und Wasser.
Gerade die letzte Zeit hat viele Beweise geliefert, daß die moderne Kriegstaktik nur im eigenen Lande wirksam ist, im Auslande versagt, und daß es nichts mit der Prophezeiung ist, die furchtbare Bewaffnung unseres heutigen Militärs würde einen Krieg im Gegensatz zu früher auf ein Minimum abkürzen. Der englische Burenkrieg, der Kampf auf den Philippinen, der Herero-Aufstand, der russisch-japanische Krieg — immer sind alle menschlichen Berechnungen in die Brüche gegangen, alle prophetischen Kriegspolitiker haben sich blamiert!
Und wer nun die Wüstenverhältnisse von Aegypten kennt, der kann schwer begreifen, wie man den Beduinen eigentlich etwas anhaben will. Die brechen sengend und mordend in das Niltal ein und verschwinden wieder in der Wüste. Und nun soll ihnen einmal europäische Kavallerie folgen! Da ist niemand zu sehen. Da gibt es keinen Hafer, kein Heu, kein Wasser, Brunnen waren, wohl vorhanden, aber die sind verschüttet worden, und selbst die besten Kundschafter, die hier zu Hause sind, vermögen sie in der eintönigen Sandebene nicht wiederzufinden, da versagt auch die sonst unfehlbare Witterung der Pferde auf Wasser, denn die Beduinen verstehen eine Gegenwitterung zu legen — und wenn Menschen und Tiere verschmachtet im Sande liegen, dann sind die Beduinen auf ihren schnellen Rossen, die wie ihre Herren nur eine Handvoll Datteln brauchen, über ihnen, und hinter ihnen fallen sie von neuem in das Niltal ein, um von neuem spurlos zu verschwinden.
Nein, so lange die Wüste eine Wüste ist, ist den Beduinen nichts anzuhaben, und genau so stand es mit jener Räuberbande. Man mußte ihr Tribut zahlen und geduldig warten, bis einmal eine innere Zwistigkeit diesem Unwesen ein Ende machte. Denn auf eine Unterstützung durch einen anderen Beduinenstamm durfte man nicht hoffen. Gerade die Umgebung der paradiesischen Oase Fayum ist die denkbar ödeste, dort haust der winzige Stamm der Beni Sidis, auf jeden Menschen kommen dort zehn Quadratmeilen, und die Beni Sidis steckten mit den Räubern jedenfalls unter einer Decke. Ein anderer Beduinenstamm aber, den man gegen die Räuber zu Hilfe rief, hätte hier auch nichts ausrichten können, fremde Beduinen waren hier eben fremd, auch sie hätten die Brunnen nicht gefunden.
Bisher hatte man dem kühnen Jussuf el Fanit noch keinen eigentlichen Raub vorwerfen können. Jetzt sollte er zum Mädchenräuber geworden sein.
Der Zufall konnte ja eintreten, daß die kleine Eselkarawane der Räuberbande begegnete, aber man wußte doch ganz bestimmt, daß harmlose Reisende nichts zu fürchten hatten. Man hatte sich geirrt.
Als sie ein Tal des Geiergebirges, welches den Birket el Kerun im Westen begrenzt, passierten, stießen sie mit Beduinen zusammen.
Baron de Lasage erzählte oder log ganz ausführlich. Wir brauchen ihn nicht anzuhören.
»Ich bin Jussuf el Fanit, der König der Wüste, dieses Mädchen, welches du da bei dir hast, erregt mein Wohlgefallen, es gehört mir!«
So hatte der auf prachtvollem Rosse sitzende Beduine gesprochen, der um seine Hüften eine lange Lederschnur gewickelt trug, und hinter dessen Gesichtstuch die glühenden Augen so unheimlich funkelten.
So hatte der Räuber gesprochen und dem Herrn Baron die jammernde Komtesse ganz einfach weggenommen.
»Hm,« brummte Nobody, »hat er Ihnen denn nicht wenigstens etwas anderes dafür angeboten, das ist doch sonst Beduinensitte, wenn auch nur die Gerechtigkeit gewahrt werden soll.«
»Freilich, ich sollte mir unter den Weibern seines Stammes das schönste auswählen.«
»Hatte er denn Weiber mit?«
»Eine ganze Menge! Ich habe doch auch sein Zeltlager gesehen, ganz verborgen in einem Felsenkessel mit Pferden und Kamelen und Windhunden und Weibern und Kindern.«
Daß die Räuberbande, wenn sie sich so nahe an die Oase heranwagte keine Frauen und Kinder bei sich hatte, war ganz selbstverständlich. Aber Nobody hütete sich, dem Manne zu widersprechen.
»Haben Sie kein Lösegeld angeboten?«
»Alles habe ich versprochen — Gold und Gewehre und alles, ich hätte doch gern mein ganzes Vermögen geopfert — nein, brauchte er nicht, das alles hätte er selbst im Überfluß, er wollte das weiße Mädchen haben.«
»Und da rückten Sie also solo wieder ab,« konnte sich Nobody jetzt nicht enthalten, mit einigem Spott zu bemerken.
Der saubere Baron, der gar nicht zu fühlen schien, in was für ein jämmerliches Licht er selbst sich setzte, hob nur die Schultern und versuchte ein möglichst schmerzensreiches Gesicht zu machen.
»Du lieber Gott, was sollte ich denn tun?« meinte er weinerlich.
»Es waren wenigstens 50 Beduinen, alle bis an die Zähne bewaffnet, gegen die konnte ich den Kampf doch nicht allein aufnehmen, meine beiden Eseljungen waren mir ja auch noch ausgerissen. Aber,« setzte er etwas freudiger hinzu, »Cécile weiß doch ganz bestimmt, daß ich sie nicht im Stiche lassen werde, und diese ihre Zuversicht tröstet mich etwas.«
»Was taten Sie nun?«
»Ich ritt schnell wieder nach Medinet zurück. Aber was sollte ich hier? Ich war ganz fremd, kann nicht Arabisch. Und ich durfte den Vorfall nicht einmal melden, ich hätte den Namen der Geraubten nennen müssen, und das darf ich doch nicht, ich kann mich doch nicht kompromittieren. Außerdem hätte ich in der Stadt keinen einzigen Menschen gefunden, den ich zu einer Verfolgung des Räubers hätte bewegen können, die fürchteten sich ja alle vor Jussuf wie vor dem Teufel.«
Kompromittieren — was für ein hübscher, eleganter Ausdruck!
»Da fiel mir glücklicherweise ein,« fuhr der Baron fort, »daß ich ja in Kairo einen Freund habe. Es ist ein gewisser Mr. Huxley, ein Engländer, der schon viele Jahre in Aegypten ist und daher alle Verhältnisse kennt. Ich also schnell hierher nach Kairo und meinen Freund aufgesucht...«
»Wann ist denn das eigentlich geschehen?«
»Als mir meine Braut geraubt wurde? Erst gestern — jawohl, gestern früh war es, als ich mit dem Räuber im Geiergebirge zusammenstieß. Gegen Mittag war ich wieder in Medinet, bis hierher fährt man mit dem Schnellzug nur sieben Stunden, gestern abend war ich also in Kairo, heute früh traf ich meinen Freund, — na, das stimmt doch alles?«
Jawohl, es stimmte alles!
»Was sagte denn nun Mister Huxley?«
»Ja, da ist schwer etwas zu machen. Das einzige wäre, dem Räuber etwas zu bieten, was ihn noch mehr reizt, als Gold und ein schönes Mädchen. Man muß mit dem Charakter eines Beduinen rechnen. Etwa kostbare Waffen — oder ein prächtiges Pferdegeschirr — oder — oder — Feuerwerk, das dürfte so einem Beduinen auch gewaltig imponieren! Meinen Sie nicht?«
»Jawohl, Feuerwerk,« bestätigte Nobody, »Frösche und bengalische Zündhölzer. O, ich verstehe recht gut, was Sie meinen.«
Und nun wußte der scharfsinnige Detektiv auch gleich, was jetzt weiter kommen würde.
»Mein Freund ist jetzt auf der Suche nach solchen Sachen, welche das Herz eines Wüstenräubers erfreuen könnten,« fuhr der Pseudo-Baron fort. »Wir hatten uns hier im Hotel du Nil getroffen, und da hörte ich auf einmal, daß sich der berühmte amerikanische Detektiv hier befindet. Es war mir, als ob ich eine Himmelsbotschaft vernähme. Wenn jemand imstande ist, das unglückliche Mädchen aus der Hand des Räubers zu befreien, dann sind Sie es!«
»Wie sollte ich denn das machen? Es ist wahr, ich kann Arabisch, ich habe es gelernt, aber nicht an Ort und Stelle, ich bin noch nie in Aegypten gewesen.«
O, das hatte nichts zu sagen, nicht einmal arabisch wäre nötig. Jussuf el Fanit sprach auch Englisch und Französisch, das war bekannt, und Baron de Lasage entwickelte seinen schnell gefaßten Plan ausführlich.
Da das Renkontre erst gestern stattgefunden hatte, so war zu erwarten, daß der Räuber mit seiner Bande noch in jenem Felsentale lagere, und das um so mehr, weil sie eben dabei gewesen wären, einen Brunnen zu graben — zu bohren, wie sich der Baron ausdrückte.
Nobody sollte also den Wüstenräuber aufsuchen und ihm zuerst durch seine Gauklerkunststücke imponieren, die doch auch den gebildetsten Menschen fesselten, um wie viel mehr solch einen Mann der freien Wüste, um nicht zu sagen der Wildnis, der Kraft und Gewandtheit ganz besonders hochachtet und vor allem, was er nicht begreift, eine heilige Scheu empfindet.
Hatte sich der fremde Gast auf diese Weise die Hochachtung des Räubers erworben, so mußte er den gewonnenen Einfluß dazu benutzen, jenen zu bewegen, daß er die Gefangene freiwillig wieder ziehen ließ. Gelang dies nicht, oder war gar keine Aussicht vorhanden, daß dies glücken würde, dann mußte Nobody eben List und Gewalt anwenden, die Gefangene zu befreien, er entführte sie wieder dem Räuber. —
Das war der ganze Plan, im Grunde genommen sehr einfach, aber von der anderen Seite betrachtet, äußerst raffiniert.
Man muß bedenken, daß ›Worlds Magazine‹ ständig Erzählungen von und über Nobody brachte, er berichtete mit eigener Feder seine Erlebnisse, ein anderer Mitarbeiter schilderte ein neues Taschenspielerkunststück, welches dieser Allerweltskerl irgendwo ausgeführt hatte, und immer und immer klang aus allem der Abenteurercharakter dieses rätselhaften Mannes hervor.
Hieraus nun war der ganze Plan aufgebaut.
Ob er der Jagdeinladung irgend eines Engländers, den er gar nicht kannte, gefolgt wäre, das war sehr die Frage. Aber sich auf gut Glück unter eine bekannte Räuberbande zu begeben, verwegene Abenteuer zu bestehen, ein gefangenes Mädchen den Wüstenräubern aus den Zähnen zu rücken — so etwas ließ sich dieser Mann auf keinen Fall entgehen, da gab er Reise und alles auf, was er sonst vorhatte.
Jetzt hieß es nur, den Gauner nicht erst durch vorsichtige Fragen mißtrauisch zu machen.
»Gut, ich will es riskieren. Was zahlen Sie mir dafür?«
»Fordern Sie.«
»100 000 Francs.«
Der Gauner, für den solch eine Summe noch einen ganz besonderen Klang hatte, schnellte erschrocken vom Stuhle empor.
»100 000 Francs?! Sie sind wohl nicht recht...«
»Was bin ich?« fragte Nobody scharf, als jener noch rechtzeitig stockte.
»Herr, Sie sind teuer!«
»Billig bin ich freilich nicht, ich will verdienen, besonders wenn ich erwarten kann, massakriert zu werden. Und ich denke, Herr, Sie sind bereit, für die Befreiung der Komtesse Ihr ganzes Vermögen zu opfern?«
Der falsche Baron sah ein, daß er nicht so knausrig sein durfte — zumal es ja nicht aus seiner Tasche ging.
»Gut, Sie erhalten 100 000 Francs, sobald Sie meine Braut befreit haben.«
»Darauf lasse ich mich nicht ein, ich verlange die 100 000 Francs sofort im voraus, ob ich das Mädchen bringe oder nicht. Aber ich kann Ihnen versichern, daß ich es, wenn es noch lebt, auch befreien werde.«
Nach kurzer Überlegung erklärte sich der Baron mit allem einverstanden, nur müsse er erst sehen, ob er die große Summe sofort herbeischaffen könne, und er verließ das Zimmer.
»Das nennt man ein Geschäft,« schmunzelte Nobody, als der Kapitän wieder hinter der Portiere hervortreten durfte, »jetzt muß die Prinzessin die Gauner bezahlen und mich noch extra, und ich werde die 100 000 Francs ohne Gewissensbisse einstecken, da kann man manches Gute damit tun. Wissen Sie, wo jetzt der andere ist, der Mr. Huxley, oder was er jetzt sogleich tun wird? Der kauft nicht etwa jetzt Schwärmer und bengalisches Feuerwerk ein, sondern der muß jetzt sofort nach Fayum vorausreisen und arabische Banditen engagieren, mit deren Hilfe ich gefangen und geblendet werden soll, das ist der Hauptmacher. Die Hypnotisierte hat uns ja verraten, daß er schon in Aegypten gewesen ist und auch die Oase Fayum gut kennt, so hat er ihr gegenüber wenigstens behauptet, und ich glaube ihm auch.«
»Und Sie wollen sich wirklich in dieses gefährliche Abenteuer einlassen, so wie es die beiden Gauner projektiert haben?« fragte Flederwisch mit sorgenvollem Gesicht.
»Ja. Ich gehe scheinbar in die Falle, lasse mich fangen und fesseln und sehe zu, wie man das Eisen glühend macht. Weiter sehe ich freilich nicht mit zu, dann greife ich selbst mit handelnd ein.«
»Mann — wenn Sie es aber so weit kommen lassen wollen, daß man schon Vorbereitungen dazu trifft, um Sie zu blenden — was für einer furchtbaren Gefahr setzen Sie sich aus, wenn nur eine einzige Ihrer Berechnungen, die Sie doch machen müssen, falsch ist?«
Nobody stopfte bedächtig seine kurze Meerschaumpfeife und brannte sie an.
»Freilich, ein großes Risiko ist vorhanden. Aber, lieber Freund, wenn keine Gefahr dabei wäre, dann wäre es auch nichts für mich, dann würde ich mich auf den ganzen Schwindel gar nicht einlassen. Und wissen Sie, was ich dann mit den beiden Gaunern machen werde?«
»Sie auspeitschen.«
»Das vielleicht auch. Jedenfalls liefere ich sie zur Bestrafung aus.«
»Der Justiz?«
»Ja, der Justiz, aber nicht den gesetzmäßigen Richtern. Ich übergebe sie dem Jussuf el Fanit und sage ihm, wie sie ihn schlecht gemacht haben, daß er ein junges Mädchen geraubt haben soll, und der mag sie dann nach dem Wüstenrecht bestrafen; gelinde wird die Strafe nicht sein, aber das geht mich nichts an.«
»Glauben Sie denn, daß sich der Wüstenräuber wirklich dort bei der Oase aufhält?«
»Nein. Das wäre nur ein großer Zufall. Die ganze Geschichte ist doch nur aus der Luft gegriffen. Aber wo Jussuf el Fanit auch sein mag — ich, Detektiv Nobody, werde ihn zu finden wissen, und ich werde es sein, der das Rätsel lösen wird, wer sich hinter diesem Wüstenräuber, der niemals sein Gesicht enthüllt, eigentlich versteckt!«
Nobody, noch immer mit seiner Pfeife beschäftigt, hatte ganz gleichgültig gesprochen, aber gerade diese sichere Ruhe machte auf den jungen Kapitän einen gewaltigen Eindruck.
»Der geheimnisvolle Beduine wird den Schleier nicht freiwillig lüften.«
»Dann muß es mit Gewalt geschehen, dann kommt es zwischen uns zum Kampf.«
»Dieser Kampf würde in der Wüste stattfinden, und Ihr Gegner ist ein Sohn dieser Wüste!«
»Nun, ich bin in derselben auch etwas zu Hause, vielleicht werde ich Ihnen das noch beweisen können, denn auch Sie werden mich begleiten, allerdings nicht direkt als Gesellschafter. — Hahaha, wenn die wüßten, was sie für einen Streich begehen, daß sie mich gerade im Geiergebirge stellen wollen! Gerade dort habe ich nämlich meine Wüstenstudien gemacht, ich habe einst ein halbes Jahr am Birket el Kerun auf Hyänen und Wildschweine gejagt, habe dort ein richtiges, einsames Jägerleben geführt, und ich lernte in einem halben Jahre, was mancher in seinem ganzen Leben nicht lernt.« —
Wir brauchen nur noch zu wissen, daß eine Stunde später Nobody die 100 000 Francs in bar erhielt — nicht aus den Händen des Mr. Wall, dazu war Marguérite zu vorsichtig, der wäre mit einer solchen Summe wahrscheinlich durchgebrannt — sondern durch einen Bankbeamten.
Noch am Abend desselben Tages begab sich Nobody mit dem Baron nach dem Bahnhof.
Der Freund, Mr. Huxley, war noch nicht wieder in das Hotel zurückgekommen, und der Baron wollte nicht mehr auf ihn warten, der sei jetzt doch überflüssig geworden — und Nobody war ganz damit einverstanden, denn der würde doch überhaupt niemals wiederkommen, der befand sich bereits unterwegs nach Fayum.
Sie fuhren in fünf Stunden bis nach der Station Beni Suef, nach dem dort hausenden Beduinenstamm benannt, von da zweigt sich die Bahn rechts nach der Oase Fayum ab, wobei sie durch das ausgetrocknete Bett des ehemaligen Josephs-Kanals führt, der jetzt ein fruchtbares Defilee bildet. Die aufgehende Sonne beleuchtete das reizende Oasenstädtchen Medinet el Fayum.
Auf der ausgezeichnet erhaltenen Landstraße, welche die zwei Quadratmeilen große Oase Fayum durchschneidet, bewegten sich drei Reiter dem Westen zu.
Alle drei trugen den zum Wüstenritt allein geeigneten arabischen Burnus, welcher den ganzen Körper gegen den glühenden Flugsand hermetisch abschließt und dennoch luftig ist. Noch aber hatte der eigentliche Wüstenritt nicht begonnen, noch befanden sie sich zwischen blühenden Gefilden, deshalb waren auch die Gesichtsschleier noch nicht nötig.
In den beiden vorderen Reitern auf sehr guten Pferden erkennen wir Nobody und den Baron, der ihnen auf einem mageren Klepper folgende Mann ist ein junger, kaffeebrauner Araber mit verschmitzten Zügen.
Es ist wirklich ein irdisches Paradies, die Oase Fayum, noch ein Kunstprodukt der alten Aegypter, in die Wüste gezaubert. Denn der jetzige Birket el Kerun ist der letzte Überrest des alten Mörissees, welcher zur Zeit der Überschwemmung das überflüssige Nilwasser für die Zeit des Mangels auffing. Die Dämme dieses mächtigen Reservoirs sind schon längst gebrochen, es lief aus, der jetzige See, obgleich noch immer eine Quadratmeile groß, ist gegen das frühere Kunstbassin eine verschwindende Kleinigkeit, auch ist er jetzt versalzt, die meisten der einst zahllosen Kanäle, welche die Oase durchkreuzten, sind versandet — aber was noch vorhanden ist, das reicht noch immer, um dieses mitten in einer trostlosen Wüste gelegene Land vielleicht zur fruchtbarsten Gegend der Erde zu machen.
Was hier der Mais und die Baumwolle für eine Riesenhöhe erreichen! Hier liefern einige Bodenstriche im Jahre drei Ernten! Diese Rosenkulturen, aus denen das berühmteste Rosenöl gewonnen wird! Diese Datteln, Feigen und Granatäpfel! Und dann vor allen Dingen diese Weintrauben!
Als die Späher der Israeliten das gelobte Land ausgekundschaftet hatten, brachten sie eine Weintraube mit, welche von zwei Mann getragen werden mußte. Dieser Bericht der Bibel klingt sehr unglaublich. Nun, wenn es in der Oase Fayum auch nicht solch mächtige Trauben gibt — dort gewinnt man die Überzeugung, daß ein Naturspiel doch einmal sie entstehen lassen kann. Es sind Trauben, wie man sie nirgends zu sehen bekommt, so groß wie die Hühnereier sind die Beeren alle, und dabei der köstlichste Wein! Aber die Trauben der Oase Fayum kommen als Tafelobst ausschließlich an den Hof von Kairo und Konstantinopel.
Da bricht die Landstraße ab, ein dorniges Mimosengestrüpp, welches den Flugsand abhält, und dahinter beginnt die gelbe Wüste, auf welcher gerade hier, dicht neben dem fruchtbarsten Lande, auch kein Grashälmchen gedeiht.
An dieser Scheide zwischen Wüste und Kultur liegt wie eine Grenzfestung ein Felsen, auf welchem einige von einer Mauer umringte Lehmhütten stehen — Sal Bekr, das letzte Dorf.
Es war schon alles ausgemacht — und zwar in doppeltem Sinne gemeint.
Als die beiden in Medinet den Zug verließen, hatte der Baron auf dem Bahnhof ›zufällig‹ den jungen Araber erblickt, der ihn vorgestern als Führer und Eseltreiber nach dem Geiergebirge begleitet hatte.
Ja, der kühne Jüngling war bereit, die Führung nochmals zu übernehmen, obgleich er den furchtbaren Jussuf el Fanit im Geiergebirge wußte, und er konnte dem Detektiv ganz genau erzählen, wie der Wüstenräuber plötzlich hinter einem Felsblock aufgetaucht war und dem vornehmen Faringi das weiße Mädchen abgefordert hatte, alles stimmte mit der Erzählung des Barons überein.
Dies alles war natürlich das Werk des vorausgereisten Huxley, der seine Leute schon engagiert und instruiert hatte.
Nobody hätte, wenn er gewollt, den Herrn Baron in schwere Verlegenheit bringen können. Wo z. B. hatte denn in Medinet das Liebespärchen logiert? Allerdings hätte der geriebene Gauner wohl immer eine Auskunft gewußt, die nicht so leicht zu kontrollieren war, doch schließlich hatte ihn Nobody mit leichter Mühe der Lüge überführen können. Aber er dachte natürlich nicht daran, er glaubte alles, vermied sogar jede Frage, die jenen in Verlegenheit setzen konnte.
Das Pärchen hatte bei seinem Ausflug einen anderen Weg genommen, wobei man kein Dorf mehr passiert. Aber der Baron durfte den Kundschafter nicht begleiten und wollte doch in seiner nächsten Nähe sein, irgendwo mußte er warten, und so war auf Anraten des Führers hier dieses Dorf dazu ausersehen worden.
Sie ritten einen steilen Pfad hinauf, wurden von bellenden Hunden und nackten Kindern empfangen und dann von einem schmutzigen Griechen, welcher in diesem Dorfe ein sogenanntes Bachchal unterhielt, das ist ein Laden, in welchem so ziemlich alles zu haben ist, was zu des Leibes Notdurft gehört, und dieses hier war noch besonders für Fremde eingerichtet, welche am Birket el Kerun jagen wollten, es enthielt ein Lager von Pulver, Patronen und anderen Jagdutensilien, selbst einige gute Gewehre standen zum Verkauf, und der Grieche verfehlte nicht, den unbewaffnet Ankommenden dies anzubieten.
Denn die beiden hatten Kairo als harmlose Gentlemen verlassen, jeder nur mit einem kleinen Koffer versehen. Im Zuge wurde geschlafen und in Medinet nur ein Hotel bezogen, um sich von hier aus Pferde und einen Burnus, und was sonst noch zum Wüstenritt gehört, zu besorgen.
»Haben Sie Waffen bei sich?« hatte der Baron gefragt.
Nobody konnte nicht gut verheimlichen, daß er als Detektiv einen Revolver bei sich führte, und der Gauner überlegte sich, daß er seine ängstliche Vorsicht nicht übertreiben dürfe.
»Der genügt für alle Fälle. Ich habe auch einen Revolver bei mir. Von sichtbaren Waffen würde ich abraten. Der arabische Führer meint ebenfalls, wir sollten lieber gar keine Gewehre mitnehmen, denn wir müßten sie dem Besitzer des Bachchals in jenem Dorfe zur Aufbewahrung geben, und wir könnten sicher sein, daß der Grieche etwas daran ruinieren würde, um sich den Lohn für die Reparaturen zu verdienen. Er entfernt eine Schraube und verkauft dann diese für eine aus seinem Laden.«
Nobody war wieder mit allem einverstanden gewesen. —
Nachdem sie also jetzt das Angebot von Jagdgewehren abgelehnt hatten, ließen sie sich Brot, Früchte, Käse und Wein bringen und setzten sich vor das Haus, von wo aus sie einen Blick über die Gegend hatten, in welcher sich die nächsten Szenen abspielen würden, die sich jede Partei in einer anderen Weise ausmalte.
In nicht allzuweiter Ferne schimmerte der blaue Spiegel des Birket el Kerun, welcher viele kleine, aber ganz nackte Felseninseln enthält, seine Ufer sind mit dichtem Mimosengestrüpp bestanden, in dem es von Hyänen, Füchsen, Schakalen und Wildschweinen wimmelt, das südliche, sumpfige und beschilfte Ufer ist die Brutstätte von zahllosem Wassergeflügel, und im Westen erhebt sich jäh aus der ebenen Wüste ein hohes Gebirge mit spitzen Zacken, auf denen die Geier horsten, welche ihre Nahrung in der belebten Oase suchen.
Doch nicht von diesen Geiern hat das Gebirge seinen Namen, sonst könnte es in Aegypten viele Geiergebirge geben, denn der Aasgeier ist dort ein förmliches Haustier, früher auch geheiligt, und der Araber sieht es noch heute ungern, wenn man einen Geier schießt, denn dieser ist in den Städten und Dörfern der einzige Sanitätsbeamte, welcher allen Unrat und alles andere, was die Luft verpesten kann, beseitigt, und in jedem Gebirge haust er in großer Menge.
Hier aber hatte die bildende Natur diesem geflügelten Sanitätsbeamten ein steinernes Denkmal gesetzt. Auf einer der höchsten Zacken ruhte ein Felsblock, der von weitem genau wie ein mit gespreizten Flügeln dasitzender und nach Beute spähender Geier aussah. Daher der Name des ganzen Gebirges: Dschebel el Dschai — das Geiergebirge.
Eine Frage konnte sich Nobody doch erlauben.
»Hat sich in den letzten Tagen Jussuf el Fanit einmal in dieser Gegend gezeigt?« wandte er sich an den Griechen.
Dieser; welcher durch die vermutete Nähe des Räubers sein Geschäft bedroht sah, schwur hoch und heilig, Jussuf el Fanit sei noch nie hier gesehen worden, der fahnde doch nur auf Karawanen, und solche kämen gar nicht durch diese Gegend — und der edle Grieche hatte ausnahmsweise die Wahrheit beschworen.
Das aber konnte dem Herrn Baron nicht recht in seine Lügerei passen.
»Der wird nichts verraten, der steckt doch mit dem Räuber unter einer Decke,« flüsterte er seinem Begleiter schnell zu.
Und richtig, jetzt bemerkte der Grieche, daß er doch einen kleinen Fehler begangen hatte, und schnell fügte er hinzu, es könnte doch sein, daß der Herr der Wüste auch einmal in dieser Gegend Umschau halte, die Herren, welche den See besichtigen wollen, täten doch besser, sich mit Gewehren zu versehen...
»Oder ich kann Ihnen hier diese Pistolen empfehlen, arabische Arbeit, wie sie der Emir von Bagdad nicht besser im Gürtel stecken hat. Oder vielleicht ein Sonnenschirmchen gefällig? Gar nichts?«
Die Mahlzeit war beendet, und man hatte nichts mehr zu verabreden.
Der Baron blieb zurück, um hier den Erfolg abzuwarten, der Araber, mit einem kleinen Wasserschlauch und einigem Proviant belastet, ritt voraus, Nobody folgte ihm — in sein ungewisses Schicksal hinein.
Noch aber war das Gebirge weit entfernt, hier in der Ebene drohte ihm kein Hinterhalt, und so konnte er sich erst der Erinnerung an jene Zeit hingeben, da er am Birket el Kerun ein Jägerleben geführt hatte.
Mit diesem Birket el Kerun ist ein Rätsel verknüpft.
In den ausführlichen Geographiebüchern ist er als ein Süßwassersee angeführt, und das mit Recht, denn Birket el Kerun heißt wörtlich übersetzt: der See der Trinkbare, also ein See mit trinkbarem, mit süßem Wasser.
Kommt man aber im Sommer nach der Oase Fayum und äußert seinen Entschluß, daß man am Birket el Kerun einige Zeit jagen will, so sagen die Araber: »Dort kannst du nicht leben, du hast kein Wasser.« — »Ich denke, der See hat trinkbares Wasser?« — »Nein, der Birket el Kerun ist ganz salzig.«
Und wirklich, wenn man hingeht, findet man, daß ›der See der Trinkbare‹ ein bittersalziges, ganz ungenießbares Wasser enthält.
Woher kommt diese falsche Benennung? Die Vermutung liegt nahe, daß der Name Birket el Kerun noch aus der Zeit herstammt, als hier der riesige, vom Nilwasser gespeiste Mörissee vorhanden war. Der lief aus, der letzte Rest versalzte — oder es war überhaupt schon dieser Salzsee vorhanden gewesen, den man wegen seiner tiefen Lage nur als einen kleinen Teil des Bassins benutzt hatte, und das Nilwasser floß in so kolossaler Menge zu, daß man den Salzgeschmack gar nicht mehr merkte — und jetzt war wiederum nur noch die Salzpfütze da, freilich immer noch eine riesige ›Pfütze‹.
Doch man irrt sich mit dieser Hypothese, woher der Name Birket el Kerun stammen könne. Das Wasser ist wirklich trinkbar, man muß nur im Winter kommen, und auch im Sommer findet man in diesem See süßes Wasser, wenn man mit einem Boot in die Mitte fährt und dort schöpft.
Die Sache ist nämlich folgende: Der Birket el Kerun steht durch einen unterirdischen Kanal mit dem meilenweit entfernten Nil in Verbindung. Und das Frischwasser mischt sich mit dem Salzwasser nicht gar so leicht, vor allen Dingen schwimmt es, da es leichter ist, immer oben, deshalb ist das Wasser in der Mitte immer frisch, während es an den Ufern ganz bittersalzig ist. Dieses Phänomen steht nicht einzig da. So gibt es hauptsächlich an der Ostküste Amerikas, bei Florida, mitten im Meere frische Quellen, das Wasser ist dort völlig genießbar.
Steigt nun im Winter der Nil, so steigt auch der Birket el Kerun, das Frischwasser schwimmt oben, und jetzt führt der ›trinkbare See‹ seinen Namen mit Recht.
Nun dringen auch durch den unterirdischen Kanal beständig Nilfische in den See, sie geraten in das Salzwasser, was sie nicht vertragen können, sie sterben, der See wirft sie ans Ufer, und daher dort die Unzahl von Hyänen, Füchsen und anderem Raubgesindel, und ferner von Wildschweinen, welche gleichfalls Aas lieben. —
Das Geiergebirge war erreicht. Und da gab es keinen Übergang aus der flachen Ebene zum hohen Gebirge. Man kann es eigentlich gar kein Gebirge nennen.
Hier hat die Natur wie ein phantastisches Kind gespielt, welches sich auf dem Tisch aus Lehm ein Gebirge aufbaut, die Klümpchen zu seltsamen Figuren knetet, hier eine scheinbar natürliche Brücke schlägt, dort in den weichen Felsen eine Höhle einbohrt usw. — nur daß hier die gewaltige Natur in Riesengröße gespielt und statt des weichen Lehms Granit geknetet hatte. Das ganze Gebirge war ein unentwirrbares Labyrinth von Gängen, von den bizarrsten Felsfiguren gebildet, zerrissen von Schluchten und durchlöchert von Höhlen, und alles wie auf einen glatten Tisch hingesetzt.
»Wunderbar!!« rief Nobody.
Wollte er nun in dem vorausreitenden Araber den Glauben erwecken, er sei noch nicht hier gewesen, oder staunte er von neuem dieses phantastische Spielwerk der allgewaltigen Natur an — er tat diesen Ausruf.
Er sollte nicht viel Zeit zum Staunen haben.
Der Araber war noch keine hundert Schritt in die erste Schlucht hineingeritten, deren Boden mit abgestürzten Felsblöcken bedeckt war, als er hinter sich einen unregelmäßigen Hufschlag vernahm, und als er sich umblickte, sah er, wie sich das gestürzte Pferd seines Begleiters soeben wieder aufrichtete, während sein Reiter am Boden liegen blieb.
Der erschrockene Araber fing das leidige Pferd am Zügel auf und sprengte die wenigen Schritte zurück.
»Du bist gestürzt, Effendi?!«
Nur ein Stöhnen antwortete ihm. Nobody lag in sehr unnatürlicher Stellung da, auf dem Rücken, unter diesem den rechten Arm und das linke Bein schief unter dem Leib.
»Du bist ein schlechter Reiter, Effendi, wie konntest Du dein Pferd auf diesem guten Weg stürzen lassen! Du hast doch nicht etwa etwas gebrochen? So stehe doch auf!«
»Der verdammte Gaul... ist gerade auf mich gestürzt,« ächzte Nobody und versuchte den rechten Arm unter seinem Körper hervorzuziehen, was ihm nicht gelingen wollte und ihm die größten Schmerzen zu bereiten schien, »da... da... da hängt mein Arm wie ein Waschlappen. Der ist ausgekugelt.«
Jetzt sprang der Araber ab, hing die beiden Zügel über eine Felsspitze, beugte sich herab und beschäftigte sich mit dem Gestürzten.
Nicht nur der rechte Arm hing schlaff herab, sondern auch der linke Fuß stand in ganz unnatürlicher Stellung, und Nobody stöhnte, als ihn der Araber aufzurichten versuchte, knickte gleich wieder zusammen.
»Warum konntest du nicht mit deinem Sturze noch etwas warten?« jammerte der Junge. »Wir sind ja gleich an der Stelle, wohin ich dich führen sollte!«
»Kerl, du bist ein Esel. Bin ich etwa gestürzt oder der elende Gaul, den du selbst ausgesucht hast? Ein Glück nur, daß ich nichts gebrochen habe.«
»Kannst du nicht wenigstens wieder aufs Pferd steigen? Ich hebe dich hinauf.«
»Laß mich! Ich bin kein Weib, deshalb brülle und flenne ich nicht, aber schmerzen tut's doch höllisch. Ich bleibe hier liegen, oder schleife mich dort in die Höhle, dort liege ich im Schatten, gib mir einen Fetzen von deinem Burnus und laß den Wasserschlauch da, den Verband kann ich mir selber anlegen, und du jagst einstweilen zu dem Effendi zurück und meldest ihm, was mir passiert ist. — Oder halt! Weißt du, jetzt kundschaftest du erst aus, ob Jussuf el Fanit in dem Tale noch sein Lager hat, und ist es der Fall, dann gehst du hin und erzählst, dein Herr, ein Faringi, der das Geiergebirge besuchen wollte, sei gestürzt, erzählst alles, wie es wirklich ist. Einen Verunglückten wird doch der Wüstenräuber, der ja sonst ein großmütiger Mann sein soll, gastfreundlich aufnehmen, und dann haben wir ja gleich erreicht, was wir beabsichtigten.«
Hätte Nobody jetzt aufgeblickt, so hätte er gesehen, was für ein verschmitzter Zug über das verschlagene Gesicht des Arabers ging. Wahrscheinlich aber sah es Nobody doch, er brauchte deswegen gar nicht den Kopf zu heben.
»Dein Mund trieft von Weisheit, Effendi. Ja, ich werde mich in das Lager des Herrn der Wüste wagen, und wenn ich wüßte, daß ich mein Leben verlieren würde.«
»Das ist brav von dir, Hammed,« lobte ihn jetzt Nobody in seiner trockenen Weise. »Wie weit ist es noch von hier bis in das Tal, wo du Jussufs Lager gesehen hast?«
»Siehe den Geier dort, folge dem Blicke seines Auges, und du siehst das Tal, in welchem der Herr der Wüste mit seinen tapferen Kriegern liegt. Dorthin eile ich. Zahle fünfzigmal sechzig oder bete noch besser einhundertundzwanzigmal die dreizehnte Sure des Korans, welche ist betitelt ›der Sieg des Tapferen‹, und welche mit den Worten beginnt: Allah ist Allah, und Mohammed ist sein Prophet. O, allmächtiger Gott! Schütze mich vor meinen Feinden. Spritze Gift in die Adern meiner Feinde. Laß meinen Feinden glühende Steine wachsen im Bauch. Schicke meinen Feinden die Pestilenz, den Aussatz und den Blutdurchfall. Halte meine Feinde...«
»Halte die Luft an, Hammed ben Quasselfritze, siegreicher Held! Du könntest inzwischen schon wieder dasein. Jetzt sei mir erst behilflich, daß ich dort in den Schatten komme, dann rücke schleunigst ab.«
Es war nur ein schattenspendender Felsvorsprung, unter welchen der Araber den Effendi schleifte. Er zog ihm den linken Schnürstiefel aus, legte ihm den Wasserschlauch zurecht, riß bereitwilligst ein Stück von seinem eigenen Burnus ab, nämlich unter der Voraussetzung, daß er einen neuen bekommen mußte und auch dieser noch recht gut zu gebrauchen war, weiter verlangte Nobody nichts von ihm, und Hammed ritt ab, auch das andere Pferd mitnehmend.
Nobody verfolgte ihn mit den Augen, bis er verschwand, und dann beobachtete er die Geier, welche hin und wieder aufflogen, und konnte daraus mit Sicherheit bestimmen, daß Hammed nicht tiefer in das Gebirge eindrang, sondern nach dem Dorfe zurückritt, wo sich der Baron befand, nur daß er einen Umweg nahm.
Hammed wußte also nicht das Versteck der anderen, welche bei der Komödie mit voraussichtlich traurigem Ende mitspielen sollten, er mußte sich erst von seinem zurückgelassenen Herrn neue Instruktionen holen.
»So,« dachte Nobody zufrieden, wie er sich mit dem Rücken gegen die Felswand lehnte, »jetzt braucht man mir nicht erst ins Bein zu knallen, für die bin ich keinen Schuß Pulver mehr wert. Jetzt werde ich erst einmal ein linkes Fußbad machen.«
Und er begann, seinen Fuß noch weiter zu entkleiden, ihn mit Wasser zu netzen, nasse Verbände anzulegen, alles nur mit der einen Hand, etwas ungeschickt, aber es ging, und jetzt, da er sich unbeobachtet wußte, durfte er auch lauter stöhnen, manchmal sogar etwas jammern. Um seinen verrenkten Arm konnte er sich vorläufig nicht kümmern.
Die Zeit verstrich, eine halbe Stunde, welche das Hundertzwanzigmal Herbeten der dreizehnten Koransure wohl in Anspruch genommen hätte, war sicher schon vergangen, und Hammed war noch nicht zurück.
Dagegen vernahm des Detektivs scharfes Ohr plötzlich ein Geräusch, irgendwo war ein losgelöster kleiner Stein herabgefallen, das war ein harmloses Geräusch — da aber tauchte vor ihm, in der Sonne einen Augenblick der Schatten eines menschlichen Kopfes auf, vom Schatten des über Nobody hängenden Felsblockes abgegrenzt, nur einen Moment, dann war er wieder verschwunden.
Nobody hatte es ganz deutlich gesehen, sich nicht geirrt, es waren die Umrisse des Schattens eines menschlichen Kopfes gewesen — aber Nobody ließ sich nicht in seiner Beschäftigung beirren, er wusch den verrenkten Fuß weiter, der noch immer ganz unnatürlich lag, und stöhnte mehr denn je dazu.
Wieder verstrich eine Viertelstunde.
Da sah Nobody, ohne daß er den Kopf dabei hob, nur zwischen den gesenkten Augenlidern hervorblinzelnd, eine weibliche Gestalt langsam durch die Schlucht gewandelt kommen.
Nobody stellte sein Stöhnen ein, nicht aber seine Beschäftigung, und nur ganz heimlich beobachtete er die Näherkommende, welche den Mann unter dem Felsvorsprung nicht sah.
Es war eine braune Araberin mit angenehmen Gesichtszügen, und die Echtheit ihrer Hautfarbe konnte Nobody ganz genau beurteilen, denn sie trug nur einen Rock, der Oberleib war völlig unbekleidet. Doch das hat bei einer mohammedanischen Araberin weniger zu sagen, als wenn sie, so wie diese, sogar keinen Gesichtschleier trägt.
Sie mußte keinen Menschen in der Nähe glauben, auch nicht einen Stammesgenossen, daß sie so dekolletiert mit nacktem Gesicht hier herumspazierte.
Nobody dachte anders.
O, diese raffinierten Spitzbuben! Da schicken sie mir den Grund, daß sie mich blenden können. Die sind so raffiniert, daß ich fast Lust hätte, sie für mich zu engagieren, die könnte ich vielleicht gebrauchen.
Da hob die Frau den gesenkten Blick, sah den Mann unter dem Felsenvorsprung, stieß einen gellenden Schrei aus, hob die Hände, um sich — — nicht den enthüllten Busen, sondern das Gesicht zu bedecken, und flüchtete schreiend davon.
Das Geschrei zeigte bald seine Wirkung.
Schnelle Hufschläge donnerten heran; ein Reiter tauchte auf, ein mit Lanze, Schwert und Pistolen bewaffneter Beduine, um den Leib einen langen Lederriemen gewickelt, vor dem Gesicht einen dichten Schleier, aber der hinderte ihn nicht, den fremden Mann zu sehen; er stieß einen Schrei aus, zwei Araber zu Fuß eilten herbei, und alle drei standen in drohender Stellung vor Nobody.
»Mann, wer bist du, der du mein Weib unverhüllt gesehen hast!!« donnerte ihn der Reiter an.
Ehe Nobody noch eine Antwort gegeben, hatten sich die beiden anderen Araber bereits auf ihn geworfen, hielten ihm, ohne sich um sein Stöhnen zu kümmern, beide Hände fest und visitierten unter dem Burnus seine Taschen.
Ein Revolver, ein Patronentäschchen, ein Nickfänger und eine silberne Taschenuhr hatten den Hauptinhalt seiner verschiedenen Taschen gebildet, und Nobody bemerkte mit Genugtuung, daß der eine Araber die Uhr gleich unter seinem eigenen Burnus verschwinden ließ. Denn dann war das auch kein Beduine, ein solcher hätte einen Fremden nicht sofort auf diese Weise ausgeplündert.
Jetzt holten sie auch noch bereitgehaltene Stricke hervor und begannen ihn trotz seines Protestierens an Händen und Füßen zu binden.
»Ich bin ein harmloser Fremder, der den Birket el Kerun besuchen wollte, und wer seid ihr, daß ihr wie Räuber mich überfallt?«
»Du sagtest es, wir sind Räuber, ich bin Jussuf el Fanit!« war des Beduinen stolze Antwort, und dann wartete er die Wirkung dieser Worte ab.
Aber als Nobody unter den Händen der Araber, die ihn rücksichtslos und sehr ungeschickt banden, nur stöhnte und jammerte, fuhr er in drohendem Tone fort:
»Du hast mein Lieblingsweib Fatme unverhüllt gesehen. Kennst du das Gesetz der Wüste? Du bist des Todes! Ergreift ihn, tragt ihn mir nach, er soll den Tod durch meine eigene Hand empfangen!«
Die Sache sollte also so schnell wie möglich erledigt werden. Der vorgebliche Jussuf el Fanit brauchte gar nicht erst zu wissen, wer der Mann eigentlich sei, wie er hierher kam, ob er Begleiter in der Nähe habe usw.
Eine Verzögerung trat nur dadurch ein, daß die beiden Araber, keine besonders starken Männer und in so etwas nicht geübt, den Gebundenen, welcher sich, wie man sagt, schwer zu machen verstand, nicht aufheben konnten.
»So schont doch nur wenigstens meinen Fuß,« jammerte Nobody, »ich kann euch doch sowieso nicht davonlaufen.«
»Hast du ihn gebrochen?«
»Nein, nur verrenkt, vielleicht kann ich gehen, wenn ihr mich stützt.«
»Macht ihm die Füße wieder frei,« befahl der Reiter.
Es geschah, Nobody wurde aufgerichtet, von den beiden Arabern unter den Armen gestützt, und so hinkte er mit auf dem Rücken gebundenen Händen mühsam vorwärts, ab und zu einen leisen Schrei ausstoßend.
»So hört mich doch nur an,« begann Nobody bei der ersten Gelegenheit, »ich wollte ja gerade...«
»Schweig, ungläubiger Hund!!« donnerte der vermummte Reiter ihn an, und so wurde Nobody stets unterbrochen, wenn er beginnen wollte.
Nur etwa 10 Minuten nahm der langsame Marsch durch die Schluchten in Anspruch, als das Ziel erreicht war: eine geräumige Höhle, vor welcher ein großer Stapel Dornengestrüpp aufgetürmt war.
Alles schon vorbereitet, dachte Nobody, jetzt handelt es sich nur noch um einen Grund, mir gnädig das Leben zu schenken und mich nur zu blenden, und ich wette meinen Kopf darum, daß es überhaupt nicht mehr als diese drei Männer sind, und der Vermummte ist natürlich der saubere Mr. Huxley. Dann dürfte vielleicht noch Hammed dazu kommen und ganz sicher noch ein anderer Vermummter, und das wird mein Freund der Mr. Wall oder vielmehr der Herr Baron de Lasage sein.
Er wurde in die Höhle geleitet und gegen die Wand gelehnt.
Der Vermummte entblößte seinen Dolch.
»Bist du ein Christ?«
»Ja.«
»Dann bete zu dem Gotte, den du verehrst, dein letztes Gebet. Ich begehe keinen Mord, sondern ich vollziehe an dir das gerechte Gesetz der Wüste. Wie heißt du?«
»Pierre Valette,« nannte Nobody den mit dem Baron ausgemachten Namen.
Der vorgebliche Jussuf schien zu stutzen, er senkte den schon erhobenen Dolch.
»Das ist kein englischer Name.«
»Ich bin ein Franzose.«
»Ich hielt dich für einen Engländer.«
»Ich bin ein guter Franzose.«
»Mann, das rettet dir vielleicht das Leben!«
Er wandte sich an die beiden Araber und erklärte ihnen mit blumenreichen Worten — wenigstens mit dem Versuche, die poesievolle Sprache der Beduinen nachzuahmen, was ihm aber nicht gelingen wollte — daß dies ein Franzose sei, ›welche er liebe‹, und wie man die verdiente Todesstrafe umändern könne.
Es war unumgänglich, daß die Statisten jetzt eine kurze Beratung simulierten.
»Er hat den Tod verdient,« lautete dann ihr feierlich gesprochenes Urteil, »aber da er einer der Franzosen ist, welche wir lieben, soll er nicht sterben. Er soll nur blind werden, weil er das Angesicht des Lieblingsweibes unseres Scheikhs gesehen hat — deshalb soll er fernerhin nichts mehr sehen,«
»Du hast es gehört. Nimm mit deinen Augen Abschied von dieser Erde und von der Sonne, die sie beleuchtet, du wirst beide nicht mehr sehen.«
Auch noch ein anderer hatte diese Worte gehört — noch ein vierter Beduine war in die Höhle getreten, das Gesicht ebenfalls mit einem dichten Schleier verhüllt.
Nobody brauchte nicht zu raten, wer dieser Mann sei, er ließ sich auch nicht dadurch beirren, daß der Mann jetzt einen anderen Burnus trug — er erkannte aus jeder Bewegung des neuen Ankömmlings, daß es nur der Herr Baron sein konnte.
Jetzt fehlte nur noch Hammed, und Nobody hoffte, daß auch noch dieser kommen würde. Dann hatte er jedenfalls die ganze Bande in der Höhle zusammen. Aber seine Hoffnung sollte nicht in Erfüllung gehen.
Der Herr Baron spielte seine Rolle nicht mehr gut. Daran war hauptsächlich schuld, daß er nicht Arabisch verstand. Er konnte nur etwas Staunen heucheln über das, was hier vorging, und sich dann mit dem anderen Vermummten flüsternd unterhalten.
Nobody war sich bewußt, daß er jetzt nicht mehr jammern und um Gnade betteln durfte, jene kannten ihn doch, und er mußte Nobody bleiben. Aber etwas anderes durfte er tun.
»Ich weiß nicht, was für ein Verbrechen ich begangen habe,« sagte er, und zwar sich aus einem besonderen Grunde nicht der arabischen oder seiner vorgeblichen Heimatssprache, der französischen, bedienend, sondern der englischen, »aber ich weiß jetzt, wen ich vor mir habe. Was verlangt ihr, wenn ihr mich freilaßt?«
Ja, das brachte bei den beiden Vermummten allerdings eine große Wirkung hervor.
»Sie haben ja gar kein Geld bei sich,« erklang es jetzt ebenfalls auf englisch zurück.
Nobody hatte wohl Geld bei sich gehabt, etwa 300 Mark in verschiedener Münze und in Papier, so hatte er auch zu dem Baron vor Antritt der Reise gesagt, aber das war ihm bei Visitation seiner Taschen von einem der Araber abgenommen worden. Alles, was er bei sich trug, galt jedenfalls als Beuteanteil der arabischen Helfershelfer.
»Aber ich habe ein Scheckbuch bei mir.«
»Ein Scheckbuch!!« jauchzten die beiden vermummten Beduinen wie aus einem Munde förmlich auf. »Wo ist das Scheckbuch?«
Der geneigte Leser versteht wohl, um was es sich hier handelt.
Schon erfüllte ein brandiger Geruch die Luft, draußen loderte schon das Holzfeuer auf, in dem das Eisen glühend gemacht wurde, mit dem er geblendet werden sollte, und seine Arme und Hände waren gar fest umschnürt, seine Sache stand — um einen kräftigen Ausdruck gebrauchen zu dürfen — verdammt faul. Wenn er sich in seinen Kalkulationen verrechnet hatte, wenn ihm nur irgend eine Kleinigkeit mißglückte, dann war er in einigen Minuten des Augenlichtes beraubt... never mind, auch angesichts der furchtbarsten Gefahr mußte dieser eiserne Mann Komödie spielen, er amüsierte sich, es machte ihm Spaß, die beiden vermummten Beduinen und Wüstenräuber aus ihrer Rolle fallen zu lassen, und zwar so, daß sie es in ihrem habgierigen Gaunercharakter nicht einmal merkten. Darüber amüsierte er sich eben, über so etwas konnte er sich, wenn er es später erzählte, wieder totlachen.
Es war allerdings auch noch ein anderer Grund vorhanden. Jetzt baute er für die beiden Gauner eine Falle auf.
»Wo ist das Scheckbuch?«
»Einer der Araber hat es mir abgenommen.«
Also hinaus, wo sich die beiden Araber mit dem Feuer beschäftigten.
Als sich der Gefangene allein in der Höhle sah, machte er denn auch ein Gesicht, welches verriet, wie sehr er belustigt war, wie er am liebsten hellauf gelacht hätte.
Die beiden Beduinen kamen gleich wieder, einer hatte das Scheckbuch in der Hand.
»Sie besitzen auf der New-Yorker Kreditbank ein Guthaben von 21 230 Dollar,« sagte der in seiner Erregung aus der Rolle gefallene Beduine.
»Ja, und ich kann dieses Geld in jeder größeren Stadt erheben, auch in Kairo auf der Ottomanischen Bank.«
»Aahh, auf der Ottomanischen Bank!« erklang es wiederum frohlockend. »Und Ihre Unterschrift genügt?«
»Die genügt.«
»Sie wollen sich mit diesem Gelde freikaufen?«
»Gewiß, ich bin mit dem größten Vergnügen bereit dazu. Lösen Sie meine Fesseln, und ich werde unterschreiben.«
Die beiden zeigten großes Mißtrauen.
»Wagen Sie nicht etwa einen Fluchtversuch!«
»Wie wäre das möglich? Ich habe mir den Fuß verrenkt.«
»Richtig. Aber Sie können nicht schreiben. Sie haben sich auch Ihren rechten Arm verrenkt.«
»Ich kann auch mit der linken Hand schreiben.«
»Genau so wie mit der rechten Hand?«
»Ganz genau so. Die Unterschrift ist gültig, das werden Sie sehen.«
»Das werden wir allerdings sehen, denn wir werden Sie nicht eher freilassen, als bis wir das Geld abgehoben haben.«
»Diese Vorsicht kann ich Ihnen nicht verdenken. Dagegen verlange ich von Ihnen, daß Sie mich wirklich freilassen, wenn Sie das Geld erhalten haben, und bis dahin mich natürlich auch nicht blenden, mir überhaupt kein Haar krümmen.«
»Selbstverständlich, wir sind Ehren... wir sind Beduinen, die Gastfreundschaft ist uns heilig, und bis dahin sollst du unser Gastfreund sein.«
»Beschwört mir das!«
»Ich schwöre bei... bei... bei was sollen wir schwören?«
»Beim Barte des Propheten.«
»Ich schwöre beim Barte des Propheten, daß du frei bist und dir kein Haar gekrümmt werden soll, wenn wir das Geld auf deinen Scheck erhalten,« sagte der Beduine, welcher den Überfall geleitet hatte, feierlich und legte, mit den mohammedanischen Gebräuchen vertraut, dabei seine Hand an den Bart — d. h. dorthin, wo der Mensch gewöhnlich den Vollbart hat. Denn er lüftete dabei das Tuch nicht, er legte nur die Hand an dieses, und diese Geste genügte auch schon als Schwur, den kein Muselmann zu brechen wagt.
Der andere Vermummte sprach die Worte nach und tat dasselbe.
»Gut, löst die Fesseln meiner Hände!«
Die beiden Araber wurden hereingerufen, ihm die Hände befreit, aber der rechte Arm, obgleich er schlaff herabhing, festgehalten, der eine Vermummte packte selbst krampfhaft mit zu, der andere zog einen Revolver hervor und hielt ihn schußbereit auf den Mann, der jetzt wenigstens seine linke Hand wieder gebrauchen konnte.
»Eine einzige verdächtige Bewegung, und du bist ein toter Mann!!«
Wenn es Nobody darauf angekommen war, sich durch eine List der Fesseln zu entledigen, so hatte er dieses Ziel erreicht, jetzt konnte er handelnd auftreten, den Spieß herumdrehen, seine Gegner unschädlich machen, was doch selbstverständlich sein Plan war. Den drohenden Revolver fürchtete dieser Mann wohl ebensowenig, wie die drei Männer, die ihn festhielten, ihn an seinem Vorhaben hindern konnten.
Aber nichts von alledem!
Der Schein wurde vor ihm gegen die Steinwand gehalten, im Scheckbuch hatte ein Bleistift gesteckt, und Nobody füllte mit der linken Hand das Formular aus und unterschrieb — mit Nobody.
Die beiden Beduinen sahen zu und verloren kein Wort, daß es jetzt mit einem Male nicht mehr ›Pierre Valette‹ war. Der Scheck verschwand unter einem Burnus.
»Bindet ihn wieder!«
»Ihr habt mir doch versprochen, daß ich...«
»Schweige, ungläubiger Hund!! Bindet ihm wieder die Hände.«
Es geschah, Nobody war wieder gefesselt, er hatte die günstige Zeit verstreichen lassen.
Die beiden vermummten Beduinen flüsterten zusammen, einer der Araber erhielt einen leisen Befehl, er ging hinaus, und als er wieder zurückkam, hielt er in der Hand ein weißglühendes Stück Bandeisen, welches der eine Beduine nahm.
»Ihr wollt mich dennoch blenden?!« schrie Nobody auf.
»Allerdings. Nimm Abschied von der Sonne, du wirst ihr Licht nie wieder sehen.«
»Ihr habt beim Barte des Propheten geschworen, daß ihr mir kein Haar krümmen wollt!«
»Der Schwur gilt nicht, wir haben dabei nicht unsere Bärte angefaßt.«
»Ihr habt es doch getan!!«
»Nein, nur das Tuch, den Bart haben wir gar nicht berührt.«
Nobody verlor keine Worte mehr, seine Augen waren fest auf den Beduinen geheftet, der sich ihm mit dem noch immer weißglühenden Eisen näherte.
Hatte der Mann solch eine furchtbare Prozedur schon einmal ausgeführt? Oder hatte er nur davon gehört, gelesen? Das Blenden ist z. B. eine Strafe der Kirgisen, auf diese Weise wird es auch gehandhabt, und es ist gar nicht nötig, daß dazu die Augenlider erst weggeschnitten oder durch eine Vorrichtung oben gehalten werden. Ein glühendes Schwert wird dicht an den geschlossenen Augen des Delinquenten vorbeigeführt, es braucht gar nicht so langsam zu geschehen, die Brauen versengen allerdings, die Augenlider dagegen erhalten nicht einmal Brandwunden, sie sind hinterher nur etwas gerötet — aber die ausstrahlende Hitze hat genügt, um den Sehnerv für immer zu töten.
Der Beduine war dicht vor den an der Wand lehnenden Gefangenen getreten, er hob das glühende Bandeisen und...da geschah etwas, wovon keiner der vier Männer dann sagen konnte, wie es eigentlich geschehen war.
Der Beduine hatte plötzlich kein Eisen mehr in der Hand, er fühlte sich vorn an der Brust gepackt und mit Riesenkraft in die Höhe gehoben, dasselbe fühlte in dem gleichen Augenblick auch der andere Beduine, sie schmetterten mit den Rücken gegeneinander, sie sausten durch die Luft, nämlich auf die beiden anderen Araber drauf, denen es war, als ob ihnen die Füße vom Boden weggeschlagen würden — und auf dem Steingrund der Höhle lag ein Knäuel von vier Menschen, auf den obersten beiden, den Beduinen, kniete Nobody, wie ein Vampyr, wie ein riesiger Polyp sie umschlingend, ihnen mit den plötzlich freigewordenen Händen die Kehlen zuschnürend und sie gleichzeitig gegen die unten liegenden Araber pressend, daß sich diese ebenfalls nicht rühren konnten — und zugleich erfüllte die Höhle ein schauriges Gelächter, das Gelächter der hungrigen Hyäne, aber aus Nobodys Munde kommend.
Da tauchte vor der Höhle Hammeds entsetztes Gesicht auf, er mochte als Wache ausgestellt worden sein, in demselben Augenblick blitzte in Nobodys Hand der vernickelte Lauf eines Revolvers, seines eigenen Revolvers, den er mit Zauberschnelle dem einen Araber schon wieder aus der Tasche gezogen hatte, der Schuß krachte. Hammed machte einen Bocksprung und stürzte nieder, blieb schreiend liegen, aber sein Schreien ward von dem schauerlichen Lachen übertönt, welches Nobody wieder erschallen ließ.
Dann lauschte er, dabei mit Händen und Füßen und dem ganzen Körper alle vier Männer mit unwiderstehlicher Kraft an den Boden pressend.
Und da antwortete eine Hyäne, obgleich sie sonst nur bei Nacht ihr schreckliches Lachen hören läßt, noch klang es aus weiter Ferne. Nobody heulte wieder. Schnell kam die Antwort näher, und da stürmten sie herein, vier in weiße Burnusse gehüllte Gestalten, voran ein Riese, das war Kapitän Flederwisch, ihm nach wackelte Zwergnase, und dann ein Neger und ein Araber, diese vier von der ›Wetterhexe‹, und ein fünfter Araber im zerrissenen Hemd schaute nur zur Höhle herein.
»Da liegen sie, vier auf einen Schlag,« sagte Nobody, sich langsam aufrichtend, aber noch mit den Füßen wie ein Raubtierbändiger breitbeinig auf den bezwungenen Bestien stehend. »Mit diesen meinen Händen habe ich sie gefangen. Nur den fünften mußte ich mit einem Schuß niederwerfen, weil er sich draußen vor der Höhle befand. — Und wen haben wir denn nun eigentlich hier?«
Er lüftete nacheinander die Gesichtsschleier.
»Aaahhh, Mr. Wall! Oder vielmehr der Herr Baron de Lasage! Freut mich sehr, Sie hier wiederzusehen! Und wer ist das? Auch so eine Galgenphysiognomie! Mr. Huxley, nicht wahr? Freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen.«
Jetzt überließ er die Überwältigten seinen Leuten, welche sie mit Stricken fesselten. Sie fanden dabei nicht den geringsten Widerstand, die so Überraschten waren sowieso schon mehr tot als lebendig.
»Und nun, Kapitän,« wandte sich Nobody an diesen, »gilt auch bei mir der Wille schon für die Tat — dort liegt das Eisen, mit welchem sie mich blenden wollten, es glüht immer noch!«
Nobody erzählte mit kurzen Worten seine Erlebnisse, und vielleicht am allermeisten betonte er das, wie die beiden vorgeblichen Beduinen seine Sicherheit beim Barte des Propheten beschworen hatten.
»Ich hätte sie auch bei unserem Gotte schwören lassen können, aber es war nicht nötig, um ihren Charakter noch weiter zu prüfen. Das, was ich von ihnen erfahren habe, genügt schon.«
Hiermit schloß Nobodys Erklärung, und wie Kapitän Flederwisch mit den drei Matrosen hierhergekommen war, bedarf auch keiner ausführlichen Schilderung.
Nobody war erst am späten Abend nach Fayum gefahren, Flederwisch, genau instruiert, eine Adresse in der Tasche, schon am Nachmittag, aber nicht direkt bis nach Fayum, sondern hatte schon vorher den Zug verlassen und einen kurzen Wüstenritt gemacht, wobei er Medinet vermied, unterwegs einen Führer mietend, der ihn und die Matrosen nach dem Geiergebirge leitete, wo sie sich verbargen und auf das Hyänengelächter warteten. Sehr groß ist dieses Gebirge nicht, eigentlich nur eine zerrissene Felsmasse, und die von jenem Dorfe Kommenden mußten sie unbedingt sehen.
»Nun müssen wir erfahren, wer sonst noch im Bunde ist,« fuhr Nobody fort, »entgehen darf uns keiner, und ist einer vielleicht schon auf der Flucht nach Medinet, den müssen wir noch einholen. Vor allen Dingen fehlt noch das Weib, dessen unverhüllte Schönheit ich bewundern mußte.«
Er wandte sich an die Gefangenen, welche mit vor Schreck verzerrten Gesichtern und mit schlotternden Knien an der Wand lehnten. Eine Ahnung mochte ihnen wohl sagen, daß ihre geplante Untat eine exemplarische Strafe nach sich ziehen würde, vor allen Dingen aber standen sie noch unter dem Banne der Vision, die sie gehabt hatten. Der an den Händen sicher gefesselte Mann — mit verrenkten Gliedmaßen — dort lagen die Stricke, nicht zerschnitten, alle Knoten waren noch vorhanden — wie sie von diesem Manne plötzlich gepackt und zusammen und übereinander geschmettert wurden — — es kam ihnen alles wirklich nur wie eine Vision vor, wie ein furchtbarer Traum, sie konnten's nicht fassen, und darum ihre verzerrten Züge.
Zum Sprechen aufgefordert, kehrten sie zur Wirklichkeit zurück, und sie waren geständig.
Nur noch jenes Weib war eingeweiht und behilflich gewesen. Es war die Frau eines der Araber. Sie befand sich jetzt an dem Orte, wo auch die Pferde versteckt standen. Der Araber wurde von Puttfarken und dem schwarzen, arabisch sprechenden Matrosen in die Mitte genommen, bald kamen sie wieder, die heulende Frau und die Pferde mitbringend.
Unterdessen war Nobody in seinem Verhör fortgefahren. Er erfuhr alles. Uns interessiert nur, daß sich auch Marguérite bereits in Medinet el Fayum befand, wenigstens voraussichtlich, sie wollte in einem bestimmten Hotel wohnen, und sobald der ›Coup‹ geglückt sei, sollte Mr. Huxley durch einen Araber einen ausführlichen Bericht an sie abgehen lassen.
»Der ›Coup‹ ist zwar nicht geglückt, aber die Freude an dem ausführlichen Bericht soll sie dennoch genießen,« sagte Nobody ironisch. »Bitte, Mr. Huxley, Sie haben wohl die Güte, den Bericht gleich abzufassen — recht schön und interessant, in einem etwas schwunghaften Stil, wenn ich bitten darf, auch etwas sentimental und zu Tränen rührend, denn die Lektüre ist für eine gefühlvolle Dame bestimmt — hier haben Sie Papier und Bleistift — bitte, nehmen Sie hier auf diesem Felsblock Platz, und nun legen Sie los.«
Kapitän Flederwisch konnte sich nicht helfen, er mußte aus vollem Halse lachen. Das ging hier alles wie im Salon zu — — und nun dieser Kontrast, diese Beduinengestalten, mitten in der Wüste, in dem wilden Gebirge, nach den eben vorausgegangenen Szenen!
Der von seinen Banden befreite Huxley gehorchte, er setzte den Bericht auf.
Während ihm Nobody über die Schulter schaute, ließ er sich von dem anderen näher schildern, wie Marguérite das ganze Unternehmen geplant hatte.
Was wollte sie dem Blinden sagen, wenn sie ihn im Geiergebirge umherirrend fand? Wie war sie dann hierhergekommen?
Die Sache war ganz einfach. Der Mr. Wall sei plötzlich wieder nach Kairo zurückgekehrt und habe im Hotel du Nil erzählt, wie er mit dem Detektiv Nobody nach dem Geiergebirge gereist sei, um ein von Jussuf el Fanit gefangenes Mädchen zu befreien. Jetzt brauchte sich der Herr Baron nicht mehr zu ›kompromittieren‹, das konnte doch jetzt irgend ein anderes Mädchen sein.
Der Befreiungsversuch war mißglückt, Nobody selbst war in die Hände des Wüstenräubers gefallen, und der Herr Baron gestand mit edler Freimütigkeit, daß er seinen Gefährten feig im Stich gelassen hatte. Was sollte er auch anderes tun als ausreißen? Er mußte Hilfe herbeiholen.
Dies hören und gleich nach der Oase Fayum reisen, gleich direkt ins Geiergebirge, war für Marguérite eins, und einem liebeglühenden Weibe ist solch eine planlose Handlung ja auch zuzutrauen.
Na, und da fand sie eben den Geliebten als blinden Mann im Gebirge umherirren, der Wüstenräuber hatte ihn geblendet.
Sie nahm den schon Halbverschmachteten bei der Hand, und in dem Dorf Sal Bekr sollte sie ihn pflegen.
»Hm,« brummte Nobody nachdenklich, als er alles erfahren hatte, »hier gibt es noch einen dunklen Punkt. Die ist aber doch nun schon in Medinet el Fayum und bekommt die Nachricht, daß ich geblendet worden bin, sofort, in zwei Stunden. Anscheinend soll sie das aber doch erst in Kairo erfahren, Huxley muß erst hin, sie muß erst hierher fahren, das nimmt doch mindestens einen Tag in Anspruch. Wie wird denn nun dieser Zeitunterschied ausgeglichen?«
Der entlarvte Baron verstand sofort, was jener meinte, und er strengte seinen Scharfsinn noch ganz besonders an, vielleicht weil er hoffte, durch ›aufmerksames Entgegenkommen‹ dann einen milderen Richter zu finden.
»Ganz recht,« sagte er, »wenn alles richtig gehen soll, so kann Madame Lenois erst einen Tag später hier sein und Sie hier finden. Aber sie wird sofort hierher eilen und Sie den ganzen Tag lang beobachten, auch die Nacht noch, und auch dafür sorgen, daß Sie nicht von einer anderen Person in Ihrem hilflosen Zustande gefunden werden. Und das kann sie wohl fertig bringen, Sie sind doch blind, Sie können sie ja nicht sehen.«
»Verdammt!« stieß Nobody mit ärgerlichem Lachen hervor. »Da muß ich also einen ganzen Tag und länger noch hier als Blinder herumtappen?!«
»Da schicken Sie den Bericht ganz einfach einen Tag später ab,« meinte Flederwisch.
»Was hätte das für einen Zweck? Dann käme sie immer wieder einen Tag später. Oder aber auch nicht, sie käme zu früh und könnte mich unvorbereitet überraschen, weil sie ihre Ungeduld, zu wissen, wie die Sache ausgefallen ist, nicht mehr bemeistern kann. Nein, es bleibt mir nichts anderes übrig, als einen Tag als Blinder hier im Gebirge herumzuirren. Never mind, wird alles gemacht, wenn nur der Spaß gelingt.«
Der Bericht war fertig, Nobody las ihn und fand ihn zu seiner Zufriedenheit ausgefallen. Nach kurzer Beratung hielt man es für das beste, als Überbringer des Briefes den schwarzen Matrosen zu benutzen. Marguérite wußte nicht, wen Huxley engagiert hatte, der Neger sprach Arabisch, war Mohammedaner, kannte alle hiesigen Verhältnisse — — es konnte nichts auffallen.
Der Neger ritt mit dem Briefe ab.
»Jochen, hast du meinen Malkasten mitgebracht?«
»Hier ist er.«
Nobody nahm das Toilettenecessaire und packte die verschiedenen Büchsen und Schachteln und Fläschchen aus, Puder und Schminke und dergleichen enthaltend.
»Hier,« sagte er zu Flederwisch, ihm ein Fläschchen mit einer roten, dicken Flüssigkeit zeigend, »das ist das berühmte Hennah, mit dem die orientalischen Damen ihre Fingernägel rot färben.«
»Wozu brauchen Sie das?«
»Um mir meine Augenlider rot zu schminken. Das Zeug hält aber noch viel besser als gewöhnliche Schminke. Ich bin doch mit Feuer geblendet worden, muß entzündete Augen haben. Die Brauen könnte ich vielleicht auch künstlich versengen, aber die Wimpern muß ich mir abschneiden, da hilft nun alles nichts. Na, da ich mir nun einmal vorgenommen habe, die nähere Bekanntschaft des geheimnisvollen Wüstenräubers zu machen, der so mit dem amerikanischen Lasso umzugehen weiß, bleibe ich doch noch längere Zeit hier, und bis ich mich wieder einem besseren Publikum präsentiere, sind die Wimpern wieder gewachsen. — Jochen, hast du auch an die Flasche Olivenöl und an den Branntwein gedacht?« —
»Alles hier zur Stelle — feinstes Provenceröl — echter alter Kornschnaps,« meldete Puttfarken, zwei große Flaschen in die Höhe haltend.
»Wozu ein guter Kornschnaps in jeder Lebenslage dienlich ist, das weiß ich auch,« lachte Flederwisch. »Wozu aber das Olivenöl?«
»Ahnen Sie es nicht? Kommt Ihnen bei der Zusammensetzung ›Oel und Branntwein‹ keine Jugenderinnerung? Haben Sie keine Sklavengeschichten gelesen? — Sie werden es gleich sehen, warum ich für diese beiden innerlichen Mittel, die aber auch äußerlich zu verwenden sind, schon in Kairo gesorgt habe. — — Jochen, takele mal hier diesen Strick! Ist er auch schmiegsam genug? Ja? Also takele ihn an beiden Enden, daß er sich nicht ausfranzt.«
Dann wandte sich Nobody in seiner gelassenen Weise an die beiden Gauner, und denen ging jetzt freilich eine schreckliche Ahnung dessen auf, was ihrer wartete.
»Die Rache ist mein, spricht der Herr. Ganz richtig — diesmal ist die Rache dem Herrn Nobody. Doch nein, nichts von Rache. Ich bin ein pünktlicher Geschäftsmann, und will nur meine Rechnung begleichen. Anbei folgt Abrechnung. Für allgemeines Lügen: 5, für allgemeines Schwindeln: 7, für Vorspiegelung falscher Tatsachen: 19, für die Bemühungen, die ihr vorhin mit mir hattet: 15, für den Schwur beim Barte des Propheten als Entschädigung für Zeitversäumnis: 20; summa summarum: 57 Hiebe mit der einschwänzigen Katze. Stimmt die Rechnung? Einen Augenblick, meine Herren, das Schreibgerät ist gleich fertig zur Unterschrift. Das feinste Provenceröl und den echten alten Korn zum Waschen des Rückens liefere ich gratis. — So, gib her, Jochen. — — Entblöße ihnen den Rücken!!« —
Kapitän Flederwisch stand auf einem hohen Felsen und spähte als Wächter die Umgegend ab.
Was für ein seltsamer Mann er doch war, dieser unbekannte Nobody! Was war am meisten zu bewundern? Wie er so sorglos in die furchtbare Gefahr gegangen war, wie er bis zum letzten Augenblicke gewartet hatte, wie er die vier Männer gleichzeitig mit einem einzigen Griff überwältigt oder wie er schon in Kairo an das Oel und an den Branntwein gedacht hatte, um die geschlagenen Wunden zu waschen? Ja, was war da mehr zu bewundern?
Da gellte ein furchtbares Schmerzgeheul.
Nobody vollzog die Bestrafung eigenhändig.
»Hil — feee!«
Von Zeit zu Zeit ließ diesen Ruf mit heiserer Stimme der arme Mann erschallen, der seit fast schon 24 Stunden in den Schluchten des Geiergebirges umherirrte.
Sein Burnus war zerfetzt, keine Kopfbedeckung schützte ihn vor dem glühenden Sonnenbrand, und der Aermste war blind, und zwar mußte er erst vor ganz kurzer Zeit sein Augenlicht verloren haben.
Das erkannte man nicht nur daraus, daß Brauen und Wimpern stark versengt und die Lider über den starren, gläsernen Augen sehr gerötet waren, sondern auch aus seinem Gang.
Der Gang eines langjährigen Blinden ist doch ziemlich sicher, selbst auf einem ihm völlig fremden Wege, er tastet fast nur mit den Fußspitzen, selten mit den Händen, und in diesem Tasten liegt Methode.
Dieser Blinde hier aber schwankte mit weit vorgestreckten Händen unsicher hin und her, er setzte einen Fuß vor, und es dauerte lange, ehe er den anderen Fuß nachzog, dabei verlor er oftmals die Balance, taumelte seitwärts und kam dann durch einen der überall verstreut liegenden Steine regelmäßig zum Sturz, was ihm jedesmal wieder einen Fetzen des dünnen Burnus kostete.
»Hil — feee!!« schrie Nobody abermals mit allem Aufgebot seiner Lunge, aber es war nur noch ein heiseres Aechzen, und für sich im stillen setzte er hinzu: »Wenn sie aber jetzt nicht bald kommt, dann wird mir die Geschichte langweilig.«
Ja, er hatte auch Grund, endlich ungeduldig zu werden!
Seine Freunde lagen in einem sicheren, hohen Versteck, von dem aus sie den Blinden manchmal in den Schluchten herumstolpern sahen, und wenn sie noch nicht die Geduld verloren hatten, so kam das nur daher, weil sie sich immer wieder staunend fragten, wie lange dieser von einem irdischen Weibe geborene Mensch dieses entsetzliche Spiel eigentlich noch aushalten würde, ehe er bewußtlos zusammenbrach, ehe er wahnsinnig wurde!
Gestern nachmittag gegen drei Uhr war es gewesen, als er begonnen hatte, den Blinden zu markieren. Da hatte er noch eine hellere Stimme gehabt, sein Burnus war noch nicht so zerrissen gewesen. Sonst hatte er sich schon gestern so wie noch jetzt benommen, war getaumelt und gestürzt, und die Beobachter hatten schon gestern nicht begreifen können, wie er das bis zum Abend aushalten konnte, nämlich bis gegen acht Uhr die Finsternis anbrach, die ihn den Augen der Beobachter entrückte.
In der Nacht mochte er irgendwo geschlafen haben. Vergebens hatte man darauf gewartet, daß er wenigstens im Schütze der Dunkelheit kommen und sich an Speise und Trank laben würde.
Nein, die Nacht verging, und er war nicht gekommen. Er war ein Blinder und blieb ein Blinder!
Und als die afrikanische Sonne wieder im Osten emporstieg und schon in dieser tiefen Stellung die nackten Felsen mit heißem Strahle küßte, da hörte man auch wieder den heiseren Hilferuf, und wieder sah man Nobody in den Schluchten langsam umherschleichen, taumeln und stürzen.
Proviant hatte er nicht bei sich, Trinkwasser gab es in dieser steinigen Gegend nicht — das konnte nicht mit natürlichen Dingen zugehen, das hielt kein Mensch aus. Er wollte die Rolle des Blinden nicht aufgeben, denn jeden Augenblick konnte ja die Prinzeß auftauchen, aber jetzt galt sein Hilferuf offenbar auch den mit Proviant und Wasser ausgerüsteten Freunden, deren Versteck er nun nicht wiederzufinden wußte.
Ali, der schlangengewandte Neger, erhielt den Auftrag, sich an ihn heranzuschleichen und ihm Speise und eine Flasche zuzustecken.
Der Schwarze entledigte sich seines Auftrags mit dem größten Geschick.
»Pst, Master,« flüsterte er hinter einem Felsen hervor dem Vorübertorkelnden zu, »hier ist Wasser mit Rotwein — und Brot — und Eier — und ein großes Stück Wurst.«
Die Antwort aus Nobodys Munde kam in zweierlei Tonarten. Einmal brüllte er, dazwischen flüsterte er mit leisester Stimme.
»Hilfeee!!! — — Halt's Maul, Kerl! — — Hilfeee!!! — — Willst du Himmelhund gleich verschwinden! — — Hilfeee!!!«
Mit dem barmherzigen Angebot war es also nichts. Nobody brauchte keine Barmherzigkeit. Ali mußte sich unverrichteter Dinge zurückziehen, und die Freunde konnten in ihrem Versteck weitere Beobachtungen anstellen, wie lange es ein Mensch bei der größten Hitze ohne Speise und Trank auszuhalten vermag.
Es wurde Mittag; das war keine Felsenschlucht mehr, sondern das war jetzt ein mit unsichtbarer Lavaglut angefüllter Kessel, in dem der vorgebliche Blinde herumtorkelte und mit versagender Stimme schrie, und daß ob der fruchtlosen Bemühungen endlich auch er die Geduld verlor, davon war ihm doch nicht das geringste anzumerken.
»Hilfeeee!! — — Hallo, was ist denn das für ein Weib?! Margarete ist das nicht!«
Es war ein Wunder, daß Nobody über dem, was er zu sehen bekam, nicht aus der Rolle fiel und vor Staunen die Augen weit aufriß, er mußte sich in eiserner Gewalt haben. Nur stürzte er wieder einmal, um die hier so rätselhafte Gestalt länger und unbeobachtet genauer betrachten zu können.
Auf dem Plateau eines niedrigen Felsens seitwärts der Schlucht stand eine Frau, eine Dame, eine große, schlanke Blondine — eine Dame, die mit ihrer Toilette auf die Promenade der Lebewelt einer Großstadt gepaßt hätte, nur nicht hier in die öde Wildnis des einsamen Geiergebirges.
Die Entfernung war eine so kleine, daß des Detektivs scharfes Auge auch das geringste an ihr erkennen konnte.
Sie trug ein weißes, duftiges Batistkleid, alles ein Gewoge von Spitzen und Bändern, hochelegant, nach der neuesten Mode aus der Werkstatt eines Pariser Kleiderkünstlers hervorgegangen, auch der Saum des Unterrocks war sichtbar, die kostbarsten Spitzen, durchbrochene Seidenstrümpfe, mit Blumen durchwirkt, die zierlichen Goldkäferschuhchen — und nun auf dem aschblonden, hochfrisierten Haar ein kokettes Federhütchen, das auf dem Boulevard so ungefähr mit 200 Franks ausgestellt gewesen sein mochte — ferner ein Sonnenschirm, gleichfalls ein Gewoge von Batist und Spitzen und Bändern — kurz und gut, für die hiesigen Verhältnisse, wenn man sie kennt, ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht.
Eine Dame im eleganten Sportkostüm, ja — aber diese Pariser Modepuppe war hier eine absolute Unmöglichkeit.
Ferner beobachtete der ›Blinde‹ noch, daß sie blaue, strahlende Augen hatte, eine gerade, stolze Nase, und daß sie im übrigen Anspruch auf den Namen einer Schönheit machen konnte. Ihr Teint mußte den Augen und dem Haar nach ein weißer sein, aber er war von der Sonne gebräunt, doch nicht allzu braun.
»So vielleicht um die 22 herum,« kalkulierte der sich von seinem Sturz aufrichtende Blinde. »Der Figur nach Britin, den Zügen nach halte ich sie mehr für eine Deutsche. Hm, ein netter Käfer. Wie zum Henker kommt die in so 'nem Klimbimkleide hier ins Geiergebirge?! Gelitten kann sie nicht sein. Die muß direkt von Paris oder von London oder von Berlin durch die Luft geflogen sein. Oder sie hat hier im Geiergebirge ein Toilettenboudoir. Zum Teufel, die ist doch ganz frisch frisiert? Die hat doch eben erst ihre Locken gebrannt? — — Hilfeee!!!«
Die wundersame Erscheinung verschwand hinter einem Felsblock, neben dem sie auf dem Plateau gestanden.
Es blieb dem Blinden, der doch nichts gesehen haben durfte, nichts weiter übrig, als wieder vorwärtszustolpern.
»Hilfeee!«
Keine Antwort, nichts zeigte sich, und die Minuten verstrichen.
»Teufel,« dachte Nobody, »die wird mich doch nicht im Stiche lassen?! Beobachtet hat sie mich lange genug, und daß ich blind bin, das sieht doch sogar ein Blinder. Oder sollte sie sich vor einem Blinden fürchten? Es gibt solche komische Weiber. Nein, sie sah sehr ernst aus, tiefernst, und ernste Menschen sind nie feig. Das Plateau fiel auf dieser Seite steil ab, sie wird einen anderen Abstieg suchen müssen. Und wenn sie mich nicht gleich wiederfindet? Ich werde noch einmal schreien, und wenn sie...«
Nobody brach mit seinen Gedanken ab, und um ein Haar wäre er aus der Rolle gefallen, hätte sich als Sehender verraten.
Denn was sich da plötzlich ereignete, das hätte er sich nicht träumen lassen!
Mit einem Male war die Dame an seiner Seite, nur einen Schritt von ihm entfernt, von hinten war sie gekommen, lautlos wie ein Schatten. Und wie sie sich nun weiterhin benahm!
Sich zunächst noch an seiner Seite haltend, beugte sie den schlanken, geschmeidigen Leib weit vor, zuerst auf diese Weise ihm forschend ins Gesicht sehend, dann nahm sie größere Schritte, um ihm zuvorzukommen, und nun, wie sie schritt, wie sie die dünn beschuhten Füße setzte! — Des Detektivs scharfes Ohr hätte auf dem steinernen Boden eine Maus huschen hören, aber von dieser eleganten Dame Tritt vernahm er auch nicht das geringste Geräusch — und das Batistkleid gab keinen raschelnden Ton von sich — und wie sie es in eigentümlicher Weise aufraffte, um so ganz geräuschlos den Blinden umschleichen zu können! — und in welcher Weise sie ihn umschlich! — wie sie dabei auf den Fußspitzen federte!...
»Gerade wie ein nordamerikanischer Indianer auf dem Kriegspfad,« konnte Nobody nur staunen.
Und da geschah wiederum etwas, was sein Staunen nur noch vermehrte, was die Richtigkeit seines soeben gehabten Gedankens bestätigte.
Nobody erkannte, daß er sich jetzt der Gegend näherte, in welcher gestern die wilde Szene stattgefunden hatte, und da plötzlich, als sie einige Schritte ihm voraus war, stutzte die Dame, sie blieb stehen und spähte auf den Boden — und nun in welch eigentümlicher Weise sie das tat, wie sie dabei den schlanken Leib vorbeugte und die Augen mit der einen Hand beschattete! — immer weiter neigte sie den Oberkörper herab, und plötzlich kauerte sie nieder, brachte das Auge noch näher an den steinigen Boden und legte messend die mit weißem Glacéhandschuh bekleideten Finger ausgespannt auf eine bestimmte Stelle.
»Sie hat den Abdruck eines Stiefels gefunden,« dachte jetzt Nobody im höchsten Staunen. »Eine Pariser Modepuppe und eine nordamerikanische Rothaut, die regelrecht eine Fährte untersucht!! Nun löse mir jemand dieses Rätsel!«
Er hatte die am Boden Kauernde erreicht, er beschleunigte durch Vorwärtstaumeln unauffällig etwas seine Schritte, es war seine Absicht, an sie zu stoßen, seinetwegen auch auf sie zu treten, denn er wollte sie zwingen, ihre Anwesenheit ihm endlich zu verraten, aber es gelang ihm nicht.
Im letzten Augenblick, als er sie mit dem Fuße schon zu berühren glaubte, glitt sie in gebückter Stellung wie eine Schlange unter seinem Fuße seitwärts davon, Nobody befand sich nur einen halben Meter von einer Steinwand entfernt, in diesen Zwischenraum hatte sie sich gedrängt, Nobody taumelte seitwärts, aber wiederum gelang es ihm nicht, sie zu streifen, abermals entschlüpfte sie ihm wie eine glatte Schlange, ohne daß auch nur eines der Bänder ihn berührt hätte.
Jetzt griff der genasführte Nobody, der als Blinder doch nicht so handeln durfte, wie er wollte, zu einem anderen Mittel, er verlegte sich gewissermaßen aufs Bitten.
»Hilfeee! Hilfeee!«
Und leise jammernd setzte er hinzu:
»Gott, willst du mich denn verschmachten lassen?! Schicke einen Menschen, der mich aus dieser Wüste führt!«
Diese verzeihliche List, so verzeihlich wie jedes Gebet und wie jedes Verbrechen auf der Bühne des Theaters, hatte endlich den gewünschten Erfolg.
Sie kam wieder von hinten einige Schritte voraus, huschte seitwärts, blieb an der Felswand stehen, wendete den Kopf von dem sehenden Blinden ab und legte die Hände trichterförmig vor den Mund.
»Wer ruft da?!«
Es war eine melodische Altstimme gewesen, welche aus weiter Ferne zu kommen schien.
Diese Schlauheit! Und wozu nur diese Vorsicht und überhaupt diese ganze Handlungsweise?
Doch der Blinde mußte seine Rolle weiterspielen. Er war lauschend stehen geblieben, und sein Gesicht drückte das aus, was er jetzt beim Klange einer menschlichen Stimme empfinden mußte.
»Hier, hier! Hilfe, Hilfe!«
»Wo? Rufe noch einmal!«
Die Dame im Batistkleide verstand es vortrefflich, ihre Stimme scheinbar näherkommen zu lassen, und dann ging sie ebenso zum Handeln über. Erst schlich sie wieder geräuschlos, dann trat sie etwas lauter auf, zuletzt eilte sie mit hörbaren Schritten herbei,
»Um Gott, Mann, wer seid Ihr?«
»Dieses Rätsel muß und werde ich lösen,« dachte Nobody, und ächzend setzte er laut hinzu:
»Wasser! Wasser!«
»Ihr seid blind! Unglücklicher, wie kommt Ihr denn in dieses wilde Gebirge?«
»Wasser! Wasser!!«
»Mann, Ihr habt ja versengte Augenbrauen und Wimpern, Eure Lider sind entzündet, Ihr seid geblendet worden!«
»Wasser! Wasser! Ich verschmachte!!« stöhnte Nobody zum dritten Male und brach zusammen.
Die Dame trat hinter ihn, und plötzlich fühlte sich der Liegende unter den Achseln von kraftvollen Armen gefaßt, er wurde unter einen Felsvorsprung geschleift.
»Hier liegt Ihr im Schatten. Wartet nur fünf Minuten, ich hole Euch etwas zu trinken.«
Und nun geschah wieder etwas, was über Nobodys Begriffe ging — wenn man nämlich immer bedenkt, daß es die eleganteste Modedame war, eigentlich für die Kurpromenade bestimmt.
Sie raffte mit beiden Händen, den Sonnenschirm unter einen Arm geklemmt, ihr duftiges Spitzenkleid empor, so hoch, daß Nobody die silbernen Schuppenbänder sehen konnte, welche die durchbrochenen Seidenstrümpfe oberhalb der Knie festhielten, sie nahm einen Anlauf, schnellte mit elastischen Sätzen über den ebenen Boden der Schlucht, sprang auf einen mindestens einen Meter hohen Felsblock, aber das hatte noch immer zum Anlauf gehört, mit der Sicherheit und Federkraft einer Gemse sprang sie weiter von Felsen zu Felsen, immer höher und höher — wo man gar keinen Vorsprung sah, da wußte ihr kleiner Fuß noch einen Halt zum elastischen Absprung zu finden — und dabei bediente sie sich nicht einmal der Hände, diese mußten das Kleid emporraffen, man sah es ganz deutlich, wie sie bei der tollkühnen Springtour, bei der sie jeden Augenblick abstürzen und den Hals brechen konnte, auch noch darauf bedacht war, das kostbare Kleid zu schonen — und dann war sie oben hinter einem Felsgrat verschwunden.
»Alle Wetter, das hätte nicht einmal ich fertig gebracht!!« staunte Nobody. »Nun aber brate mir jemand einen Storch! Leide ich denn an Halluzinationen? Wer in aller Welt mag das nur sein?«
Der grübelnde Kopf des Detektivs kam auf die Vermutung, daß sich hier in der Nähe das Lager einer Jagdgesellschaft befinden müsse, die Dame gehörte mit dazu, von Profession eine Seiltänzerin, eine Parterre-Akrobatin, die ihre Toiletten mit sich geschleppt hatte, einmal im Promenadenkostüm das Lager verlassen hatte — — und dann verwarf er wieder diese Annahme als einen Unsinn.
Nein, um so über die Felsen springen zu können, dazu genügte die Seiltänzerin nicht, die gelegentlich hier dieses Gebirge besuchte. Das war die geborene Felsenbewohnerin, die hier zu Hause war, die Gemse, die über Stock und Stein den kürzesten Weg wählt, weil sie sich nicht verirren kann. Und nun, wie sie ihn so scheu und vorsichtig umschlichen hatte! Warum? Eben weil sie eine scheue, aber neugierige Gemse war. Und wie sie die Spuren untersucht hatte. Und wie sie...
Nobody wußte gar nicht mehr, was er denken sollte.
Da tauchte sie schon wieder auf, jetzt aber seitwärts aus der Schlucht kommend, in beiden Händen eine große Urne oder Vase tragend.
Den Sonnenschirm hatte sie nicht mehr bei sich, auch die Glacéhandschuhe hatte sie abgelegt, und Nobody gewahrte noch mehr Schmuck an ihr.
Schon vorhin hatte er beobachtet, daß sie um den fein modellierten Hals eine Perlenschnur trug, wie sie prachtvoller nicht die Königin von Italien besaß, welche in Perlenschmuck maßgebend ist; in den Ohren hatte sie kleine Korallen, aber nicht nur solche rote Kügelchen — des ›blinden‹ Detektivs Augen waren so scharf, daß er sofort den wunderbaren Gemmenschnitt bemerkt hatte, wodurch Korallen wertvoller als die kostbarsten Diamanten werden können; und jetzt sah er auch noch an den schlanken, leicht gebräunten Fingern einige Ringe von altertümlicher Arbeit blitzen — Ringe, welche man nicht in einem Juwelierladen zu kaufen bekommt, sondern welche man nur noch in reichen Museen und in Schatzkammern hinter Glas und Eisenstäben bewundern kann.
Schließlich erregte auch der Krug Nobodys höchste Aufmerksamkeit — das feinste chinesische Porzellan — oder wahrscheinlicher, da mit Malereien in prachtvollen Farben bedeckt, wie sie unsere abendländische Keramik und Technik immer noch nicht nachahmen kann, japanischen Ursprungs. Wäre das Gefäß aus schwerem Golde gewesen, es hätte nicht solch einen Wert gehabt. Und solch ein leichtzerbrechliches, kostbares Ding nimmt doch keine Gesellschaft auf die Reise mit, um etwa bei Gelegenheit darin eine Bowle anzusetzen!
»Hier, armer Mann, trinkt — löscht Euren Durst, ehe Ihr mir erzählt, was Euch geschehen ist,« sagte die weiche, leicht tremolierende Altstimme.
In einer eigenartigen Weise führte sie ihm den hohen Krug von untenherauf an den Mund. Es war ganz unverkennbar, wie sie der Möglichkeit vorbeugen wollte, daß er sie berühren könnte. Erstens stand sie möglichst weit ab von ihm, dann hatte sie den Krug mit beiden Händen ganz tief unten gefaßt, und hätte Nobody, der sich wieder aufgerichtet hatte, diese Hände mit den seinen berühren wollen, so hätte er sich erst sehr tief bücken müssen.
Es war gesüßtes Zitronenwasser, und der Schauspieler brauchte jetzt nicht mehr den Halbverschmachteten nur zu markieren, sein Durst war echt, und er trank denn mit vollen Zügen und trank und trank. Dabei aber beschäftigten sich seine Gedanken immer mit dem vorliegenden Rätsel, er achtete auf alles, stellte immer heimliche Experimente an.
So hatte er wohl seine beiden Hände oben an den großen Krug gelegt, aber er hielt ihn nicht, das überließ er der Dame.
»Donnerwetter, hat dieses Weib eine Muskelkraft!« dachte er erstaunt. »Das sind wenigstens fünf Liter, einen habe ich erst getrunken — dann sind das mit dem Kruge zusammen mindestens 15 Pfund Gewicht — und die vermag dieses Gewicht so lange mit ausgestreckten Armen zu halten!!«
Er setzte im Trinken einmal ab — die Dame hielt den noch immer sehr schweren Krug weiter mit ausgestreckten Armen ihm mundbereit hin — er trank nochmals mit langen, langen Zügen, dann zog er Kopf und Hände zurück.
»Seid Ihr gesättigt, lieber Mann?«
»Dank Euch, Dank Euch!« atmete der Blinde tief auf. »Wer seid Ihr, der Ihr mich vom Tode des Verschmachtens errettet habt? Ach, daß ich Euch sehen könnte!«
Was bekam Nobody da für eine Antwort zu hören? Da sagte diese jugendschöne, juwelengeschmückte, nach der neuesten Pariser Mode herausgeputzte Dame mit ihrer tiefen, tremolierenden Altstimme — da sagte diese Dame, die der ›Blinde‹ vor sich mit seinen Augen stehen sah:
»Ich bin ein alter Mann, der in diesem Wüstengebirge als armer Einsiedler ein gottwohlgefälliges Leben führt.«
So sprach das junge, schöne, pompös herausstaffierte Mädchen, und es hätte nicht viel gefehlt, so wäre Nobody aus der Rolle gefallen und hätte vor Staunen, wie weiland Mr. Cerberus Mojan, seinen Mund so weit als möglich aufgesperrt.
Vielleicht hätte er sich wirklich durch seinen Gesichtsausdruck verraten, denn so etwas war ihm doch noch nicht vorgekommen — es war sein Glück, daß sich die Dame gerade bückte, um den Krug auf den Boden zu setzen.
Und als sie sich wieder aufrichtete, da hatte Nobody Lust, ihr schallend ins Gesicht zu lachen.
Der Sehende spielte der jungen Dame gegenüber den Blinden. Und die junge Dame spielte dem sehenden Blinden gegenüber den alten Mann. Das war ja gottvoll!!
Jetzt aber hatte sich Nobody wieder in der Gewalt.
Der Blinde mußte glauben, was ihm da gesagt worden war, und er konnte recht wohl glauben, daß er die Stimme eines alten Mannes vernehme. Denn sie konnte wirklich für eine Männerstimme gelten, etwa für die eines ersten Tenors.
»Nun sagt, armer Mann, wie kommt Ihr in dieses Gebirge? Und wie habt Ihr das Augenlicht verloren, was doch erst vor ganz kurzer Zeit geschehen sein muß?«
Nobody neigte ächzend den Oberkörper etwas zurück und legte die Hände vor die glanzlosen Augen, aber wohl darauf achtend, daß er noch zwischen den Fingern hindurchblicken konnte.
»O, mein Gott,« stöhnte er, »ich bin mit einem glühenden Eisen geblendet worden!«
»Mit einem glühenden Eisen geblendet worden?!« wiederholte die Dame mit allen Zeichen des Entsetzens...Wer hat Euch das getan?«
»Jussuf el Fanit.«
Es war nicht anders, als ob die junge Dame plötzlich eine überirdische Vision hätte, so sah sie aus, so gebärdete sie sich, mit solchen Augen beugte sie sich vor. Dann aber prägte sich auf ihrem schönen Antlitz der stärkste Unglaube aus — — nein, das, was sie da sah und vernahm, das konnte nicht die Wirklichkeit sein, das war nur eine Vision.
»Wer soll Euch geblendet haben?«
»Jussuf el Fanit.«
»Wer?« fragte sie nochmals, nur in schärferem Tone.
»Jussuf el Fanit,« wiederholte Nobody zum dritten Male.
»Wer ist denn dieser Jussuf el Fanit?«
»Ein Wüstenräuber, der hier die Karawanen...«
»Der Wüstenräuber Jussuf el Fanit, der sich der Herr der Wüste nennt, der von den englischen Salzkarawanen Tribut fordert, den meint Ihr?« unterbrach sie ihn, und jetzt brach schon wieder in ihrem Gesicht das grenzenlose Staunen hervor, gepaart mit Unglauben.
»Eben den meine ich.«
»Und dieser Wüstenräuber Jussuf el Fanit soll Euch mit glühendem Eisen blind gemacht haben?!« erklang es in immer größerer Aufregung.
»Er tat es, um mich...«
»Wo denn?«
»Hier im Geiergebirge, wo ich...«
»Wann denn?«
»Gestern mittag.«
Stärker konnte die Dame die furchtbare Spannung, die sich ihrer bemächtigt hatte, durch ihre ganze Stellung, wie sie dem Blinden gegenüberstand, nun nicht mehr ausdrücken.
»Dieser Jussuf el Fanit soll Euch gestern mittag hier in diesem Gebirge geblendet haben?! Warum denn?«
»Er hatte ein Mädchen geraubt...«
»Wer?!« wurde er sofort unterbrochen.
»Jussuf el Fanit.«
»Wie? Jussuf el Fanit hat auch ein Mädchen geraubt?« erklang es wieder in atemloser Spannung. »Wann denn?«
»Vor drei Tagen, eine junge Französin...«
»Jussuf el Fanit hat vor drei Tagen eine junge Französin geraubt?« erklang es jetzt in recht harmlosem Tone, dem man aber die Verstellung gleich anhörte, und den Ausdruck ihres Gesichts brauchte die Dame dem Blinden gegenüber ja nicht zu verbergen. »Ach was! Mein lieber Mann, erzählt mir doch einmal die ganze Geschichte von Anfang an, ich interessiere mich nämlich sehr für so etwas.«
Ja, das hatte Nobody nun auch schon herausgefunden. Und für ihn war die Sache ebenfalls schon interessant geworden.
Die starren Augen ins Leere geheftet, begann er mit gebrochener, ausdrucksloser Stimme zu erzählen:
»Ich war eben in Kairo angekommen, im Hotel du Nil abgestiegen, als...«
Wiederum wurde er unterbrochen.
»Alfred!!« erklang jubelnd eine Frauenstimme.
Er hatte sie schon hinter einem Felsen auftauchen sehen, die schwarzgekleidete Gestalt, als er eben erst mit seiner Erzählung beginnen wollte, und es gehörte die Willenskraft dieses Mannes dazu, um die Erzählung wirklich beginnen zu können, eben als ein Blinder, um den herum nur schwarze Finsternis herrscht. Doch als er bei seinem Namen gerufen wurde, durfte er stocken.
Es war Marguérite, welche auf ihn zugeeilt kam, trotz der afrikanischen Hitze noch im schwarzen, allerdings luftigen Trauerkleide.
Die weiße Dame, wie wir sie vorläufig nennen wollen, hatte so gestanden, daß sie von jener nicht gleich gesehen werden konnte; bei dem Rufen drehte sie sich um, trat hinter dem Felsen hervor und — die beiden standen sich gegenüber.
Marguérite schien wie vom Donner gerührt zu sein. Der Neger, der ihr den Bericht gebracht, hatte sie zwar nach dem Geiergebirge geleitet, aber er hatte Mr. Huxley und Mr. Wall nicht wiederzufinden gewußt; seit heute früh irrte sie nun schon mit dem Neger in dem Labyrinth von Schluchten umher, dann war auch Ali verschwunden, nun endlich fand sie den blinden Geliebten — — und da stand neben dem Blinden schon ein anderes Weib, elegant, jung und schön!!
»Wer sind Sie?«
Die weiße Dame hatte dies in befehlendem Tone gefragt.
Nobody sah, wie Marguérite plötzlich von einer richtigen Wut befallen wurde, weil die fremde Dame dazwischengekommen war und ihren ganzen Plan zu zerstören drohte. Und natürlich konnte das nur eine Rivalin sein, die es ebenfalls auf den blinden Mann abgesehen hatte.
Hier hieß es also nicht lange fragen, sondern handeln.
Marguérite tat, als ob die andere gar nicht existiere, sprang an ihr vorüber auf Nobody zu und ergriff seine Hand.
»Alfred, endlich habe ich dich gefunden! Ach du Unglücklicher! Ich habe erfahren, was geschehen ist...«
»Weib, laß mich gehen, ich habe nichts mit dir zu schaffen!« schrie da der Blinde, wie mit Widerwillen seine Hand aus der ihren reißend.
Die Wirkung dieser Worte und Handlung war eine furchtbare. Mit schneeweißem Gesicht prallte Marguérite zurück, dann färbte es sich plötzlich dunkelrot. Dann aber brach bei ihr eine Art von Raserei hervor, die sich gegen die weiße Dame richtete, denn die mußte nun natürlich an allein schuld sein.
»Wer sind Sie? Was wollen Sie? Was haben Sie hier zu suchen? Machen Sie, daß Sie von hier fortkommen!« fuhr sie die Rivalin in wütendem Tone an.
Während Marguérite sich so gebärdete und ihre Augen vor Wut glühten, blieb die weiße Dame eiskalt. Aber auch ihre blauen Augen begannen jetzt zu sprühen. Nobody sah und hatte Erfahrung genug, um zu wissen, was für eine Szene jetzt bald stattfinden würde.
»Aha, aha!« dachte er. »Wenn die sich in der nächsten Minute nicht bei den Haaren gepackt haben, dann will ich Mops heißen.«
Es sollte noch viel schneller geschehen, die Worte flogen hin und her, und es sollte auch noch ganz anders kommen, als Nobody geahnt hatte.
»Wer sind Sie denn, daß Sie hier so aufzutreten wagen?« fragte die weiße Dame mit eisiger Kälte.
»Wollen Sie hören, wer ich bin? Ich bin die...«
»O, wie Sie heißen und was für einen Titel Sie führen mögen, das ist mir höchst gleichgültig, mir kommt es nur vor, als wären Sie...«
»Ich bin die Braut dieses unglücklichen Mannes!« schrie Marguérite, immer mehr außer sich vor Wut geratend, weil die Rivalin nicht weichen wollte. »Wollen Sie uns beide nun gleich allein lassen?!«
»Die Braut dieses Mannes?« wiederholte die Weiße mit bitterem Spott. »Der Ihre Hand mit Abscheu zurückstößt? Mir scheint eher, daß Sie an seinem Unglücke schuld...«
Das hatte nun gerade noch gefehlt.
»Bei Gottes Tod, wenn Sie jetzt nicht gleich machen, daß Sie fortkommen... ich bin zu allem fähig!!«
Mit diesen Worten hatte sie einen kleinen Revolver aus der Tasche gerissen und ihn auf die Gegnerin angeschlagen.
Das Nachfolgende spielte sich viel schneller ab, als es sich erzählen läßt.
Nobody sah, wie die weiße Dame einen Blick um sich warf, der die ganze Gegend umfaßte, auch alle Felsenkämme streifte — das war nur ein Moment gewesen, im nächsten Moment stürzte sich die elegante Salondame mit dem geräuschlosen Sprunge eines Panthers auf Marguérite, aber ein Sprung von unten nach oben, sie unterlief sie, der Revolver war der Hand entwunden, ein Fausthieb auf den Kopf, Marguérite lag am Boden, auf ihr kniete die fremde Dame, ein Spitzentuch und eine Lederschnur aus der Tasche — Marguérite war an Händen und Füßen gebunden und mit dem Taschentuche geknebelt.
Nobody glaubte, seinen Augen nicht mehr trauen zu dürfen. Er wußte nicht, worüber er staunen sollte — über diese fabelhafte Schnelligkeit oder über die Geräuschlosigkeit, mit welcher der Überfall, das Binden und Knebeln ausgeführt worden war. Und nun überhaupt — so eine Pariser Modepuppe — hier im Geiergebirge...
Da richtete sich die weiße Dame schon wieder auf, nicht einmal ein Löckchen ihrer Frisur war in Unordnung geraten, und während sie der vorläufig durch den Faustschlag Bewußtlosen den Knebel noch etwas tiefer in den Mund stieß, rief sie in erschrockenem Tone:
»Himmel, sie ist plötzlich hingestürzt!«
Nun eine kleine Pause, der Blinde sollte glauben, jetzt beschäftige sie sich mit der Zusammengebrochenen, und das tat sie auch wirklich, das heißt, sie schob den Knebel immer noch etwas tiefer in den Mund und schlug noch einige Knoten in die Lederfesseln.
»Wenn es nur kein Schlaganfall ist... Nein, ich halte es nur für eine Ohnmacht... Aber es hätte ein Schlaganfall sein können... Seht Ihr, man soll niemals jähzornig sein... Ich will sie etwas mit Wasser besprengen, freilich ist es Limonade, aber das schadet nichts, wenn es nur kühlt...«
Sie nahm wirklich den Krug und spritzte etwas von dem Inhalte plätschernd auf die Steine, aber natürlich nicht auf das gebundene und außerdem noch bewußtlose Weib; dieses beobachtete sie nur, und fernerhin musterte sie aufmerksam ihre Umgebung, ob auch kein Beobachter in‹ der Nähe sei.
»Ach, das ist gut, da kommt Abdul. Das ist ein kleiner Araber aus dem nächsten Dorfe, der mir immer meine geringen Bedürfnisse an Speise und Trank besorgt. Das ist gut, der kann sich zuerst der Bewußtlosen annehmen. — Hier, komm her, Abdul, die Dame ist ohnmächtig geworden — hier hast du ein Tuch, mache ihr nasse Umschläge...«
So sprach sie weiter zu dem kleinen Araber, der gar nicht vorhanden war.
»Nein, so eine Schauspielerin!!« staunte Nobody. »Die kann es ja mit mir aufnehmen! Und wozu nur dies alles?«
Die Instruktion war beendet, der Blinde sollte glauben, jetzt beschäftige sich der Junge eifrig mit der Bewußtlosen, und die weiße Dame wandte sich wieder an Nobody.
»Wir können sie einstweilen hier lassen, Abdul ist ein kluger und geschickter Knabe, sie wird schon wieder zu sich kommen, und ich sehe dann gleich wieder nach ihr. Vor allen Dingen bedürft Ihr jetzt der Pflege, Ihr seht ja entsetzlich leidend aus. Kommt, laßt Euch nach meiner Einsiedlerhöhle führen.«
Und nicht die tiefbrünette Marguérite, sondern diese blondhaarige, elegante, fremde, rätselhafte Dame war es, die jetzt die Hand des vermeintlich Blinden ergriff und ihn fortgeleitete.
Es war eine wundersame Aenderung des Zufalles! Nobodys ganzer Plan, den er mit Marguérite gehabt, war zunichte geworden, aber er bedauerte es nicht, daß es so ganz anders gekommen, im Gegenteil. Das war gerade so etwas für ihn!
Die Führerin, die sich für einen alten Einsiedler ausgeben wollte, vielleicht für einen im härenen Gewande mit langem, weißem Barte, sprach kein Wort. Sie blickte nur immer unverwandt von der Seite den Blinden an. Manchmal beugte sie sich auch im Gehen vor und schaute ihm forschend direkt ins Gesicht. Sie schöpfte doch nicht etwa Verdacht? Nobody gab sich die möglichste Mühe, einen ›echten‹ Blinden, der erst vor kurzem die Sehkraft verloren hat, zu markieren. Auf den Ausdruck seiner Augen konnte er sich verlassen — und Nobody war nicht der einzige Mensch, der diese ›Kunst‹ verstand.
Man kann rechnen, daß die Hälfte der vielen Blinden, die in den Straßen Londons betteln, recht gut sehen können. Es gibt dort ein besonderes Polizeiamt, wo die verdächtigen ›Blinden‹ beobachtet und ärztlich untersucht werden, mancher ist dort schon entlarvt worden, mancher aber auch nicht, und doch weiß der Eingeweihte, daß der betreffende Blinde, wenn er will, wie ein Luchs sehen kann. Der ärztlichen Erkenntnis sind eben Schranken gesetzt.
»Steht Euch die Dame nahe, die Euch Alfred nannte?« unterbrach die Führerin nur ein einziges Mal das Schweigen.
»Ich nannte sie einstmals meine Braut, sie hat mich verraten,« entgegnete der Blinde mit müder Stimme.
»Ich dachte es mir.«
»Woher könnt Ihr...«
»Weil sie so aussieht,« unterbrach sie ihn kurz und fiel in ihr früheres Schweigen zurück.
Diese Wortkargheit war für Nobody sehr günstig, denn er mußte jetzt seinen Kopf anstrengen, um einen neuen Plan zu entwerfen, wie er fernerhin dieser rätselhaften Dame gegenüber auftreten solle, deren Rätsel er ergründen wollte, er hatte auch mit Marguérites Angaben zu rechnen — und daß ihn seine Führerin unverwandt von der Seite beobachtete, ihm auch direkt ins Gesicht schaute, störte ihn nicht in seiner Gedankenarbeit.
Uebrigens war es nur ein kurzer Weg.
»Wir sind am Ziel,« sagte die Führerin. »Wir müssen noch einen sehr schmalen Gang passieren, aber folgt mir unbesorgt, der Weg ist ganz eben, und die Wände sind glatt, du kannst dich nicht an spitzen Steinen verletzen. Dann sind wir gleich in meiner Höhle.«
Nobody sah eine enge, oben offene Felsspalte, in welche er von der vorausgehenden Dame geleitet wurde. Aber Nobody sah auch schon von hier aus, daß die Spalte von sehr hohen, senkrechten, ganz glatten Granitwänden gebildet, sich weiter hinten wieder oben schließen würde, denn dort hinten gähnte es ihm finster entgegen; deshalb begann er sofort seine Schritte zu zählen.
Beim dreiundzwanzigsten wurde die Spalte oben bedeckt, jetzt wurde sie also zur wirklichen Höhle, nach weiteren zehn Schritten herrschte völlige Finsternis, worauf er als Blinder nicht aufmerksam gemacht zu werden brauchte, und nach wieder einigen Schritten blieb die Führerin, welche natürlich immer Nobodys Hand hielt, ihn hinter sich herziehend, stehen.
»Hier ist das einzige Hindernis, über das du steigen mußt. Fühlst du es mit dem Fuße? Es ist nicht sehr hoch. Ich bin schon hinüber.«
Es soll Menschen geben, die auch im Finstern sehen können. Nobody gehörte nicht zu diesen Bevorzugten. An der Stelle seines Tagebuches, an der er dieses Abenteuer beschreibt, widmet er der Möglichkeit dieses Phänomens einige Seiten. Er streitet nicht ab, daß es solche Menschen geben könnte. Dann müßten ihre Augen in der Dunkelheit wie die der Katze, der Eulen und anderer Nachttiere leuchten. Solche Augen saugen das Sonnenlicht auf und strahlen es in der Finsternis wieder aus, wirken also wie Laternen. Nobody hat niemals einen Menschen mit solcher Gabe gefunden, obgleich er extra nach ihnen auf die Suche gegangen ist, und fand er einen, der behauptete, im Finstern sehen zu können, so überzeugte sich Nobody stets, daß dem nicht so war.
Und hätte Nobody diese Gabe besessen, so hätten auch seine Augen im Dunklen leuchten müssen, und das wäre gerade jetzt dem Blinden sehr unangenehm gewesen.
Nun aber konnte Nobody trotzdem im Finstern sehen — allerdings nicht mit seinen Augen, sondern mit seinen Füßen, mit seinen Händen, vor allen Dingen mit seinem Kopfe, das heißt, mit seiner Geisteskraft. Dieser Mann konnte ja noch viel mehr, als nur im Finstern sehen — er blickte sogar in die Köpfe, in die Herzen, in die Gewissen der Menschen hinein!
Er fühlte mit Füßen und Händen eine meterhohe Steinbarriere, er fühlte denselben Granit wie an der Wand — und sofort sah er, im Geiste, in einiger Entfernung hinter dieser Barriere eine breite und tiefe Bodenspalte.
Es wäre schwer, die Kombinationen zu erklären, die zu diesem geistigen Hellsehen nötig sind.
Die Person, die hier hauste, hatte diese künstliche Barriere errichtet, um einen sich hierher verirrenden Fremden abzuhalten, in die natürliche Bodenspalte zu stürzen, die ihre Behausung vor fremden Eindringlingen schützte.
Das war der Grundgedanke bei der Kombination, freilich nicht so einfach zu verstehen.
Als Nobody hinübergestiegen war und nur wenige Schritte gemacht hatte, hieß ihn die Führerin wiederum einen Augenblick stillstehen.
»Ich muß jetzt erst den Felsblock zur Seite wälzen, der meine Höhle abschließt.«
Richtig, er hörte auch einen harten Fall, Stein schlug auf Stein. Aber er ließ sich nicht beirren. Er hätte seinen Kopf darauf gewettet, daß sich jetzt über die Bodenspalte durch irgend eine Vorrichtung, die nur eine ganz einfache zu sein brauchte, eine Steinplatte als Brücke gelegt hatte, und daß er mit dem Fuße keine Stufe fand, das erzählte ihm schon wieder eine lange Geschichte, wie akkurat hier ein Steinmetz, ein menschlicher Felsenmaulwurf gearbeitet hatte.
»So, nun tritt ein in die Höhle eines armen Einsiedlers und nimm fürlieb mit dem, was er dir bieten kann.«
Plötzlich flutete ihm helles Licht entgegen, von dem der total Blinde ja aber nichts zu wissen brauchte, und...Donnerwetter, das war ja eine feine ›Höhle‹, die sich da der ›arme, alte Einsiedler‹ eingerichtet hatte!!
Klein und niedrig war der Raum allerdings, aber vollkommen zum behaglichen Wohnzimmer eingerichtet, nicht nach orientalischer, sondern nach europäischer Art — ja, man erkannte sogar die deutsche Einrichtung, Sofa, Salontisch, Stühle mit geschnitzten Eichenlehnen, großer Wandspiegel, Kleiderschrank — gar nichts fehlte.
Und das schien erst das Entree zu sein! Denn es waren noch zwei andere Türen vorhanden, und hier befanden sich außer dem Kleiderschränke an den Wänden noch Haken, an denen Frauenkleidungsstücke hingen.
Es waren ganz regelrechte Holztüren, weiß lackiert, sogar mit Schnitzereien versehen, die Messingklinken geputzt, desgleichen ein Fenster mit Glasscheiben, das nach einem Hofe hinausführte, der mit einer hohen Mauer umgeben war, deren obersten Rand Nobody von hier aus nicht sehen konnte. Es war eine natürliche Felswand.
Nobody hatte nicht viel Zeit, sich näher umzuschauen, so weit er das als Blinder durfte, er mußte seine Aufmerksamkeit wieder der Führerin zuwenden.
Er stand übrigens noch nicht im Zimmer selbst, sondern noch in Armeslänge von der Türe entfernt, und die Dame hatte jetzt die Aufgabe, den Blinden durch diese Tür zu bugsieren, ohne ihn etwas von einer solchen merken zu lassen. Denn er sollte doch glauben, er beträte eine einfache Höhle, und ein zufälliger Seitengriff hätte alles verraten.
Erst hatte sie gesagt, der Weg sei ganz eben, jetzt mußte sie wohl diese Versicherung bereuen. Aber sie brauchte ja auch nur den Weg durch jenen langen Tunnel gemeint zu haben.
»Hier muß ich dich an beiden Händen geleiten, daß du nicht in die Tiefe stürzt, der Boden ist überall mit Spalten und Rissen durchzogen. Aber folge nur willenlos, dann passiert dir nichts.«
Mit weit ausgestreckten Armen ergriff sie seine beiden Hände und zog ihn, rückwärts gehend, nach sich, und Nobody hob bei jedem Schritt das Bein, als ob er auf Eiern spaziere. Dieses Blindekuhspiel amüsierte ihn köstlich.
So ward er glücklich durch die schwellenlose Tür bugsiert. Im Zimmer selbst wartete ein neues Hindernis, das dem Blinden den Glauben rauben konnte, er befände sich in der einfachen Höhle eines armen Eremiten. Aber die raffinierte Schauspielerin wußte jedes neue Hindernis zu beseitigen.
Dicht bei der Tür war noch nackter Steinboden. Sonst jedoch bedeckte denselben ein dicker, weicher Teppich, und der paßte doch nicht gut in eine Höhle, ganz abgesehen davon, daß es ein Smyrnaer war.
Das Mädchen ließ Nobodys Hände los, bückte sich blitzschnell, schlug den Teppich weit zurück, gleich über den Tisch hinweg, und die Gefahr war beseitigt.
»Bleibe einen Augenblick hier stehen, hier stehst du auch ganz sicher. Ich will nur meine Kutte wechseln, die ich schonen muß.«
Aha, dieser alte Einsiedler im Pariser Spitzenkleide trug also eigentlich eine richtige Mönchskutte! Nobody hätte gar zu gern einmal herzlich gelacht, er hätte viel dafür gegeben, wenn er es einmal gedurft.
Aber die Lachlust verließ ihn wieder. Er bekam etwas zu sehen, was eigentlich nicht für Männeraugen bestimmt ist, auch nicht für die Augen eines Blinden, wenn dieser Blinde noch wie ein Adler sehen kann.
Die junge Dame begann sich nämlich zu entkleiden. Es ging sehr rasch. Das kostbare Spitzenkleid, das sie auf der Klettertour so geschont hatte, riß sie jetzt herab und schleuderte es in eine Ecke, dann folgte das elegante Korsett, das leiser beiseite gelegt wurde, und dann folgte noch anderes.
Und der arme Blinde stand gerade so, daß er alles sehen mußte — mußte, denn er hatte doch keinen Grund, sich umzudrehen, dieses Umdrehen wäre doch auch sehr gefährlich gewesen, er hätte ja leicht in eine der vielen Spalten stürzen können, die ihn rings umgeben sollten — und da mußte er eben so stehen bleiben, wie er stand, die Augen starr geradeaus gerichtet, und das Unglück wollte es, daß die Augen des armen Blinden direkt auf die junge Dame gerichtet waren, die da intime Toilette machte.
Was Nobody dabei dachte?
»Donnerwetter, die möchte ich heiraten!«
Das heißt, nicht etwa, daß er gerade nur diese fünf Worte dachte! Er dachte noch etwas mehr. Er dachte auch in etwas anderer Weise. Diese fünf Worte sind nur sozusagen als summa summarum seiner Gedanken aufzufassen.
Längere Zeit — zu Nobodys Qual — nahm das Anlegen des anderen Kleides in Anspruch oder doch die Wahl desselben.
Zunächst wurde ein Mahagoni-Kleiderschrank geöffnet, und die Türe knarrte etwas.
»Ich habe hier vorn in der Höhle eine alte Truhe stehen, mein einziges Möbel,« erklärte der alte, arme Eremit im tiefsten und verführerischsten Damennegligé.
Jawohl, eine alte Truhe, deren Deckel knarrte, gleich hier vorn in der Höhle — stimmte alles!
Der große Schrank enthielt außer einigen Kleidern eine ganze Kollektion von Morgenröcken, alles hochelegante Kostüme, mit Spitzen und Bändern und Troddeln und Quasten und — wie Nobody sich in Gedanken ausdrückte — mit anderem Klimbim.
Die Wahl wurde ihr schwer. Zuletzt nahm sie einen knallroten Morgenrock aus Baumwolle mit gelbseidenen Aufschlägen, die für ihre Zwecke — Nobody durchschaute sofort alles, was sie beabsichtigte — den Vorteil hatte, daß an diesem der wenigste ›Klimbim‹ herumbaumelte, und was daran an Bändern und Troddeln hing, das wurde kurzerhand abgerissen.
So, nun hatte sie doch etwas an, was wenigstens ungefähr dem ›härenen Gewande‹ eines echten Wüsteneremiten und Höhlenbewohners glich, nun durfte der Blinde sie schon eher einmal berühren. Daß die Nonnen- oder vielmehr Mönchskutte — knallrot war, das konnte er doch nicht fühlen, und daß sie inwendig mit Seide gefüttert war, schadete auch nichts, inwendig hinein hatte er doch nicht zu fassen.
Das Überwerfen dieses Morgenrockes hatte die kürzeste Zeit gewährt. Jetzt nahm sie noch die Perlen-Halskette ab, den Korallenschmuck aus den Ohren, vertauschte die Goldkäferstiefelchen mit leichten, hackenlosen Schuhen, und schließlich wickelte sie noch ein großes Tuch turbanartig um ihre Frisur, Doch war auch dies alles sehr rasch vonstatten gegangen.
Jetzt huschte sie geräuschlos nach einer anderen Tür, öffnete sie, blickte noch einmal zurück, ob der Blinde auch unbeweglich dastand, und verschwand in dem Nebenzimmer.
Es war gut, daß Nobody diese Gelegenheit nicht benutzt hatte, sich schnell einmal umzusehen, denn sie kam sofort wieder heraus, und für sie selbst war es ein Glück, daß die Stubentüren nicht wie jene Schranktür knarrten.
»So, ich habe mein Zeug gewechselt. Nun laß dich wieder führen. Die Höhle ist sehr tief, und überall gibt es gefährliche Stellen.«
Das sollte rechtfertigen, daß sie wiederum seine beiden Hände ergriff, also rückwärts ging, denn sie wollte ihn durch die zweite Tür bugsieren.
Und richtig, jetzt, in dem Morgenrock, führte sie den Blinden ganz anders. Bisher, noch im Spitzenkleid, war sie immer mit weitausgestrecktem Arm neben ihm oder vor ihm gegangen. Diese Vorsicht war jetzt nicht mehr nötig. Sie achtete nicht darauf, daß Nobodys Hände mehrmals ihr Gewand streiften.
»Komisches Weib!« dachte Nobody. »Eine ganz raffinierte Schauspielerin ist sie ja, aber so, wie auf der Bühne, geht's im reellen Leben denn doch nicht. Überhaupt merkwürdig, daß so viele Menschen nichts davon wissen, wie man einen Mann von einer Frau durch den Geruch unterscheiden kann. Meine Nase spürt's kilometerweit. Die hier duftet wenigstens appetitlich. — Hm, ich möchte sie wirklich heiraten. Eine hübsche Larve, nicht zu dick, nicht zu dünn — das wäre gerade etwas für meinen Geschmack, Na, woll'n mal sehen, was zu machen ist.«
So dachte Nobody, der sich selbst einen Gemütsmenschen nannte!
Die Passage durch die Tür war geglückt. Der ›Blinde‹ wollte dem Mädchen doch auch nicht etwa das Blindekuhspiel verderben.
Jetzt befand er sich in der Küche, mit allem eingerichtet, was zu einer wohlausgestatteten Haushaltsküche gehört. Nur der Ofen war von besonderer, aber in dem kohlen- und holzlosen Aegypten sehr gebräuchlicher Art. Es war einer der damals neu aufgekommenen Petroleumöfen, aber nicht so ein kleiner, auf dem man nur einen oder zwei Töpfe stellen kann, sondern ein großer, so groß wie ein Tisch, mit verschiedenen Heizflächen und mit Heizröhren, in denen man auch braten und backen kann. Auch in den Petroleumdistrikten Amerikas sind solche Oefen noch heute sehr beliebt und erfüllen ihren Zweck tadellos.
Nun wurde Nobody noch durch eine Tür bugsiert, die in eine kleine, fensterlose Kammer führte, deren Boden hoch mit Binsen bedeckt war.
Was diese hier neben der Küche zu tun hatten, wozu sie dienten, das war dem Detektiv kein Rätsel mehr. Zum Heizen des Petroleumofens dienten sie nicht. Er hatte schon in dem ersten Felsenzimmer einige hübsche Binsenmatten gesehen. Das Mädchen flocht einfach zum Zeitvertreib Binsen, die es sich vom Ufer des Sees holte, das hier war die Trocken- und Vorratskammer.
»Hier ist dein Lager. Ich werde dir noch Speise und Trank bringen, dann lege dich hin, du wirst des Schlafes bedürfen. Ich muß noch einmal zurück und meinen Krug wiederholen. Aber du brauchst dich nicht zu fürchten, die Lage dieser Höhle ist eine ganz versteckte, sonst würde ich dich nicht allein zurücklassen.«
Mit diesen Worten hatte sie ihn zwischen die Binsen hineingeschoben, und es war das einfachste, daß sie den Blinden gleich mit sanftem Zwang niederdrückte.
Nobody war vorläufig nur bis auf die Knie gekommen. Sie hatten immer französisch zusammen gesprochen, in Aegypten die Umgangssprache der Gebildeten, die Familiensprache. Die Dame oder vielmehr der alte Mann hatte, wie es sich auch für solch einen Eremiten ziemt, bereits das vertraulichere ›Du‹ gewählt, und Nobody dachte daran, jetzt einmal seinen Gefühlen Luft zu machen.
»O, ehrwürdiger Vater, der du mich Unglücklichen gerettet hast, wie soll ich dir danken! Und ich weiß noch nicht einmal deinen Namen!«
Also rief Nobody mit begeisterter und zugleich etwas weinerlicher Stimme, und dabei umschlang er ihre Knie und preßte seine Lippen mit inbrünstigem Danke auf ihren Morgenrock.
Und mit Genugtuung bemerkte dieser scheinheilige Sünder, wie sich ihr schönes Antlitz vor Verlegenheit purpurrot färbte, und wie sie sich hastig von seiner innigen Umschlingung zu befreien suchte, was er aber nicht so schnell geschehen ließ, sie mußte noch manchen Kniekuß dulden.
Dann jedoch, als sie wieder frei war, hatte sie auch schnell einen Grund für ihr Sträuben gefunden.
»Du schuldest mir keinen Dank,« sagte sie mit weicher Stimme, und Nobody sah in ihren, auf ihn herabblickenden Augen noch etwas mehr als nur Verlegenheit, »ich habe nur getan, was jeder andere an meiner Stelle getan hätte, so er ein Herz in der Brust hat, und du hattest recht, mich Vater zu nennen — ich werde hier nur Vater Gabriel genannt.«
»Vater, mein Vater!« schluchzte Nobody, barg sein Gesicht wieder in ihrem Schlafrock und knutschte sie nochmals ab.
Dann besorgte ›Vater Gabriel‹ wieder Zitronenlimonade, brachte Brot, Datteln, Feigen, Weintrauben und andere Früchte herbei, aber auch ein großes Stück Schinken, den ein fremder Jäger kürzlich dem frommen Einsiedler in der Wüste zum Andenken verehrt hatte. Dann holte ›Vater Gabriel‹ frisches Wasser, mit dem der Geblendete seine entzündeten Augen kühlen sollte. Er mußte dulden, daß gleich ›Vater Gabriel‹ selbst ihm einen nassen Verband umlegte — ein Glück, daß sich die rote Hennah nicht so leicht abwaschen läßt wie Schminke — hierauf hob ›Vater Gabriel‹ ganz geräuschlos die Kammertür aus, damit der Blinde, wenn er sich in dem engen Räume ausstreckte, diese nicht berührte, und nachdem ›Vater Gabriel‹ alles handbereit gelegt und dem Blinden noch nachdrücklich ans Herz gelegt hatte, um Gotteswillen nicht aufzustehen, bei jedem Schritt — von diesem Lager könne er in eine Spalte stürzen und unten zerschmettern, entfernte sich ›Vater Gabriel‹ definitiv, um seinen zurückgelassenen Krug zu holen — und natürlich auch die gefesselte Marguérite, wovon er aber nichts erwähnte.
Als Nobody allein war und ganz sicher wußte, daß er nicht heimlich beobachtet werde, steckte er einen Finger in den Mund, blies die Backen auf und machte dabei ein unbeschreibliches Gesicht.
»Ei, ei,« schmunzelte er, »wenn die wüßte, wie ich es hinter den Ohren habe! Aber sie nicht minder. Wir können uns die Hand reichen. Vater Gabriel, hahaha! Doch wer ist sie?«
Wir wollen das Resultat seiner Kalkulationen nicht wissen. Sein Kopf beschäftigte sich mit der Ausarbeitung dessen, was er ihr dann erzählen würde, wobei er stark damit zu rechnen hatte, was Marguérite über ihn aussagen würde.
Während dieser Grübeleien aß er mit dem besten Appetit die vorgesetzten Sachen, ließ von dem Schinken nur den Knochen und von den Früchten nur die Dattelkerne übrig, dann streckte er sich lang aus und wartete des Kommenden. Die Binde hatte er zwar noch vor den Augen, hatte sie aber so geschoben, daß er genügend unter ihr hervorsehen konnte, ohne daß dies zu bemerken war.
Mächtig reizte es ihn, während der Abwesenheit seiner Wirtin ihre Felsenwohnung näher zu besichtigen, aber er hätte doch dabei trotz aller Vorsicht überrascht werden können, was er auch nicht als Blinder beschönigen konnte, der einmal das Lager verlassen und sich verirrt hatte. Er wollte ihr die Überzeugung nicht zerstören, daß er wirklich glaube, sich in der nackten Felsenhöhle eines alten Eremiten zu befinden. Zu seiner Untersuchung war noch später Zeit. Denn das stand bei ihm fest, daß er diesen ausgehöhlten Felsen nicht eher verließ, als bis er über die Bewohnerin desselben vollständige Klarheit erlangt hatte. Zwar würde er von seinen Begleitern vermißt werden, aber auch wenn es ihm nicht gelang, sich mit diesen, die ihn suchen würden, unbemerkt in Verbindung zu setzen, konnten sie mit ihrem Suchen nach ihm seine Pläne doch nicht kreuzen.
»Ihr Interesse für meine Person ist durch Mitleid für den Blinden stärker geworden als ihr erst so ungeheures Interesse für Jussuf el Fanit, von dem sie bestimmt weiß, daß er mich gar nicht geblendet haben kann.«
Das war die Grundidee, auf welcher er seine Pläne aufbaute, und wir werden gleich sehen, wie recht er hatte. Überdies hatte sie ja zuletzt gar nicht mehr von dem Wüstenräuber gesprochen, war immer nur um den Blinden besorgt gewesen.
Nach etwa einer Viertelstunde kam sie wieder. Wollen wir sie, um ihr einen weiblichen Namen zu geben, der zugleich an den vorgeblichen ›Vater Gabriel‹ erinnert, einstweilen Gabriele nennen.
Unhörbar kam sie aus dem vorderen Zimmer durch die Küche geschlichen. Alle Türen waren offen, Nobody hatte jenes Zimmer nicht aus den Augen gelassen, und so wußte er bestimmt, daß sie nicht von der Seite gekommen war, von welcher aus sie beide zusammen vorhin das Zimmer betreten hatten. Demnach mußte wohl noch ein anderer Eingang zu der Felsenwohnung existieren.
Nobody stellte sich schlafend und konnte sie unbemerkt beobachten. Gabriele übersah den kleinen Raum, prüfte den Krug, ob er getrunken habe, alles ganz geräuschlos, dann blieb sie ruhig neben dem Binsenlager stehen und immer teilnehmender blickte sie auf den Schläfer herab.
Und was sie in diesem teilnahmvollen Anblicken für eine Ausdauer hatte!
Dann kniete sie neben dem Lager nieder, und die so mitleidig blickenden Augen im schönen, stolzen Antlitz waren dem Gesicht des Schläfers noch näher gerückt.
Dann hob sie ihre Hand über den Schläfer, streckte sie aus, bis sie die Felswand berührte, so stützte sie sich, um sich noch tiefer herabzubiegen, immer tiefer und tiefer, bis — ihre Lippen des Schläfers Mund berührten!
Es war ein flüchtiger Kuß gewesen, nur ein Hauch und trotzdem hatte alle Innigkeit, Seligkeit und Hingabe darin gelegen, welche nur ein liebendes Weib einem Kusse verleihen kann. In ihren Zügen, in ihren Augen war es zu lesen: nicht mit dem Munde, mit der Seele hatte sie geküßt.
Schnell und geräuschlos hatte sie sich wieder aufgerichtet. Keine Verlegenheit, keine Scham über sich selbst, noch weniger Leidenschaft — ein reines, hehres, feierliches Glück war es, was sich in dem schönen Mädchenantlitz ausprägte. Und so blieb sie stehen, mit einem verklärten Lächeln auf ihn niederblickend.
Und Nobody? Der kalte, eiserne, immer berechnende Mann, den wir schon oft auch als einen rücksichtslosen Zyniker kennen gelernt haben, fühlte plötzlich etwas, von dem er sich nicht mehr erinnern konnte, es schon einmal gefühlt zu haben — und er war ein Mensch, und daher ging es ihm, wie es jedem Menschen geht — er wußte nicht einmal, daß ihm plötzlich die Liebe ins Herz geschlagen war.
Aber die Liebe, welche ihn mit einer unendlichen Seligkeit erfüllte, hatte nichts mit begehrender Leidenschaft zu tun. Denn das war die wahre, die reine, die göttliche Liebe.
Zu diesem Augenblicke möcht' ich sagen: Verweile doch, du bist so schön!
Wie Goethes Faust in der Ekstase des höchsten Glückes diese Worte spricht, da läßt der Dichter den Helden tot zusammenbrechen.
O, beneidenswert ist der, welcher den tiefen Sinn dieser Szene gar nicht versteht und nicht darüber nachgrübelt!
Dann gehört er zu denen, welche niemals von der Menschheit ganzem Jammer gepackt werden — denn dann weiß er nicht, daß wir armen Menschlein, die wir aus Staub gemacht sind und wieder zu Staub werden, auf die Dauer überhaupt niemals glücklich sein können.
»Jetzt möchte ich sterben!«
Wer das mit verklärtem Munde jauchzen kann, der genießt in diesem Augenblicke das höchste Glück, dessen der Mensch fähig ist.
Das ist die furchtbar bittere, furchtbar schöne Wahrheit!
Und unser Mann jauchzte es im Herzen.
»Jetzt möchte ich sterben!«
Aber Nobody hatte Erfahrungen, er wußte ein Rezept, um sich für die Dauer wenigstens einen Schimmer dieses höchsten Glückes zu wahren,
»Jetzt noch einmal nur ihre Hand küssen, und dann fort, fort von hier und ihr und sie niemals wiedersehen und dann nur noch in der Erinnerung leben!«
Und der Wunsch wurde zur Tat. In sehnsüchtigem Verlangen streckte er beide Arme aus.
»Ach, nur einmal noch laß mich dich umschließen und küssen...«
»Hast du gut geschlafen?« fragte Vater Gabriels weiche Stimme.
Da war er vorbei, der Augenblick des höchsten, reinsten Glückes. Der Träumer erwachte zur Wirklichkeit.
Er hatte geglaubt, jene Worte laut gejubelt zu haben — jetzt wußte er sofort, daß er sie nur im Herzen gejauchzt hatte.
Die Arme ausgestreckt hatte er allerdings — und das Mädchen glaubte, der Erwachende habe sich nur gedehnt.
O, das war bitter! Aber nun war Nobody auch wieder der Nobody, der nie die Besinnung verlor. Er war eben zur Wirklichkeit zurückgekehrt.
Aber die Wirklichkeit braucht doch nicht immer nüchtern zu sein, und gerade dieser Mann wußte dem reellen Leben immer die romantische Seite abzugewinnen. Das tat er denn auch jetzt, er setzte also sein begonnenes Spiel fort. Es gehört dieses Mannes eiserne Willenskraft dazu, die sich so seltsam mit Phantasie paarte, um dies vollbringen zu können.
Sein erster Griff war nach der Binde, er schob sie zurück.
»Ist es denn Nacht?« murmelte er. »Nacht — — Nacht — — alles ist finster...«
Dann schlug er die Hände vor die Augen und sank stöhnend zurück.
»Ach, ich bin ja blind... blind!!« ächzte er.
Gabriele kniete wieder neben ihm nieder, streichelte ihm sanft über das Haar und sprach tröstende Worte zu ihm. Dann, als er sich beruhigt hatte, stellte sie die Fragen:
»Wer bist du? Wie kommst du hierher? Warum bist du des Augenlichtes beraubt worden? Woher weißt du, daß es Jussuf el Fanit gewesen ist, der dich geblendet hat?«
Nobody hatte also recht gehabt. Erst kam seine eigene Person; das Interesse für den Wüstenräuber, wie dieser in den Verdacht geriet, ihn geblendet zu haben, war weit in den Hintergrund getreten.
»Hast du, ehrwürdiger Vater, schon von dem amerikanischen Detektiv Nobody gehört?«
»Nein, wer ist das?«
Die Ehrlichkeit hatte schon im Ton gelegen, und Nobody, der Gedankenleser, sah es ihr sofort an, daß sie die Wahrheit sprach.
Hätte sie von diesem Detektiv schon gehört oder gelesen, so hatte sich Nobody wahrscheinlich nicht zu erkennen gegeben. Denn dieser Nobody war als ein abenteuerlicher Komödiant und Verwandlungskünstler, der sich wohl auch einmal blind stellen konnte, schon genügend bekannt. Dann hätte er seine Frage nur als eine Einleitung benutzt, hätte sich und sein Hiersein mit jenem Detektiv in irgend eine Verbindung zu bringen gewußt.
Ja, selbst wenn Marguérite, die sie unterdessen doch ganz sicher ausgeforscht hatte, ihn als den Detektiv Nobody bezeichnet hätte, würde er doch Mittel gefunden haben, das Mädchen zu überzeugen, daß jenes Weib im Irrtum, daß er nicht Nobody sei.
Nun sie aber von dem amerikanischen Detektiv noch gar nichts gehört hatte, erzählte er der Wahrheit gemäß, und es ist nicht die schlechteste List, um ein Ziel zu erreichen, um einen Gegner zu täuschen, möglichst bei der Wahrheit zu bleiben. Denn Lügen haben kurze Beine, und um eine Lüge dauernd als glaubhaft erscheinen zu lassen, dazu gehört eine außerordentliche Geschicklichkeit — nämlich im Lügen!
»Ich bin dieser Privat-Detektiv Nobody, Berichterstatter einer New-Yorker Zeitung,« begann er, und er, der sonst das Geheimnis seines Vorlebens so sorgfältig hütete, sagte diesem ihm ganz fremden Mädchen offen von selbst, daß er der Sohn eines Fürstenhauses sei.
Aber man darf wohl glauben, daß bei diesem Manne von einer übersprudelnden Vertrauensseligkeit keine Rede war. Das alles lag in seinem berechnenden Plane.
Es hatte auch seine Grenzen.
»Mein eigener Name ist Prinz Alfred. Doch nun mußt du mir verzeihen, wenn ich sonst nicht ausführlicher über mich berichte, wer ich bin. Ich habe einen Grund dazu.«
Und er, der unübertreffliche Menschenkenner, hatte sich auch nicht in dem Charakter dieses Mädchens getäuscht.
»Mehr brauche ich nicht zu wissen, wollte ich gar nicht wissen, und nie habe ich das Geheimnis eines Menschen verraten oder gar gemißbraucht, der es mir so offen anvertraute, wie du es tust. Nur eins möchte ich dich noch fragen. Aber du brauchst mir nicht zu antworten, wenn du nicht willst, und nie werde ich dich deswegen wieder...«
»Frage!«
»Ist es jenes Weib — jene Dame gewesen, derentwegen du deine Heimat verließest und alles von dir warfst, um ruhelos in der Welt umherzuirren?«
»Ja. Ich liebte Prinzeß Margarete, ich glaubte mich von ihr wiedergeliebt, und sie liebte mich auch wirklich, aber ihr Ehrgeiz war stärker als ihre Liebe. Als ein anderer kam, der ihr an irdischen Schätzen mehr bieten konnte als ich — eine Königskrone — während ich nur noch ein einfacher Privatmann war — da vergaß sie mich und wandte sich dem anderen zu. Da verließ ich meine Heimat — stolz! — aber unglücklich.«
»Ich dachte es mir,« sagte Gabriele leise.
Es hatte nicht viel Scharfsinn dazu gehört, um das herauszufinden, besonders nicht bei einem Weibe.
»Du warst und bliebst unglücklich?«
»Nein, ich rang den Kampf mit mir aus und blieb Sieger. Die Vergangenheit war hinter mir begraben, ich vergaß die Treulose.«
Nobody sah, was für ein glückliches, hoffnungsfreudiges Lächeln diese Worte auf dem schönen Mädchengesicht hervorzauberten, und — er hatte den ›Vater Gabriel‹ nun ja überhaupt schon erkannt, wußte, wie es mit ihm stand.
Aber sie wollte dem Blinden gegenüber doch den alten, erfahrenen Einsiedler spielen, der die schnöde Welt verlassen hatte, und so sagte sie in salbungsvollem Tone, der zu dem vergnügten Gesicht in einem fast komischen Kontrast stand:
»Du tatest recht, mein Sohn, du handeltest wie ein kluger und starker Mann, und wer sich selbst besiegt, der besiegt die ganze Welt. — Was tatest du dann?«
»In wildem Jagen durch die ganze Welt zimmerte ich mir ein neues Leben.«
»Und in diesem neuen Leben fielst du natürlich abermals in die Schlingen eines Weibes, um zum zweiten Male eine bittere Erfahrung zu machen.«
O, war dieses Mädchen schlau! Schlau ist ja jedes Mädchen, wenn es wissen will, wie es mit dem Herzen eines gewissen Mannes steht. Aber das hier wollte doch ein alter Einsiedler sein, und als solcher fragte er — nicht etwa, ob er in dem neuen Leben ein ihn glücklich machendes Weib gefunden habe. Denn so ein alter Eremit ist doch fast immer einer von jenen, welche mit der heiligsten Überzeugung sprechen: Falschheit, dein Name ist Weib!
»Nein, meine Erfahrung war sehr nachhaltig. Der Fuchs hatte sich, um aus der Falle zu kommen, das Bein abgebissen. So etwas heilt nicht so schnell, und die Erinnerung an den Schmerz ist meist dauernd. Ich brauchte zum Heilen meiner Wunde drei Jahre, und dann...hatte ich acht Jahre lang keine Gelegenheit, mich in eine Liebschaft einzulassen. Höchstens mit Seemuscheln hätte ich es tun können.«
»Wie das?«
Nobody erzählte, ohne ausführlich zu werden: Drei Jahre in aller Welt umhergeabenteuert, um seinen Schmerz zu töten, acht Jahre in chinesischer Gefangenschaft, dann wieder zwei Jahre das Leben genossen.
»Aber gebunden habe ich mich nicht wieder, nicht einmal mein Herz verloren, auch keine Neigung gefaßt. Die Gelegenheit fehlte dazu.«
Gabriele sah genau so aus wie ein Mädchen, welches endlich herausgebracht hat, daß der betreffende Mann noch gänzlich frei ist, und sie brauchte sich vor dem Blinden keinen Zwang anzutun.
»Und als du die Prinzeß nun wiedersahst?«
»Ich glaube doch, du warst dabei, wie ich vorhin ihre Hand zurückstieß.«
Das Gesicht wurde noch vergnügter.
Doch gleich runzelte sie finster die Augenbrauen.
»Glaubst du, daß dieses Weib... doch nein, lassen wir das vorläufig. Erzähle erst weiter, wie du Detektiv wurdest, wie du in diese Lage kamst.«
Das erste, wie er Detektiv geworden, berichtete Nobody in möglichster Kürze, immer der Wahrheit gemäß: Abenteuerlust, Geldverdienen.
Jetzt aber wich er von der Wahrheit ab, jetzt fing sein Märlein an. Das heißt, er log nicht direkt, er verschwieg nur, was ihm nicht in seinen Plan paßte. Er verschwieg, daß er von der Hypnotisierten den ganzen Anschlag erfahren hatte und seinen Gegnern zuvorgekommen war.
Er hatte also, auf einer Reise nach China begriffen, einen Abstecher nach Kairo gemacht, ein Baron de Lasage war zu ihm gekommen, der in Paris die Komteß Cécile de Bauvaignon entführt hatte, und so weiter. Es braucht für den Leser nicht wiederholt zu werden.
Ja, der Detektiv war bereit, für 100 000 Francs den Versuch zu machen, dem arabischen Mädchenräuber die Beute wieder abzunehmen. Er sprach arabisch, war schon in Aegypten gewesen, auch einmal hier am Birket el Kerun...
»Wann war das?«
»Das ist schon elf Jahre her, als ich hier am See sieben Monate lang ein einsames Jägerleben führte. Dann war ich vor einem Jahre noch einmal einige Wochen in Alexandria und Kairo.«
»Und auch wieder hier?«
»Nein, hierher bin ich nicht wieder gekommen.«
»Erzähle weiter!«
Nobody verschwieg alles, was ihm nicht paßte, vor allen Dingen, wie er sich vorgeblich den Fuß und den Arm verrenkt haben wollte. Kurz, er hatte eine halbnackte Araberin erblickt, sie floh davon und rief um Hilfe, Beduinen eilten herbei, Nobody wurde mit einem glühenden Eisen, was wohl ein altes Schwert gewesen war, geblendet.
Dann erzählte er auch, wie er einen Scheck gegeben, wie die beiden Beduinen beim Barte des Propheten geschworen, wie sie ihren Schwur gebrochen hatten. Nobody war geblendet und dann in die Schlucht hinausgestoßen, seinem Schicksale überlassen worden.
Was diese Erzählung bei Gabriele wiederum für eine furchtbare Erregung hervorrief, das konnte Nobody nur sehen, nicht hören, das heißt sie unterbrach ihn nicht, aber er bemerkte wohl, wie gewaltig sie mit sich ringen mußte, um nicht immer ein »Es ist nicht wahr, es ist nicht wahr!!« dazwischenzurufen.
Erst als er nichts mehr zu sagen hatte, begann sie zu sprechen, und sie wußte ihrer Stimme einen ruhigen Klang zu geben.
»Was für ein Pferd ritt der Beduine, welcher dir sagte, er sei Jussuf el Fanit?«
Das war eine echte Beduinen-Frage! Mann und Roß gehören zusammen, sind ein Ganzes, und an dem Roß erkennt man den Reiter!
»Es war ein sehr schönes Tier, welches...«
»War es eine Koheye?« unterbrach sie ihn sofort.
Nobody kannte die Pferdeverhältnisse der Beduinen, ebenso die Namen der fünf Lieblingsstuten des Propheten: Tayes, Manekeye, Koheye, Saklawy und Djulf, von denen die Stammbäume der edlen arabischen Renner ausgehen — der Stuten, der Beduine reitet nur Stuten — welche unter keinen Umständen zu kaufen sind. Hengste gibt der Beduine weg, niemals eine Stute.
Den echten Abkömmling einer dieser fünf durch Jahrhunderte rein erhaltenen Rassen erkennt jeder Pferdekundige sofort, allein schon an dem kleinen Kopf. Aber wodurch der Araber der persischen Wüste sowohl, wie der algerische Beduine auf den ersten Blick eine Manekeye von einer Djulf unterscheidet, so sicher, wie jeder andere Mensch einen Windhund von einem Mops, das vermag kein englischer Pferdejokey zu sagen.
Nobody wußte, daß es kein Wüstenrenner gewesen war, aber er wollte mit seinen Kenntnissen von Beduinenangelegenheiten nicht renommieren, er wollte auch prüfen, wie weit dieses Mädchen darin bewandert war.
»Das kann ich nicht beurteilen,« entgegnete er also auf diese Frage,
»Beschreibe das Pferd!«
»Es war eine braun- und weißgescheckte Stute...«
»Genug! Jussuf el Fanit reitet nur die schwarzgefesselte Koheye Serpanje, die gelbe Wüstenbraut, welche eine Tochter ist der Abendröte, Tochter der Flugtaube, Tochter der Sonnenluft, später genannt die Klage der Nacht, welche die Enkelin ist der schwarzen Wolke...« hier legte Gabriele wie gewohnheitsmäßig die Hand vor die Stirn und neigte das Haupt, »... die den Propheten Allahs getragen hat auf der Hedschra. — Du sagtest vorhin, der Beduine, der sich Jussuf el Fanit nannte, hätte die Lederschlinge um die Hüften gewunden gehabt. Ist dies richtig? Nicht um die Brust? Von der rechten Schulter oben nach links unten?«
»Nein, er hatte den Lasso um den Leib gewickelt.«
»Genug! Es wäre mir schon genug gewesen, daß du sagtest, er hatte von seinem Lieblingsweibe gesprochen. Jussuf el Fanit hat niemals ein Weib gehabt. Jussuf el Fanit hat niemals ein Mädchen geraubt. Jussuf el Fanit hat niemals einen Schwur beim Barte des Propheten geleistet, noch hat er jemals sein einfaches Wort gebrochen. Und der Herr der Wüste soll dir die Taschen ausgeplündert haben? Hahahaha!! Genug! Ganz abgesehen davon, daß ich bestimmt weiß, daß Jussuf el Fanit jetzt bei der Oase der grünen Wasser lagert, hundert Meilen von hier entfernt.«
Sie hatte sich nicht mehr beherrschen können und mit einer Heftigkeit gesprochen, die unbegreiflich erscheinen mußte, denn was hatte der alte, fromme Eremit für den Wüstenräuber solch ein Interesse zu nehmen, daß er dessen Sache fast zu der seinen machte? Besonders das Lachen hatte so furchtbar höhnisch, so drohend geklungen — und es mußte ihr doch zum Bewußtsein gekommen sein, daß sie als alter Mann aus der Rolle gefallen war; nur zuletzt hatte sie sich schnell wieder beherrscht.
»Nun wiederhole mir bloß noch einmal deine Antwort in schlichter Weise,« begann sie wieder, in ruhigem Tone, aber desto nachdrucksvoller. »Hat der Beduine, welcher die Lederschlinge um den Leib trug, welcher beim Barte des Propheten schwor, dir kein Haar auf dem Haupte zu krümmen und dich dann dennoch blendete, welcher zusah, wie man dir die Taschen plünderte, welcher sagte, du habest sein Lieblingsweib gesehen — — hat dir dieser Mann wirklich gesagt, er selbst sei Jusuff el Fanit, der Räuber, der Herr der Wüste? Hat er das gesagt?«
»Ja, er hat es gesagt.«
»Auf — dein — Wort?«
»Auf mein Manneswort.«
Gabriele sagte nichts, sie hob nur die Augen, welche plötzlich ein blaues Feuer ausstrahlten, zur Felsendecke empor — nur die Augen, nicht die Hand — aber Nobody wußte, daß sie jetzt einen Schwur ablegte.
»Jussuf el Fanit war es also nicht,« fuhr sie dann ruhig fort. »Nun fragt es sich: wer hat dich geblendet?«
»Ich weiß es nicht.«
»War es wirklich ein Beduine?«
»Ja, warum nicht? Allerdings wunderte ich mich, daß er auch so gut französisch sprach, daß er wußte, ein Scheck sei so gut wie bares Geld.«
Gabriele machte eine Handbewegung, welche andeutete, daß dies bei ihr nichts zu sagen habe.
»Das zeigt mir nur, wie genau er Jussuf el Fanit nachzuahmen versuchte, denn der Wüstenräuber ist, wie du doch sicher schon gehört hast, kein gewöhnlicher Mann. — Mir ist anderes von Wichtigkeit. Die Gesichter der beiden Begleiter, die dich fesselten und dir die Taschen plünderten, waren ebenfalls verhüllt?«
»Nein, das waren echte arabische Gesichter.«
Gabriele senkte überlegend die Stirn.
»Wie kam die Dame, welche du Prinzeß Margarete nennst, plötzlich in die Wüste?«
»Wir trafen uns zufällig im Hotel du Nil, oder auch nicht zufällig. Sie hegte die Vermutung, daß Nobody der verschollene Prinz Alfred gewesen sein könne, war nach New-York gereist, hatte sich von Mr. World, dem Herausgeber der Zeitung, für die ich tätig bin, ihre Vermutung bestätigen lassen, erfuhr meine nächste Adresse, und so trafen wir in Kairo zum ersten Male wieder zusammen.«
»Und?«
»Es gab eine Szene, ich wies die Treulose schroff ab.«
»Und?«
»Am Abend desselben Tages reiste ich mit dem Baron nach der Oase Fayum.«
»Wie ist es denn möglich, daß die Dame so schnell hier sein kann? Woher weiß sie, daß du dich hier aufhältst? Wie reimt sich ihre Anwesenheit überhaupt mit deiner Erblindung zusammen?«
»Auch ich habe schon darüber nachgedacht, und ich habe eine Erklärung dafür gefunden. Wie ich dir erzählte, floh mein arabischer Diener beim Anblick der Beduinen. Er erzählte dem in Sal Bekr auf mich wartenden Baron, daß ich in die Gefangenschaft des Wüstenräubers gefallen sei, Lasage hat schon einmal eine Probe seiner Feigheit abgelegt. Er ließ mich im Stich, meldete den Vorfall nach Kairo; auch die Prinzeß erfuhr es. Wenn wir nun auch annehmen, daß mein arabischer Diener nicht direkt nach Sal Bekr geflohen, sondern aus einem Versteck beobachtete, wie ich geblendet wurde, so ist es erst recht begreiflich, daß Margarete sofort hierhereilte, um mich als Blinden wiederzufinden, und daß sie hoffte, indem sie mich sorgfältig pflegte, meine Liebe von neuem zu gewinnen.«
Gabriele schien angestrengt nachzudenken,
»Glaubst du,« begann sie dann ganz leise, forschend die Augen auf das Gesicht des Blinden geheftet, »daß dieses Weib — deine Erblindung — dein ganzes Unglück — veranlaßt haben könnte?«
Nobody hatte diese Frage vorausgesehen und hielt die Antwort schon bereit.
»Nein, für so schlecht halte ich Margarete nicht,« sagte er im überzeugendsten Tone. »Wo ist sie eigentlich jetzt? Wie hast du sie gefunden?«
»Ja, das wollte ich dir schon erzählen. Sie war nicht mehr da. Ich traf den kleinen Abdul. Er sagte mir, die Dame habe sich schnell wieder erholt und sei sofort in der Richtung nach Sal Bekr davongegangen.«
Natürlich sprach Gabriele die Unwahrheit. Es wäre gar nicht nötig gewesen, daß der Detektiv an ihrem Gesichtsausdruck, an der aufsteigenden Röte sofort erkannte, wie sie zu jenen herzensaufrichtigen Personen gehörte, die gar nicht lügen können, ohne dies gleich durch ihre Verlegenheit zu verraten. Der Blinde freilich konnte davon ja nichts merken.
»Oder glaubst du,« fuhr sie schnell fort, »daß dieser Baron selbst Leute engagiert hatte, dich zu fangen, um von dir ein Lösegeld zu erpressen, daß er vielleicht selbst einer der vermummten Beduinen war?«
»Ja, das glaube ich eher, daran habe auch ich schon gedacht!« rief Nobody lebhaft.
»Aber wie konnte er da selbst seine Schandtat nach Kairo oder sonstwohin berichten, so daß jenes Weib davon erfuhr?«
»Das ist mir allerdings auch ein Rätsel.«
»Ich werde dieses Rätsel lösen,« murmelte Gabriele traumverloren, was wiederum nicht recht zu ihrer übernommenen Rolle passen wollte.
In der scheinbaren Intrige, die Nobody nun einmal arrangiert hatte, gab es noch mehrere Rätsel. So zum Beispiel: Warum hatten denn die Räuber den Geblendeten wieder laufen lassen? Warum, wenn sie den Ausgeplünderten nun einmal unschädlich machen wollten, hatten sie ihn nicht gleich getötet? Auch als Blinder war er doch ein sprechender Ankläger ihrer Schandtaten,
Es gab noch andere solche dunkle Punkte in dieser Sache, doch sie wurden von dem Mädchen gar nicht berührt, und Nobody hütete sich wohlweislich, unnötig darauf aufmerksam zu machen.
»Ich bin dadurch,« nahm Gabriele nach kurzem Sinnen wieder das Wort, »daß ich hier in meiner einsamen Höhle, in welcher ich nicht von fremden Menschen gestört sein will, auf alles achte, was in meiner Umgebung vorgeht, etwas bewandert im Aufspüren und Lesen von Fährten geworden. Ich werde einmal daraufhin die Gegend absuchen, muß dich also jetzt für einige Zeit allein lassen.«
Sie versorgte ihn wieder mit allem, wessen er bedurfte, legte ihm nochmals dringend ans Herz, um Gotteswillen dieses Lager nicht zu verlassen, jeder Schritt könnte einen Sturz in eine Bodenspalte nach sich ziehen, sie forderte sogar sein Wort, daß er das nicht tun würde, und als Nobody es ihr ohne Zögern gegeben hatte, verließ sie ihn. Er sah nur noch, daß sie jetzt in dem Vorderzimmer den Morgenrock mit einem weißen Burnus vertauschte.
Hundert Fragen stürmten auf Nobody ein, die er in seinem Kopfe ordnen und einzeln beantworten mußte.
Wenn das fährtenkundige Mädchen nun Spuren fand und daraus Schlüsse ziehen konnte? Wo waren jetzt seine Begleiter, und was würden sie tun, wenn er nicht wieder zum Vorschein kam? Wo befand sich Marguérite?
Das sind nur drei Fragen von den hundert, die er lediglich mit Vermutungen beantworten konnte — aber Sorge machte ihm keine einzige, und das zu wissen, ist für uns die Hauptsache.
Nobody hatte doch nur alle diese Verwicklungen herbeigeführt, um zu versuchen, sie zu lösen — er selbst stellte Hindernisse auf, um sie zu beseitigen — er schaffte sich Gegner, um mit ihnen zu ringen, um sich mit ihnen an Kraft, List und Mut zu messen — — und irrte er sich einmal, unterlag er sogar einmal, so schnellte er nur mit um so größerer Kampfesfreudigkeit empor.
Das war vielleicht das Geheimnis, wodurch sich dieser Mann so jugendlich erhielt. Nobody führte zwei Devisen: »Des Lebens Freude ist der Kampf« — und »Ich will nicht siegen, sondern kämpfen.«
Außerdem nun war er Regisseur, Schauspieler und Zuschauer zugleich, und als Zuschauer interessierte ihn jetzt vor allen Dingen, wie sich ›Vater Gabriel‹ aus den Verwicklungen in dieser Komödie mit seiner Höhle — um einen vulgären, aber treffenden Ausdruck zu gebrauchen — noch ›herausfitzen‹ würde.
Wiederum hätte er jetzt so gern während der Abwesenheit des Mädchens die Felsenwohnung ausspioniert. Wie er dabei über das Halten seines Versprechens gedacht hätte, darüber wollen wir nicht rechten. Er tat es nicht. Die Gefahr war zu groß, daß er bei seinem Umherschleichen von der Zurückkehrenden überrascht wurde. Denn so weit ging seine Lust an außergewöhnlichen Situationen nicht, daß er sich einem Abenteuer hingab, um alle anderen Chancen einzubüßen.
Nein, in diesem Falle durfte nicht er von Gabriele, sondern mußte das Mädchen von ihm in Verlegenheit gebracht werden. Hierzu war sein Plan schon fertig.
Er wollte der Zurückgekehrten sagen, er habe, ohne sonst etwas unterscheiden zu können, wieder einen schwachen Schein vor den Augen. Denn da mußte das sich verstellende Mädchen irgend eine Sicherheitsmaßregel treffen, und was sie dann tun würde, darauf war er äußerst gespannt.
Doch es sollte alles ganz anders kommen.
Nach einer halben Stunde erschien Gabriele wieder. Sie trug jetzt also den weißen Burnus eines Beduinen oder auch den einer Beduinenfrau. Die Kleidung beider Geschlechter ist so ziemlich dieselbe. Ja, sie trug sogar das besondere Kopftuch, mit welchem die Beduinenfrau ihr Haar vor dem Flugsande schützt. Es wird also ausdrücklich betont, daß sie nicht etwa als Mann erscheinen wollte. Freilich war bei der großen, schlanken Gestalt sonst schwer zu unterscheiden, ob der weite Burnus einen Mann oder eine Frau verhüllte.
»Ich habe die Höhle gefunden, in der du gestern geblendet worden bist,« sagte sie, »aber aus den vorhandenen Spuren nichts Besonderes schließen können. Nach Sal Bekr bin ich gar nicht erst gegangen, jener Baron ist doch nicht mehr dort, und die Verfolgung der Missetäter weiter aufzunehmen, bin ich alter Mann nicht mehr imstande; ich bin auch schon zu lange Einsiedler gewesen, selbst in dem Dorfe würde ich ganz fremd und hilflos wie ein Kind sein. — Nun, mein lieber junger Freund, muß ich dir etwas mitteilen. Es fällt mir recht schwer. Ich bin nämlich zu der Ansicht gekommen, und das dürfte auch die richtige sein, daß du nur das zufällige Opfer einiger Schurken geworden bist. Man hat nicht gerade dich berauben und blenden wollen, es hätte auch irgend jemand anderes sein können — es kam nur darauf an, Jussuf el Fanit eines Bubenstreiches mit scheinbar handgreiflichem Beweis zu bezichtigen, um seinen Ruf als den eines edlen Mannes, den er bisher trotz alledem immer gehabt, zu ruinieren. Verstehst du, wie ich das meine? Nun allerdings warst gerade du ein sehr geeignetes Hilfsmittel dazu. Der ganze Anschlag wurde von Europäern geplant. Wenn es nicht direkte Verbrecher sind, so haben sie doch Verbrechercharaktere. Du, ein bekannter Detektiv, hieltest dich gerade in Kairo auf, da wurdest du vorgeschoben, an dir haben sich jene Schurken nebenbei ihr Mütchen gekühlt.«
»Ja, das dürfte das Richtige sein,« murmelte der Blinde gedrückt. »Aber warum fällt dir so schwer, mir das zu sagen?«
»Nicht das. Etwas anderes ist es, was mir Kummer bereitet. Aber es geht nicht anders, ich habe eine heilige Pflicht zu erfüllen. An Jussuf el Fanit ist eine Schandtat verübt worden, vielleicht eine größere, als man dir zugefügt hat. Dir haben die Schurken das Augenlicht geraubt, dem Jussuf el Fanit die Ehre. Das heißt, ich spreche im Sinne eines Beduinen, der lieber Auge und Hand verliert, als daß er sein Wort bricht, ganz abgesehen davon, daß er beim Barte des Propheten falsch geschworen, ein Mädchen geraubt, einen harmlosen Fremden geplündert haben soll. — Ich weiß, wo sich Jussuf el Fanit gegenwärtig befindet. Er muß sofort von allem in Kenntnis gesetzt werden, daß er ohne Zögern die Verfolgung der Bösewichte aufnimmt und seine Ehre wiederherstellt. Wer soll ihn aufsuchen? Nur ich kenne sein Lager, und ich darf das niemandem verraten. Also muß ich selbst unverzüglich die weite Reise antreten.«
»Sagtest du nicht, die Oase, in welcher er lagert, befinde sich hundert Meilen von hier?« fragte der Blinde niedergeschlagen.
»So ist es.«
»Und da willst du mich so lange verlassen?«
»Es geht nicht anders, mein lieber Sohn,« sagte das junge Mädchen als ›Vater Gabriel« mit trauriger Stimme, machte aber dabei ein recht vergnügtes Gesicht. »Doch ich lasse dich natürlich nicht allein...«
»O, du kannst mich ja in das nächste Dorf bringen.«
»Nein, nein!« rief Gabriele hastig. »Du bedarfst der Pflege, die du in Sal Bekr nicht finden würdest, auch nicht in Medinet. Oder hast du jemanden, zu dem du durchaus gebracht werden möchtest?«
Mit ängstlicher Spannung blickten ihre Augen auf seine Lippen, als hinge von seiner Antwort gar viel ab, ihr Seelenheil.
»Ich habe auf der ganzen Erde keinen einzigen Menschen, der sich um mich kümmert.«
»Das ist gut! — — Ich meine: dann ist es gut, daß ich da einen Menschen weiß, der sich deiner mit liebender Pflege annehmen wird. — Jetzt muß ich von dieser Person sprechen, und dadurch erfährst du zugleich, wie es kommt, daß ich mit dem Wüstenräuber Jussuf el Fanit so gut bekannt bin. Ich kann mich dir doch anvertrauen?«
»Unbedingt.«
»So höre denn!«
Und das Mädchen erzählte. Es war eigentlich ein ganzer Roman, aber wir geben ihn so kurz wie möglich wieder.
Heinrich Volker hieß der Deutsche, welcher mehr aus Abenteuerlust als aus zwingenden Gründen nach Amerika ausgewandert war. Er hatte etwas Vermögen und viel praktischen Unternehmungsgeist. Während er im Wilden Westen seinen Neigungen lebte, schaute er immer mit nüchternen Augen um sich, legte sich dann auf Pferdezucht und ward einer der größten Pferdehändler Amerikas.
Da kam ihm die Idee, der amerikanischen Pferderasse arabisches Blut zuzuführen. Kurz entschlossen, auch immer noch etwas abenteuerlich veranlagt, ging er nach Arabien, um hier womöglich auf irgend eine Weise eine echte Wüstenstute zu gewinnen. Daß er eine solche nicht kaufen konnte, wußte er, und es war von vornherein sein Entschluß, ein Beduine zu werden, wenigstens eine Zeitlang. Aber trotzdem der gewandte Reiter wirklich Anschluß an Beduinen fand und wie ein Stammesmitglied behandelt wurde, gelang es ihm doch nicht, ein Pferd aus einer der fünf edlen Rassen zu erlangen.
Die afrikanischen Wüsten sollten hierzu günstiger sein als das asiatische Arabien. Er ging in die libysche Wüste und fand wiederum gastfreundliche Aufnahme, beim Stamme der Alud-Beduinen, welche durch ihre Koheyen berühmt sind, beteiligte sich an ihren Jagd- und Kriegszügen.
Es war keine Liebe aus Spekulation, welche der noch junge, unverheiratete Mann dort zu der Tochter des Scheichs faßte. Er wurde Muselmann und heiratete sie, und seine Liebe war so echt, daß er über seinem Weib ganz die Koheye und die Rückkehr nach Amerika vergaß. Er blieb bei den Beduinen, ward später ihr Scheikh.
Delina schenkte ihm einen Sohn, welcher Jussuf genannt wurde, dann eine Tochter. —
Dies alles klang ganz glaubhaft und entsprach auch wirklich den Tatsachen.
Jetzt aber schaltete die Erzählerin etwas Unwahres ein, allerdings nur dadurch, daß sie sich selbst für den Vater Gabriel ausgab.
Das war ein französischer Missionar gewesen, welcher unter den Beduinen Bekehrungsversuche machte. Er hatte wenig Glück und lief desto mehr Gefahr, einmal massakriert zu werden.
So kam er auch zu dem Stamme der Aluds, gerade als das Mädchen geboren worden war. Hatte er sonst keinen Erfolg, so gelang es ihm doch, dem deutschen Scheikh ins Gewissen zu reden, daß er wieder zur christlichen Religion zurückkehrte. Auch der kleine Jussuf wurde getauft, aus ihm ein Johannes gemacht, das Mädchen erhielt zu Ehren des Missionars den Namen Gabriele, und auch die Mutter nahm den ursprünglichen Glauben ihres Mannes an.
Durch diese vierfache Bekehrung aber hatte sich der deutsche Scheikh bei den Beduinen unmöglich gemacht. Er mußte sie verlassen, wenn die Verabschiedung auch in aller Güte erfolgte. Es hatte für Heinrich Volker nichts zu bedeuten. Die Erinnerung war in ihm erwacht, er wollte wieder nach Amerika, wo sein Kompagnon das Pferdegeschäft noch immer betrieb.
Während die kleine Familie auf der langen Wanderung nach Kairo war, fand Heinrich eines Abends in der Wüste einen halbverschmachteten Mann. Er hatte zu einer Gesellschaft gehört, welche Antilopen jagen wollte, war abgekommen, hatte die Karawane nicht wiedergefunden und war dem Tode nahe. Heinrich nahm den jungen Engländer mit in sein Zelt und dann mit nach Kairo. Dort bedankte sich der Gerettete und ging, ohne daß seine Geschenke angenommen worden waren.
Heinrich blieb mit seiner Familie einige Zeit in Kairo. Wie er eines Tages in die gemietete Wohnung zurückkam, fehlte den jammernden Kindern die Mutter. Es konnte nur eine gewaltsame Entführung vorliegen, und Heinrich wußte sofort, wer der Täter gewesen sei.
Schon während der Wüstenreise hatte ihn nur die ihm heilige Gastfreundschaft daran gehindert, dem jungen Engländer, dem er das Leben gerettet hatte, dieses Leben wieder zu nehmen oder ihn doch wieder in die Wüste hinauszustoßen. Denn jener hatte sein junges Weib immer mit Blicken betrachtet, welche die Entrüstung jedes Mannes erweckt hätten.
Nun hatte der Schurke sein Ziel mit Gewalt erreicht, und alle Bemühungen, ihn und Delina wiederzufinden, blieben erfolglos, soweit es die ersten Wochen betrifft.
Was nun folgt, könnte erst recht den Inhalt eines großen Romans bilden.
Obgleich Heinrich der Wiedererlangung seines geliebten Weibes seine ganze Zeit und Kraft widmete, so vergingen doch Jahre, ehe Heinrich erfuhr, wer der Räuber überhaupt sei, wie er in Wirklichkeit hieß.
Jahre vergingen wieder, ehe er den Aufenthaltsort des englischen Lords erfuhr.
Und dann begann eine jahrelange Verfolgung des übergeschnappten Lords, der um den Besitz seiner Beute mit rasender Eifersucht kämpfte, eine wilde Jagd um die ganze Erde mit den wildesten Szenen, von denen die harmloseste die war, daß der hin und wieder gestellte Lord die Araberin zum Fenster hinaushielt und sie fallen zu lasten drohte, wenn Heinrich einen Schritt in das Zimmer wage.
Aber so oft der Räuber auch eingeholt wurde, er entkam immer wieder mit seiner Beute.
Bisher hatte er, besonders da ihm Delina nicht freiwillig folgte, er sie also als Gefangene mit sich schleppte, immer nur unzivilisierte oder solche Länder aufgesucht, wo die Justiz ohnmächtig ist.
Zuletzt aber wandte sich der Lord direkt nach England und verschanzte sich hinter den Mauern seines Schlosses.
Das sollte ihm wenig nützen. Jetzt, dachte Heinrich, sei der Räuber endgültig gestellt, jetzt müsse er die Gefangene ausliefern; denn in England herrscht doch Gerechtigkeit!
Aber gerade hier in diesem Lande, welches sich das kultivierteste der Erde nennt, sollte Heinrich die furchtbarste Enttäuschung erleben.
Gewalt geht vor Recht, und wer am meisten Geld hat, hat am meisten Gewalt. Heinrich jedoch hatte gar keine Mittel mehr. Sein Geschäft hatte er schon längst verkauft, die kostspielige Verfolgung und was sonst noch alles damit zusammenhing, hatte ihn ruiniert, zum Bettler gemacht.
Der reiche Lord aber wußte vor Gericht nichts von der ganzen Sache. Er bewies, daß er überhaupt niemals in Aegypten gewesen sei. Und dieser alte Bettler wollte in der libyschen Wüste Beduinenscheikh gewesen sein? Das war ja ein Narr!
Heinrich kam denn auch richtig ins Irrenhaus.
In Wirklichkeit aber war der englische Lord der Wahnsinnige, den man frei herumlaufen ließ. Die Verfolgung hatte achtzehn ganze Jahre lang gewährt, Delina lebte immer noch als Gefangene des Lords, war aber als Araberin schon längst verblüht, und er war noch immer ihr gegenüber der vor eifersüchtiger Liebe rasende Tyrann, der sie als seine Göttin verehrte, ohne auch nur zu wagen, ihr den Fuß zu küssen. Es war eben eine fixe Idee.
Heinrich entsprang der Irrenanstalt, drang in das Schloß, sein Dolch traf den überraschten Lord, und dieser erschoß im Sterben Delina, auch noch im Tode sie dem rechtmäßigen Gatten entrückend. Hiermit war die Tragödie aus.
Der Mörder entkam nach Amerika, wohin ihm freilich die Steckbriefe folgten. Doch er wollte sich dort nur mit seinen Kindern vereinigen, um dann für immer zu verschwinden.
Die beiden kleinen Kinder hatte er, als die Tragödie begann, zuerst in Kairo in gute Hände gegeben, dann später, als der Vater erst noch den Namen und Aufenthaltsort des Entführers auskundschaftete, waren Johannes und Gabriele gewöhnlich bei ihm gewesen, die Aufenthalte in großen Hauptstädten, wo Heinrich Erkundigungen einzog, dauerten immer lange Zeit, da kamen die Kinder einstweilen in Pension, und dann, als die wilde Jagd anfing, wurden die nun schon den Kinderschuhen Entwachsenen von Heinrichs Kompagnon, der jenen aber ausgezahlt hatte, aufgenommen. Sie wohnten auf einem sogenannten Rancho, einer Farm für Pferdezucht, und wurden auch mit beschäftigt. Es war zwar ein etwas wildes Leben zwischen Cowboys, doch fehlt es auf solch einer großen Farm mit Herrenhaus auch nicht an gebildeter Gesellschaft.
Der unglückliche Mann hatte nur noch einmal seine Kinder wiedersehen wollen, ehe er sich zurückbegab in die libysche Wüste. Aber Johannes, wie Gabriele ließen den Vater nicht allein ziehen, sie begleiteten ihn. Das brauchte nicht allein Mitleid mit dem alten, verlassenen Manne gewesen zu sein, da mochte sich auch das Beduinenblut geregt haben.
Also zurück zu der Stätte, wo Heinrich sein Glück gefunden und verloren hatte, wo beide Kinder, die nun aber schon erwachsen waren, geboren worden. Sie wurden wieder Beduinen.
Der alte Vater starb bald, und Johannes, der wieder den Namen Jussuf angenommen hatte, wurde — zum Wüstenräuber, welcher die englischen Salzkarawanen plünderte.
Der Grund, weshalb er zum Räuber geworden, liegt ja klar auf der Hand: Rache!
Doch nein, er war kein Räuber, er plünderte ja auch nicht. Er nannte sich den Herrn der Wüste und forderte nur einen Tribut.
Seine Rache an des Vaters Mörder, wie er ganz England nannte, sollte noch weit furchtbarer werden. Dieses Tributnehmen von englischen Karawanen war nur ein Vorspiel. Der phantastische Jüngling hatte nichts Geringeres vor, als nach und nach sämtliche Beduinenstämme um sich zu sammeln und dann, wenn es so weit war, als Befreier des Vaterlands die Engländer mit bewaffneter Hand aus ganz Aegypten zu vertreiben. Bis dahin duldete er sie noch im Lande, betrachtete sie aber als Tributpflichtige und verschaffte sich zugleich auf ›ehrliche Weise‹ viel Geld, was ihm beim zukünftigen Kriege gut zustatten kommen würde.
Das heißt, die himmelstürmenden Pläne des phantastischen Jünglings deutete Gabriele jetzt nur ganz leise an.
Desto mehr war sie bemüht, den Wüstenräuber als einen hochedlen Menschen hinzustellen, welcher niemals eine Gewalttat beging und es nur im höchsten Notfall zum blutigen Kampfe kommen ließ. Das war dann immer die Schuld der Karawanenführer, die den Tribut verweigerten,
»Und wo ist Gabriele?« fragte Nobody.
Er wußte nun bereits, daß er in dem Mädchen, welches jetzt die Rolle des wahrscheinlich schon gestorbenen Vaters Gabriel spielte, die Schwester des Wüstenräubers vor sich habe, und noch immer war er gespannt, wie sie sich ›herausfitzen‹ würde.
Gabriele war dem armen Vater in die Wüste gefolgt, um ihn zu pflegen. Als er starb, wollte sie den Bruder nicht verlassen; aber sie hatte schon zu viel von der Welt gesehen, war schon zu sehr an moderne Kultur gewöhnt, um wieder ein echtes Beduinenmädchen werden zu können, dessen ganzes Interesse sich um das Melken der Kamele und Ziegen, um das Herbeitragen von Wasser und das Zubereiten des Durra-Mehles dreht.
»Von der anderen Seite betrachtet, liebt Gabriele gerade solche häusliche Arbeiten über alles. Sie ist überhaupt ein eigentümliches Mädchen. Wohl fing sie auf der amerikanischen Farm mit ihrem Bruder um die Wette die wilden Pferde ein; aber unter den rohen Cowboys fühlte sie sich niemals wohl; aus der Prärie kommend, mußte sie das Ledergewand mit einer modernen Toilette vertauschen können, um den Gesellschaftssalon zu betreten — ebensogern aber band sie die Schürze vor und arbeitete in der Küche.
»Kurz, das unstete Wanderleben im Beduinenzelt war nichts für sie, da fühlte sie sich unglücklich. Aber sie wollte sich auch nicht vom Bruder trennen. Dieser wußte Rat. Er entdeckte zufällig einmal in einem wilden Wüstengebirge eine in den Felsen gehauene Wohnung, oder doch viele Kammern, jedenfalls ein Heiligtum oder eine Begräbnisstätte der Ureinwohner dieses Landes...«
»Hier im Geiergebirge?« unterbrach Nobody die Erzählerin.
»Wie kommst du darauf?« stutzte das Mädchen, beruhigte sich aber gleich wieder. »Nun ja, du mußt es erraten, das Geiergebirge ist ja auf dieser Seite des Nils das einzige, welches auf den Namen eines Gebirges Anspruch machen kann. Ja, hier im Geiergebirge fand Jussuf den versteckten Zugang zu den Felsenkammern. Er richtete sie für die Schwester als Wohnung ein, ließ aus Kairo richtige Möbel kommen, gab ihr alles, was sie nur wünschte. Sogar ein Klavier bekam sie.
»O, es ist ein glückliches Leben, welches Gabriele dort im Innern des Berges führt, freilich sehr einsam, aber sie weiß sich zu beschäftigen, und dann kommt ab und zu ihr Bruder zu Besuch, oft genug, damit er unter ihrer Pflege frische Wunden heilen läßt, und dann bleibt er stets längere Zeit bei ihr, und Gabriele kann nach Herzenslust für ihn kochen und sonst für den geliebten Bruder sorgen. Sie plaudern und scherzen, sie musizieren zusammen, und das ist dann erst recht ein glückliches Leben — bis die Abschiedsstunde schlägt, und Jussuf wieder als Wüstenräuber zu seinen Beduinen muß, und die Schwester wartet wiederum auf seine Rückkehr.«
Während die Erzählerin jedoch so das ›glückliche Leben‹ schilderte, machte sie durchaus kein glückliches Gesicht, im Gegenteil, sie mußte sich sogar anstrengen, um das weinerliche Zittern ihrer Stimme zu verbergen.
»Ist sie denn ganz allein in der Felsenwohnung?«
»Ja, ganz allein. Warum sollte sie denn auch...« Die Sprecherin stockte, und Nobody sah ganz deutlich, wie sie jetzt etwas bereute, wie sie ihren Kopf anstrengte, um schnell einen begangenen Fehler wieder gutzumachen. Sie hatte eben nicht viel Zeit gehabt, ihren Plan, den sie mit dem Blinden vorhatte, fix und fertig auszuarbeiten,
»Das heißt,« setzte sie hastig hinzu, »sie hat einen Diener bei sich, einen alten Beduinen, der zum Wüstenleben untauglich geworden ist, und der kommt als Gesellschafter, umsoweniger in Betracht, weil der arme Mann taubstumm ist.«
Aha, dachte Nobody, diesen taubstummen Diener muß sie sich erst besorgen. Ich blind, der taubstumm — das wird ja eine nette Gesellschaft werden!
»Zu diesem Fräulein Gabriele Volker nun werde ich dich bringen, in ihre Felsenwohnung,« fuhr sie fort. »Dort wirst du von sorgsamen Frauenhänden gepflegt, bis du wiederhergestellt bist, daß du auch als Blinder in die Welt zurückkehren kannst. Oder du kannst dort bleiben, so lange es dir gefällt. Was sagst du dazu, mein lieber, junger Freund?«
Nobody hielt es für seine Pflicht, erst einige Einwendungen zu machen.
»Aber wenn sie nun nicht damit einverstanden ist? Sie muß doch erst...«
Ein Lachen unterbrach ihn, und dieses Lachen klang fröhlicher und heller, als es für einen alten Eremiten erlaubt ist, und da sie es selbst merkte, hustete ›Vater Gabriel‹ schnell mit möglichst tiefer Stimme.
»Ich bin ja vorhin schon bei ihr gewesen, sie brennt vor Verlangen danach, den armen Unglücklichen pflegen zu dürfen, sie trifft schon Vorbereitungen dazu.«
»Wie alt ist die Dame denn?«
»22 Jahre.«
Nobody hatte also richtig kalkuliert.
»Ja, aber eine junge Dame — ganz einsam — und nun soll ich...«
»O, sei doch über solch kleinliche Prüderie erhaben!« unterbrach ihn ›Vater Gabriel‹ salbungsvoll. »Not kennt kein Gebot. Ich halte dich für einen anständigen Mann, und Gabriele ist trotz ihrer Jugend — wenn man mit 22 Jahren noch jung ist — und trotz ihres sanften Charakters schon sehr selbständig.«
Ei, wenn ›Vater Gabriel‹ wüßte, wie er sich jetzt verraten hatte! Der alte Mann sagte: wenn man mit 22 Jahren noch jung ist! Ja, es ist gar schwer, mit 22 Jahren einen Alten spielen zu wollen! Da gehört noch mehr dazu als nur eine zitterige und salbungsvolle Stimme.
»Uebrigens,« fuhr Gabriele fort, »ist doch auch immer der Diener bei ihr. Ach, verdirb ihr doch die Freude nicht! Sie... sie — weißt du, sie bemuttert so gern, wie eben solche junge Mädchen sind! Sie selbst kann nicht die lange Wüstenreise zum Bruder machen, da muß ich hin, und du kannst doch nicht allein hier in meiner armseligen Höhle bleiben. — Komm, ich bringe dich gleich zu ihr, sie wartet schon auf uns. Es ist gar nicht weit von hier.«
Nobody war bereit dazu. Sein heimliches Ergötzen an dieser Komödie wuchs immer mehr, ebenso nahm seine Spannung zu, wie das Mädchen all diese Verwicklungen lösen würde, und dann wurde er noch von einem anderen Empfinden beherrscht.
Denn in den nächsten Minuten würde ›Vater Gabriel‹ die Maske des alten Mannes fallen lassen, dann zeigte er sich als junges Mädchen.
Er stand auf, wurde wieder an beiden Händen gefaßt und so aus der Höhle herausbugsiert, zwischen den gefährlichen Spalten hindurch — das heißt zwischen den Türen, Stühlen, Tischen und Teppichen, daß er nichts Verdächtiges streifte.
Alles wurde glücklich passiert, und das Mädchen war so vorsichtig gewesen, schon vorhin alle Türen geöffnet und sonstige Hindernisse beseitigt zu haben.
Zuerst also wieder durch die Küche, dann wieder durch das Zimmer mit den Kleiderschränken, jetzt ging es einer anderen Tür zu, es zeigte sich ein hochelegant eingerichtetes Zimmer, dann eine Bibliothek mit Bücher- und Notenschränken, denn da stand auch ein polierter Stutzflügel, dann kam ein kleineres Gemach mit Bambusmöbeln. Hier wäre der ›Blinde‹ durch Unvorsichtigkeit seiner Führerin beinahe mit einem Schaukelstuhle karamboliert; nur durch seine eigene Geschicklichkeit vermied er es im letzten Augenblick. — Ja, noch mehr, er selbst mußte seine rückwärts gehende Führerin in unauffälliger Weise manchmal dirigieren, denn fast hatte diese einmal mit den Ellenbogen eine kostbare Alabasterlampe vom Tischchen geworfen.
An der Wand hing ein Vogelbauer, und da plötzlich fing ein Kanarienvogel zu schmettern und zu rollen an. Entweder hatte das Mädchen vergessen, dem Vogel Instruktionen zu geben, oder das unglückliche Vieh war aus der Rolle gefallen.
Es war des Blinden Pflicht, seiner Verwunderung über den Gesang eines Kanarienvogels im Wüstengebirge Ausdruck zu geben, doch Gabriele kam ihm zuvor.
»Hörst du den Kanarienvogel singen? Gabriele hat viele, der hier ist ihr entflogen, wir haben ihn noch nicht wieder einfangen können. Jetzt wird er mich wie gewöhnlich begleiten.«
Diese Vorsicht war nicht nötig, der Vogel ließ nichts mehr von sich hören.
Aus dem Bambuszimmer gelangte sie durch die letzte Tür ins Freie, in den Hof, der vielleicht zehn Meter im Durchschnitt hielt, von glatten, sehr hohen Felswänden rings umschlossen.
Was Nobody bisher von Zimmern gesehen hatte, konnte nur ein kleiner Teil der ganzen Felsenwohnung sein, denn überall an den Wänden zeigten sich noch andere Türen und Fenster — moderne Holztüren und die Fenster mit Glasscheiben versehen, was natürlich nicht aus der Zeit der alten Pharaonen stammen konnte.
Sie standen also im Freien, und das Mädchen ließ seine eine Hand los,
»So, die gefährlichen Spalten hätten wir hinter uns. Jetzt brauche ich dich nur noch an einer Hand zu führen. In fünf Minuten sind wir da. Der Weg ist ganz eben, aber es geht immer durch Schluchten, ein richtiges Labyrinth, kein Fremder könnte sich darin zurechtfinden.«
Ein neuer Akt der Komödie begann!
Sie marschierten also durch das Wirrsal von Schluchten — das heißt, sie spazierten auf dem kleinen Hofe immer im Kreise herum oder die Führerin machte scharfe Ecken, und dabei versuchte sie noch durch Bemerkungen den Eindruck zu verstärken, der Blinde bewege sich wirklich in wilden Gebirgsschluchten.
»Jetzt geht es hier links hinein. — Hier oben spannt sich über die Schlucht eine natürliche Brücke, welche die Beduinen die Höllenbrücke nennen. — Nun hier rechts hinein. — Vorsicht, eine Spalte! Jetzt kommt ein Tunnel, du mußt dich etwas bücken...«
Ach, wenn der ›Blinde‹ doch nur einmal hätte nach Herzenslust lachen dürfen!
»Nein,« durfte der Aermste nur denken, »ich habe schon manche Humoreske gelesen, manche Humoreske selbst erlebt, aber solch eine burleske Harlekinade ist mir denn doch noch nicht vorgekommen! So etwas bringt eben nur so ein Mädchen fertig, das irgend einen listigen Anschlag vorhat.«
Und das sollte erst die Einleitung zu der neuen Komödie sein!
»Wir sind am Ziel,« sagte Gabriele stehenbleibend. »Weißt du, wo du dich hier befindest?«
»Ich kann ja nichts sehen,« murmelte Nobody gedrückt.
»Mitten in einem rings von himmelhohen Felswänden eingeschlossenen Hofe, zu welchem kein einziger Mensch den Eingang findet, der in das Geheimnis nicht eingeweiht ist, und die natürlichen Mauern sind unübersteigbar. — Hier, was fühlst du?«
Sie hatte seine Hand an einen Türrahmen gelegt, ließ ihn auch die Tür selbst betasten.
»Eine... eine... wahrhaftig, es ist eine richtige Holztür!« stellte sich Nobody erstaunt.
»Nun komm herein!«
Es war dasselbe Bambuszimmer, welches sie vor fünf Minuten verlassen hatten. Jetzt aber durfte der Blinde getrost an Möbel stoßen und auf den Teppich treten, jetzt durfte auch der Kanarienvogel singen.
»Fräulein Volker! Gabriele!« rief das Mädchen und klatschte in die Hände.
Jetzt kam es darauf an, wie sie die Komödie zum glücklichen Schluß bringen würde.
»Ah, da ist sie schon. — Hier, meine liebe Gabriele, ist der unglückliche Mann, von dem ich dir erzählt habe. Er ist bereit, bei dir zu bleiben, so lange ich abwesend bin. Sein Name ist Nobody. Aber nenne ihn nur Alfred, und du, mein lieber Sohn, nenne die junge Dame auch nur Gabriele. Nun gebt euch die Hände!«
Die Rollentäuschung wurde ebenso geschickt ausgeführt, wie sie im Grunde genommen einfach war. Ein Schauspielertalent gehörte freilich dazu, auch vor einem Blinden. Im allgemeinen jedoch wirkte das Ganze auf den ›Blinden‹ urkomisch.
Gabriele ließ seine Hand los, steckte schnell einen bereitgehaltenen, dicken Ring an den Finger, trat auf dem weichen Teppich geräuschlos einen großen Schritt vor und vor den Blinden hin und ergriff mit der durch den Ring markierten Hand die von Nobody, welche dieser gehorsam ausgestreckt hatte.
»Armer, unglücklicher Mann! Was müssen Sie gelitten haben!«
Einem wirklich Blinden gegenüber wäre die Täuschung vollkommen gelungen. Er konnte sogar sehr feine Ohren haben.
Zunächst muß schon damit gerechnet werden, daß der Betreffende gar nicht auf den Verdacht zu kommen brauchte, der alte Gabriel und die junge Gabriele könnten ein und dieselbe Person sein, es lag ja gar kein Grund zu der Annahme vor, daß das Mädchen zwei Rollen zugleich spielte.
Der deutlich fühlbare Siegelring mußte einen Blinden irritieren. Ferner bekam er eine ganz andere Hand zu fühlen. Das Mädchen hatte bereits mehrmals eine große Muskelkraft bewiesen, und wenn man seine Hand auch nicht größer oder arbeitshart machen kann, so doch durch Anspannung der Muskeln, schon der Armmuskeln, im allgemeinen härter, starrer — und von solch einer kräftigen Hand war der Blinde bisher geführt worden, während er jetzt eine weiche Frauenhand zu fühlen bekam.
Nun schließlich noch eine etwas hellere, weichere Stimme — bedeutend brauchte der Klangunterschied gar nicht zu sein — ein etwas anderer Akzent, besondere Ausdrücke, und auch der langjährige Blinde mit seinem Gehör und seinem Gefühl hätte nichts von der Täuschung bemerkt.
»Vater Gabriel hat mir schon alles erzählt, und Ihnen wird er erzählt haben, daß es mein Bruder nicht gewesen ist, der an Ihnen dieses entsetzliche Verbrechen begangen hat. Doch sprechen wir gar nicht mehr davon! Sie haben doch keine Schmerzen mehr? Nur das eine muß ich noch fragen.«
Nobody, welcher nach den ausgestandenen Leiden als Blinder keine weltmännische Sicherheit mehr zu zeigen brauchte, murmelte etwas, was eher wie eine Entschuldigung klang, daß er nichts sehen könne.
»Nun seien Sie mir herzlich willkommen. Sie sind hier zu Hause.«
Zuerst aber mußte sie wieder den Vater Gabriel spielen, der die lange Wüstenwanderung sofort antreten wollte und sich verabschiedete.
Das hinderte sie nicht, auch einmal als Fräulein Gabriele mit hineinzusprechen, während sie dann als Vater Gabriel ihrer Stimme einen tiefen Klang gab, wobei sie den Kopf seitwärts wendete und die Hand trichterförmig vor den Mund hielt, vor allen Dingen mit väterlichem Wohlwollen und recht salbungsvoll.
»So lebe denn wohl, mein lieber Sohn. Es ist eine weite Wanderung, die ich antrete. Vor drei Wochen kann ich nicht zurück sein. — Wo ist denn Gabriele? Ah, sie ist eben hinausgegangen. Setze dich einstweilen hierher, mein Sohn, sie wird gleich wiederkommen.«
Der Blinde wurde auf das Sofa niedergedrückt, seine Führerin ging als Vater Gabriel im Beduinenburnus hinaus und kam nach fünf Minuten als die richtige Gabriele in einem bequemen, aber modernen Hauskleide wieder herein.
Er solle nur ganz tun, als wenn er zu Hause wäre. Ob er Hunger habe, ob er schlafen wolle, ob er sonst etwas wünsche.
Nobody wollte gar nichts. Er stellte sich schüchtern.
»Aber ein Bad werden Sie erst nehmen, nicht wahr? Wollen Sie warm oder kalt?«
»Können Sie denn auch ein Bad heizen?« fragte Nobody interessiert.
»Ja, mit Petroleum. Ich habe eine vollkommene Einrichtung dazu.«
»Woher bekommen Sie denn aber das Wasser? Vielleicht hat Ihnen Vater Gabriel auch mitgeteilt, daß ich schon einmal im Geiergebirge gewesen bin, und hier herrscht doch die größte Dürre.«
»Ja, aber es gibt eine Felsspalte, aus welcher ein Quell hervorkommt, allerdings nur tropfenweise, dafür aber auch im heißesten Sommer, wenn selbst die Oasenbrunnen versagen. Es ist der Abfluß des gesammelten Taus, der sich jede Nacht auf einem großen Plateau niederschlägt, auch im dürrsten Sommer in genügender Menge, um wenigstens zehn Menschen immer mit Trinkwasser zu versehen. Diese seltsame Quelle liegt hier in der Felsenwohnung, deshalb glaube ich gar nicht, daß es eine Begräbnisstätte war, wie Vater Gabriel meint, sondern früher einmal einen Zufluchtsort von lebendigen Menschen bildete. — Kommen Sie, ich will Ihnen alles zeigen.«
Also so schlau war sie sogar, daß sie jetzt den früheren Angaben des ›Vater Gabriels‹ widersprach!
Nobody bekam alles zu sehen, oder Gabriele machte ihn doch auf alles aufmerksam, und man hörte heraus, daß sie etwas stolz war auf ihre tadellose Wohnungseinrichtung mitten in der Wüste.
Nur das kam Nobody komisch vor, daß er doch alles schon gesehen hatte, es waren ja dieselben Zimmer, die sie nochmals durchschritten.
»Sie müssen immer tun, als wären Sie ganz zu Hause, es steht Ihnen alles zur Verfügung, und Sie werden schon mit der Zeit lernen, sich überall zurechtzufinden,« sagte sie, immer in mitleidigem, tröstendem Tone, während sie ihn an der Hand von Zimmer zu Zimmer führte, den Zweck jedes einzelnen erklärend, die Einrichtung beschreibend, manchmal auch seine Hand Möbel und Gegenstände berühren lassend.
So legte sie jetzt seine Rechte an die in Glasschränken stehenden Bücher.
»Hier ist das Bibliothekzimmer. Alles ist vorhanden, was ein gebildeter Mensch gelesen haben muß, und jede neue Erscheinung auf dem Büchermarkt, die von Wichtigkeit ist, habe ich vier Wochen später hier. O, wir leben hier in der Wüste auf der Höhe der Kultur! Da lese ich Ihnen immer vor. Und hier,« seine Hand mußte die geschnitzten Posaunenengel des Klaviers betasten, »das ist ein Bechsteinscher Stutzflügel. Können Sie im Wüstengebirge mehr verlangen? Spielen Sie Klavier? Ja? Können Sie etwas aus dem Kopfe? Ach, spielen Sie mir etwas vor!«
Es war ein etwas starkes Verlangen, daß der gestern Geblendete ihr heute einen Walzer vorspielen sollte, aber die Situation war überhaupt eine ganz fremdartige, da hatte das zweiundzwanzigjährige Mädchen durch die lange Einsamkeit eine gewisse kindliche Naivität beibehalten oder sich eine solche wieder angeeignet, und dann zeigte es sich auch, daß dieses Klavier ihr ganz besonderer Stolz war.
Nobody setzte sich, griff mit sicherer Hand Akkorde, spielte geläufig einige Fugen und ging dann zu einem faszinierenden Salonstück über.
Gabrieles Staunen war nicht gering, den Blinden so spielen zu sehen. Ihr eigenes Spiel konnte von keiner großen Bedeutung sein.
»Herrlich, herrlich, Sie spielen ja entzückend!!« rief sie ein über das andere Mal. »Und alles aus dem Kopfe! Sie können mehr als ich! Sie müssen mein Lehrer werden! Ach, das wird ja herrlich, wenn wir vierhändig zusammen spielen!«
Und nachdem sie sich ausgestaunt hatte, sagte sie mit etwas verlegener, aber auch freudestrahlender Miene: »Merken Sie nicht etwas an dem Klavier? Ich habe es nämlich schon seit vier Jahren hier. Fällt Ihnen gar nichts daran auf?«
Ja, Nobody hatte etwas gemerkt: nämlich, daß das sonst noch sehr gute Klavier total verstimmt war. Kein Akkord klang mehr rein. Gestimmt worden mußte es allerdings in den vier Jahren mehrmals sein, sonst hätte es nicht mehr so wenigstens einigermaßen geklungen. Man bekommt manchmal auf noch ganz anderen Klavieren einen Kunstgenuß zu hören.
Nobody aber hatte aus der Frage sofort herausgehört, was für eine Antwort das schöne Mädchen so gern gehabt hätte.
»Allerdings, ich wundere mich, daß das Instrument so vorzüglich gestimmt ist. Wer besorgt denn das?«
»Na, ich selbst! rief jetzt Gabriele freudestrahlend. »Ach, Sie glauben gar nicht, was ich für eine Not damit gehabt habe, als es nicht mehr richtig klang, und als ich es zum ersten Male stimmen wollte! Ich hatte gar keine Ahnung davon! Na, was ich da erlebt habe, ach jeh, ach jeh! Dort oben war der Baß, und hier unten quietschte es!«
Nobody hätte nimmermehr geglaubt, daß dieses Mädchen, welches als ›Vater Gabriel‹ und auch schon vorher so ernst ausgesehen hatte, so heiter sprechen konnte. Er durfte getrost mit in das Lachen einstimmen.
Uebrigens hatte sie da wirklich eine ansehnliche Leistung vollbracht, als sie das Klavier, welches über das Mittelmeer gekreuzt war und in diesem heißen Klima zuerst ganz außer Rand und Band gekommen sein mußte, wieder so in Ordnung gebracht hatte. Das Stimmen will gelernt sein, und wer nicht die Gabe dazu besitzt, der lernt es nie, das musikalische Gehör allein reicht dazu nicht aus.
Nach diesem Aufenthalt ging es weiter, und wiederum amüsierte sich Nobody köstlich, als sie ihm die wohlbekannte Küche zeigte, ihm den Petroleumofen erklärte.
Dort war auch die Kammer mit den Binsen, aber auf diese ehemalige ›Höhle‹ machte sie ihn nicht aufmerksam.
Gabriele nahm eine Lampe, sie betraten einen andern Raum, dem man die natürliche Felsspalte ansah, vielleicht nur durch den Meißel erweitert. Aus einem Rohre, welches einfach in ein Loch der Wand gesteckt war, sickerten Tropfen hervor und fielen in ein untergestelltes Gefäß.
Der Blinde mußte lauschen und tasten.
»Innerhalb 24 Stunden sammeln sich etwa 40 Liter an, das genügt vollkommen für zehn Menschen, und ein einzelner braucht nicht mit Wasser zu sparen.«
»Sie haben nur noch einen alten Araber als Diener bei sich?«
»Hat Vater Gabriel es Ihnen schon gesagt? Ja, einen alten, taubstummen Mann. Ich habe ihn gerade fortgeschickt. — Kommen Sie, ich will Ihnen gleich Ihr Schlafzimmer zeigen.«
Den taubstummen Diener hatte sie mit auffallender Hast erledigt, Nobody hoffte nur, daß sie sich ihn gar nicht erst zulegen würde. Dann mußte sie sich auch noch das Wort ›zeigen‹ abgewöhnen. Ein anderer als Nobody wäre dadurch leicht in Versuchung gekommen, sich einmal mit seinen blinden Augen aufmerksam umzuschauen.
Jetzt aber sollte er eine große Überraschung erleben. Gabriele öffnete wieder eine Tür.
»Das ist das Schlafzimmer meines Bruders, wenn er mich besucht. Ein anderes kann ich Ihnen nicht anbieten. Fremdenzimmer habe ich nicht. Ist es nicht hübsch eingerichtet? Sie werden sich darin schon behaglich fühlen. Ach, entschuldigen Sie...«
Sie meinte, weil sie vergessen hatte, daß er ja blind war, die hübsche Einrichtung ja gar nicht sehen konnte,
Nobody aber hätte sich am liebsten die Augen gerieben.
Die ›hübsche Einrichtung‹ bestand aus dem im Orient unvermeidlichen Teppiche und aus einer französischen Bettstelle, aus absolut nichts weiter, sonst trat überall der nackte Felsen hervor, und die Bettstelle enthielt vorläufig nur eine Matratze. Nobody hätte schwören können, daß die Bettstelle soeben erst aufgeschlagen und der Teppich eben erst hereingelegt worden war.
Wozu diese Vorspiegelung falscher Tatsachen? Wozu benutzte sie auf diese Weise die Blindheit ihres Gastes, während sie auch noch tat, als habe sie vergessen, daß er blind sei, und ihn um eine Entschuldigung bat?
Hier lag ein Rätsel vor.
Nun konnte, wie schon erwähnt, Gabriele gar nicht lügen, sie wurde ganz rot, als sie dies sagte — also doch ein Zeichen, daß sie mit guter — oder mit böser? — Absicht eine Unwahrheit sprach. Aber warum nur?
Vor allen Dingen mußte Nobody etwas erwidern, um nicht ihr Mißtrauen zu erwecken. Es durfte ihm doch nichts auffallen,
»Wenn aber nun Ihr Bruder kommt, und er findet sein Schlafzimmer besetzt?« fragte er scherzhaft.
»O, der ist vor vier Wochen nicht zu erwarten, oder doch nicht früher als Vater Gabriel, und dann findet sich schon ein Platz. Nun folgen Sie mir in das Badezimmer. Ich habe die Petroleumflammen, welche den Ofen heizen, gleich angesteckt, als ich hörte, daß Sie kamen. Das Wasser dürfte schon warm sein.«
Ohne Prüderie führte sie ihn in die Badestube, ohne Prüderie wies sie ihm alles an, was er zum Bade brauchte, und wenn sie dennoch etwas errötete, sogar dem Blinden gegenüber, so zeigte dies nur ihren reinen Charakter. Sie selbst sagte, wie sie die Sache auffaßte.
»Nehmen Sie an, ich sei eine barmherzige Schwester, Sie befinden sich in meiner Pflege, und es ist ja auch tatsächlich so. Finden Sie sich zurecht? Es liegt alles handbereit.«
Hier allerdings, wo sie es gerade nicht tat, hätte sie von einer ›hübschen Einrichtung‹ sprechen können. Es war sogar eine luxuriöse Badeeinrichtung, im modernsten Palaste konnte man keine prächtigere finden, soweit es die Möblierung betraf.
Am meisten wunderte sich Nobody über das Bassin, und aus diesem konnte er wiederum eigentümliche Schlußfolgerungen ziehen.
Das Bassin oder die Wanne war in einen stehengelassenen Block des feinkörnigen Granits hineingehauen. Es war ja möglich, daß schon vor Hunderten von Jahren die Bewohner dieses hohlen Felsens für ein Bad gesorgt hatten, aber dieses Bassin hier, so wie es jetzt war, mußte ganz neu sein, und es konnte nicht von auswärts bezogen sein, es hing mit der Felswand zusammen.
Erst vor zwei Jahren, Nobody wußte es ganz bestimmt, war nämlich in dem kunstsinnigen Frankreich unter den Geldleuten die Mode aufgekommen, marmorne Badebassins außerhalb mit Skulpturen zu bedecken. Eine tonangebende Persönlichkeit fängt mit dem Luxus an, es wird darüber in der Gesellschaft gesprochen, andere machen es nach, illustrierte Zeitungen bringen Abbildungen, und den Bildhauern ist eine neue Erwerbsquelle geschaffen.
Hier stellten die Skulpturen eine Reihe von badenden Nymphen in künstlerischer Vollendung dar.
Wer hatte das gemeißelt? Nobody zweifelte stark daran, daß das junge Mädchen die Künstlerin sei.
Doch hierüber konnte er sich leicht Aufklärung verschaffen, als Blinder mußte er ja sowieso den Rand des Bassins betasten.
»Was sind denn das für Skulpturen?«
Sie errötete — ein Zeichen, daß jetzt wieder eine Unwahrheit kam.
»Dieses Bassin hat mir Vater Gabriel aus dem Felsen gemeißelt, und der alte Missionar ist ein tüchtiger Bildhauer und Künstler, er hat einige Figuren erhaben herausgearbeitet.«
Warum sagte sie nun wieder diese Unwahrheit? Warum schob sie wieder den jedenfalls gar nicht existierenden Vater Gabriel vor?
Das Ganze und alles, was mit diesem Mädchen zusammenhing, war ein Rätsel, und es kamen immer neue Rätsel hinzu.
Eine kleine Falle wollte ihr Nobody doch noch stellen, und er konnte es auch wagen.
Die Szenen, welche die Nymphen darstellten, waren durchaus nicht obszön, aber immerhin, es waren doch badende Mädchen, und diese waren doch einem alten, frommen, weltentsagenden Eremiten nicht entsprechend, der hätte an einer Badewanne doch eher die Szene gewählt, wie Christus von Johannes getauft wird.
Tastend strich die Hand des Blinden über die menschlichen Gestalten.
»Was sind das für Figuren? Menschen? Was stellt die Skulptur dar?«
»Das? Johannes tauft Christus,« lautete die prompte Antwort.
Nobody hätte sich beinahe auf die Lippen gebissen. Genau dasselbe, was er gedacht hatte, sprach das Mädchen aus — als Unwahrheit!! Das war ja köstlich!
So, Blinder, nun taste und unterscheide, ob das nackte Mädchengestalten oder Männerfiguren aus der Bibel sind!
Aber wozu nur dies alles? Wozu diese Verheimlichung und absichtliche Täuschung der blinden Augen?
Auf einem Stuhle lagen handbereit Handtuch und was man sonst noch zum Baden braucht, ferner die Unter- und Oberkleider eines Beduinen — aus der Garderobe ihres Bruders — und der Blinde erklärte, daß er sich allein zurechtfinden könne.
»Hier auf dem Stuhle steht auch eine Klingel. Fühlen Sie dieselbe? Wenn Sie fertig sind, so klingeln Sie.«
Damit entfernte sich Gabriele, und Nobody entkleidete sich, auch jetzt noch, selbst da er überzeugt war, nicht heimlich beobachtet zu werden, den Blinden markierend, und stieg in das in dem Petroleumofen wenigstens lauwarm gewordene Wasser.
Er hatte Zeit, über das Erlebte nachzugrübeln.
Wir wollen von seinen Grübeleien nur einiges Wenige erwähnen.
Nobody zweifelte nicht an der Wahrheit der ihm erzählten Geschichte. Das heißt, dieses sein Vertrauen müssen wir etwas näher erklären, woraus wir dann später noch ersehen werden, weshalb dieser Detektiv niemals einen falschen Schluß ziehen konnte.
Es muß heißen: er sah keinen Grund, weshalb die ihm erzählte Geschichte nicht wahr sein könne.
Hierbei ist ein großer Unterschied.
Ebenso sagte er: ich habe keinen Grund, daran zu zweifeln, daß ich wirklich die Tochter von Heinrich Volker und die Schwester des Wüstenräubers Jussuf el Fanit vor mir habe.
Daß Gabriele erst den alten Missionar gespielt hatte, dabei fand Nobody gar nichts Rätselhaftes. Die junge, im Wüstengebirge spazieren gehende Dame hatte sich doch nicht gleich zu erkennen geben gewagt, dem Blinden gegenüber durfte sie selbst einen alten Mann spielen, das mit dem Vater Gabriel war ein plötzlicher Einfall gewesen, dann aber, als sie beschloß, den Blinden bei sich zu behalten, mußte sie diese Rolle auch weiterspielen, bis sie die Personen wieder vertauschte.
Warum aber hatte sie dem Blinden das ›hübsch eingerichtete‹ Schlafzimmer des Bruders gezeigt, als dasselbe noch gar nicht eingerichtet war?
Sah das nicht fast gerade aus, als ob der Bruder überhaupt niemals hierher käme?
Auf die Kleidung eines männlichen Beduinen, die sie ihm hingelegt hatte, gab Nobody gar nichts.
Kurz und gut, das eine stand bei Nobody fest: das Mädchen war nicht so einsam, wie es sich stellte, mit irgend jemandem mußte Gabriele verkehren, und wenn es nicht ihr Bruder war, dann ein anderer, und diesen geheimnisvollen Jemand wollte Nobody eben ›Herauskriegen‹, eher ging er nicht von hier fort.
Und nun: wo war jetzt Marguérite? Nobody hätte darauf schwören mögen, daß sie sich jetzt als Gefangene hier in dieser Felsenwohnung befand. Aber er schwor nicht — er wollte sie finden. Er wollte alle Rätsel lösen.
Das Bad war beendet, er kleidete sich als Beduine an, klingelte, und Gabriele holte ihn wieder ab.
Da er versicherte, nicht müde zu sein, blieben sie zusammen. Aber Appetit habe er wirklich, und nun war ihr Schreck groß, daß das Essen noch nicht fertig sei.
Der Blinde sollte nicht allein sein, er mußte mit in die Küche kommen, es sich in einem Schaukelstuhle mit der türkischen Pfeife des Bruders bequem machen, und nun fehlten bloß noch die Kinder, so hätte sich in der Küche ein reizendes Familienleben entwickelt, wie es etwa in England in der möblierten Küche zu Hause ist.
Frisches Fleisch und Gemüse fehlte, das mußte durch Konserven vertreten werden, und während nun Gabriele kochte und briet und dämpfte und die Kartoffeln abgoß und die Suppe quirlte, erzählte sie ganz ausführlich, wie und woher sie alle diese Lebensmittel bekam. Das bildete das Gespräch, und die beiden disputierten mit Wichtigkeit darüber, ob man in die angesetzten Kartoffeln gleich eine Handvoll Salz tun müsse oder erst, wenn sie kochten, und ob man das Mehl besser mit kaltem Wasser oder mit warmem anrühre.
Vor allen Dingen bemerkte Nobody hierbei, wie häuslich dieses Mädchen war, mit welcher Leidenschaft sie kochte, und daher auch dieses Küchengespräch. Aber ihre Vorliebe für die edle Kochkunst war nicht ihr eigentlicher Charakter. Sie hatte als Vater Gabriel sich selbst gekennzeichnet; sie ›bemutterte‹ gern. Und das ist auch ein wunderschöner Ausdruck für einen Charakterzug, ohne welchen das Weib kein Weib ist. Dem kleinen Mädchen, das nicht ihr Lieblingspüppchen hat, mit dem es lacht und weint, um das es sich sorgt und ängstigt — diesem kleinen Mädchen ist für später nicht viel zuzutrauen. Oder aber, es wird einmal etwas ganz Großes, hoch über die Mitschwestern emporragend!
Dieser jungen Dame hier im Beduinenkostüm sah man es ganz deutlich an, wie glücklich sie war, daß sie einen Menschen hatte — nicht nur eine Puppe, sondern einen richtigen lebendigen Menschen, für den sie nach Herzenslust sorgen durfte, und daß er blind war, das war ihr im egoistischen Muttergefühl nur um so lieber, und nur hieraus entsprang ihre wahre Kochwut. Für sich selbst bereitete sie vielleicht das notwendigste Essen mit der größten Gleichgültigkeit.
Und wie dachte Nobody über dieses Küchengespräch, über die Kartoffel- und Mehlgeschichte und über die ganze Salzerei?
Amüsierte er sich nicht über sich selbst, daß er sich über so etwas unterhalten mußte und konnte?
Nein, er fand das gar nicht lächerlich.
Nobody war sozusagen ›auch nur ein Mensch‹; und der Mensch ist ein ganz merkwürdiges... Geschöpf.
Da gibt es Menschen, welche für gewöhnlich rohe, grobe Patrone sind, gewalttätige Kerls, die mit Maulschellen um sich werfen, die an nichts glauben, was sie nicht suhlen, fressen und saufen können, rechte Runkse.
Nun aber wird so ein Runks plötzlich auf das Krankenlager geworfen — ein Beinbruch, er muß in Gips liegen — und da kommt ein mildes Antlitz und eine zarte Hand, die ihn pflegt und ihm das weiße Bettzeug glattstreicht — — ach, und da wird der rohe Runks plötzlich so sanft wie ein Lämmchen — und da hat er plötzlich so selige Empfindungen, die er früher gar nicht gekannt hat — da wird ihm manchmal so heiß ums Herz — und da kann er sich so über das Blümchen freuen, das ihm die zarte Hand aufs Bett legt — über so ein Blümchen, dem er bisher nicht die geringste Beachtung geschenkt hatte, weil er's ja doch nicht fressen konnte — und da läuft über seine Bettdecke eine Fliege — und er klatscht sie nicht tot, sondern er staunt, was für wunderbar feine Beinchen doch solch eine Fliege hat — und er freut sich, wie zierlich sie die Flügelchen putzt...
Oder ist es nicht so? Ja, es ist so! Es ist ganz gut, wenn man einmal in Gips gelegt wird.
Nobody war kein solcher Runks. Er war auch nicht krank, nicht einmal blind. Aber wie er jetzt so mit der türkischen Pfeife im Schaukelstuhle saß und dem am Herde waltenden Mädchen zuschaute, da wurde er plötzlich von der ungeheuren Wichtigkeit der Frage durchdrungen, ob man die Kartoffeln gleich beim Ansetzen salzt oder erst beim Aufkochen, und ob man das Mehl mit kaltem oder mit heißem Wasser anrührt, und da überkam ihn ein so unbeschreibliches Behagen, wie er es noch nie gekannt hatte, und all seine Gedanken summierten sich in den Worten: Ach, wenn es doch immer so bliebe! Und nun kam gleich ein fragender Gedanke: warum kann es denn nicht immer so bleiben?
Ja, so geht es im Leben! Es ist lächerlich — aber schön! —
Der Tag war noch lang, und was sich nun an diesem Nachmittage noch alles ereignete, das wollen wir mit möglichster Kürze wiedergeben — mit fahrplanmäßiger Kürze. Manchem Leser und besonders mancher Leserin dürfte es vielleicht lieber sein, wenn es ausführlicher geschildert würde, aber solch ein Fahrplan ist übersichtlicher.
Um 3 Uhr: Mittagessen in der guten Stube, wobei Nobody auf dem Sofa sitzt und Gabriele ihm gegenüber auf einem Stuhle.
3 Uhr 55: Gabriele spielt ihm etwas auf dem Klavier vor.
4 Uhr 13: jetzt muß Nobody spielen.
4 Uhr 38: jetzt spielen sie alle beide.
5 Uhr 2: es wird Kaffee gekocht.
5 Uhr 33: es wird Kaffee getrunken, und jetzt sitzen alle beide auf dem guten Sofa.
5 Uhr 52: Nobody fragt, ob Gabriele singen kann.
5 Uhr 56: Gabriele wünscht, daß sie ein Vöglein wäre, um übers Meer zu fliegen, und Nobody begleitet sie — nämlich auf dem Klavier.
6 Uhr 8: jetzt singt Nobody. Was er gesungen hat, steht nicht in seinem Tagebuche. Das hat er wahrscheinlich selbst nicht gewußt.
6 Uhr 16: Nobody singt ein anderes Lied, das Lied von den beiden Grenadieren, die aus Rußland zurückkommen, von denen der eine, weil sein Kaiser gefangen ist, nun zu Frau und Kindern zurückkehren will, worüber er sich ganz mordsmäßig freut, während der andere Grenadier sich lieber ins Grab legen will, bis ihn sein Kaiser wieder herausholt, und seine Frau und Kinder sollen einstweilen betteln gehen. — Gabriele ist ganz weg.
6 Uhr 30: jetzt singen sie alle beide zusammen, und wenn es nicht das Duett aus Don Juan gewesen ist, wo die Zerline nicht mit aufs Schloß kommen will, weil sie aus guten Gründen Angst hat, dann war es etwas anderes.
6 Uhr 42: es wird duster.
6 Uhr 44: Gabriele steckt die Lampe an und besorgt das Abendbrot, Nobody aber bleibt diesmal in der guten Stube auf dem Sofa sitzen.
7 Uhr 8: Abendbrot. Nobody sitzt immer noch auf dem Sofa, nicht aber Gabriele wie beim Kaffeetrinken, die hat sich gerade an das entfernteste Tischende gesetzt. Glücklicherweise ist der Tisch nicht sehr groß.
7 Uhr 14: Nobody seufzt.
7 Uhr 15: Gabriele seufzt desgleichen.
7 Uhr 16: jetzt seufzen sie alle beide.
7 Uhr 20: Gabriele wirft ihr Weinglas um.
7 Uhr 23: Nobody gießt sich eine ganze Büchse Oelsardinen über seine gute Beduinenhose.
7 Uhr 25: Gabriele hätte beinahe die Lampe umgeworfen, wenn der Blinde nicht schnell zugegriffen, und ihr ist das gar nicht aufgefallen. Das läßt tief blicken.
7 Uhr 29: Nobody sagt »Ach ja!«
7 Uhr 30: Gabriele sagt nach langem Besinnen »Ach nein!«
7 Uhr 35: Nobody bekommt rote Backen.
7 Uhr 36: Gabriele bekommt noch rötere Backen.
7 Uhr 38: Sie sagen alle beide gleichzeitig »Jaja!«
7 Uhr 41: Nobody denkt sich etwas.
7 Uhr 42: Nobody nimmt einen moralischen Anlauf.
7 Uhr 43: Gabriele wirft ihr zweites Weinglas um.
7 Uhr 44: Nobody beschließt, noch ein bißchen zu warten.
7 Uhr 46: Nobody kann es nicht mehr aushalten.
7 Uhr 50: Da gibt es einen gewaltigen Plauz, Nobody ist vom Sofa gefallen. Aber er hat es so einzurichten gewußt, daß er gerade auf die Knie zu liegen kommt, und wie er nun so daliegt, da sagt dieser Unmensch ganz unverfroren aus dem Stegreif — nein, sagt es nicht, sondern jauchzt es:
»Gabriele, ich liebe dich!!!«
O, das hätte nicht kommen sollen!
Und doch, es war ganz fahrplanmäßig. Aber Gabriele schien nicht gewußt zu haben, daß dieser Schnellzug schon so früh abging.
Und was tat nun Gabriele, als sie ihren Irrtum gewahrte?
Sie sprang auf und schlug die Hände vor das Antlitz, welches eben noch so geglüht hatte und nun plötzlich ganz weiß geworden war.
»Ach, warum haben Sie das getan!!«
Mit diesem Worte eilte sie hinaus.
»Gabrieeööle!!!« klang es ihr nach.
Aber sie kam nicht wieder.
»Ach, ich Hornochse!«
Ja, Nobody hätte nicht gleich so wie ein Stier auf seine Knie hinplauzen sollen. Das sah er jetzt selbst ein. Er erkannte sich selbst nicht wieder. Daran mußte seine Blindheit schuld sein.
Doch da kam sie schon zurück. Sie hatte ein langes Bambusrohr in der Hand. Nobody dachte erst, sie wollte ihn hauen. Er saß wieder ganz artig auf dem Sofa — als Blinder.
»Gabriele!«
»Mein Herr?«
»Ich wollte...«
»Sie wollen jetzt schlafen gehen, nichtwahr?«
»Nein, ich wollte Ihnen...«
»Ich denke doch, es ist besser, wenn Sie jetzt schlafen gingen.«
»Ich bin noch gar nicht müde.«
»Aber ich bin sehr müde.«
»Dann gehe auch ich schlafen.«
Sie kickste ihn mit dem langen Bambusrohr vor die Brust.
»Fassen Sie den Stab an, ich führe Sie.«
Nobody griff zu und trabte gehorsam wie ein Pudel hinter ihr her. Jetzt waren beide durch das lange Bambusrohr getrennt.
Als er die Tür erreicht hatte, paßte ihm die Führung nicht mehr, er blieb stehen und tastete mit der anderen Hand. Das Mädchen zog vergebens, Nobody stand wie ein blinder Ochse.
»Kommen Sie!«
»Ich werde mich stoßen,« klagte er.
»Nein, Sie werden sich nicht stoßen.«
»Gabriele, geben Sie mir doch lieber Ihre Hand, ich fürchte mich so,« flehte Nobody.
»Nein, ach nein, der Stock genügt vollkommen.«
»Verflucht, wenn ich nur nicht blind wäre,« dachte der unverbesserliche Sünder und trabte wieder gehorsam am Stocke nach.
Auf diese Weise ward er glücklich in sein Schlafzimmer bugsiert, das schon durch eine Lampe erleuchtet war, und jetzt allerdings konnte man von einer ›hübschen Einrichtung‹ sprechen. Es war sogar eine luxuriöse, orientalische Einrichtung, von welcher nur das französische Bett und der moderne Waschtisch eine Ausnahme machten.
Gabriele mußte Nobodys Badezeit fleißig dazu benutzt haben, dieses Schlafzimmer einzurichten, und schon wollte er sie im Innern um Verzeihung bitten, in dem Glauben, es sei wirklich die Schlafstube des Bruders, die vielleicht nur wegen eines ›großen Reinemachens‹ einmal ausgeräumt gewesen war... ja, aus welchem Grunde aber hatte sie da auf seine Blindheit spekuliert und ihn glauben machen wollen, die vollständige Einrichtung sei noch in dem Zimmer selbst?
War das nur ein für einen Mann unbegreiflicher Stolz der Hausfrau oder vielmehr ein Widerwille, dem fremden Gaste ein ausgeräumtes Zimmer zu zeigen?
Nein, das Rätsel blieb bestehen. Doch jetzt grübelte Nobody nicht darüber nach, er dachte an anderes.
Um ihn zu führen, hatte Gabriele doch vorausgehen müssen und war wegen des langen Stockes bis hinten an das Fenster gekommen, während Nobody sich noch in der Mitte des Zimmers befand, und dieses war schmal, Gabriele stand zwischen Bett und Wand, und da konnte keins am anderen vorbei.
»Halt!« kommandierte sie. »Fühlen Sie links den Waschtisch?«
»Ich fühle ihn,« murmelte Nobody. »Gabriele...«
»Fühlen Sie rechts das Bett?«
»Ich fühle es. Ach, Gabriele... Fräulein Gabriele —«
»Werden Sie sich allein ins Bett finden?«
»Nein!« war die prompte Antwort.
Er sah recht wohl, daß sie die Sache gar nicht so tragisch nahm. Sie tat zwar, als ob sie furchtbar beleidigt worden wäre, aber so sah sie gar nicht aus, im Gegenteil, sie machte ein recht verschmitztes Gesicht, und jetzt wandelte sie sogar die Lachlust an. Aber sie wußte sich zu beherrschen.
»Das tut mir leid. Aber Sie werden sich schon zu helfen wissen. Die Beduinenkleider können Sie doch mit leichter Mühe abstreifen, dann legen Sie sich nur ins Bett, wie es kommt, und morgen früh wird ein Diener zur Stelle sein.«
»Ach, Gabriele,« begann Nobody nochmals im kläglichsten Tone, »wir haben uns doch so gut vertragen, und nun...«
»Das ist Ihre eigene Schuld, mein Herr. Lassen Sie den Stock los, kommen Sie noch etwas näher!«
Gehorsam ließ Nobody den Stock los — nur zu gern gehorsam — und ging mit ausgebreiteten Armen in die schmale Spalte hinein. Jetzt war sie gefangen!
Aber nein, es sollte anders kommen. Ob sie nun ahnte oder nicht, was er vorhatte — sie wußte ihm zu entgehen. Mit jener elastischen Schnellkraft der Gemse, die sie heute schon einmal gezeigt hatte, stand sie plötzlich mit gleichen Füßen auf dem Bett, sprang über Nobodys ausgestreckten Arm hinweg und stand im nächsten Augenblick jenseits des Bettes am Boden auf dem weichen Teppich, und dieses Manöver war nicht nur mit absoluter Geräuschlosigkeit ausgeführt worden und mit solcher Leichtigkeit, daß das Bett kaum eine Spur ihres Fußes verriet, sondern auch mit solch einer fabelhaften Schnelligkeit, daß Nobody sie gar nicht hatte hindern können, selbst wenn er es als Blinder gedurft.
»Gute Nacht, mein lieber Freund, schlafen Sie recht wohl,« erklang es da hinter ihm mit unendlich weicher, zärtlicher Stimme und...da war die Lampe ausgeblasen!
Die Lampe! Sie war des verliebten Nobodys letzte Hoffnung gewesen, als er sein schönes Wild sich wiederum entgehen sah.
Er hatte nämlich gedacht, sie müsse doch noch einmal hereinkommen, um die brennende Lampe herauszuholen oder auszublasen. Und nun hatte sie es schon jetzt getan! Natürlich, wozu braucht denn auch ein Blinder zum Entkleiden eine Lampe?
Nobody stand im Finstern.
»Kreuzhimmeldonnerwetterschockschwerenot noch einmal!!! Nobody, du bist ein Esel! Nobody, du bist ein Kamel! Nobody, du bist ein... ein... ein doppelkohlensaures Nashorn! Amen.«
Nachdem er diesen Abendsegen gebetet hatte, riß er sein Beduinenkostüm ab und stieg ins Bett.
Ja, er war sehr unzufrieden mit sich. Aber auch gleich so auf die Knie zu plauzen, daß das Täubchen ja davonfliegen mußte! Er hätte niemals gedacht, daß er solch eine Ungeschicklichkeit begehen könnte. Er war nicht nur unzufrieden mit sich, sondern er war grenzenlos unglücklich!
Doch hatte sie ihm denn nicht so zärtlich ›Gute Nacht‹ gewünscht? Ach, wie lieblich klang ihm das noch in den Ohren!
Das hinderte aber nicht, daß er sich trotzdem tief, tief unglücklich fühlte. Und dennoch so selig! Es war also so ein schmerzlichschönes, bittersüßes Gefühl, mit welchem Nobody dann wie ein sechzehnjähriges Mädchen sein Kopfkissen liebreich umarmte, es erst küßte und dann hineinbiß und sich dabei sagte, daß er der allergrößte Narr sei, der außerhalb des Irrenhauses unter Gottes schöner Sonne herumspaziere.
Und dann hatte er einen schrecklichen Traum — einen Traum, den Herkules einst bei der Königin Omphale in Wirklichkeit erlebte, indem nämlich der schwermütig gewordene Heros Wolle spann, während sich Omphale die Löwenhaut umhing und mit seiner Keule spielte.
Gabriele, als Beduine gekleidet, verfolgte hoch zu Roß einen Indianerhäuptling, fing ihn mit dem Lasso, warf ihn nieder, bändigte ihn, tötete ihn, skalpierte ihn, und als sie so weit fertig war, sagte sie: »Da liegt er, der Herr Bankier Abraham Isaak Meyer aus Rixdorf, der mit den Effekten durchgebrannt ist, er hatte sie unter seiner Kopfhaut versteckt, ich wußte es ja gleich.« — Und daneben stand Nobody, wusch Kinderwindeln und hing sie zum Trocknen auf.
O, es war ein entsetzlicher Traum! Der Schläfer ächzte und schwitzte vor Todesangst. Und Nobody hat doch schon einmal gesagt, daß er nie träume. Es gibt eben in allem Ausnahmen. Der Traum währte auch nicht lange, so fiel Nobody in einen tiefen, erquickenden Schlaf.
So tief dieser aber auch sein mochte, so genügte doch ein ganz geringes Geräusch, das Streifen eines Gewandes an einem Gegenstand, der allerleiseste Luftzug, welcher nicht in dieses geschlossene Gemach gehörte, um den Schläfer sofort zu wecken, und augenblicklich war Nobody bei vollem Bewußtsein.
Er stellte sich schlafend, verstand es aber, unter den Lidern hervorzusehen, ohne daß der schärfste Beobachter in nächster Nähe etwas von einem Blinzeln gemerkt hätte.
Ein schwacher Lichtschein traf seine Augen, er kam näher, Nobody sah eine Lampe, eine weißgekleidete Beduinengestalt...
Gabriele! Sie hatte nicht schlafen können, sie besuchte ihn mitten in der Nacht!!
Doch nein, es war Gabriele nicht, durfte es nicht sein!
Nobody war sich bewußt, außerordentliche Fähigkeiten zu besitzen, welche unter Tausenden, vielleicht auch unter Millionen Menschen nur einem einzigen verliehen sind, von denen sich jene anderen Menschen nicht einmal etwas träumen lassen, und damit rechnete er stets — auch als Sehender.
Es war in der Tat Gabriele, welche jetzt die Lampe auf den Tisch setzte. Aber sie hatte das Gesicht verhüllt, trug um die Brust einen Lasso geschlungen und hatte im Gürtel Dolch und Pistolen stecken.
Sie wollte also als männlicher Beduine erscheinen und trat auch als solcher auf, jetzt und später, und kein Mensch wäre auf den Verdacht gekommen, daß sich unter dem Beduinenkostüm ein Weib verstecke.
Dieser Mann hier aber erkannte auf den ersten Blick, daß es nur ein Weib sein könne — woraus er es sofort erkannte, das eben war eine ihm selbst fast unbegreifliche Gabe.
Wäre er jetzt aber ein Sehender gewesen, so würde er keine Ausnahme von anderen Menschen gemacht haben, er hätte trotzdem getan, als glaube er, wirklich einen Mann vor sich zu haben.
Hierin liegt nämlich eine Methode, deren Geheimnis der scharfsinnige Leser wohl verstehen wird, und hierauf beruhten nicht zum geringsten Teil dieses Privat-Detektivs beispiellose Erfolge.
»Effendi!!«
Die Stimme war ein klein wenig tiefer und vor allen Dingen viel härter oder metallischer, und jeder andere Mensch wäre gar nicht auf die Vermutung gekommen, es könne die des Weibes sein, welches er bereits hatte sprechen hören.
Unser Detektiv aber hörte den gleichen Klang sofort wieder heraus. Er hätte wirklich blind sein können, er wäre nicht getäuscht worden. Das war Gabriele!
Nobody wußte, was er tat, als er, ohne die Augen zu öffnen, sehnsüchtig die Arme ausstreckte.
Er war von der Stimme im Schlafe gestört, aber nicht geweckt worden.
»Gabriele!!« flüsterte er — also im Traume.
»Wache auf, Effendi!« erklang es wieder in schroffem Tone.
Der Beduine ging an das Bett, rüttelte den Schläfer und trat schnell wieder einen Schritt zurück.
Nobody war emporgefahren, blickte mit starren Augen um sich, ohne diese einmal auf der vor ihm stehenden Gestalt haften zu lassen.
Er spielte die Rolle eines Blinden meisterhaft.
»Wo bin ich?« murmelte er erst, und dann, als ob ihm nach und nach die Erinnerung zurückkehre, setzte er nach einer kleiner Pause mit sichtbarer Hoffnungsfreudigkeit hinzu: »Rief mich nicht jemand? Gabriele, bist du es?!«
»Ich bin Jussuf el Fanit, ihr Bruder, und komme, von dir Rechenschaft zu fordern,«
Während sie dies sagte, schlug sie das Tuch zurück, welches ihr unbequem sein mochte, und zeigte offen ihr Gesicht!
Sie hatte sich also überzeugt, daß ihr Gast auch nach dem Schlafe als total Blinder aufgewacht war. Jetzt spielte sie nur noch mit Stimme und Worten den Bruder.
Allerdings zeigte ihr Gesicht jetzt nicht mehr die weichen Züge, die Nobody gestern in der Küche und mehr noch dann beim Abendessen wahrgenommen hatte, es war kalt und energisch.
Aber die Augen? Hingen die nicht mit ängstlicher Spannung an den Zügen des Blinden?
»Jussuf el Fanit — ihr Bruder... ich denke, der ist weit, weit entfernt von hier?« murmelte Nobody, sich noch immer schlaftrunken stellend.
»Nein, Ich befand mich auf dem Wege hierher und traf den Mann, welchen wir Vater Gabriel nennen. — — Hast du ausgeschlafen, Effendi?«
Nobody richtete sich höher empor.
»Ja.«
»Ich dachte es auch,« erklang es spöttisch, aber Nobody hörte sofort heraus, daß dieser Spott erkünstelt war, und er wartete mit Spannung darauf, den Grund dieser Verstellung zu erfahren.
»Ich dachte auch, daß du ausgeschlafen haben kannst. Weißt du, wie lange du geschlafen hast?«
»Nein. Wie lange denn?«
»Die Sonne steht schon im Mittag.«
Oho, dachte Nobody, wenn es hier Hähne gäbe, so würden die noch nicht gekräht haben. Ich schätze es erst auf Mitternacht!
Nun wußte er natürlich auch gleich, um was es sich handelte.
Gabriele hatte nicht schlafen können. Jetzt kam sie als der plötzlich unvermutet zurückgekehrte Bruder, redete dem Blinden mitten in der Nacht vor, es sei schon Mittag, er habe schon an die 15 Stunden geschlafen.
Und dabei stand die brennende Lampe auf dem Tisch! Es war eigentlich etwas stark, wie sie es mit dem Blinden trieb! Nein, es war köstlich!
»Kannst du dich allein ankleiden?«
»Ich glaube es.«
»So tue es...nein, es ist nicht nötig, du kannst...«
Allein Nobody war schon mit gleichen Beinen aus dem Bett gefahren, innerlich immer mehr belustigt.
»Und ich befehle dir, bleibe liegen!!« erklang es da hastig im herrischsten Tone, dabei wurde ihr schönes Antlitz von einem dunklen Rot übergossen.
Gut, Nobody gehorchte, er zog seine Füße wieder zurück. Diese ihre Schamhaftigkeit machte einen sehr günstigen Eindruck auf ihn.
»Für das, was wir zu verhandeln haben, kannst du liegen bleiben. Oder hast du Hunger?«
»Durchaus nicht. Sagtest du nicht, du wolltest Rechenschaft von mir fordern?«
»So ist es. Vater Gabriel hat mir schon alles erzählt, meine Schwester wiederholte es mir, und jene Schurken, welche meinen Namen mißbrauchten, werden meinem rächenden Arm nicht entgehen, wodurch auch du furchtbar gerächt werden sollst. Aber meine Schwester erzählte mir auch noch etwas anderes.«
»Was denn?« fragte Nobody harmlos.
»Du fragst auch noch?« rief der vorgebliche Räuber grimmig. »Meine Schwester nahm dich gastfreundlich auf!«
»Ich bin ihr sehr, sehr dankbar dafür.«
»Und du entblödetest dich nicht, ihr Vertrauen, mit welchem sie sich dir als Pflegerin und Wärterin eines Blinden nähern mußte, zu mißbrauchen?«
»Wie, ich hätte ihr Vertrauen... ge — mißbraucht?!« durfte Nobody mit berechtigter, staunender Entrüstung rufen.
»Indem du ihr sagtest, daß du sie liebtest!«
Jetzt war wiederum eine Pause nötig.
»Ich tat es,« erklang es dann leise. »Aber war denn das ein Verbrechen?«
Der große Eindruck, den diese Frage hervorrief, war auf dem schönen Antlitz Gabrieles zu lesen. Sie mußte sich mit Gewalt beherrschen, um ihre Stimme nach wie vor rauh und befehlend erklingen zu lassen.
»So? Ist das etwa keine Verletzung der Gastfreundschaft?«
»Wenn ich sie liebe und ihr meine Liebe gestehe? Nein. Denn ich hielt deine Schwester für ein Mädchen, welches noch frei ist. Oder... sie ist... doch nicht etwa... schon gebunden?«
Der Blinde wußte in seine Stimme den richtigen Ausdruck zu legen, seine Spannung, seine Angst.
»Nein, das ist sie nicht.«
»Gelobt sei Gott!!«
»So ist deine Liebe aufrichtig?«
»Du fragst auch noch?!«
Jetzt ruhten ihre Augen mit ganz anderem Ausdruck auf ihm; aber gar so schnell durfte der ›Bruder‹ doch nicht nachgeben.
»Ich kann nicht daran glauben. Deine Liebe wird nur eine augenblickliche Leidenschaft sein. Du hast Gabriele doch nicht einmal geseh... ich wollte sagen: du warst mit Gabriele doch erst wenige Stunden zusammen, als du ihr schon deine Liebe erklärtest.«
»Sprich es nur aus: du hast meine Schwester noch nicht einmal gesehen. — Jussuf el Fanit, hast du noch keine Liebe zu einem Mädchen gefühlt?«
Die Antwort ließ etwas auf sich warten.
»Nein,« kam es dann zögernd heraus.
»Das glaube ich auch, daß du, Fräulein Jussuf, noch keine solche Liebe, die ich meine, zu einem Mädchen gefühlt hast,« dachte Nobody ironisch, und laut sagte er:
»Du lügst, Jussuf el Fanit!«
Gabriele hätte beinahe über ihrem Erröten vergessen, bei diesem kecken Wort als echter Beduine wild aufzufahren und nach dem Dolche zu greifen, es kam erst nachträglich, wenigstens mit der Stimme, und sie machte ihre Sache sehr gut.
»Was wagst du zu sagen, ungläubiger Hund?«
»Du lügst,« wiederholte Nobody ruhig. »Vater Gabriel hat mir alles erzählt, ich kenne deine Geschichte, du bist ein noch junger Mann, und du lügst, wenn du sagst, du hättest noch nie ein Mädchen sehnsuchtsvoll geliebt!«
Der vorgebliche Wüstenräuber brauste nicht wieder auf.
»Ich habe einen Schwur abgelegt, nie ein Weib zu nehmen, so lange ich nicht ein gewisses Ziel erreicht habe, und dieses Ziel ist noch gar weit entfernt,« erklang es dann etwas unsicher.
»Deshalb kannst du immer in deinem Herzen die Liebe zu einem Weibe nähren, und du hast es auch schon getan, oder du bist kein irdischer Mensch!«
Das Schweigen war auch eine Antwort.
»Nun sage, Jussuf el Fanit, fuhr Nobody fort und legte in seine Stimme einen schwärmerischen Ton, »als du nun zum ersten Male Liebe zu einem Weibe empfandest, brauchtest du da auch viele Tage, ehe du dies erkanntest, oder war es nicht ein einziger Augenblick, da du hättest laut aufjubeln mögen: ich liebe dich, ich liebe dich!! — und wäre das dann nicht dein heiliger Ernst gewesen?«
Wieder blieb die Antwort aus.
»Vielleicht hast du es damals nicht gerufen. Ich aber habe das Wort laut gejubelt. Bedenke nur die ganzen Verhältnisse — wie mich Gabriele fand — wie sie mich pflegte — mich als Blinden, der den Tag zuvor noch sehen konnte... bedenke dies, und alles ist erklärt.«
»Nein, noch kann ich dir nicht ganz trauen,« nahm endlich Gabriele als Bruder des Mädchens, um das es sich handelte, das Wort, und ihre Stimme klang gepreßt. »Vater Gabriel hat dir also alles erzählt. Dann weißt du auch, daß die, die du liebst, die Schwester eines Wüstenräubers ist.«
»Ich weiß es. Was tut das? Ich liebe sie.«
»An den Händen ihres Bruders klebt Blut.«
»Ich liebe sie.«
»Ihr Bruder ist...wird ein Mörder genannt.«
»Ich liebe sie,« wiederholte Nobody immer wieder.
»Das sagst du und darfst du sagen, weil du Gabriele wohl für wissend, aber für unschuldig an den Taten ihres Bruders hältst.«
Schon die Augen, die mit so ängstlicher Spannung an den Zügen des Blinden hingen, verrieten, daß sie auf diese Andeutung hin ein Zurückschrecken, mindestens ein Stutzen erwartete. Allein keine Spur davon,
»Ist sie ihrem Bruder beim Abfangen der Karawanen behilflich?« fragte Nobody ruhig. »Das hatte ich nicht geglaubt.«
»Warum hättest du das nicht geglaubt?« erklang es mit hörbarer Erleichterung.
»Ihr ganzes Wesen macht nicht diesen Eindruck.«
»Du hast recht. Dennoch ist sie ihrem Bruder behilflich, die Karawanen zu... plündern, wie die Leute von mir sagen. Du weißt, weshalb ich dies tue. Vater Gabriel hat dir alles erzählt, so brauche ich mich dabei nicht aufzuhalten. Ich verfolge ein Ziel; ich bin ein geborener Beduine und will das Land meiner Mutter von der englischen Knechtschaft befreien, wenn diese auch noch nicht dem Namen nach besteht. Ich sehe weiter, ich sehe Aegypten schon als einen Vasallenstaat des unersättlichen Englands, und dem strebe ich schon jetzt entgegen. Genug davon! Meine Schwester teilt mit mir diese meine Ansicht, mein Streben und meine Arbeit. Während ich der Räuber bin, ist Gabriele die Spionin. Sie kundschaftet die Salzkarawanen aus, welche von Medinet el Fayum abgehen, von denen ich dann Tribut verlange, die ich, wenn mir dieser verweigert wird, mit... Kugel und Schwert bestrafe.«
»Also in dieser Weise ist Gabriele dabei beschäftigt!« sagte Nobody ganz ruhig, als habe er etwas recht Interessantes gehört.
»Du findest gar nichts dabei?«
»Nein, was denn?«
»Frage nicht so versteckt. Ich bin ein Wüstenräuber...«
»Ich denke, du nennst dich den Herrn der Wüste?« unterbrach Nobody ihn. »Ja? Nun, Jussuf el Fanit, so laß dir hierüber meine Ansicht mit kurzen Worten sagen. Du wirst mich verstehen: es muß auf der Erde doch einmal eine Zeit gewesen sein, da es noch keinen König gegeben hat. Wer war der erste? Derjenige, welcher zu seinen Anhängern zum ersten Male sagte: ich bin euer König! — welcher Kraft genug hatte, diesen Königstitel zu vertreten, sich als König zu behaupten. So nenne du dich den Herrn der Wüste, nenne dich Aegyptens König — und hast du die Kraft und die Macht, diesen Titel zu verteidigen, so bist du der Tradition nach im Rechte. Ich habe gesprochen.«
Fürwahr, überzeugender hatte Nobody nicht reden können — besonders nicht einem Weibe gegenüber! und da ging der Beduine mit ausgestreckter Hand, die mit einem ledernen Stulphandschuh bekleidet war, auf ihn zu und erfaßte mit kräftigem Griffe die seine.
»Sei mein... Schwager!«
Beinahe hätte sie sich verraten, und beinahe hatte Nobody die Beduinengestalt an sich gezogen, hätte sie mit dem anderen Arm umschlungen und hätte lachend gesagt:
»Mein alter Vater Gabriel, mein tapferer Jussuf el Fanit, meine liebe Gabriele — der Scherz hat nun am Ende; du bist die allerliebste Braut...«
Doch er tat es nicht, er beherrschte sich. Denn noch war er seiner Sache nicht ganz sicher, sie konnte deswegen immer noch einen Bruder haben, welcher der echte Jussuf el Fanit, der echte Wüstenräuber war; er hielt vielleicht nur die Zeit noch nicht für gekommen, sich als Sehender zu erkennen zu geben, unter der Maske des Blinden konnte er am besten beobachten, und schließlich freute er sich als Zuschauer auf die Komödie, welche jetzt wieder kommen mußte.
»Dank, tausend Dank!« murmelte er mit erstickter Stimme.
Auch Gabriele hielt es für besser, ihn noch auf etwas aufmerksam zu machen.
»Ein Hindernis steht nicht im Wege, Gabriele ist Christin geblieben.«
»Ich weiß es, sie sagte es mir bereits.«
»Und auch Vater Gabriel ist ja wieder da, er ist ein zur Trauung berechtigter Missionar — — und warum sollt ihr, wenn ihr euch liebt, die Trauung noch aufschieben?«
Oho!! dachte Nobody.
Doch es war nur ein Staunen, daß die Komödie so weit getrieben wurde. Wäre er sicher gewesen, daß ein wirklicher Geistlicher die Trauung vollziehen werde, er hätte auch dann keinen Augenblick gezögert. Er war ein Mensch, und diesem Menschen war eben die Liebe ins Herz geschlagen.
»Aber... aber... ich weiß ja gar nicht, ob mich Gabriele liebt?« sagte er kleinlaut und nicht gerade mit Verstellung.
»Das, Alfred, laß dir von ihr selbst sagen, sie erwartet dich draußen,« erklang es im herzlichsten Tone.
»Kleide dich schnell an, Caliban wird dir dabei behilflich sein, der taubstumme Diener, von dem dir meine Schwester schon erzählt haben wird.«
Gabriele ging, statt ihrer trat der Genannte in das Zimmer und machte seine Anwesenheit zunächst durch lautes Auftreten und anderes Geräusch bemerkbar.
Er führte seinen Namen mit Recht, ohne freilich kaum etwas davon zu wissen, sonst hätte er sich wohl für diesen Namen bedankt.
Caliban heißt in Shakespeares Schauspiel ›der Sturm‹ jener mißgestaltete Hexenbastard, und auch dieser Caliban hier war ein kleiner, verwachsener Mann, und das Abstoßendste an ihm war, daß er durch ein Unglück oder zur Strafe wegen eines Vergehens seine Nase eingebüßt hatte, statt deren hatte er im Gesicht nur zwei häßliche Löcher.
Der Detektiv aber fand an der Mißgestalt sofort noch etwas anderes heraus, was ihn jetzt am allermeisten interessierte. Offenbarer Haß war es, der aus den Augen funkelte, als sich der kleine Araber dem vermeintlichen Blinden näherte.
Im Moment hatte Nobody alles erkannt. Freilich konnte er sich irren, aber es war doch eine starke Vermutung. Er konnte sich diese gehässigen Augen sofort erklären.
Zunächst mußte er Gabriele im stillen um Verzeihung bitten, denn er war doch der festen Überzeugung gewesen, daß sie sich, um mit dem fremden Manne allein sein zu können, also auch zum Teil mit aus jungfräulicher Scham, erst schnell einen Diener zugelegt hatte, und hatte sie ein Geheimnis zu wahren, so war dem Blinden gegenüber ein Taubstummer ja die geeignetste Person — vorausgesetzt, daß dieser sogenannte Caliban wirklich taubstumm war.
Nun aber änderte Nobody sofort, als er den Mann sah, seine Ansicht. Nein, der war nicht zum ersten Male hier, der war hier zu Hause! Er war nur abwesend gewesen. Warum diese gehässigen Augen? Hätte diese Mißgestalt für gewöhnlich solch einen tückischen Blick gehabt, so konnte sich Nobody gar nicht vorstellen, daß ein Mädchen wie Gabriele solch einen Charakter, dessen häßliche Seele in den Augen lag, immer um sich dulden konnte. Nein, für gewöhnlich waren das ganz andere Augen — jetzt aber waren sie mit Haß und Eifersucht auf den Mann gerichtet, der zwischen ihn und seine Herrin treten wollte; er wußte wohl schon, daß sich die beiden liebten, daß nachher eine Trauung, wenn auch nur zum Schein, stattfinden sollte — und aus alledem mußte Nobody mit unbedingter Sicherheit schließen, daß Caliban schon länger hier und in alles eingeweiht war.
»Wer ist da?« rief Nobody, das Gesicht und jede Bewegung des sich ihm Nähernden aufs schärfste, wenn auch unauffällig, beobachtend.
Nein, nichts verriet, daß sich der Mann nur taub stelle, er war es wirklich, und der geborene Taube ist auch immer stumm, er hat das Sprechen nicht gelernt.
Caliban faßte Nobodys Hand, führte sie an seine Lippen und Stirn, auf diese Weise seine Ehrfurcht bezeugend, er der Diener, jener der Herr, aber Nobody sah dabei immer die Augen mit grimmigem Haß auf sich gerichtet.
Mit Hilfe des Arabers hatte der Blinde seine Beduinentoilette schnell beendet, und zehn Minuten später, nachdem ihn der angebliche Jussuf el Fanit als Wüstenräuber verlassen hatte, ruhte derselbe, nachdem er Lasso, Dolche, Pistolen und Stulphandschuhe abgelegt hatte, als Gabriele und als liebeglühende Braut an seiner Brust — und das noch in derselben Nacht, so gegen ein Uhr herum!
Sie herzten sich und küßten sich, wie es jedes andere Liebespaar tut. Es kann allerdings ein Unterschied dabei sein. Je mehr geistig entwickelt der Mensch ist, desto größer ist die Kraft seiner Liebe im Augenblicke der Leidenschaft — mit anderen Worten: desto stärker kann er lieben — und hiernach beurteilt, waren es zwei sehr intelligente Menschen, die sich jetzt herzten und küßten.
»Beim ersten Blick, da ich dich sah, liebte ich dich, denn ich bemitleidete den Blinden, und Mitleid ist Liebe.«
»Vom ersten Augenblick an, da ich deine Nähe fühlte, liebte ich dich; denn ich fühlte deine Nähe durch Sympathie, und Sympathie ist Liebe.«
Mitten im trauten Gespräch verdüsterte sich das schöne Antlitz der Braut plötzlich, es drückte ängstliche Sorge aus. Als Jussuf hatte Gabriele vergessen, dem Geliebten etwas mitzuteilen — etwas, wodurch das Glück des Ehelebens gestört werden konnte.
»Jussuf hat dir doch gesagt, daß ich manchmal tagelang abwesend sein und dich dann allein lassen muß?«
»Nein, davon sprach er nicht. Wozu das?«
Gabriele gab ihm eine kurze Schilderung ihres Anteils an dem abenteuerlichen Gewerbe ihres Bruders. Sie reiste von Zeit zu Zeit nach Kairo, auch bis nach Alexandrien, um dort als elegante Weltdame die abgehenden Karawanen wie überhaupt den ganzen englischen Salzhandel auszukundschaften.
»Auch habe ich hier die Korrespondenz zu besorgen.«
»Die Korrespondenz?« lächelte Nobody. »Kommt hierher auch die Post?«
»Allerdings. Die Taubenpost. Wir sind mit den großen Städten Aegyptens wie mit vielen Oasen durch Taubenpost verbunden. Ich werde es dir später zei... erklären. Nun aber sprich, Geliebter! Wie wird das werden, wenn ich dich manchmal allein lassen muß, wenn es dir auch nicht an aufmerksamer Bedienung fehlen wird? Ich bin durch Versprechen gebunden, diese meine Arbeit zu tun.«
»Dieses Versprechen mußt du halten. Ich werde mich zu beschäftigen wissen, und ich erachte die Ehe für die glücklichste, in welcher Trennungspausen vorkommen, welche mit Sehnsucht ausgefüllt werden. Jedes Wiedersehen erneuert die alte Liebe mit neuer Macht, besonders, weil man beim Alleinsein merkt, was man für immer verloren hätte, wäre es eine Trennung für immer.«
Nobody wußte stets das Richtige zu treffen. Hiermit war diese Sache erledigt, und es wäre merkwürdig gewesen, hätte Gabriele erst versichert, ihm während ihrer Reisen treu bleiben zu wollen.
Die Trauung fand statt, wobei Gabriele gleichzeitig drei Personen spielte: sich selbst als Braut, Vater Gabriel als Pastor und ihren Bruder als Zeugen. Wir wollen uns nicht mehr dabei aufhalten, wie sie die Komödie ausführte. Sie brachte es fertig. Sie sprach als Braut das Jawort, als Vater Gabriel die Formel und den Segen, und wenn es sein mußte, ließ sie auch einmal den Bruder sprechen.
Der einzige, welcher selbständig handelte, war Caliban als zweiter Zeuge dieses Ehebündnisses, aber nun erst recht als ein stummer. Nobody bekam nur einmal einen unverstellten Händedruck zu fühlen.
Auch Caliban spielte seine Rolle sehr gut. Aber wie er sich gebärdete, wenn er sich von seiner Herrin unbeobachtet glaubte! Nobody fand alle seine Vermutungen bestätigt, er fand noch mehr heraus.
Wie glühend die Augen der Mißgestalt aufflackern konnten, mit welch verzehrender Leidenschaft sie auf Gabriele hafteten, wenn diese ihm den Rücken wandte, und mit welch furchtbarem Hasse sie sich dann wieder offen dem vermeintlichen Blinden zukehrten, vor dem er sich nicht zu verstellen brauchte!
Was hier vorlag, war ja ganz klar. Caliban hing nicht nur mit treuer Hingebung an seiner Herrin, sondern er war einfach in sie verliebt, und zwar mit jener wilden Leidenschaft, welche gerade solchen schwächlichen, verkrüppelten Menschen oft innewohnt.
Allerdings konnte es sein, daß er sich dieser sinnlichen Liebe zu seiner Herrin bisher noch gar nicht bewußt geworden war, denn sonst hätte das Gabriele wohl einmal bemerkt, mochte er seine Leidenschaft auch noch so gut verbergen können. Ein Weib fühlt so etwas sofort heraus.
Die Bedeutung der Ehe aber mußte er kennen, er wußte, um was es sich hier handelte, Gabriele hatte ihn doch natürlich in alles vertrauensvoll eingeweiht, und nun mit einem Male erwachte alles mit wilder Leidenschaft, was bisher in ihm nur geschlummert hatte, der glimmende Funke loderte plötzlich zur verzehrenden Flamme empor, und mit furchtbarem Hasse der Eifersucht betrachtete er den Mann, der ihm den Gegenstand seiner stummen Liebe geraubt hatte.
Vor dem mußt du dich hüten, sagte sich Nobody, der bringt dir bei der ersten Gelegenheit Gift bei. —
Auch Nobody hatte kräftig sein Jawort gesprochen.
Diese Trauung ist ungültig, dachte er dabei.
Das heißt, so dachte er als Detektiv, nicht als junger Ehemann. Er war glücklich. Und was kann man vom Leben mehr verlangen?
Erinnerte er sich denn dabei gar nicht seiner Gefährten, die draußen in vollkommener Ungewißheit seines Schicksals auf ihn harrten?
Nein, das tat er nicht! Dieser Mann, welcher kalt die fernsten Möglichkeiten berechnete, verstand auch die Kunst, das Glück des Augenblicks zu genießen, ohne mit sorgenden Augen in die Zukunft zu sehen, und die Verbindung dieser beiden Gaben, wenn man sie benutzt, das ist die wahre Lebensweisheit!
Dann verabschiedeten sich Vater Gabriel und Jussuf schnell. Das wurde wieder ebenso geschickt gemacht. Gabriele war wieder eine ungespaltene Person. Caliban wurde entlassen, und die beiden Neuvermählten waren allein in ihrem Heim.
Dabei war es noch immer Nacht, und die junge Frau redete dem Gatten vor, es sei schon später Nachmittag!!
Wenn sich Nobody die Situation vergegenwärtigte, so hätte er am liebsten hellauf gelacht. O Weiberlist, o Weiberlist!!
Ihr Gutes und für den jungen Ehemann sehr Angenehmes hatte diese Weiberlist natürlich. Gabriele bereitete nun schnell ein Hochzeitsessen, wobei der ›Blinde‹ zusah, in der Küche wieder im Schaukelstuhle sitzend und seine Türkenpfeife rauchend. Viel Aufhebens wurde nicht gemacht. Des Hochzeitlers Versicherung, gar keinen Hunger zu haben, war aus doppeltem Grunde glaubwürdig, denn einmal war es doch noch gar nicht so lange her, daß er zu Abend gegessen hatte, obgleich er es nicht wissen sollte, aber sein Magen war doch ebensowenig blind wie seine Augen — und zweitens ist ein junger Mann nach der Trauung doch überhaupt nicht so sehr aufs Essen erpicht — und als die Morgensonne das östliche Firmament rötete, sollte es schon wieder Abend sein. Nobody war am Ziele seiner Wünsche, ein anderes Schlafzimmer als das seine eröffnete sich ihm als menschliches Paradies, und da Gabriele jetzt den aus der Balance gekommenen Kalender wieder korrigieren wollte, so wurde es eine gar lange Hochzeitsnacht — und doch immer noch zu kurz für den, der keine Uhr schlagen hört.
Am nächsten Morgen, der also regelrecht mit Sonnenaufgang begann, war es das erste, daß die junge Frau das Frühstück bereitete, und nun allerdings, nach diesem langen Fasten, mußte es sehr ausgiebig werden.
Daß der Herr Ehegatte wiederum in der Küche saß, braucht kaum erwähnt zu werden, dagegen möchte gesagt werden, daß ihm vor Hunger immer die Pfeife ausging.
»Wo ist Caliban?« fragte er, und zwar aus einem ganz egoistischen Grunde. »Könnte er dir nicht helfen?«
Es ging ihm also nicht schnell genug.
»Caliban hat bereits in dieser Nacht die Felsenwohnung wieder verlassen. Denn,« setzte die junge Frau mit verschämtem Lächeln hinzu, »jetzt habe ich ja meinen treuen Diener als Anstandsperson nicht mehr nötig.«
Nobody empfand es so überaus wohltuend, daß sie auch dem vermeintlichen Blinden gegenüber so oft errötete.
Jetzt aber beschäftigte ihn ein anderer Gedanke. Er sah vor sich die vor Liebe und Eifersucht glühenden Augen des Taubstummen.
»Er ist ein treuer Mensch, auf den du dich absolut verlassen kannst?«
Das beste Zeichen, wie sie an des Taubstummen Treue glaubte, war, daß sie auf diese Frage gar keine direkte Antwort gab, sondern gleich die Geschichte des Unglücklichen erzählte.
Caliban war das Opfer des unter den Beduinen wie unter allen Naturvölkern herrschenden Aberglaubens. Das heißt, unter den Kulturvölkern herrscht zwar auch genug Aberglaube, noch heute, aber er wird doch wenigstens bekämpft.
Eine Beduinenfrau genas eines Kindes, welches ohne Nase zur Welt kam. Bei den sonst so gefunden Wüstenbewohnern war das etwas Unerhörtes, da mußte Zauberei dahinterstecken, der Taubstumme stand schon immer in bösem Rufe — die Nase wurde ihm abgeschnitten, ohne daß dadurch das Kind eine andere Nase bekam.
Es ist eine barbarische Grausamkeit, aber wollen wir hochentwickelten Kulturmenschen in unserem eigenen Lande Umschau halten und uns an unserer eigenen Nase zupfen. Ein Beduine wiederum würde es abscheulich finden, daß man einen Menschen zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe verurteilen kann und dann, wenn sich nach einigen Jahren Sträflingsarbeit seine Unschuld herausstellt, den für immer ruinierten Mann seinem Schicksale überläßt.
»Mein Bruder fand den Unglücklichen in der Wüste, denn man hatte ihn dann auch noch dem Verschmachtungstode preisgegeben. Er nahm ihn zu sich, gab ihn mir in Pflege, und als er wiederhergestellt war, blieb er als mein Diener bei mir. Mein Bruder hatte ihn Caliban genannt, und es war sehr unrecht von mir, daß ich diesen Namen beibehielt. Nun ist es zur Gewohnheit geworden. Ich habe mein Unrecht auch wieder gutzumachen gesucht, habe ihn mit unsäglicher Mühe schreiben und lesen gelehrt. Ach, das war eine Arbeit, ehe ich dem Taubstummen das beibrachte! Er konnte ja nicht einmal eine Zeichensprache! Dem Beduinen ist ein Taubstummer etwas so Ungewöhnliches, daß niemand an so etwas gedacht hatte. Nun aber vergilt mir der Arme meine Mühen reichlich durch seine Liebe und Treue.«
Nobody sah ein, daß es keinen Zweck gehabt hätte, Gabriele vor dem Taubstummen zu warnen. Als Blinder hätte er seinen Verdacht auch gar nicht begründen können.
»Und wohin ist er denn jetzt?«
»Er bringt Brieftauben nach Medinet zurück und holt neue, welche dort zu Hause sind. Das ist seine Beschäftigung, und während meiner Abwesenheit muß er die Brieftauben füttern und pflegen.«
»Brieftauben? Ich habe mich gleich gewundert, als ich von dieser Postverbindung hörte. Alle Versuche, die Brieftaube in der Wüste zu benutzen, sind doch gescheitert, die Tiere erliegen regelmäßig dem heißen Wüstenwinde, es braucht gar kein Samum zu sein.«
»Ja, aber wir benutzen hier einheimische Wüstentauben, welche, wie sich der Beduine vor dem Samum an den Boden legt, unter dem heißen Winde hinwegstreichen. Eine andere Taubenart besitzt freilich diesen Instinkt nicht.«
»Also gebraucht ihr Atnas? Ich denke, die Atna ist ein Standvogel, der nie seine Oase verläßt?«
»Wir haben es gelernt, Selmas als Brieftauben abzurichten,« war die Antwort. —
Vielleicht führt eine schöne Leserin den Vornamen Selma, ohne zu wissen, daß dies ein arabisches Wort ist und daß es unter den Araberinnen und noch mehr unter den Beduinenfrauen der Wüste ebensoviele Selmas gibt, wie bei uns Emmas und Annas.
Wenn man zum ersten Male in ein Beduinenlager kommt, und man hört, wie so viele der nackten Kinder und der vermummten Weiber von den ritterlichen Herren der Wüste ›Selma!‹ gerufen werden — ›Selma hinne e Selma fi‹ — ›Selma hier und Selma dort‹ — das mutet einen zuerst ganz merkwürdig an. Nur, daß es der Araber auf der letzten Silbe betont, wie überhaupt alle auf a endigenden Worte bis zu drei Silben: Abdalláh und Mustaphá.
Ursprünglich aber ist ›Selma‹ eine Wüstentaube. Es gibt davon zwei Arten: eine größere, welche sich in den Oasen aufhält, schon mehr Haustaube, und eine kleinere, ein gelbes, zierliches Täubchen mit weißer Federkrone, das den Beduinenlagern folgt, ohne sich zähmen zu lassen — die das Schiff umschwärmende Möve — außerordentlich scheu und so schnell, daß der Raubvogel nur der im Sande versteckten Brut gefährlich werden kann. Das ist die eigentliche ›Selma‹, die Flugtaube, während die andere, die ›Atna‹ die Standtaube ist.
Auf Menschen angewandt ist Atna stets ein Schimpfwort, es bezeichnet eine dicke, schwerfällige, faule Person; Selma aber ist ein Lieblingsname des Arabers, den er häufig — und das ist wohl keine Beleidigung — auch schönen Tieren beilegt, besonders Windhunden und edlen Pferden. So sollte ja auch die ›Wüstenbraut‹ welche Jussuf el Fanit ritt, eine Tochter der ›Flugtaube‹ sein, also der Selma.
Einen wilden Falken kann man an den Finger gewöhnen, aber keine Möwe, so wenig wie eine Flugtaube der Wüste an Haus und Hof. Doch den Geschwistern war es durch Züchtungsversuche und besondere Behandlungsweise gelungen, die scheue Selma zu zähmen und als Brieftaube zu verwenden, und wie sie das fertig gebracht hatten, das bildete das Gesprächsthema der Neuvermählten während des Frühstücks — übrigens gar kein so unpassendes Gespräch für sie, das über Tauben.
»Komm, Geliebter, du sollst unsere Tauben sehen — — ich meine, ich will dich überall herumführen und dir alles erklären, ich darf jetzt keine Geheimnisse mehr vor dir haben.«
Hand in Hand gingen sie in den Hof hinaus. Gabriele schloß eine Tür auf. Sie traten ein in das Heiligtum, und es waren weniger Sehenswürdigkeiten, welche das Mädchen erklärte, als daß es dem nunmehrigen Gatten alle Geheimnisse der Wüstenräuber preisgab, wodurch ein mehr politisches Gespräch daraus wurde, soweit die ›Wüstenpolitik‹ in Betracht kam.
Diese in den Felsen gemeißelten Kammern enthielten den Proviant und die Ausrüstungsgegenstände der Räuber, in langen Jahren weniger aufgespeichert für die Zeit der Not, als vielmehr für jene Zukunft, da Jussuf el Fanit seine phantastischen Pläne, die Befreiung Aegyptens von der vermeintlichen Herrschaft Englands, verwirklichen wollte.
Die unteren Räume waren ausschließlich mit Proviant angefüllt, der sich jahrelang hält, meist den Karawanen abgenommen, welche den Tribut verweigert hatten, aber Gabriele sagte, es sei auch noch viel hinzugekauft worden.
Desgleichen enthielten diese unteren Räume auch große Quantitäten Heu und Hafer.
Eine Steintreppe führte in die erste Etage hinauf. Hier waren die nach und nach angesammelten Beduinenkleider untergebracht, ferner Waffen und Munition. In langer Reihe standen Gewehre aller Art aufgebaut, zum größten Teile Beute, aber auch Militärgewehre modernster Konstruktion, welche auf Bestellung geliefert worden waren.
»Wer bringt diese Sachen immer hierher?«
»Natürlich unsere Leute. Aber dabei ist ein Geheimnis. Die erbeuteten oder gekauften Vorräte werden immer auf einer bestimmten Stelle eines Felsenplateaus im Geiergebirge niedergelegt, stets bei Nacht, dann müssen sich die Beduinen entfernen, und kommen sie am anderen Morgen wieder hin, so ist alles von Geisterhänden fortgetragen worden. Ich sage von Geisterhänden, weil es nämlich oftmals so große Quantitäten sind, daß zahlreiche Menschenhände dazu gehörten, um sie unterzubringen. Das ganze Felsenplateau ist eine Art von Aufzug oder eine Versenkung, auf diese Weise wird alles in das Innere des Felsens geschafft und von meinem Bruder, von mir und Caliban nach und nach untergebracht.«
»So weiß kein anderer Beduine etwas von dieser Felsenwohnung?«
»Von der Felsenwohnung wohl, wenn auch schon hierüber die abenteuerlichsten Gerüchte zirkulieren. Die Hauptsache aber ist, daß niemand den Eingang kennt. Außerdem nun versteht mein Bruder sich mit einem geheimnisvollen Nimbus zu umgeben, das gehört nun einmal mit zu seinem abenteuerlichen Berufe, deshalb wird auch das Geheimnis des Fahrstuhls gewahrt, und wenn unsere Leute von solch einer Vorrichtung gar keine Ahnung haben, so sind sie doch eher geneigt, an meinem Bruder dienstbare Geisterhände zu glauben, als daß in diesem Felsen noch viele Menschen wohnen. Ich werde dich dann zu der Vorrichtung führen und sie dir erklären.«
Wie Gabriele noch so sprach, führte sie den Blinden an einer Tür vorüber, welche dadurch von den anderen Türen abstach, daß sie von Eisen und mit starken Riegeln und Schlössern versehen war.
Und Gabriele sagte nichts von dieser Tür! Der Blinde aber durfte nichts davon gemerkt haben! Etwas wie ein bitteres Weh beschlich den sonst so stählernen Mann, weil sie ihm trotz ihrer gegenteiligen Versicherung Geheimnisse vorenthielt, merkte er doch, wie sie ihn nicht nur nach der anderen Seite hinzog, damit er die eiserne Tür nicht zufällig fühle, sondern wie sie auch hastig sprach, als ob sie ihn dadurch schneller an der Gefahr vorbeibringen könne.
Nun stand aber auch der Entschluß bei ihm fest, so lange noch den Blinden zu spielen, bis er die ihm vorenthaltenen Geheimnisse durch eigene Kraft gelöst hatte — natürlich hinter dem Rücken der Geliebten.
Gleich darauf aber sollte Nobody etwas erleben, was ihm wieder das große Vertrauen bewies, das Gabriele ihm entgegenbrachte.
Im Hintergrunde des Ganges, in dem sie sich befanden, sah Nobody abermals eine eiserne Tür, das mußte sogar eine Panzertür sein, und auf diese führte ihn Gabriele direkt zu, forderte ihn auf, sie zu betasten.
»Weißt du, was das ist?«
»Das fühlt sich gerade an, wie eine... wie eine Geldschranktür.«
»Und du hast auch das Richtige getroffen. Nun, Geliebter, sollst du auch meinen, unseren Schatz sehen — fühlen.«
Es war kein Schlüssel nötig, an der Tür war das modernste Vexierschloß angebracht, eine Scheibe mit den verstellbaren Buchstaben des Alphabets. Ehe Gabriele daran drehte, brachte sie den Mund an Nobodys Ohr.
»Kein Geheimnis soll zwischen uns sein,« flüsterte sie, obgleich sie doch wußte, daß hier kein dritter in der Nähe war, der den Weg zur Schatzkammer hätte erlauschen können. »So vernimm denn das Wort, welches ich sonst keinem Menschen verraten würde: Garibaldi — der Name des Befreiers Italiens öffnet die Tür zu unserem Allerheiligsten — — und das ist leider wieder einmal das schnöde Geld.«
Nachdem sie die Buchstaben zu dem Namen des italienischen Revolutionärs, dem die beiden phantastischen Geschwister eine etwas gar zu große Verehrung zollen mochten, geordnet hatte, konnte sie die Tür öffnen.
In der kleinen Kammer befand sich nichts weiter als ein Panzerschrank. Gabriele öffnete ihn wiederum durch eine Vexiervorrichtung, Nobody bekam den aufgespeicherten Schatz der Wüstenräuber zu sehen, als Blinder zu fühlen und seine Geschichte zu hören.
Es war an diesem Schatze der Wüstenräuber nichts besonders Märchenhaftes, auch konnte er nicht durch seine Größe imponieren.
Das einzige, was an Ali Babas Höhle erinnerte, war eine kleine Schatulle mit altertümlichem Schmuck, besonders mit solchen Ringen, wie Gabriele einige an ihren Fingern trug. Jussuf hatte diese Schatulle, selbst ein Kunstwerk alter Schmiedearbeit, in der Nähe von Medinet an einer ehemaligen Begräbnisstätte gefunden. Es mußten der Arbeit nach die Ringe und Kleinodien von alten Kreuzrittern sein, wozu noch der Schmuck von Orientalen und Orientalinnen kam, das Ganze war jedenfalls die Beute eines Leichenschänders, der gefallene Kreuzritter geplündert hatte, diesen den eigenen und den fremden Schmuck abnehmend.
Die Kleinodien repräsentierten allerdings einen ansehnlichen Wert, Nobody taxierte, daß selbst ein Jude eine halbe Million Mark dafür geboten hätte, und für einen Altertumsfreund oder sonstigen Liebhaber waren sie einfach unschätzbar. Aber mit so etwas darf man nicht rechnen, man kann nur nach dem Pfandwerte taxieren. Und um nun einen Krieg mit England zu führen, dazu reichte der Inhalt dieser Schatulle noch nicht aus, noch weniger das Häufchen englische Goldstücke, in welchem die Hand des Blinden wühlen mußte, genau tausend Stück, 20 000 Mark, das sollte der reelle Kriegsfond sein, und obgleich der Wert des vorhandenen Papiergeldes ein zehnfach größerer war, so nahmen sich die schmutzigen Banknoten aller Länder, wenn man an einen Krieg mit England dachte, in dem großen, stählernen Schubfache wahrhaft kläglich aus.
Das größte Wertstück des Schrankes bildeten offenbar die Kontrakte, durch welche sich englische Salzhändler dem Wüstenräuber zu einem regelmäßigen Tribute verpflichtet hatten, das war wirklich eine Goldquelle, man mußte nur warten. Gerade aber als Gabriele hiervon sprach, drückte ihr Gesicht Sorge aus, der sie auch durch Worte Ausdruck verlieh.
»Die Beduinen können meinen Bruder nie verstehen,« sagte sie niedergeschlagen, »es ist ihnen unbegreiflich, daß sie sich nur mit einem Tribute, mit dem zehnten Teile der Ware begnügen sollen, wenn ihnen niemand wehren kann, sich der ganzen Karawane zu bemächtigen. Freilich mußt Du bedenken, daß mein Bruder nicht einen ganzen Stamm von Beduinen als Scheikh befehligt — solche wahren Beduinen respektieren wohl den Schutzbrief und begnügen sich mit einem Tribut — sondern es sind ja fast nur wegen irgendeines Vergehens Ausgestoßene, es sind eben Räuber, die mein Bruder um sich versammelt hat, und er muß manchmal seinen ganzen Einfluß aufbieten, muß seinen geheimnisvollen Nimbus zu wahren wissen, um die Gelüste dieser Räuberbande in Schach zu halten.«
In diesem Augenblicke, während sie so sprach, und während Nobody den Schmuck der Schatulle zwischen seinen Finger hindurchgleiten ließ, sah er in einiger Entfernung Calibans häßliches Gesicht.
Die Tür der Schatzkammer war offen geblieben, draußen standen große Säcke, hinter einem solchen sah Nobody das Gesicht der Mißgestalt. Es war möglich, daß Caliban schon längere Zeit dort versteckt stand, Nobody hatte nur zufällig hingeblickt.
Es war eine erschreckende Teufelsfratze, Haß, Neid, Gier, Bosheit — alle Leidenschaften spiegelten sich in den tückisch blitzenden Augen wider, wie er die beiden vor dem offenen Geldschränke beobachtete.
Nobody blickte nicht mehr hin. Kaltblütig überlegte er. Sollte er jetzt plötzlich sehend werden? Oder wie konnte er sonst Gabriele auf seine Entdeckung aufmerksam machen, ohne sich als Sehender zu verraten?
Nein, er beschloß, gar nichts von dem heimlichen Beobachter zu wissen, er wollte sich in nichts mengen, wollte abwarten, was Caliban jetzt und später noch tun würde. Dann konnte er ja immer noch handelnd eingreifen, wenn auch im letzten Augenblicke. Das war es ja eben, was Nobody so liebte.
Aber Fragen stellen durfte er, zumal da der Taubstumme ja nichts hörte.
»Weiß Caliban von diesem Schatze?«
»Gewiß. Alle unsere Beduinen wissen darum. Das heißt, sie wissen, daß mein Bruder die Schatulle mit dem Geschmeide gefunden hat und hier aufhebt, ebenso auch, wie hoch sich unser barer Kassenbestand beläuft.«
»Ich meine, ob Caliban hier diesen Ort kennt, wo das Geld und die Kostbarkeiten aufbewahrt werden.«
»Ja, Caliban ist in alles eingeweiht.«
»Er kennt auch das Vexierwort?«
»Alles, alles.«
»Er könnte also auch die Kammer und den Geldschrank öffnen?«
Gabriele blickte den Sprecher mit großen Augen an.
»Ich glaube, Geliebter, du hegst Mißtrauen gegen meinen Diener. O, das darfst du nicht. Caliban ist treu wie Gold, nein, treu wie... wie... wie ein Hund. Man soll den Menschen nicht mit einem Hunde vergleichen, aber in diesem Falle trifft es doch zu. Ehe ich an Calibans Treue zweifelte, würde ich lieber mir selbst nicht trauen.«
Konnte der Taubstumme der Herrin auch auf solch eine Entfernung die Worte vom Munde lesen? Denn plötzlich verwandelte sich sein häßliches Gesicht, nur der Haß blieb, die Bosheit verschwand daraus, und solch ein Gesicht, in dem sich so deutlich Haß mit Liebe paarte, hatte der heimlich beobachtende Nobody noch nie gesehen.
Gabriele drehte sich langsam um, und Caliban tauchte hinter seinem Ballen unter.
»Nun will ich dir noch die Tauben zeigen.«
Der Geldschrank wurde verschlossen, sie verließen die Kammer, es ging wieder eine in den Felsen gehauene Treppe hinauf, welche vom Hofe aus immer noch durch Fenster erleuchtet wurde.
Hier oben aber änderte sich das Bild. Hier waren keine Kammern mehr, sondern es war ein einziger Saal, die Decke von stehengelassenen Säulen gestützt, der rings um den Hof herumlief, aber nicht mehr von diesem sein Licht empfangend, sondern von außen, und zwar durch unregelmäßig angebrachte, schießschartenähnliche Oeffnungen, und die meisten dienten als Taubenschläge.
Zunächst konstatierte Nobody, ohne sein Sehen im geringsten zu verraten, daß ihnen Caliban nachschlich. Lautlos huschte er von Säule zu Säule, und dann standen auch genug Säcke und Kisten mit Taubenfutter herum, hinter denen er sich verbergen konnte.
Dann wandte Nobody seine Aufmerksamkeit den Tauben zu, wenn er anscheinend auch nur den Erklärungen des Mädchens lauschen durfte.
Hinter jeder Oeffnung, die als Flugloch diente, war ein großer Drahtkäfig angebracht, mit einer Vorrichtung, welche der ankommenden Taube wohl das Einschlüpfen gestattete, sie aber nicht wieder herausließ.
Jede Taube hatte eine Nummer, allerdings nicht kenntlich gezeichnet. Man hatte die Nummer im Kopf, und dadurch, daß die einzelnen Käfige nur gewisse Nummern enthielten, wurde die Sache ja auch sehr erleichtert.
Die zur Botschaft bestimmte Taube bekam um den Hals einen Federkiel gebunden, welcher den kleinen Brief in Geheimschrift enthielt. Die Flugtaube ist so scheu und fliegt so schnell, daß in den drei Jahren noch keine einzige einem menschlichen, vierbeinigen oder geflügelten Jäger zum Opfer gefallen war. Vermehren sich diese Vögel trotzdem nicht so ungeheuer, so kommt das nur daher, weil von Raubtieren desto mehr Brut vernichtet wird.
Nobody sah auch ein Pult, auf welchem ein großes Buch lag. In diesem wurden die abgehenden und ankommenden Briefe gewissenhaft registriert.
Gabriele erklärte soeben an einem Käfig die Vorrichtung, welche das Flugloch abschloß, als sie plötzlich stockte. Nicht dieser, sondern der nächste Käfig war es, der ihre Aufmerksamkeit erregte.
»Das sind die aus der Hyänenschlucht,« murmelte sie, »die Zahl stimmt, es sind zehn, und die eine trägt einen Brief um den Hals? Da muß aber doch eine davongeflogen sein!«
Schnell war sie hingegangen, und ehe sie der Taube den Federkiel abnahm, untersuchte sie die Klappe am Flugloch.
»Ja, die Falle funktioniert nicht richtig, sie gibt nach, eine Taube ist ohne Botschaft nach der Hyänenschlucht davongeflogen, und das ist Calibans Schuld!« rief sie erzürnt.
Da sah Nobody wieder des mißgestalteten Zwerges häßliches Gesicht hinter einer Säule auftauchen, verzerrt von Haß und Hohn, und da wurde in Nobodys Kopfe eine Ahnung zur Gewißheit!
»Dann solltest du ihm doch nicht so viel Vertrauen schenken.«
»Nein, nein,« sagte aber Gabriele, sofort wieder besänftigt, »das kann schon einmal vorkommen, mir selbst ist es schon passiert, daß ich die Falle nicht gleich wieder in Ordnung gebracht habe, wenn eine Taube hereingekommen ist. Das ist nämlich nötig. Die Vorrichtung ist eben noch nicht so, wie sie sein sollte, wir müssen noch eine bessere Falle ersinnen.«
Wenn dieser Caliban nur keine Falle für dich ersonnen hat, dachte Nobody, und laut fragte er:
»Und was enthält nun die Botschaft?«
»Ich sehe schon nach, wenn sie mich nur nicht etwa...,« murmelte Gabriele, ohne den Satz zu vollenden.
Sie hatte die betreffende Taube gefangen, ihr die Federspule abgenommen, zog aus dieser ein dünnes, zusammengerolltes Papierchen hervor, öffnete es und betrachtete es mit einer am Halse hängenden Lupe.
Nobody stand neben ihr, es konnte ja ein Zufall sein, daß er seine Augen gerade auf das Papier in ihrer Hand gerichtet hatte, und so glanzlos seine Augen auch waren, der Detektiv brauchte keine Lupe, um die Pünktchen und Strichelchen deutlich zu erkennen. Enträtseln konnte er die Geheimschrift freilich nicht so ohne weiteres.
Dagegen bemerkte er, wie das leichtgebräunte Gesicht des Mädchens, welches er sein Weib nennen durfte, plötzlich aschfahl wurde, das Papier zitterte in ihrer Hand.
»O weh, Geliebter, kaum habe ich dich gefunden, so muß ich dich schon wieder...«
Mit einer energischen Bewegung raffte sie sich empor.
»Um Gottes willen, was ist, Gabriele?!« rief Nobody.
»Nichts, was ich dir nicht schon gesagt hätte,« suchte sie sich unbefangen zu stellen. »Freilich ist es sehr schmerzlich für uns, übermorgen muß ich dich auf zwei bis drei Tage verlassen — ein Befehl meines Bruders ruft mich nach Alexandrien.«
Sie sprach die Unwahrheit! Nobody hatte ja gar keine Ursache gehabt, an ihren Worten zu zweifeln, war diese Botschaft doch für die Neuvermählten schon schlimm genug, aber... er fühlte es förmlich mit dem ihm eigenen Instinkt, daß die Brieftaubenpost noch etwas ganz anderes enthalten mußte... und da sah er wieder Calibans grinsendes Gesicht, und dieses erzählte ihm erst recht eine Geschichte des Verrats.
»Gabriele, das wirst du nicht tun!«
»Ich muß, ich muß, die Pflicht ruft, und bedenke, ich habe es dir vorher gesagt, und was du mir versprochen hast!«
»Du hast recht,« murmelte er gedrückt, aber sein Entschluß stand bereits fest, daß er sie nicht ziehen lassen würde. In ihr Verderben, und wenn es auch nur ein eingebildetes war, ließ er sie nicht ziehen, dazu war ihm das eben erst gewonnene Mädchen zu teuer.
»Wann wirst du gehen?«
»Übermorgen. Doch frage nicht genauer, Geliebter. Ich werde mich unbemerkt entfernen; wenn du aufwachst und findest das Lager neben dir leer, so weißt du, daß ich gegangen bin. Doch warum denn so traurig! Ich reise ja nur nach Alexandrien, bequem wie eine Dame; mir droht absolut keine Gefahr, in drei Tagen bin ich bestimmt und wohlerhalten zurück, und unterdessen lasse ich dich unter dem Schutze des treuen Caliban.«
Nobody bedauerte, daß sich Gabriele herumgedreht hatte, so daß der nachschleichende Caliban wieder verschwunden war.
»Ich will die Botschaft erst eintragen und gleich die Bestätigung abschicken, dann können wir weiter drüber sprechen,« sagte Gabriele, und jetzt nahm sie ihn, um ihn mit sich nach dem Stehpult zu führen, nicht nur bei der Hand, sondern sie umschlang ihn mit dem ganzen Arm, so geleitete sie ihn hin, und Nobody fühlte an dem Zittern ihres Körpers, was in ihr vorging.
Feder und Tinte waren vorhanden, der Blinde hatte die Augen auf das Buch gerichtet, er sah, wie sie die Botschaft unter Datum und Nummer eintrug, und zwar in arabischer Übersetzung, die er lesen konnte. Sie lautete:
»Komme sofort nach Hyänenschlucht. Wir sind von Arnauten umzingelt. Höchste Gefahr. Said ben Kofir.«
Und ohne Zögern schrieb sie daneben auf die andere Seite die Antwort, welche sie dann abschicken wollte:
»Ich komme sofort!«
Auf die Angabe eines Namens wartete Nobody vergebens, sie war von hier abfliegenden Brieftauben nicht nötig.
Gabriele wandte sich einem Schrank zu, welcher Federspulen und das andere Material enthielt, um die Taube mit der Botschaft abzuschicken, schrieb das Zettelchen mit Geheimschrift, ließ die Taube abfliegen.
Dies tat sie einige Schritte von Nobody entfernt, den sie unterdessen an dem Pulte hatte stehen lassen.
So hätte er einstweilen die auf der aufgeschlagenen Seite eingetragenen Berichte, Fragen und Antworten lesen können, und wohl las er da auch, wie aus Kairo schon gestern gemeldet worden war, daß auf der ottomanischen Bank noch kein auf den Namen Nobody ausgestellter Scheck eingelöst worden sei; aber wie Gabriele in ihrer glücklichen Liebe ihm hiervon noch gar nichts mitgeteilt hatte, ihre Rache ganz vergessen zu haben schien, so dachte auch Nobody jetzt an anderes als daran, die Gelegenheit weiter zu benutzen, um in dem Registerbuche zu studieren.
Es war ihm ganz klar: nicht übermorgen, auch nicht erst diese Nacht wollte sie ihn verlassen, sondern jetzt sofort! Sie wagte es ihm nur nicht direkt zu sagen, sie gab vor, noch zwei Tage bei ihm bleiben zu können, und dabei suchte sie jetzt schon nach einem Grund, um sich sofort von ihm zu verabschieden. Was sollte Nobody tun? Er sah schon die Falle, in welche die Geliebte gelockt werden sollte, der eifersüchtige Caliban hatte sie gebaut, und wenn Nobody auch noch nicht im geringsten wußte, was das für eine Falle war, so ahnte er doch die ihr drohende Gefahr. Mit der Unzufriedenheit der Räuber, welche lieber jede Karawane plündern wollten, anstatt sich nur mit einem Tribut zu begnügen, hing es offenbar zusammen.
Da stand bei ihm fest, daß er die Geliebte nicht in diese Gefahr ziehen ließ. Aber wie ihr alles offenbaren? Dazu mußte er die Maske des Blinden fallen lassen. Doch wenn er dies nun auf einmal getan, was hätte Gabriele dann gesagt, daß sie ihm so unendlich viel falsche Tatsachen vorgespiegelt hatte? Ihre Verlegenheit, ihre Scham mußte ja grenzenlos sein!
Nein, er durfte nur nach und nach wieder sehend werden, und so lange wenigstens mußte er sie hier festhalten.
Das war Nobodys Plan, ganz gut erdacht; aber der Mensch denkt, ein anderer lenkt.
Die Brieftaube war entlassen worden. Gabriele schlang wieder den Arm um den Geliebten und führte ihn davon.
»Also noch zwei Tage können wir zusammen sein,« sagte sie mit zitternder Stimme, sich im Gehen an ihn schmiegend. »Und dann soll es ein um so fröhlicheres Wiedersehen werden. Ich brauche keine Vorbereitungen für meine Abwesenheit zu treffen, Caliban ist immer bei dir, und du kannst dich auf ihn verlassen wie auf mich selbst. Nur in einem will ich dich noch für alle Fälle unterrichten, falls du doch einmal auf dich selbst angewiesen sein solltest und diese versteckte Felsenwohnung ohne fremde Hilfe verlassen müßtest. Sie hat nämlich noch einen bequemeren Ein- und Ausgang als den, den wir zuerst benutzten, und den will ich dir zeigen, du kannst ihn auch ohne leitende Hand finden.«
Sie führte ihn denselben Weg wieder hinab, bis an die Tür des Bambuszimmers, erklärte ihm, wo er sich jetzt befände, hieß ihn, die Schritte zu zählen und an der Wand entlangzutasten. Auf diese Weise gelangten sie an ein größeres Tor, Gabriele stieß es auf, eine lange Passage, welche durch den massiven Felsen gemeißelt war, und Nobody sah vor sich einen weiten Talkessel, aber wiederum von hohen Felswänden eingeschlossen, und richtig im Freien konnte er sich auch noch nicht befinden, sonst wäre das hier ja ein ganz offener Zugang zu dem Versteck gewesen, den durch Zufall jeder hätte finden können.
Aber hier sah es doch ganz anders aus als drinnen in dem kleinen Hofe, hier herrschte schon die freie Natur.
»Jetzt lege die linke Hand an die Felswand und zähle wieder die Schritte, und wenn du...«
Gabriele brach mit einem leisen Schrei ab und setzte wie zum Sprunge an, um zu entfliehen, floh aber nicht, denn sie hätte der furchtbaren Gefahr, die sie gewahrt, nur den Geliebten allein ausgesetzt, sie umschlang ihn vielmehr noch fester und stierte mit entsetzten Augen auf die große, gelbe Schlange, die nur einen Schritt von den beiden sich mit geblähtem Halse am Boden aufgerichtet hatte, um sich im nächsten Augenblick auf einen von ihnen zu stürzen und ihm den tödlichen Biß beizubringen.
Es war ein Moment der furchtbarsten Gefahr, das Mädchen hatte sich unter dem stechenden Blick des Reptils zur Statue verwandelt, nur den Geliebten preßte es an sich.
Da plötzlich riß sich dieser von ihr los, ein Sprung, ein Griff, er hatte die Schlange am Schwanze gepackt, sie wirbelte durch die Luft und lag mit zerschmettertem Kopfe am Boden.
Es war eben alles nur ein einziger Augenblick gewesen, im nächsten schon wandte sich der ›Blinde‹ mit lächelndem Gesicht an die noch immer wie erstarrt Dastehende.
»Mein alter, guter Vater Gabriel — mein lieber Schwager — meine allerliebste Gabriele und mein Weib...«
Mit diesen Worten hatte er den Arm erhoben, um nun seinerseits die Geliebte zu umschlingen und an sich zu ziehen. Er sollte nicht dazu kommen.
Der Blick, den Gabriele vorhin auf die drohende Schlange geheftet hatte, war nicht entsetzter gewesen als der, den sie jetzt auf den Mann richtete, dessen sonst so ausdruckslose, erloschene Augen ihr plötzlich so lachend entgegenleuchteten.
Da kam wieder Leben in sie, mit abwehrend ausgestreckter Hand taumelte sie einen Schritt zurück.
»Du bist nicht mehr blind!« schrie sie.
»Nein, und ich bin nie blind gewesen.«
»Du — bist — nie — blind — gewesen?« kam es ächzend über ihre Lippen.
»Nein, und jetzt hat die Komödie ein Ende, jetzt...«
Ein unartikulierter Schrei! Gabriele hatte sich blitzschnell umgewandt und war geflohen, wieder in das offene Tor zurück.
Nobody eilte hinter ihr her. Er wußte, was jetzt auf dem Spiele stand. Aber sie war schnell wie der Wind. Als er den Hof erreicht hatte, sah er sie schon in dem Bambuszimmer verschwinden.
»Gabriele, meine Gabriele, erhöre mich doch!!«
Da stieß er mit dem Taubstummen zusammen, der den vermeintlichen Blinden wie ein Gespenst entsetzt anblickte.
Den mußt du vor allen Dingen festnehmen! raunte ihm eine innere Stimme zu, oder es war seine kühle Berechnung, und er hatte sich auf Caliban gestürzt, ihn zu Boden geworfen, von einer Portiere die lange Schnur gerissen und ihn an Händen und Füßen gebunden.
»Hilfe, Hilfe!!« zeterte der Krüppel.
Nobody hatte jetzt keine Zeit, sich darüber zu wundern, wie der Stumme plötzlich so schön sprechen konnte, er hörte draußen auf dem Hofe flüchtige Hufschläge, er sprang hinaus.
Da jagte in weiten Sätzen ein prächtiges, gelbes Roß mit schwarzen Vorderfüßen davon, und auf dem Rücken des Wüstenrenners saß ein Beduine, die Lanze in der Hand.
»Gabriele, Gabriele!!!« schrie der Mann, welcher in rasender Eile dem Tore zujagte, nach welchem auch der Reiter seinen Weg nahm.
Sie hatte den Ruf gehört, sie wandte sich im Sattel und senkte grüßend die Lanze.
»Lebewohl, Geliebter, auf Nimmerwiedersehen!« erklang es noch einmal in schmerzlichem Tone zurück, und dann war sie verschwunden.
Als Nobody das andere Ende des Felsentores erreicht hatte, sah er in dem Tale weder Roß noch Reiter.
In einem hochgelegenen Felsenkessel lagerten noch immer Nobodys Gefährten, sowie deren Gefangene, von denen sie den durch das Bein geschossenen Hammed als Verwundeten pflegen mußten; aber sie sämtlich würden selber bald der Pflege bedürfen. Vor drei Tagen hatte Nobody angefangen, den Blinden zu spielen. Am anderen Tage, also vorgestern, waren sie Zeugen der Szene geworden, wie der Blinde von der eleganten Modedame getränkt worden, wie Marguérite dazwischengekommen war, die heimlichen Beobachter konnten auch davon erzählen, wie die Modedame, nachdem sie den Blinden fortgeführt hatte, wieder zurückgekommen war und mit einer Kraft, die man der schlanken Gestalt nimmermehr zugetraut, die gefesselte Marguérite davongetragen hatte.
Von da an wurde keine dieser drei Personen mehr gesehen, alle waren wie vom Erdboden verschwunden.
Und seit dieser Zeit also lag Flederwisch mit seinen Leuten und den Gefangenen, die seiner Obhut anvertraut waren, in dem ausgemachten Versteck, auf die Rückkehr des ›Masters‹ wartend.
Der Proviant und das mitgenommene Wasser, das sie doch auch mit den Gefangenen zu teilen hatten, war fast erschöpft, nun noch dazu diesem glühenden Sonnenbrände ausgesetzt, Nobody kam nicht zurück, und sie wußten nicht, was sie jetzt anfangen sollten.
Die Dazwischenkunft der fremden Dame mußte Nobodys ganzen Plan geändert haben, wofür die Wartenden nun unschuldig zu leiden hatten.
Soeben war ein Kriegsrat abgehalten worden.
»Ist er morgen früh noch nicht hier,« erklärte Flederwisch, »so müssen wir ihn suchen.«
»Ist nicht mehr nötig,« sagte eine Stimme, welche keinem der an der Beratung Beteiligten angehörte, und in ihrer Mitte stand der Erwartete.
»Teufel, Nobody, Sie haben aber unsere Geduld auf eine harte Probe gestellt!« rief Flederwisch, aber es klang eher jubelnd denn ärgerlich. »Wo haben Sie so lange gesteckt? Was haben Sie unterdessen getan?«
»Verliebt, verlobt, verheiratet und verloren,« war Nobodys lakonische Antwort.
»Was?!«
»Ich habe mich unterdessen verheiratet.«
»Machen Sie keinen Unsinn!«
»Hoho! Werden Sie nicht beleidigend! Sie haben einen regelrechten Eheknüppel vor sich!«
»Sie haben — unterdessen — geheiratet?« staunte Kapitän Flederwisch mit ungläubigem Gesicht, und die anderen spitzten nicht schlecht die Ohren. »Wen denn?«
»Eine Dame.«
»Das kann ich mir lebhaft denken, wenn Sie nun einmal geheiratet haben!« lachte der junge Kapitän, dessen ganze Verstimmung plötzlich wie weggeblasen war. »Doch nicht etwa die Pariser Puppe in dem Spitzenkleid?«
»Haben Sie die gesehen?«
»Ja, wie Sie von ihr getränkt wurden, wie sie die Felsen hinaufsprang, wie Madame Lenois dazwischenkam, die von jener dann wie ein Mehlsack über die Schulter geworfen und davongetragen wurde.«
»Hat sie?«
»Wer zum Teufel ist es eigentlich?«
»Die eben ist meine Frau geworden. Aber...« Nobody nahm dem Nasenkönig die brennende Pfeife aus den Zähnen, steckte sie in den eigenen Mund und paffte ohne Umstände weiter, »aber... Herrgott, ist das ein stinkiges Kraut! — aber sie ist mir schon wieder durchgebrannt.«
Auf dem vertieften Felsplateau erscholl aus rauhen Kehlen ein herzliches Gelächter. In solch trockener Weise konnte eben nur ihr ›Master‹ sprechen, und gerade dann bevorzugte er diesen Ton, wenn es sich um das Wichtigste handelte, wenn ein anderer Mensch, der gar nicht nervös zu sein brauchte, vor Aufregung aus der Haut gefahren wäre.
»Und wissen Sie, wer meine durchgebrannte Frau ist? Das ist eben der Wüstenräuber Jussuf el Fanit. Jetzt habe ich's ganz bestimmt heraus.« —
Er erzählte. Was wir schon wissen, braucht nicht wiederholt zu werden. Er hatte den Taubstummen, welcher plötzlich nicht nur sprechen, sondern auch vortrefflich hören konnte, hypnotisiert, um noch alles zu erfahren, was er wissen mußte.
Daß Gabriele und Jussuf el Fanit ein und dieselben Personen seien, daß der Wüstenräuber also von dem Mädchen gespielt wurde, war ja von vornherein Nobodys starke Vermutung gewesen; aber doch immerhin nur eine Vermutung, und das blieb sie, auch als sich z. B. Gabriele dem Blinden gegenüber direkt für den Wüstenräuber ausgab, als sie in dem Taubenstall durch die Botschaft zur Hilfe gerufen wurde und die zusagende Antwort gab — ja sogar, als sie dann als bewaffneter Beduine entfloh.
Nobody ließ sich niemals beirren, daß es dennoch einen echten Jussuf el Fanit geben konnte, und daß er nur dessen Schwester vor sich hatte. Erst als ihm der hypnotisierte Caliban, der in alles eingeweiht war, diese Vermutung bestätigte — da erst ließ Nobody die Ansicht, daß es doch nur die Schwester des Wüstenräubers sein könne, fallen. Nun natürlich war er auch nicht im mindesten verwundert. Es ist dies ja auch nicht etwa das starrköpfige Festhalten einer Ansicht, sondern es ist vielmehr ein bewundernswerter Gedankengang der Logik, welcher den Philosophen wie den Untersuchungsrichter zum genialen Künstler stempelt.
Allerdings hatte sie einmal einen Bruder Jussuf oder Johannes gehabt. Aber der mußte schon längst gestorben sein, so gut wie der Vater Gabriel. So viel nur stand fest, daß seit den drei Jahren, in welchen sich der Wüstenräuber Jussuf el Fanit den Karawanen furchtbar machte, dieser immer von Gabriele in männlicher Verkleidung gespielt worden war, und dem auf einem amerikanischen Rancho aufgewachsenen Mädchen war das auch recht gut zuzutrauen.
Das Folgende hatte Nobody nicht von Caliban erfahren, sondern war durch eigenen Schluß darauf gekommen, es liegt überhaupt klar auf der Hand: der weibliche Wüstenräuber blieb auch in männlicher Verkleidung immer noch ein Weib, das zu Zeiten auch etwas sentimental sein konnte, außerdem war es phantastisch veranlagt — und wenn Gabriele einmal des Wüstenlebens überdrüssig wurde, und wenn es ihr Geschäft, das heißt, ihr Räuberleben erlaubte, so zog sie sich als gebildete Dame in die Felsenwohnung des Geiergebirges zurück, kleidete sich nach der neuesten Pariser Mode, brannte sich die Locken, trieb klassische Musik — bis sie dann wieder als Jussuf el Fanit Salzkarawanen überfiel. Auch während dieser Erholungspause widmete sie sich übrigens ihrem Geschäft, ihrem idealen Ziele, denn sie hatte ja zugleich hier ihre Brieftaubenstation.
O ja, solch ein Leben war — wie man zu sagen pflegt — gar nicht so ohne. Das stimmte besonders mit der Geschmacksrichtung unseres Nobody überein. —
Jetzt mußte er sich erst mit dem Objekt beschäftigen, welches er gerade vorhatte — mit dem Hypnotisierten.
Wie die Erzählung des ›Vater Gabriel‹ über Heinrich Volkers Schicksale im Grunde genommen auf buchstäblicher Wahrheit beruht hatte, so auch die über den Taubstummen.
Caliban war als Kind wirklich taub gewesen, und da er nichts hörte, lernte er nicht sprechen, und dem Taubstummen war aus besagtem Grunde wirklich die Nase abgeschnitten worden. Der weibliche Jussuf el Fanit hatte sich des Unglücklichen erbarmt. Da aber war Caliban schon nicht mehr taub gewesen, das Gehör hatte sich nachträglich eingestellt, es hatte sich nur noch niemand damit beschäftigt, dem überhaupt zurückgebliebenen Krüppel auch das Sprechen beizubringen. Gabriele aber hatte sich dieser mühsamen Arbeit mit Erfolg unterzogen.
Als Gabriele nun den Blinden in ihre Felsenwohnung aufnahm, befahl sie dem ihr bedingungslos gehorchenden Diener, sich wieder taubstumm zu stellen — aus welchem Grunde, das bedarf wohl gar keiner Erläuterung — und eben, weil Caliban selbst viele Jahre lang wirklich taubstumm gewesen war, brachte er es fertig, daß, obgleich es zehnmal leichter ist, die Rolle eines Blinden zu spielen als die eines Tauben, selbst der scharf- und feinsinnige Detektiv getäuscht wurde.
Hiermit ist ein Widerspruch gelöst, den ein kritischer Leser gefunden haben könnte.
Sonst hatte Nobody seine Diagnose über den Krüppel ganz richtig gestellt, von dem Hypnotisierten erfuhr er es.
Caliban war seiner Herrin mit der Treue eines unbestechlichen Hundes ergeben, aber er war doch ein Mensch. Als er sah, wie seine Herrin von dem fremden Manne geküßt und geliebkost wurde, da erwachte etwas in dem Herzen des armen Krüppels, was er bisher noch gar nicht gekannt hatte. Zum ersten Male wurde er sich bewußt, daß er seine Herrin anders liebe, als wie ein Hund seinen Herrn liebt — ihm gehörten diese Liebkosungen, ihm gehörten diese Küsse — und da mußte er natürlich auf den fremden Mann einen furchtbaren Haß werfen.
Nun muß man bedenken, daß Caliban ein zurückgebliebener Mensch war, mit der Schlauheit und der Leidenschaft eines Affen — kurz und gut, sein Plan war schon fertig, der alles vernichten mußte, um alles besitzen zu können.
Die furchtbarste Leidenschaft war aber mit einem Male bei ihm hervorgebrochen; den fremden Mann zu töten, das genügte ihm nicht mehr. Jetzt wollte er auch das besitzen, was vermeintlich ihm allein gehörte.
Die aus 46 Mann bestehende Räuberbande lagerte gegenwärtig in der sogenannten Hyänenschlucht, nur wenige Reitstunden von dem Geiergebirge entfernt. Gabriele hatte damals eine falsche Angabe gemacht, um das lange Ausbleiben des ›Vater Gabriel‹ zu begründen.
Caliban war in alles und jedes eingeweiht, also auch in die Stimmung der Räuber, er kannte diese sogar noch viel, viel genauer als Gabriele oder als Jussuf el Fanit, denn der weibliche Räuber glaubte nur an ein Mißvergnügen seiner Leute, weil er ein Plündern der Karawanen nicht duldete, während unter ihnen schon längst der Geist der Rebellion gärte. Nur dadurch, daß Jussuf el Fanit bisher seinen Nimbus zu wahren gewußt hatte, wozu selbst das viel mit beitrug, daß er auch diesen feinen Leuten, die ihren Scheikh für einen Mann hielten, noch nie sein Gesicht gezeigt, hatte er den offenen Ausbruch der Meuterei noch verhindert. Nur die Furcht vor des Anführers unheimlicher Lederschlinge war es, die sie noch zum Gehorsam zwang.
In der so langen Hochzeitsnacht der Neuvermählten war Caliban nach der Hyänenschlucht geeilt und hatte gesagt:
»Jussuf el Fanit, den ihr euren Scheik nennt, den ihr so fürchtet, der euch die Beute vorenthält, der euch die Karawanen nicht plündern läßt — — dieser Jussuf el Fanit ist ein Weib!! Dieses Weib ist eine Frankin! Diese Frankin ist eine Christin, eine ungläubige Hündin! Diese Hündin buhlt jetzt, während ihr in der versengenden Wüste schmachten müßt, auf weichen Teppichen mit einem ungläubigen Hund von einem Franken! Und vor dieser Hündin beugt ihr eure stolzen Nacken? Schämt euch, ihr freien Söhne der Wüste! Auf zur Rache! Dieses hinterlistige Spiel hat schon zu lange gewährt, nun ist es genug! Bestraft die Frevlerin und nehmt, was euch mit Recht gehört, ich will euch dahin führen, wo sie die Schätze verborgen hat!«
Das war der kurze Inhalt der langen Rede gewesen, die der Verräter gehalten hatte.
Er hatte sich nicht geirrt, der Funke war in ein Pulverfaß gefallen. Das christliche Weib als Scheikh war eine Unmöglichkeit. Verehrung und Furcht verwandelten sich in Haß und Verachtung, und die Hauptsache war die längst zurückgehaltene Habgier.
Der zur Zeit zurückgekehrte Caliban sandte noch eine Taubendepesche ab, daß alles in Ordnung sei, um den Anschlag auszuführen, auch die Beduinen hatten Tauben bei sich, sie gaben vor, von Arnauten, das sind türkische oder ägyptische Polizeisoldaten, angegriffen worden zu sein, riefen ihren Anführer zu Hilfe, bestimmt wissend, daß er sofort herbeieilen würde, um... ihn dann selbst zu fangen. Selbstverständlich bemächtigten sie sich dann der bisher aufgestapelten Beute, verzierten mit dem vorgefundenen Golde ihre Waffen oder hingen die durchlöcherten Münzen ihren Weibern in die Ohren, und dann konnten sie noch immer Karawanen plündern, sie hatten ja die Mache von ihrem Scheikh gelernt, den brauchten sie nun nicht mehr. —
Das ist alles, was wir zu wissen brauchen.
»Ich werde doch immer von einem geradezu wahnsinnigen Glücke verfolgt, mir wird die Sache nun bald unheimlich!« setzte Nobody seinen Ausführungen noch hinzu.
Dieser Ausruf war natürlich etwas schwer verständlich oder man mußte diese Ansicht von einer besonderen Seite auffassen, und das tat denn auch Kapitän Flederwisch.
»Sie meinen, weil Sie das Mädchen, von dem Sie nichts mehr verlangen konnten, als was es Ihnen nun schon gegeben hat, gleich wieder ohne Umstände losgeworden sind?«
Nobody machte sehr große Augen.
»Nöh, nöööhh, geehrter Herr Kapitän, da haben Sie mich aber gänzlich mißverstanden!! Können Sie fechten? Ja? Eigentlich sollte ich Sie jetzt gleich auf krumme Pistolen fordern, daß Sie mir so etwas zutrauen. Na, ich nehme es Ihnen nicht übel. Ihre Vermutung liegt auch sehr nahe. Nein, dieser Jussuf el Fanit ist seit gestern mein geliebtes Weib, darauf lasse ich nichts kommen.«
»Diese Trauung ist doch nicht gültig,« sagte Flederwisch, nur um etwas zu sagen, denn er war etwas unwirsch, weil er immer noch nicht im geringsten wußte, wo Nobody eigentlich hinauswollte.
»Eigentlich, ja. Vor der Welt ist sie ungültig. Aber für mich ist sie gültig. Ich war ein Blinder und weiß nicht anders, als daß Vater Gabriel mich rechtskräftig verkuppelt hat. Gabriele ist mein legitimes Weib, auch wenn sie mir jetzt durchgebrannt ist. Da müßte Vater Gabriel uns erst wieder auseinanderkuppeln. — Na ja, so ganz stimmt die Sache ja nicht, und wenn ich Herrn Jussuf el Fanit jetzt auch in einen richtigen Weiberkittel stecken werde, daß ich ihn als meine Frau präsentieren kann, so in die Zwangsjacke der Ehe lasse ich mich deswegen noch nicht pressen.«
»Das heißt, Sie werden das entflohene Mädchen wiederzuerlangen suchen?«
»Haben Sie das nun endlich begriffen, o scharfsinniger Schmugglerkapitän? Gewiß, ich lasse meine Frau nicht mehr in der Wüste herumlaufen, ich hole sie mir wieder. Sie verstehen aber wohl nicht, wie ich da von einem so wahnsinnigen Glücke sprechen kann? Passen Sie mal auf, Kapitän, ich werde Ihnen die Sache klarlegen. Dieses Wettermädel hat mich armen Blinden doch ganz gehörig an der Nase herumgeführt. Stimmt das nicht?«
»Na und ob! Es ist leicht begreiflich, daß sie sofort davonfloh, als Sie gestanden, überhaupt niemals blind gewesen zu sein.«
»Ja, sie muß einen heillosen Schreck bekommen haben. Und nun die jungfräuliche Scham! Denn schon vorher, gleich als sie mich in ihr Felsenloch einführte, was ich da... never mind, sprechen wir nicht darüber; wenn Sie verheiratet wären, dann wäre es etwas anderes, aber einem keuschen Junggesellen, wie Sie einer sind, kann ich so etwas nicht erzählen... Feixt nicht so, Jungens, oder lacht wenigstens geräuschlos und nicht wie die Brüllaffen, wir sind hier nicht an Bord des Schiffes, sondern in einer von Räubern unsicher gemachten Wüste. — Also, Kapitän: einmal hätte ich mich doch als Sehender legitimieren müssen, und das zwar sehr bald, da ich Calibans Verrat ahnte, und ich hätte meine geliebte Frau doch nicht wieder in die Wüste fliehen lassen, daß sie sich bei einem Karawanenüberfall einmal gelegentlich in den Leib stechen läßt. Ich hätte die Schamerfüllte also mit Gewalt festgehalten. Nun aber denken Sie bloß mal an, was es mich für Mühe gekostet hätte, das phantastische Mädchen zu überzeugen, daß sein ganzer Plan mit der Befreiung Aegyptens Unsinn ist. I, da hätte ich mir doch gleich die Zunge aus dem Halse reden können, und es hätte auch nichts genützt, ich wäre bei der überhaupt nicht schlecht ins Fettnäpfchen getreten! — Da gerade, wie ich noch simuliere, wie ich das am besten anfange, schmiedet das kleine, eifersüchtige Ungeheuer schon seinen verräterischen Plan, die Wüstenräuber sollen ihren bisher so hochverehrten Scheikh degradieren, ihn gefangennehmen, um ihn zu plündern. Verstehen Sie nun, was diese von Caliban angezettelte Verschwörung für mich für einen ungeheuren Vorteil bedeutet?«
»Ja, jetzt beginne ich wenigstens zu ahnen, was Sie eigentlich meinen,« murmelte Flederwisch. »Die Meuterei ihrer eigenen Leute, auf deren Treue sie bisher geschworen hat, muß ihr allen Glauben an die Ausführbarkeit ihres ganzen Planes rauben, da brauchen Sie nun gar nicht mehr erst zu reden.«
»Stimmt, jetzt begreifen Sie mich. Nun zweitens: wie ich noch so grübele, auf welche Weise ich wieder sehend werden soll, da kommt plötzlich eine Schlange und macht allen meinen Grübeleien ein Ende, ich bin plötzlich nicht mehr blind. Die Schlange, das Sinnbild des Fluches, der den Menschen aus dem Paradiese getrieben hat, ist für mich zum Segen geworden. Drittens hat das Mädel — meine liebe Frau, wollte ich sagen — gleich ein Pferd bei der Hand, das Vieh ist so fix, daß ich es nicht einholen kann, außerdem renne ich Glückspinsel vorher noch mit Caliban zusammen, der mich erst recht aufhält, so daß ich bei der Verfolgung zu spät komme — und dies alles hat verursacht, daß ich jetzt, anstatt in der Wüste herumjagen zu müssen, mich hübsch gemütlich in die kühle Felsenwohnung setzen kann, meine Pfeife rauche und einfach nur zu warten brauche, bis mir die Räuber selbst meine liebe Fran zurückbringen, aber nicht mehr als den wilden Lassowerfer, sondern eben als meine Frau, heil und unversehrt, von ihrem Wahne geheilt. Verstehen Sie nun, inwiefern ich Hans im Glücke bin?«
Nein, so ganz verstand Flederwisch seine Auseinandersetzungen doch nicht. Er merkte nur, wie dieser Mann auch die fatalste Sache von der gemütlichen Seite aus betrachtete.
»Ich finde gerade, daß Gabriele in der größten Gefahr schwebt.«
»Wieso denn?«
»Wenn die verräterischen Beduinen ihren Anführer als Weib und Christin erkannt haben, werden sie an der Gefangenen ihr Mütchen kühlen.«
»Nein, das ist ganz ausgeschlossen. Kein Haar werden sie ihr krümmen. Denn Caliban hat sich natürlich die Prämie für seinen Verrat zugesichert. Zunächst mich. Ich muß ihm ausgeliefert werden. Wenn es in der Wüste Ameisenhaufen gäbe, so würde er mich wohl verkehrt mit dem Kopfe nach unten in einen solchen hängen. Zweitens hat er sich als Lohn seine einstige Herrin ausbedungen. Die muß ihm gebunden ausgeliefert werden. An der will er nicht sein Mütchen, sondern seine Liebe kühlen. Wird sie ihm vorenthalten, so bekommen die Räuber natürlich auch die tausend Goldstücke und den anderen Klimbim nicht, und darauf haben es die Räuber hauptsächlich abgesehen. Und es bleibt ihnen gar nichts anderes übrig, als den Wunsch des Krüppels zu erfüllen, denn nur Caliban kann sie in die Felsenwohnung einführen.«
Ja, jetzt allerdings sah auch Flederwisch ein, daß es so, wie alles gekommen, das beste gewesen war. Es war wenigstens viel Glück im Unglück.
Nobody gab dem Nasenkönig die ausgerauchte Pfeife zurück.
»Jochen, du wirst die Rolle Calibans spielen und die anrückenden Räuber in die Felsenwohnung führen, damit wir sie dingfest machen. Du hast die Größe des kleinen Mannes, bei dir gelingt die Täuschung am besten.
Eigentlich möchte ich dir die Nase abschneiden, dann wärst du ihm noch ähnlicher, aber es wäre schade um deine schöne Gesichtstrompete. Die Räuber können auch erst in der Nacht hier sein. Arabisch kannst du genug, um sie zu empfangen.«
»Ich kann ja kein Wort arabisch!«
»Kannst du nicht ›bst!‹ sagen?«
»O ja, das kann ich: bst.«
»Das genügt vollkommen für unsere Zwecke. Dieses arabische Wort bst heißt auf deutsch so viel als: halt's Maul. — Du winkst ihnen — bst — gehst ihnen voran — bst — und wenn sie einmal zögern, so drehst du dich um, winkst ihnen und sagst immer nur: bst. — Es wird schon gehen. Nun vorwärts, in vier Stunden können die Räuber hier sein, und wir haben noch Vorbereitungen zu treffen.«
Sie machten sich unter Nobodys Führung auf den Weg, zwischen sich die Gefangenen nehmend, von denen der in den Schenkel geschossene Hammed getragen werden mußte.
»Wo ist eigentlich die Prinzeß? fragte Flederwisch einmal.
»In der Felsenwohnung. Gesehen habe ich sie noch nicht, aber ich weiß, wo sie sich befindet. Gabriele hat sie hinter Schloß und Riegel festgesetzt. Das ist auch so etwas, weswegen ich mit meiner Frau noch eine schwierige Auseinandersetzung haben werde. Ihre Scham, daß sie mir etwas ganz anderes vorgeflunkert hat, wird grenzenlos sein, und sie hätte doch eigentlich gar keinen Grund dazu.«
Nobody nahm denselben Weg, den vor drei Tagen Gabriele ihn geführt hatte, nur daß er jetzt den Tunnel mit einer Stearinkerze erleuchtete. Hinter der Barriere befand sich wirklich eine tiefe, breite Bodenspalte, über welche sich durch einen ganz einfachen Mechanismus eine Steinplatte legte, die in der gegenüberliegenden Felswand eingelassen war, also eine Art Zugbrücke, die zugleich die Tür verschloß.
Nobodys Gefährten staunten nicht wenig, als sie sich plötzlich in einer modern und komfortabel eingerichteten Wohnung sahen. Ehe sie es sich darin bequem machten, bis ihre Tätigkeit wieder in Anspruch genommen wurde, brachten sie die Gefangenen unter, zu denen sie nun auch noch Caliban gesellten, den sie noch in hypnotischem Schlafe auf dem Sofa sitzend gefunden hatten.
Nobody aber hatte erst noch eine andere Aufgabe zu erledigen. Gabriele hatte ihm heute längst nicht alle Geheimnisse der Felsenwohnung gezeigt. Den Pferdestall, in dem Serpanje gestanden, und in dem sich noch ein zweiter edler Renner befand, hatte er selbst gefunden, desgleichen den Aufzug, durch welchen die Waren herabgelassen werden konnten, und den er heute nacht noch zu benutzen gedachte, um die Räuber zu fangen.
Hinter jener eisernen Tür, an der ihn Gabriele so schnell vorbeigeführt, hatte er die gefangene Marguérite vermutet, und der hypnotisierte Caliban hatte diese seine Vermutung bestätigt, ihm auch gesagt, wo er den Schlüssel dazu fand.
Diesen holte er jetzt und begab sich hinauf in die erste Etage. Als er die eiserne Tür geöffnet hatte, zeigte sich in kurzem Zwischenraum eine zweite, die nur von außen verriegelt war. Er legte das Ohr daran. Ja, darin raschelte etwas, jetzt wurde ein Stuhl oder Tisch gerückt.
Der noch als Beduine gekleidete Nobody schlug das Gesichtstuch herab, schob den Riegel zurück und trat kurz entschlossen ein.
Es war ein mit Diwans, Teppichen und Kissen sehr behaglich eingerichtetes Zimmer oder vielmehr der Anfang einer ganzen Zimmerflucht, denn Türen führten noch weiter. Die Fenster, welche nach jenem freien Tale gingen, waren stark vergittert.
Beim Eintritt des vermummten Beduinen sprang eine weißgekleidete Gestalt von einem Tischchen, welches sie an das Fenster gerückt hatte.
Es war Marguérite, die ihr schwarzes Kleid mit einem weißen Burnus vertauscht hatte. Sie sah leidend aus, obgleich sie keinen Mangel zu leiden brauchte, denn ein niedriges Tischchen war mit Delikatessen besetzt, die man hier gar nicht vermutet hätte.
Mit ängstlicher Spannung betrachtete sie den Vermummten.
»Ich glaube, das ist ein Mann,« sagte sie endlich in französischer Sprache, als jener das Schweigen nicht als erster brechen wollte.
»Sie haben es erraten, Madame,« war die höfliche Antwort, und niemand hätte Nobodys Stimme erkannt. »Ich nehme an, Sie werden hier als Gefangene festgehalten.«
Die ängstliche Spannung wich einem jubelnden Glück.
»Gerettet!« jauchzte sie auf. »Nicht wahr, Sie kommen als mein Befreier?«
»Gemach, gemach,« wurde jetzt etwas schroffer abgewehrt. »Wer sind Sie, Madame? Erst muß ich den Grund wissen, warum Sie hier hinter Schloß und Riegel gefangengehalten werden!«
Mit fliegenden Worten erzählte Marguérite — natürlich lauter Lügen. Sie schilderte alles ihrem ursprünglichen Plane gemäß, wie sie es auch dem blinden Nobody erzählt haben würde.
Als sie den Blinden endlich gefunden hatte, war schon eine rätselhafte Dame bei ihm gewesen, von dieser war sie überwältigt und gebunden worden; als Marguérite aus ihrer Betäubung erwachte, hatte sie sich hier befunden, ohne im geringsten zu wissen, wo sie eigentlich war.
»Hat die rätselhafte Dame Sie schon wieder besucht?«
»Mehrmals.«
»Als modern gekleidete Dame?«
»Nein, in einem Beduinenkostüm. Zuletzt allerdings auch in einem Hauskleide. Wer ist das nur?«
»Bitte, lassen Sie mich erst fragen. Was sagte die Dame?«
»Sie fragte mich aus.«
»Was fragte sie?«
»Sie fragte... fragte... wer ich sei, wie ich hierher käme, und ähnliches mehr.«
»Und in welcher Beziehung Sie zu dem Blinden ständen, nicht wahr?«
»Natürlich, natürlich, das war doch die Hauptsache. Sie hält mich doch nur aus Eifersucht gefangen.«
»Und da sagten Sie?«
»Jener Unglückliche sei mein Verlobter.«
»So, so. Nun, Madame, das Blatt hat sich hier gewendet.«
»Zu meinen Gunsten?« fuhr sie freudig auf. »Wer sind Sie, mein Herr? Sie sind kein richtiger Beduine.«
»So wenig wie Mr. Huxley und Mr. Wall.«
Nobody schlug den Gesichtsschleier zurück.
Das Nennen der beiden Namen, diese bekannten Gesichtszüge, diese Augen, die ihr entgegenblitzten — — Marguérite taumelte mit einem gellenden Schrei zurück.
»Alfred! — Es ist nicht wahr, es ist nicht wahr!! — Du bist ja blind!!«
»Nein, Madame, ich bin nicht blind, war niemals blind, ich habe nur die Rolle gespielt, die Sie mir in der Komödie zugeteilt hatten. Eine nette Komödie! Ich weiß alles. Auch Ihre beiden verbrecherischen Genossen sind als Gefangene in meinen Händen.«
Da lag das schöne Weib auf den Knien.
»Erbarmen, Alfred, Erbarmen! Ich tat es nur aus... aus... ich war wahnsinnig, als ich auf diesen teuflischen Vorschlag einging. Nein, es ist deine eigene Schuld, weil du mich...«
»Sparen Sie die Worte! Ich könnte Sie der Justiz ausliefern, Sie würden Zuchthaus bekommen, leider nicht lebenslänglich, und dann würde ich Ihren Wahnsinn immer wieder zu fürchten haben. Ich selbst nehme Sie in Zuchthausstrafe, und zwar, damit Sie mich dann nicht wegen Freiheitsberaubung anzeigen und ich überhaupt fernerhin vor Ihnen sicher bin, gleich in lebenslängliche. Die Verantwortung nehme ich auf mich. Zunächst werde ich Sie auf etwas schmälere Kost setzen.«
Mit diesen Worten hatte er das ganze mit Speisen besetzte Tischchen genommen, und ehe sich Marguérite wieder erhoben, hatte er schon wieder das Zimmer verlassen. Sie hörte nur noch, wie draußen der Riegel vorgeschoben wurde, ihr Rufen blieb unbeantwortet.
Es scheint, als ob Nobody, welcher damals zu Flederwisch geäußert hatte, dieses Weib, das in blinder Liebesleidenschaft handelte, sei entschuldbar, seine Ansichten hierüber geändert habe. Das ist aber nicht der Fall, er hatte mit Marguérite nur seinen bestimmten Plan vor, um sie von dieser Leidenschaft zu ihm zu heilen, wie wir noch später sehen werden.
Zunächst trug Nobody das Tischchen hinab und gab Ali, dem Neger, den Auftrag, dafür der Gefangenen Brot und Wasser zu bringen.
Dann stieg auch er wieder hinauf, aber gleich in die zweite Etage, wo sich die Taubenschläge befanden, und gerade, als er den Saal betrat, hörte er ein Schnappen, welches eine soeben angekommene Taube beim Passieren des Flugloches verursacht hatte.
Es stimmte, in dem Käfig, der die Tauben für die Hyänenschlucht enthielt, hatte eine einen Federkiel am Halse befestigt.
Nobody fing sie, rollte das Papierchen auseinander und war nicht verwundert, keine Geheimschrift zu finden; denn die Botschaft war für Caliban bestimmt, und dieser war in jene nicht eingeweiht, sein Kopf hatte sich bei dem Versuch, sie ihn zu lehren, als zu schwach bewiesen.
Die aus der Hyänenschlucht kommende Botschaft lautete:
»Die Betrügerin ist in unseren Händen. Wir kommen. Said ben Kofir.«
Der Anschlag war geglückt, und Nobody, welcher jetzt eigentlich durch einen von Caliban gereichten Schlaftrunk bewußtlos daliegen sollte, vielleicht auch an Händen und Füßen gebunden, traf seine Anordnungen, um die treulosen Räuber zu empfangen.
Wir begleiten jetzt die fliehende Gabriele, ohne uns mit den Empfindungen zu beschäftigen, welche das Herz des Mädchens bewegten, zerfleischten, denn das wäre unmöglich.
Vorbei, vorbei, alles verloren!! Das mag der einzige Gedanke gewesen sein, der sie beherrschte, als sie vor dem Geliebten, der gar nicht blind gewesen war, floh.
Aber mit ihrer Flucht konnte sie auch einen Zweck verbinden, das Bewußtsein kehrte ihr schnell zurück, daß sie ihre in Gefahr befindlichen Gefährten nicht in Stich lassen durfte, ganz unbewußt hatte sie ihr Pferd auch schon jener Richtung zugelenkt.
»Es war ein kurzes Liebesglück — jetzt bin ich wieder der Wüstenräuber Jussuf el Fanit!«
Wie der Sturm flog der edle Wüstenrenner über den gelben Sand; weit vorgebeugt saß die Reiterin in dem arabischen Sattel. Sie hatte den dichten Gesichtsschleier herabgelassen, um sich vor dem glühenden Flugsand zu schützen, nun war sie doch auch wieder Jussuf el Fanit, der nie sein Antlitz zeigte, und trotz des sausenden Rittes zog sie unter dem Burnus den langen Lasso hervor, rollte ihn auf und wickelte ihn sichtbar schräg um die Brust.
Zwei Stunden vergingen, und das weit ausgreifende Wüstenroß hielt noch dasselbe Tempo ein wie im ersten Augenblick. Unentwegt spähte Gabriele in die endlose Wüste, die sich zunächst noch völlig eben vor ihr ausstreckte. Nach und nach aber wurde sie immer welliger; schon kamen kleine Hügel, welche nicht nur der Wind aus Sand zusammengetragen hatte, vielmehr war dieser hier weggeweht worden, und nacktes Felsgestein zeigte sich.
Je mehr die Wüste diese neue Formation annahm, desto mehr mäßigte Gabriele den Lauf ihres Pferdes und desto aufmerksamer spähte sie nach allen Seiten, auch manchmal große Bogen reitend und in dem weichen Sand nach Spuren suchend.
Aber kein Mensch zeigte sich, kein lebendes Wesen, keine Fährte war zu entdecken.
Da endlich gewahrte sie in weiter, weiter Ferne auf einem Hügel die winzige Gestalt eines Menschen. Gabriele suchte keine Deckung, sie hielt nur ihr Pferd an, welches wie eine Statue stand. Unter dem Burnus kam ein Fernrohr zum Vorschein, sie setzte es vor das Auge und schraubte.
»Wenn es nicht ein verkleideter Arnaut ist, so halte ich ihn für einen der unsrigen,« murmelte sie. »Ich möchte überhaupt gar nicht mehr an einen Überfall durch Arnauten glauben.«
Sie sprang ab, nur ein Wink, und das dressierte Pferd legte sich hinter einem Hügel platt an den Boden, und nun war ein langer Schleichweg von Hügel zu Hügel nötig, eine halbe Stunde verstrich, ehe die Anschleichende wagen durfte, den ersten verabredeten Geierpfiff hören zu lassen.
Sie wußte nicht, ob jener dort nicht vielleicht ein verkleideter Arnaut war, der Wache für seine Kameraden stand.
Das Signal wurde erwidert, es wurden noch andere gewechselt, meist nachgeahmte Tierstimmen, und dann war Gabriele ihrer Sache sicher, wie auch jener wußte, daß es nur der Scheikh sein konnte.
Jetzt ein gellender Trillerpfiff aus einer silbernen Pfeife, und Serpanje kam angaloppiert, um seine Herrin wieder auf den Rücken zu nehmen.
Sie hatte den Wachtposten erreicht, der sich vor dem Anführer ehrfurchtsvoll verneigte, nacheinander mit der Hand Mund, Stirn und Brust berührend.
»Was ist hier vorgefallen?«
»Es ist alles still.«
»Ich denke, ihr seid von Arnauten entdeckt und angegriffen worden?«
Der Beduine machte nur ein verwundertes Gesicht.
»Wo ist Said ben Kofir?«
»In der Schlucht.«
Kopfschüttelnd ritt Gabriele weiter, und wenn man Blicke fühlen könnte, so hätte sie den Hohn aus dem herausgefühlt, der ihr nachgesandt wurde.
Nach einer kurzen Strecke fiel die Ebene jäh in ein tiefes Tal ab — eine Erscheinung, die man in der Wüste häufig findet. Solche Täler oder richtiger Kessel entstehen und vergehen wieder. Sie füllen sich nach und nach mit Flugsand, sie wachsen förmlich zu, ein Wirbelwind streicht darüber, und der Kessel ist auf genau derselben Stelle wieder da.
Offen vor Gabrieles Augen breitete sich unten das Lager der Räuber aus, aber kein einziges Zelt war zu sehen. Die selbst von den übrigen Bewohnern der Wüste Geächteten führten nicht einmal Zelte mit sich, unter denen sie sich vor dem kalten Tau der Nacht schützten. Außer den Pferden und dem, was sie bei sich hatten, wurden sie nur noch von vielen Kamelen begleitet, welche Proviant und Wasser für Menschen und Tiere trugen.
Wohl war es ein ziemlich steiler Abstieg, doppelt gefährlich durch den lockeren Flugsand, der jeden Stein bedeckte, doch das konnte jedes arabische Pferd leisten, das mit seinen unbeschlagenen Hufen ausgezeichnet klettert, und diese Koheye hier schien nun gar wie seine Herrin die Eigenschaften einer Gemse zu besitzen.
Es entstand einige Unruhe unter den lagernden Beduinen, die meisten erhoben sich, alle blickten nach dem herabkommenden Reiter, aber ein besonderer Empfang wurde dem Scheikh nicht bereitet. Auch wurde so wenig wie vorhin der sonst übliche, arabische Gruß gewechselt. Es schien gar keine Trennung stattgefunden zu haben, denn so wollte es der Anführer.
»Said ben Kofir!«
Ein schon ältlicher Araber, das tiefbraune Gesicht mit Narben bedeckt, näherte sich dem vom Pferde gestiegenen Scheikh.
»Hast du eine Brieftaube abgesendet?«
»Wer bist du denn, daß du so fragst?«
Diese Frage, dieser höhnische Ton, dieses tückische Gesicht — — Gabriele hatte plötzlich eine hellsehende Vision, ihr erster Griff war nach dem Gürtel, in dem sie sonst Waffen zu tragen pflegte... zu spät, schon war sie von hinten umschlungen, zwei Fäuste, die einem Riesen angehören mußten, hatten ihre Handgelenke umspannt.
»Verrat!!« schrie Gabriele.
Da sah sie diese beiden kolossalen, von Sehnen und Muskeln strotzenden Fäuste, und sofort gab sie jedes Widerstreben auf, aber nicht deshalb, weil ihre Verteidigung gegen den hinter ihr stehenden Herkules nutzlos gewesen wäre, sondern es war mehr eine psychische Wirkung, welche die beiden Hände auf sie ausübten, und sie sprach ein klassisches Zitat mit einer Variation aus.
»Auch du, Mustapha!« sagte sie in klagendem Tone, und dann nichts mehr. Vom ersten Augenblick an, da sie alles erkannt hatte, ergab sie sich in ihr Schicksal.
Jetzt waren sämtliche Männer aufgesprungen und herbeigeeilt, im Nu hatte sich um die drei Hauptpersonen ein großer Kreis gebildet.
»Wer also bist du denn?« wiederholte Said ben Kofir seine ironische Frage.
Leider wurde keine Antwort gegeben.
»Jussuf el Fanit kann sich jeder Fremde nennen,« fuhr der Stellvertreter des Scheikhs fort, »zumal wenn er sein Gesicht verhüllt. Laß doch einmal schauen, ob du auch wirklich unser Scheikh bist?«
Mit diesen Worten hatte er ihr Kopftuch gelüftet, ein todblasses Mädchenantlitz zeigte sich.
»Inschallah, Caliban hatte recht, es ist wirklich ein Weib!« erklang es im Chor.
Said zog ihr das Tuch über den blondhaarigen Kopf.
»Allschallah, eine Frankin!!«
»Laßt sie den Koran küssen, damit wir sehen, ob Caliban auch hierin die Wahrheit gesprochen hat!«
Man hatte sie unterdessen gebunden, wenigstens ihre Hände; die heilige Schrift der Mohammedaner, welche in keinem Beduinenzelte fehlt, wurde gebracht und ihr zum Kusse vorgehalten.
Da öffnete sie zum ersten Male wieder die Lippen, um mit Festigkeit ein Wort zu sprechen.
»Ich bin eine Christin!«
»Es ist eine Christin!!« erscholl es im Chor... Wehe uns, wir haben eine Ungläubige unter uns geduldet, wir haben einer Ungläubigen gehorcht, wir haben mit einer Ungläubigen aus einer Schüssel gegessen!«
»Ist es wahr,« fragte Said ben Kofir, »daß du einen ungläubigen Franken, einen Blinden, bei dir aufgenommen hast, um mit ihm zu buhlen?«
»Ja.«
Es war ihr letztes Wort, es war die letzte an sie gerichtete Frage gewesen. Sie hatte sich selbst das Urteil gesprochen.
Die äußerste Schmach blieb ihr erspart. Es waren keine Juden, welche dem, dem sie kurz zuvor ihr ›Hosianna‹ zugejubelt hatten, wenige Tage später ins Gesicht spien — es waren Beduinen. Sie wagten nicht einmal, ihren Körper nach Waffen zu durchsuchen.
Sie wurde abseits geführt und mit dem Rücken gegen eine Felswand gestellt. Hier stand sie und hörte gleichgültig aus der Beratung der Beduinen, wie alles gekommen, von wem sie verraten worden war und weswegen.
Teilnahmlos hörte sie zu, teilnahmlos vernahm sie, wie sie dem Krüppel als Lohn für seinen Verrat ausgeliefert werden sollte, eine Beute für seine erwachten Begierden.
In einigen Beduinen begannen Zweifel aufzusteigen, ob dieses Weib, welches sich so leicht hatte fangen und binden lassen, auch wirklich der bisherige Scheikh sei. Vielleicht gab sie sich nur für diesen aus, man hatte ja noch nie sein Gesicht gesehen. Und wer hätte es für möglich gehalten, daß der furchtbare Jussuf el Fanit sich so spielend leicht in Fesseln schlagen ließ, ohne nur den geringsten Widerstand zu leisten?
Ach, diese armen Wüstenräuber wußten ja nichts von der lähmenden Kraft des Gedankens, des Leides.
Der Dichter wußte davon, und einem Dichter gab er es in den Mund, dem ritterlichen Troubadour Bertran de Born, unüberwindlich an Kraft und an Geist — — ›der sich gerühmet in vermess'ner Prahlerei, daß ihm nie mehr als die Hälfte seines Geistes nötig sei.‹ — Nein, es war keine Prahlerei gewesen, aber...
»Da, wie Autafort dort droben,
Ward gebrochen meine Kraft,
Nicht die ganze, nicht die halbe
Blieb mir, Saite nicht noch Schaft.
Leicht hast du den Arm gebunden,
Weil der Geist mir liegt in Haft —
Nur zu einem Trauerliede
Hat er sich noch aufgerafft!«
Es kam ihr alles nur wie ein Traum vor, und gleichgültig hörte sie von dem schrecklichen Schicksal, das ihrer wartete.
Ihre Gedanken weilten nur bei dem Geliebten, den sie für immer verloren, ohne sich Rechenschaft zu geben, was dessen Los jetzt sein würde. Sie empfand den bitteren Schmerz wie eine süße Betäubung.
Da schrak sie empor aus ihrem Traume, denn es waren besondere Worte gewesen, die ihr Ohr getroffen hatten.
»Caliban könnte schon zufrieden sein, wenn wir ihm den Franken überlassen, daß er an diesem seine Rache kühlt. Aber dieses Weib soll der Krüppel nicht berühren.«
Da war Gabriele erwacht, und sie hörte noch mehr, sie erfuhr alles.
Caliban wußte noch nicht, daß der Franke kein Blinder war; während der Abwesenheit seiner durch eine falsche Botschaft fortgelockten Herrin wollte er dem Blinden einen betäubenden Trank beibringen, um ihn dann mit leichter Mühe noch völlig zu überwältigen und an dem Hilflosen, der ihm die Liebe seiner Herrin geraubt, seine Rache auszuüben — — und hätte Gabriele noch nicht gewußt, zu welcher Rache ein leidenschaftlicher, mit Phantasie begabter Araber fähig ist, so bekam sie es jetzt zu hören. Caliban hatte schon den Beduinen etwas davon vorgeschwärmt, was für Prozeduren er an dem ungläubigen Hunde vornehmen wolle.
Als sie das hörte, da verwandelte sich das Mädchen plötzlich wieder in den Wüstenräuber, der noch nie gefangen worden war, da begannen die mit Hanfseilen umschlungenen Hände hinter dem Rücken an einem scharfen Felsgrat zu reiben und zu feilen.
Um die Koheiye hatte man sich vorläufig nicht gekümmert. Das ledige Pferd hatte sich sofort seinen Kameraden beigesellt. Ein so kluges Tier es auch sein mochte, es war doch nur ein Tier, welches das Schicksal seiner Herrin nicht begriff, zumal, da man ganz schonend mit ihr verfuhr und kein Hilferuf, keine Klage aus ihrem Munde kam.
Aber Serpanje brauchte nur ein Zeichen, und dieses kam: ein gellender Pfiff! Freudig wiehernd warf sich das Pferd, welches eben Datteln geschmaust hatte, auf den Hinterfüßen herum, um zu seiner Herrin zu eilen, es war nicht mehr nötig, schon fühlte es, wer mit leichtem Satze in den Sattel gesprungen war, und sofort verwandelte sich die gelbe Wüstenbraut in einen Vogel, oder zuerst in eine Gemse, um aus der Schlucht herauszukommen.
»Haltet sie, haltet sie! Schießt sie nieder!«
So schrien die Beduinen, aber dabei stoben sie auseinander vor der Gestalt, die den Pferden zuflog, obgleich sie nicht einmal eine Waffe sahen.
Es war doch noch immer Jussuf el Fanit, noch immer war der um die Brust geschlungene Lasso zu sehen, und das genügte.
Nur zwei wagten es, sich der Fliehenden entgegenzuwerfen. Den einen streckte der Schlag einer zur Faust geballten Hand nieder, die sich in einen stählernen Hammer verwandelt hatte, der andere war im nächsten Augenblick überritten — und da klomm schon das gelbe Wüstenroß wie ein Steinbock die steile Wand empor.
Wohl krachten einige Schüsse, aber sie schienen keinen Erfolg zu haben, Roß und Reiter waren verschwunden.
Hiermit sei diese Zwischenszene in Kürze erledigt. —
Es war Nacht geworden, eine mondlose Nacht. An Aegyptens Himmel, an dem fast nie eine Wolke zu sehen ist, funkelten nur die Sterne, über die Wüste und das Geiergebirge ein unsicheres Zwielicht gießend.
Etwa zehn Meter hoch über dem Erdboden lag auf einem Felsen ein Mann ausgestreckt. Es war Nobody, welcher nach den erwarteten Räubern ausspähte, die kommen würden, um sich der Frucht ihrer Untreue und Calibans Verrates zu bemächtigen.
Nobody erkannte von hier aus deutlich die kleine, weiße Gestalt, welche sich dort unten zwischen den Felsen herumbewegte, aber das Sternenlicht war so schwach, daß nicht einmal des Detektivs scharfe Augen zu unterscheiden vermochten, wie dieser Caliban statt seiner zwei Löcher eine ganz gewaltige Nase im Gesicht hatte, und so gestattete das unsichere Sternenlicht noch weniger eine Unterscheidung der Bewegungen. Die Hauptsache war, daß Jochen Puttfarken eine ebenso kleine Figur wie der verwachsene Araber hatte, und wenn er dann noch das Gesichtstuch herabließ, so mußte die Täuschung unter allen Umständen gelingen.
Plötzlich tauchte hinter einem Felsen ein weißer Schatten auf. Anders läßt es sich nicht bezeichnen, denn Nobody konnte nur vermuten, daß es ein in einen weißen Burnus gehüllter Beduine war, und woher dieser plötzlich gekommen, wußte Nobody nicht.
Gleichgültig, es war der erste der ankommenden Wüstenräuber, von seinen Gefährten als Kundschafter vorausgesandt, ob die Luft rein und Caliban auf seinem Posten sei.
Nobody wandte seine Aufmerksamkeit seinem Helfershelfer zu. Dieser hatte den Beduinen ebenfalls gesehen, denn jetzt zog er schnell den dichten Schleier vor das Gesicht.
»Caliban!«
Es war eine harte, rauhe Stimme gewesen, die diesen Namen leise gerufen hatte.
Der Verabredung gemäß hob Jochen nur den Arm und winkte.
»Bst.«
Damit wandte er sich sofort, in dem Glauben, daß ihm jener gleich folgen würde, um zunächst diesen einen Beduinen gleich abzutun.
Aber so schnell ging die Sache nicht, der Mann zögerte, schien dem Frieden nicht recht zu trauen.
»Hast du den ungläubigen Hund von Franken überwältigt?« fragte der Beduine.
»Bst,« machte Jochen Puttfarken wieder und winkte noch heftiger.
Es war eine unglückliche Rolle, die Zwergnase da spielen mußte, besonders da er ja kein Arabisch verstand. Aber man hatte keinen anderen Ausweg gefunden, er war der einzige, der den kleinen Krüppel wenigstens einigermaßen vertreten konnte.
»Du hast ihn doch nicht schon getötet?« fragte abermals der Beduine, welcher jenem durchaus nicht folgen wollte.
»Bst, bst, bst,« fing Jochen Puttfarken jetzt an und arbeitete mit dem winkenden Arme in der Luft herum, als wolle er den Zögernden durch magnetische Striche beeinflussen.
»Bst, bst, bst, bst, bst.«
Da plötzlich geschah dort unten etwas, was sich kein anderer Mensch hätte erklären können.
Der Beduine hatte mit dem einen Arm eine merkwürdige Bewegung gemacht, und mit einem Male drehte sich Jochen Puttfarken wie ein Kreisel herum und ward von einer unsichtbaren Macht nach dem Beduinen hingerissen.
Nobody konnte also nicht die Ursache dieses Hinziehens erkennen, aber er wußte sofort alles.
Ein Lasso! So waren also auch die anderen Wüstenräuber mit dieser Lederschlinge ausgerüstet und wußten sie zu handhaben.
Doch warum ging der Beduine so vor? Ganz einfach! Verrat gegen Verrat!
Jetzt kam es darauf an, wie sich der Beduine benehmen würde, wenn er statt Calibans einen anderen fand.
Zwergnase war in der Gewalt des Lassowerfers,
»He, jü!« erklang es da im schönsten Danziger Platt. »Lat un tofräden, or ick laatsch di enn poor runner...«
Ein leiser Schrei, dem kleinen Manne ward das Tuch vom Gesicht gerissen, er wurde freigelassen, der Beduine wandte sich zur Flucht, ein gellender Pfiff ertönte.
Schon aus dem leisen Schrei hatte Nobody genug gehört, jetzt wußte er wirklich alles, was passiert war.
»Gabriele, mein Weib! Halte sie fest, Jochen!!!«
Zu spät — Jochens Arme waren von dem Lederriemen noch an den Körper geschnürt — und da galoppierte hinter dem Felsen ein gelbes Roß hervor, schon nahm sie einen Anlauf, um in den Sattel zu springen — doch nur ein einziger Schritt, da kam von hoch oben eine weiße Gestalt herabgesaust, schlug dicht vor ihren Füßen, trotz des weichen Sandes, mit einem dumpfen Krachen nieder... entsetzt war Gabriele zurückgeprallt, doch nur einen Augenblick, dann wollte sie sich mit einem gellenden Verzweiflungsschrei auf den Zusammengebrochenen werfen... da richtete sich dieser schon wieder auf, sie wurde von zwei nervigen Armen umschlungen...
»Ich lasse dich nicht, Gabriele, jetzt bist du mein für immer!!«
Aber sie gab nicht nach, und die ägyptischen Sterne beleuchteten die wilde Szene dort unten in der libyschen Wüste, wie ein Menschenpaar, das sich heiß liebte, in noch heißerem Kampfe miteinander um Tod und Leben rang... wirklich um Tod und Leben, nur unter anderen Verhältnissen... denn das Weib, dessen Burnus schon von frischem Blute gerötet war, von einer nachgesandten Beduinenkugel verwundet, hatte einen Dolch in der Hand und versuchte ihn in das eigene Herz zu stoßen, Nobody sah es wohl und wollte ihr die Waffe aus der Hand winden; um diesen Dolch ging der Ringkampf... und da spritzt es rot auf, der warme Blutstrahl, der ihr Gesicht netzte, war aus des Mannes Brust gesprungen... sie sah plötzlich sein Antlitz aschfahl werden...
»Ich habe ihn ermordet!!!« gellte es, und da war es mit ihrer Kraft vorbei, die Reaktion trat ein, bewußtlos brach Gabriele zusammen.
Als sie wieder zu sich kam, wußte sie ganz bestimmt, daß sie in der Felsenwohnung in ihrem Bett lag, und sie wurde von einem unsagbar seligen Gefühle erfüllt.
Daran war ein Traum schuld. Zuerst allerdings mußte sie einen sehr bösen Traum gehabt haben, sie hatte noch ein unklares Bewußtsein davon, daß sie sich entsetzlich geängstigt hatte. Dann aber war es ihr gewesen, als seien menschliche Gestalten um sie herum, die es gut mit ihr meinten, besonders ein Mann, von dem etwas ausging, was sie mit jener unaussprechlichen Seligkeit erfüllte, wie überhaupt der ganze Zustand ein solcher war, für welche der Mensch noch keine Worte hat.
Dieser Mann hatte ihr zu trinken gegeben, dieser Mann hatte ihr Haar und ihre Wangen gestreichelt, und er hatte sie Gabriele genannt, und sie ihn Alfred, und das alles wußte sie ganz genau, obgleich sie ebenso bestimmt wußte, immer fest geschlafen zu haben. Auch fühlte sie sich so furchtbar schwach, und gerade diese Schwäche schien das selige Glück zu erzeugen.
»Ach, wenn es doch immer so bliebe!« murmelte sie traumverloren.
»Ja, warum kann es denn nicht immer so bleiben?« entgegnete fragend eine sonore Männerstimme.
Sie hatte die Augen aufgeschlagen, und sie sah ihn — Ihn, der den Inhalt ihrer Träume gebildet hatte, und mit einem verklärten Lächeln blickte sie in seine lieben Züge.
»Wie befindest du dich, meine liebe Gabriele? Bist du durstig?«
Er hatte zärtlich ihre Hand ergriffen, doch da erstarb das verklärte, es wich einem Ausdruck des Entsetzens — die Erinnerung war ihr zurückgekehrt.
»Ich habe Dich mit dem Dolche getroffen,« hauchte sie mit bebenden Lippen, »ich sah dein Blut fließen...«
»Ach, das war ja gar nicht der Rede wert,« lachte er sorglos, »der Dolch ritzte nur meinen Oberarm, und ich bin etwas vollblütig. Das ist in den vier Tagen schon wieder geheilt.«
Einen Augenblick mußte die Erinnerung dem Staunen weichen.
»In — den — vier — Tagen?«
»Ja, ja, Gabriele, du hast vier Tage lang im Wundfieber gelegen. Aber es ist auch nichts weiter als ein Streifschuß gewesen, freilich ein tüchtiger, den dir deine treuen Wüstenräuber an der Brust beibrachten. Zwei Zoll weiter nach rechts, und wir hätten uns nicht lebendig wiedergesehen.«
Er hatte ihre Erinnerung wiederum geweckt, vielleicht mit Absicht. Hastig wollte sie ihm ihre Hand entziehen, und da ihr dies nicht gelang, schon wegen ihrer Schwäche nicht, wandte sie ihr Gesicht wenigstens der Wand zu.
»Laß mich — laß mich allein — laß mich und meine Schande fliehen!« stammelte sie mit herzzerreißender Stimme, der man ihren ganzen Jammer anhörte.
Und er konnte lachen!
»Gabriele, was machst du denn nur für Geschichten!«
Und da geschah das Wunder. Er hatte diese alltägliche, leere Redensart gelacht, aber es hatte in seinem Tone auch eine so unendliche Zärtlichkeit gelegen, auch im Drucke seiner Hand — und es wäre vielleicht gar nicht nötig gewesen, daß er noch weiter liebreich zu ihr gesprochen hätte — wie ihre Leiber und Seelen doch bereits zusammengehörten, wie jetzt auch ihr Blut zusammengeflossen, um den geschlossenen Bund rechtskräftig zu besiegeln — und sie hätten einander doch nichts vorzuwerfen und zu verzeihen, sie seien quitt, sie wären alle beide zwei scheinheilige Bösewichter gewesen — — diese tröstenden Scherze wären wahrscheinlich gar nicht nötig gewesen — »Gabriele, was machst du denn nur für Geschichten?!« — in dem herzlichen Tone lag der Zauber, der die Verwandlung zustande brachte — und da schwand der Eigensinn des kraftvollen Mädchens, das sich jetzt so hilflos wie ein schwaches Kind fühlte — und unter Tränen lachte Gabriele den geliebten Mann an.
Das Glück läßt sich nicht schildern.
Der große Philosoph Arthur Schopenhauer hat in längerer Abhandlung klargelegt, warum dies nicht möglich ist.
Der wahre Künstler braucht diese Beweisführung gar nicht gelesen zu haben, der fühlt ganz von allein heraus, daß er sich an die Schilderung eines glücklichen Zustandes im menschlichen Leben nicht heranwagen darf.
Ein echter, rechter Roman, der den Leser befriedigen soll, muß doch immer mit einer Heirat schließen. Erwachende Liebe, Sehnen, Ringen, Widerwärtigkeiten aller Art, Kummer und Schmerz — endlich siegt die Tugend doch — sie haben sich, Kuß, Schluß.
Da hört man oft den Leser sagen: gerade jetzt, wo die Geschichte hübsch wird, hört sie auf, und ich möchte doch so gern wissen, ob die beiden in ihrer Ehe glücklich sind.
Jawohl, der wahre Dichter wird sich hüten, dies versuchen zu wollen, denn er weiß, er ahnt es, daß sein Versuch jämmerlich mißglücken würde. Nur der Stümper probiert es, und der ist so beschränkt, daß er nicht einmal merkt, wie er immer wieder Fiasko macht. Die größten Dichter hingegen lassen ihren Helden lieber sterben im Augenblick des größten Glücks.
Es gibt nur eine einzige Art der Dichtkunst wie der Malerei, in welcher das Glück dauernd wiederzugeben ist, aber diese Form der Schilderung ist ohne Handlung — das ist die Idylle. —
Sie saßen Hand in Hand und engumschlungen auf dem Felsplateau und beobachteten schweigend, wie die Abendsonne mit purpurnem Scheine in der gelben Wüste untersank — ein Bild, in seiner Farbenpracht so wenig mit der Feder zu schildern wie das unaussprechliche Glück, von dem die beiden jetzt erfüllt waren — und daß Jochen Puttfarken mit seiner langen Nase in der Nähe hockte und mit dem Messer eine entsetzlich schmutzige Tabakspfeife auskratzte, störte das Idyll nicht — im Gegenteil, das gehörte dazu, denn seine Pfeife war verstopft gewesen, endlich hatte sie wieder Luft, und da war Jochen Puttfarken ebenfalls unsagbar glücklich, sein Gesicht strahlte vor eitel Seligkeit, und dazu wackelte er mit den Ohren.
Während diese drei Menschlein so überaus glücklich sind, die einen aus keinem anderen Grunde, als weil sie überhaupt noch leben und so Hand in Hand dasitzen dürfen, der dritte, aus dem jedenfalls viel triftigeren Grunde, weil seine Pfeife wieder Luft hat, wollen wir in möglichster Kürze alles erledigen, was wir noch wissen müssen, ehe wir in Nobodys Abenteuern hiermit einen Abschnitt eintreten lassen, um dann zu einem ganz neuen Thema überzugehen. Doch werden die Personen, welche jetzt nicht weiter behandelt werden, auch in diesem eine Rolle spielen.
Der sonst immer vom Zufall so begünstigte Nobody hatte ein kleines Unglück gehabt. Das Verhängnis der Wüstenräuber war auch sein eigenes geworden, freilich in viel geschwächterem Maße. Er drückte sich auch nur scherzend so aus.
Aber über den treulosen Beduinen hatte wirklich ein Verhängnis gewaltet. Um ihren Scheikh sofort in die Falle zu locken, hatten sie ihm die falsche Nachricht zugesandt, sie seien von Arnauten umzingelt, und... da hatten sie den Teufel an die Wand gemalt!
Als sich die Beduinen nach der Flucht der Gefangenen in der Hyänenschlucht noch berieten, ob sie es jetzt noch wagen könnten, nach dem Geiergebirge aufzubrechen, als überhaupt noch eine allgemeine Verwirrung herrschte, da waren über die Ahnungslosen, welche keine Wachen mehr ausgestellt hatten, plötzlich die militärischen Wüstenreiter gekommen und hatten unter ihnen mit Gewehr, Revolver, Lanze und Säbel ein fürchterliches Blutbad angerichtet, selbst die auf Kamelen ruhenden Revolverkanonen und Mitrailleusen hatten mitgeholfen. Kaum der zehnte Teil der Räuber war lebendig in die Wüste entkommen.
Als Nobody davon erfahren, hatte er stündlich das Eintreffen von Soldaten im Geiergebirge erwartet, die nach der versteckten Felsenwohnung suchen würden, und hatte schon Vorbereitungen getroffen, um Gabriele als den ehemaligen Anführer der Räuberbande vor Nachstellungen zu schützen. Allein kein Mensch kam, keine Nachforschung amtlicherseits, gar nichts!
Auf welche Weise die ganze Sache im Sande der libyschen Wüste verlaufen ist, hat Nobody nie erfahren können. Uebrigens ist die Erklärung ja auch eine ganz einfache. Die verwundeten Räuber sind natürlich gefragt worden, wo Jussuf el Fanit sei, ob er sich unter den Toten oder Verwundeten befände oder ob er geflohen sei, nun mögen die Gefragten — vielleicht — auch erzählt haben, wie sich Jussuf el Fanit als ein Weib entpuppt habe und erst vorhin geflohen sei — aber das alles klang doch so unwahrscheinlich, und den Soldaten war doch so viel daran gelegen, als Helden und Befreier des Vaterlandes zu gelten, daß der amtliche Bericht einfach lautete: Wir haben Jussuf el Fanit mit seiner ganzen Bande vernichtet, das Land ist von der Geißel erlöst, ungehindert können die Karawanen fernerhin durch die Wüste ziehen — und damit basta!
Nun empfand Nobody dieses erfolgreiche Eingreifen des Militärs als schwere ›Geschäftsschädigung‹ — wie er sich nicht nur scherzhaft, sondern im Ernste ausdrückte. Denn bei allen Abenteuern war diesem Detektiv das ›business‹, das Geschäft, doch immer eine Hauptsache, die er nie aus den Augen ließ.
Das mit dem Wüstenräuber Jussuf el Fanit, der nie sein Gesicht zeigte, verbundene Geheimnis hatte er ja wirklich enthüllt, und was er hinter dem Schleier zu sehen bekommen, war ja auch sensationell genug.
Dieser geriebene Mann hätte es wohl sicherlich auch fertig gebracht, die ganze Räuberbande in sein Garn zu locken, sie gefangenzunehmen, und nun hätte er wieder einmal, wie er sich immer ausdrückte, und wie er es wirklich auch immer machte, ›von hinten angefangen‹.
Er wäre zu den englischen Salzhändlern gegangen, welche durch den Wüstenräuber so schwer geschädigt wurden, und hätte gesagt: »Was gebt ihr mir, wenn ich euch von dieser Geißel befreie, den Jussuf el Fanit und seine ganze Bande unschädlich mache?«
Aber — wohlverstanden — wenn er, der Privat-Detektiv Nobody, Berichterstatter von ›Worlds Magazine‹, sich hierzu verpflichtet hätte, dann hätte er die Räuber als Gefangene bereits in seiner Tasche gehabt! Das wäre der immer wiederkehrende Trick dieses Mannes gewesen, und die ganze Welt hätte mit Mr. World wieder einmal rufen können: »'s ist doch ein Teufelskerl!!«
Diesmal also war ihm das nicht gelungen, das Schicksal hatte es anders gewollt. Nun, wenn er es besonders auf pekuniären Erfolg abgesehen hatte, so hatte er trotzdem noch ein recht gutes Geschäft gemacht.
Erstens brachte ihm seine Frau — auch wenn Gabriele ihm nicht noch nachträglich rechtskräftig angetraut wurde — mit der Schatulle und dem anderen Inhalte des Panzerschrankes eine ganz erkleckliche Mitgift ein. Zweitens arbeitete Nobody, während Gabriele noch als Rekonvaleszentin in der Felsenwohnung weilte, an ihrer Seite bereits die Erzählung dieses ganzen Abenteuers mit dem weiblichen Wüstenräuber für seine Zeitung aus, und da diese neueste Sensation genügend zog, so war dies wiederum sein eigener Vorteil in Gestalt von barem Gelde. Und drittens konnte er als Beweise, daß alles auf Wahrheit beruhte, die zwischen Jussuf el Fanit und den englischen Salzhändlern abgeschlossenen Kontrakte vorzeigen, welche sich jetzt im Besitze des bekannten New-Yorker Multi-Millionärs und Rechtsanwaltes Edgard Falling befinden, der sie gegen schweres Geld für seine Sammlung von kuriosen Dokumenten kaufte. (Dieser Amerikaner erstand auch für zweiundeinehalbe Million Mark die Spazierstocksammlung des vorigen Prinzen von Wales, und wenn jemand irgend eine Kuriosität hat, so mag er sie nur an Rechtsanwalt Edgard Falling schicken, der kauft alles.) —
Caliban wurde laufen gelassen, desgleichen die beiden Araber, welche das Feuer geschürt hatten, um Nobody zu blenden, der durch das Bein geschossene Ali in Kairo einem Krankenhause übergeben.
Mr. Huxley und Mr. Wall aber wurden mitgenommen, desgleichen Margarete, als Gefangene, ohne Aufsehen zu erregen. In demselben Boote, welches Flederwisch zur Fahrt von Ismailia nach Kairo benutzt hatte, wurden sie unbemerkt nach dem Suez-Kanal transportiert und an Bord der Wetterhexe gebracht — zu einem Zwecke, den wir später kennen lernen werden.
Dann wurde die unterbrochene Fahrt nach den chinesischen Gewässern fortgesetzt, und es bedarf wohl weiter keiner Versicherung, daß auch Gabriele diese Reise mitmachte.
So war mit ihrer ersten Liebe zu einem Manne ihr phantastischer Plan gefallen, das Land ihrer Mutter vom englischen Joch zu befreien? Es wäre ja auch nur sehr vernünftig gewesen, hätte sie diese ganze Idee an den Nagel gehängt. Aber hatte sie nicht einen Schwur, wenn auch unüberlegt, getan, dies als ihre Lebensaufgabe zu betrachten, und so hatte sie also diesen Schwur vergessen?
Ja und nein. Wir haben schon oft genug gesehen, daß Nobody selbst nicht nur eine tüchtige Portion Phantasie besaß, sondern auch groß im Aushecken von phantastischen Projekten war, und Nobody war nicht der Mann, jemandem etwas zu nehmen, ohne ihm etwas anderes dafür zu geben — und wenn es auch nur eine Tracht Prügel gewesen wäre.
In diesem Falle aber gab Nobody dem geliebten Weibe anstatt des zerstörten ein neues Ideal, nur noch viel phantastischer und exzentrischer, daß kein anderer Mensch daraufgekommen wäre. Es zu verwirklichen, ward sozusagen seine Lebensaufgabe. In welchem Sinne er dieselbe zu lösen suchte, das werden schon die nächsten Erzählungen andeuten, die unter dem Haupttitel zusammengefaßt werden könnten:
DER PRINZ VON MONTE CARLO.
GROSSE AUSSTATTUNGSPOSSE, VERFASST UND
IN SZENE GESETZT VON NOBODY UND KOMPANIE.
Denn zunächst begab sich Nobody nicht mit nach jener Perleninsel, sondern an das nördliche Gestade des Mittelmeeres, nach Monte Carlo. Dort führte er mit Hilfe seiner Freunde zu einem bestimmten Zwecke die tollste Komödie auf, die je im menschlichen Leben in Szene gesetzt wurde. Nobody selbst tritt darin als der x-beinige, dickbäuchige Matrose Wilm auf und dirigiert geschickt das Ganze. Welche Rolle Kapitän Flederwisch hier spielt, werden unsere Leser bald selbst herausfinden, ebenso, daß das alles mit jener Felseninsel zusammenhängt, auf die wir Nobody später begleiten werden.
Wer sich aber Ende der siebziger Jahre in Monte Carlo aufgehalten hat, der wird sich auch der mysteriösen Persönlichkeit des sogenannten Prinzen von Monte Carlo erinnern, welcher damals die ganze Welt — oder doch die ganze Lebewelt — in Aufregung versetzte, ohne daß es jemandem gelang, das Rätsel zu lösen. Geheimnisvoll, wie der Mann, den man Prinz von Monte Carlo nannte, gekommen war, verschwand er eines Tages wieder, ohne die Maske seines Inkognitos gelüftet zu haben.
Hier nun wird das Rätsel zum ersten Male gelöst.[*}
[* Der herausgebende Verlag scheut sich nicht, eine Indiskretion zu begehen. In einer der nachfolgenden Erzählungen kommt wiederholt ein Steuermann Starke vor. Es ist dies in Wirklichkeit kein anderer als der jetzige Schriftsteller Robert Kraft, welcher ursprünglich Seemann, damals zweiter Steuermann auf Carnegies Jacht war und in Monte Carlo Nobodys intime Bekanntschaft machte.]
Roy Glashan's Library
Non sibi sed omnibus
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