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ROBERT KRAFT

DIE VESTALINNEN

BAND 3

Cover

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EINE REISE UM DIE ERDE
ABENTEUER ZU WASSER UND ZU LANDE


Ex Libris

Erstveröfentlichung:
H.G. Münchmeyer, Dresden-Niedersedlitz, 1895

Neuausgabe im gleichen Verlag: 1902

Überarbeitete 5-bändige Neuausgabe im gleichen Verlag: 1903

Nachauflage: 1908

10-bändige kartonierte Ausgabe: 1922

Neuausgabe mit Illustrationen von Georg Hertting: 1924

Weitere 10-bändige Ausabe: 1927

Neuausgabe in 72 Heften, Hobby Nostalgie-Druck, 2004

5-bändige Taschenbuchausgabe, Jazzybee Verlag, 2015

Diese E-Buch-Ausgabe: Roy Glashan's Library, 2024
Version vom 2024-02-22

Bearbeitung: Roy Glashan

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Cover Image

"Die Vestalinnen," Illustierte Ausgabe, 1924


INHALTSVERZEICHNIS

Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40


1. Des Detektiven Verabschiedung.

Die ›Vesta‹ wie der ›Amor‹ lagen auf ihrem alten Ankerplatze im Hafen von Scha-tou, und die Besatzungen erwarteten sehnsüchtig die Rückkunft des Mister Wood oder doch wenigstens ein Zeichen, daß es ihm gelungen sei, die Spur der beiden Mädchen aufzufinden. So lange dies nicht der Fall war, konnten sie nichts vornehmen, ihre Gedanken waren nur mit den armen Gefährtinnen beschäftigt.

Aber lange brauchten sie nicht auf eine Nachricht zu warten.

Schon am Nachmittage des ersten Tages, da sie wieder in Scha-tou waren, kam für Lord Harrlington eine Depesche folgenden Inhaltes an:


MISS NIKKERSON, SARGENT, STAUNTON UND HANNES BEI MIR, KOMMEN HEUTE ABEND. R.S.


»Gott sei gepriesen,« rief Harrlington nach Lesen dieser wenigen Worte, »unsere Unruhe hat ein Ende.«

Er schickte durch einen Chinesen ein Briefchen an Miß Petersen mit der Anzeige, daß sie über das Schicksal der beiden Damen keine Sorge mehr zu haben brauche, sie, wie auch Miß Staunton, seien bereits in der Begleitung von Mister Wood und Hannes Vogel unterwegs. Er bezahlte den Bootsmann bereits im voraus, da er keine Antwort erwartete, aber dieser kam wieder zurück mit einem anderen Briefe. Harrlington erwartete einen Dank, aber sein Erstaunen war groß, als ihn Miß Petersen darin um eine Unterredung bat und ihm schrieb, da sie keinen geeigneten Platz am Lande wüßte, nach den Gesetzen der ›Vesta‹ aber Herrenbesuch an Bord dieses Schiffes nicht empfangen werden dürfte, so bäte sie um die Erlaubnis, daß die Unterredung auf dem ›Amor‹ stattfände.

Natürlich schickte der Lord den Chinesen sofort wieder mit der Mitteilung ab, daß Miß Petersen zu jeder Zeit von ihm auf dem ›Amor‹ erwartet werde.

Lord Harrlington hatte keine Ahnung, was dieser Besuch des Mädchens zu bedeuten habe, ob eine Verabredung über einen Ausflug oder über das nächste Reiseziel. Aber nein, das hätte Ellen sicher nicht dazu veranlaßt, sich auf den ›Amor‹ zu bemühen, sie hatte es wie gewöhnlich schriftlich abgemacht, also mußte es diesmal etwas viel Wichtigeres sein, und Harrlington konnte eine Unruhe nicht verbergen, als er im Saal der Brigg auf- und abschritt und die baldige Ankunft des Mädchens erwartete.

Sie ließ nicht lange auf sich warten.

Ellen war sehr ernst, Lord Harrlington entging es nicht, daß ihr schönes Gesicht bleich war, selbst die gesunde, braune Färbung konnte nicht verbergen, daß ein leidender Ausdruck in ihren Zügen lag, als wühle ein geheimer Schmerz in ihrem Innern, und dieser Eindruck wurde noch erhöht durch das schwarze Kleid, welches Ellen trug.

Den sowieso schon unruhigen Lord ergriff eine plötzliche Bangigkeit, er konnte sich diese nicht erklären, aber er ahnte, daß der Besuch etwas Unangenehmes für ihn bedeute, und er wünschte nur, daß Ellen sich sogleich frei und offen gegen ihn ausspräche, damit er ihr ebenso offen begegnen könne. Er fühlte sich frei von aller Schuld.

Er bot Ellen einen Stuhl an und setzte sich ihr gegenüber, gespannt ihren ersten Worten lauschend.

»Lord Harrlington,« begann Ellen, und ihre Stimme zitterte anfangs ein wenig, gewann aber bald die Ruhe wieder, »ich komme nicht zu Ihnen, um Sie mit einer Bitte zu belästigen oder Sie um Rat zu fragen, wie Sie wohl erwartet haben mögen; etwas ganz anderes ist es, was mich an Bord Ihres Schiffes führt, etwas viel Wichtigeres, sonst würde ich diesen Besuch wohl unterlassen haben.«

Harrlington blickte bestürzt auf.

Die Einleitung klang ja sehr besorgniserregend. Zur Verantwortung zu ziehen? Was in aller Welt hatte er verbrochen, das Ellen zu diesem Schritte getrieben hatte?

Er antwortete nicht, sondern wartete ruhig, bis Ellen im Sprechen fortfuhr:

»Ich will nicht viele Worte verlieren, sondern es kurz machen. Beantworten Sie einfach meine Frage: Wer ist dieser Mister Wood?«

»O weh!« dachte Harrlington. »Also das ist es, was Ellen wissen will! Hat sie vielleicht etwas über die eigentliche Beschäftigung dieses Mannes erfahren?«

»Mister Wood, der die Spur der beiden Mädchen verfolgt hat und sie jetzt Ihnen wieder zuführt?« sagte er.

»Eben diesen meine ich, denselben, den Sie mir in Batavia als einen sicheren Mann empfahlen, dem ich meine Geheimnisse anvertrauen könnte, derselbe, der es so ausgezeichnet versteht, jede Spur zu verfolgen.«

Sie weiß, was er ist, und ich darf es ihr nicht verheimlichen, dachte Harrlington, und laut und einfach sagte er:

»Er ist Detektiv.«

Ellen war aufgestanden.

»Es ist Nikolas Sharp,« rief sie erregt, sich auf die Lehne ihres Stuhles stützend, »der amerikanische Detektiv, über dessen Verstellungskunst, Spitzfindigkeit, Ränke, Spionage und so weiter man schon so viel gehört hat. Und damit Sie nicht nötig haben, es mir zu gestehen, so will ich Ihrer Mitteilung über ihn zuvorkommen. Sie haben ihn, Nikolas Sharp, den Detektiven, engagiert, daß er mich während dieser Reise überwachen soll, Sie gaben ihm die Mittel, daß er mir in allerlei Gestalten folgen und Sie über meine Pläne in Kenntnis setzen kann. Ist es so oder nicht?«

»Miß Petersen,« bat Harrlington in flehendem Tone, »bedenken Sie doch den Grund, aus welchem ich —«

»Ist es so oder nicht?« unterbrach Miß Petersen den Sprecher hart.

»Es ist so, ja,« antwortete Harrlington aufrichtig.

»Und was haben Sie dabei gedacht, als Sie einen Detektiven, den ich verachte, und noch dazu Nikolas Sharp, über dessen Herzlosigkeit, Zynismus und Roheit man abscheuliche Sachen zu hören bekommt, den Auftrag gaben, mich wie ein hilfloses Kind zu überwachen, ihn über mich zum Vormund setzten?«

»Es war meine Liebe zu Ihnen.«

»Sprechen Sie nicht davon,« fuhr Ellen so heftig auf, daß Harrlington zusammenschrak, er konnte das Wesen Ellens nicht begreifen. »Sprechen Sie nicht mehr von Ihrer Liebe. Was veranlaßt Sie dazu, noch jetzt den Detektiven gleich einem Spürhunde bei sich zu behalten?«

»Noch jetzt?« fragte Harrlington gedehnt. »Ich verstehe Sie nicht, Miß Petersen!«

»Allerdings, noch jetzt,« wiederholte Ellen, immer entrüsteter werdend. »Sie mußten sich überhaupt wundern, daß ich noch den Mut, oder fast möchte ich sagen, die Unverschämtheit besitze, meinen Fuß an Bord Ihres Schiffes zu setzen. Sie wissen recht gut, was ich meine, Ihr eigenes Gewissen wird es Ihnen sagen. Aber Sie wissen auch, daß ich anders denke, als Sie vielleicht von anderen meines Geschlechts gewohnt sind, daß ich alle Rücksichten, welche die Frauen den Männern gegenüber haben sollen, aber sie zu befolgen nicht nötig haben, unbeachtet lasse; und nur deshalb, um meiner Ansicht treu zu bleiben, trete ich selbst vor Sie, um Rechenschaft von Ihnen zu fordern.«

Langsam, zollweise hatte sich der Lord erhoben, die Augen starr auf die Zürnende gerichtet. Noch konnte er nicht im mindesten begreifen, was Ellen von ihm wollte. Ein Mißverständnis mußte es sein, was sie so aufbrachte.

»Ellen,« fragte er bestürzt, und seine Stimme klang traurig, »was ist zwischen uns gekommen, daß Sie so zu mir reden? Beim wahrhaftigen Gott,« er streckte die Hand feierlich empor, »ich weiß nichts, wodurch ich Ihren Unwillen verdient hätte, und ist es der Fall gewesen, so —«

»Rufen Sie Gott nicht zum Zeugen Ihrer Lüge an,« unterbrach ihn Ellen hastig. »Benehmen Sie sich wenigstens wie ein Mann, der die Wahrheit liebt.«

»Lüge?« fuhr jetzt auch Lord Harrlington auf. »Was berechtigt Sie dazu, mir so etwas vorzuwerfen?«

»Den Beweis werde ich gleich bringen. Jetzt aber bitte ich Sie, nein, verlange ich von Ihnen, daß Sie sofort den Detektiven verabschieden, oder, wollen Sie ihn behalten, so verwenden Sie ihn in anderem Interesse. Ich aber verbitte mir ein für allemal, daß er seine Aufmerksamkeit, Ihrem Geheiße zufolge, auf mich richtet.«

»Es soll geschehen! Aber den Beweis, daß ich ein Lügner bin? Was ist es, Ellen, das Sie zu solchen heftigen Worten reizt?«

»Ich bin keine Dirne, mit der man ein Spiel treiben kann!« brauste jetzt Ellen auf, die sich nicht mehr zu mäßigen vermochte. »Und war es nur Ihre Feigheit, welche Sie zurückhielt, mir mündlich oder schriftlich zu gestehen, daß ich Ihnen nicht mehr die bin, die ich Ihnen früher war — ich hätte Ihnen diese Schwäche verziehen, wenn auch mit blutendem Herzen, aber daß Sie es wagen, mir dasselbe offene Gesicht zu zeigen, während Sie mit einer anderen kokettieren, das macht, daß ich Sie verachten muß. Hier der Beweis!«

Sie riß einen Brief aus der Tasche, schleuderte ihn vor die Füße des Lords und wendete sich zur Tür.

Harrlington sah, wie ihr die Tränen aus den Augen stürzten, ein namenloses Weh ergriff ihn, er hob den Brief auf, warf einen Blick darauf, fuhr entsetzt zurück und war im nächsten Augenblick an der Tür, Ellen beim Arm zurückhaltend.

»Beim allmächtigen Gott,« rief er außer sich, »Ellen, ich schwöre dir, diese Adresse ist nicht von mir geschrieben.«

»Lassen Sie mich,« rief Ellen und suchte sich freizumachen — ihre Tränen waren plötzlich vertrocknet. »Ich kenne Ihre Schrift, ich habe sie prüfen lassen, es ist die Ihre.«

Sie wollte sich mit Gewalt von seinem Griff befreien, aber Lord Harrlington ließ nicht nach.

»Ich beschwöre Sie, dieser Brief ist nicht von mir, nie habe ich an Miß Morgan geschrieben.«

Ellen wandte sich um und sah ihm starr in die Augen, eine plötzliche Röte flammte über ihr Gesicht.

»Lügner,« fuhr sie ihn an, »Sie hätten nie an Miß Morgan geschrieben? In England? Soll ich Ihnen noch andere Beweise bringen? Ich kann es!«

Harrlington zog seine Hand von ihr und taumelte zurück.

»Sehen Sie, wie ich Sie fange!« tönte es aus Ellens Munde. »Behaupten Sie nun noch, daß auch dieses Schreiben nicht von Ihnen ist? Doch damit Sie nicht glauben, ich hätte einen Liebesbrief abgefangen, so will ich Ihnen nur noch sagen, daß er ganz zufällig heute in meine Hände gekommen ist. Zufällig habe ich ihn für einen an mich gerichteten gehalten, und versehentlich habe ich ihn erbrochen, aber es war ein Glück, daß ich es tat, und ich bereue es nicht, wurden mir doch dadurch die Augen geöffnet.«

In diesem Augenblick wurde von draußen die Tür geöffnet, und Nick Sharp trat in den Salon.

Sharp überflog die Situation, er sah den Lord bleich wie der Tod dastehen, in der einen Hand den Brief, auf den er wie geistesabwesend starrte, mit der anderen sich die Stirn bedeckend. Sharp wußte sofort, daß es zwischen den beiden eine unangenehme Auseinandersetzung gegeben hatte, und der Gesichtsausdruck, mit dem er der Hinausschreitenden einen Blick nachsandte, war ein unbeschreiblicher, halb bedauernder, halb spöttischer.

Er trat auf Harrlington zu.

»Lord,« sagte er und rüttelte den Betreffenden am Arm, »sehen Sie Gespenster, oder hat Sie ein solches eben verlassen? Sie machen ja ein bejammernswertes Gesicht.«

»Lesen Sie hier,« sagte Lord Harrlington dumpf und reichte ihm den geöffneten Brief.

Der Detektiv überflog den vier Seiten langen Brief, und seine Züge verzogen sich spöttisch.

»Hm,« brummte er, »schöner Brief der heißgeliebten Sarah und so weiter. Gott's Donnerwetter, habe schon manchen hübschen Liebesbrief gelesen, aber so von Schwüren der Treue und Ausdrücken der Sehnsucht hat noch keiner gestrotzt, wie dieser, mir wird ganz flau zu Mute.«

Er faltete den Brief zusammen und händigte ihn dem Lord wieder ein.

»Hätte doch gar nicht gedacht,« fuhr er zu dem ihn wie geistesabwesend ansehenden Lord gewendet fort, »daß Sie diese Miß Sarah Morgan so fürchterlich lieben.«

Wie ein wildes Tier fuhr Harrlington auf den Detektiven zu, packte ihn an der Schulter und schüttelte ihn krampfhaft.

»Sharp,« keuchte er, »glauben auch Sie, daß ich diesen Brief geschrieben habe?«

»Ja,« lachte der Detektiv, »haben Sie mir denn überhaupt schon gesagt, daß Sie ihn nicht geschrieben haben? Aber bitte, lassen Sie mit dem Schütteln nach, sonst fliegt mir der Kopf noch ab, und das möchte ich nicht.«

»Er ist nicht von mir,« sagte Harrlington und gab ihn dem Detektiven wieder.

»Ich glaube es Ihnen, wenn Sie es mir sagen. Aber doch sind es Ihre Schriftzüge.«

»Er ist nicht von mir,« wiederholte der Lord zum dritten Male, »er ist gefälscht.«

»Das kann aber niemand beweisen. Ich kenne Ihre Schrift ganz genau, Zug um Zug, nicht der kleinste Unterschied würde mir entgehen, aber auch ich würde getrost schwören, daß die Buchstaben aus Ihrer Feder geflossen sind. Zeigen Sie mir einmal den Brief!«

Wieder betrachtete er die Buchstaben, mußte sich aber selbst gestehen, auch als er die Handschrift des Lords dagegenhielt, daß nicht der geringste Unterschied zwischen beiden zu bemerken war.

Sharp steckte das Schreiben nach dieser nochmaligen Besichtigung in seine Brusttasche.

»Was soll das?« rief Harrlington. »Geben Sie mir den Brief zurück, ich brauche ihn als Beweis.«

»Bei mir ist er besser aufgehoben,« entgegnete der Detektiv ruhig, ohne der Forderung zu entsprechen, »ich weiß ihn besser anzuwenden, als Sie. Nicht lange soll es dauern, so werde ich herausgefunden haben, aus wessen Feder er stammt.«

Harrlington atmete hoffnungsvoll auf; Sharp hatte recht, er war in diesen Sachen erfahrener als er.

»Haben Sie auch eine Ahnung, wer ihn geschrieben haben könnte?« fragte der Detektiv. »Ein Feind von mir, der mir schaden oder mich Miß Petersen verhaßt machen will.«

»Stimmt! Wissen Sie auch, auf wessen Anraten dies wahrscheinlich unternommen worden ist?«

»Nein.«

»Miß Sarah Morgan wird selbst dazu die Veranlassung gegeben haben.«

»O, in der Tat,« fuhr der Lord auf, »ich traue es diesem Weibe allerdings zu.«

»Sie und keine andere ist es gewesen,« versicherte der Detektiv, »ich kenne sie und ihre Pläne ziemlich genau.«

»Welcher Art sind diese?«

»Ich kann sie Ihnen jetzt noch nicht aufdecken, lassen Sie sich vorläufig meine Angaben genügen, ich bitte Sie darum. Später werde ich Ihnen noch andere Enthüllungen machen.«

Harrlington war es zufrieden.

Plötzlich jedoch nahm sein Gesicht einen düsteren Ausdruck an, er wurde sichtlich verlegen.

»Lieber Sharp,« begann er nach einigem Zögern, »ich muß Ihnen eine unangenehme Mitteilung machen. Es geht doch nicht, daß Sie den Brief behalten. Händigen Sie mir ihn lieber aus, Sie werden sich nicht mehr damit befassen können.«

»Warum nicht?«

»Weil ich Ihnen Ihre Dienste als Detektiv kündigen muß!«

Sharp riß die Augen weit auf.

»Aber warum denn, um Gotteswillen?« brachte er hervor.

»Miß Petersen verlangt es von mir.«

»Unsinn!«

»Es geht wirklich nicht anders, sie verlangt es ausdrücklich, und so lange ich ihrem Willen nicht nachkomme, kann ich keine Hoffnung haben, sie wieder versöhnlich zu stimmen.« »Versöhnlich?« lachte der Detektiv spöttisch. »Beweisen Sie ihr, daß dieser Brief gefälscht ist. Ich gebe Ihnen die Garantie, daß ich nicht nur den Schreiber herausfinden werde, sondern daß ich auch in Bälde diese saubere Miß Morgan entlarven, ihr ganzes Trug- und Lügengewebe aufdecken werde, und Sie sollen sehen, wie schnell sich das Herz dieses spröden Mädchens Ihnen wieder zuwenden wird.«


Illustration

»Unterlassen Sie derartige Redensarten,« sagte Harrlington streng, »Sie sprechen von Miß Petersen, deren Person mir viel zu wert ist, als daß ich in solcher Weise über Sie zu reden dulde.«

»Na ja,« entgegnete Sharp leichthin, »entschuldigen Sie, ich weiß, wie delikat Gentlemen über solche Angelegenheiten denken. Ich bin eben anders konstruiert. Aber meine Dienste aufsagen? Nein. Ohne mir selbst schmeicheln zu wollen, aufrichtig gesagt — tun Sie das nicht. Sie können mich jetzt nicht entbehren, und Sie würden das sehr bald bereuen,«

»Sie haben eine sehr hohe Meinung von sich.«

»Ich sagte Ihnen schon vorher, daß ich mir selbst nicht schmeicheln wollte, ich spreche die Wahrheit.«

»Ich glaube, Miß Lind an Bord der ›Vesta‹ würde für meine Zwecke genügen.«

»Wenn ich diese aber auch zurücknehme?«

»Könnten Sie das?« fragte Harrlington erstaunt. »Ich dachte, Miß Lind wäre selbständig.«

»Dann haben Sie sich geirrt. Miß Lind ist vollkommen von mir abhängig. Und außerdem, erfährt Miß Petersen, daß diese auch eine Detektivin ist, so ist Ihnen auch nicht geholfen — dann muß sie von Bord.«

Harrlington mußte dem Detektiven recht geben.

»Und dennoch bleibt mir nichts anderes übrig« sagte er, »als Ihnen den Dienst zu kündigen, so leid es mir auch tut, denn Sie haben sich uns vielfach nützlich erwiesen.«

Sharp wußte wohl, daß er den Engländern und den Vestalinnen oft mehr als nur nützlich gewesen war, er hatte ihnen oft in der höchsten Gefahr beigestanden, ohne daß diese eine Ahnung davon gehabt hatten, daß die Hilfe von ihm ausging, aber eben, weil er dies wußte, nahm er diese Worte des Lords durchaus nicht übel — beachtete sie gar nicht.

»Was macht mich eigentlich der Miß Petersen so verhaßt?« sagte er.

»Ihr Beruf,« entgegnete Harrlington. »Der Name Detektiv hat einen schlechten Klang. Manche haben ein großes Vorurteil gegen jeden Menschen, der sich, wie sie sagen, zum Detektiven hergibt.«

»Darf ich Sie fragen, warum?«

»Es ist eben ein Vorurteil; man versteht unter dem Detektiven einen Spion, einen Aufpasser und so weiter, der für Geld von jedem zu kaufen ist. Aber nicht alle hegen diese Gesinnung; ich zum Beispiel nicht.«

»Ich will Ihnen erklären, warum man sich berechtigt glaubt, einen Detektiven zu verachten,« sagte Sharp. »Es beruht dies auf einer Verwechselung des Begriffes. Es gibt unter den Detektiven zwei Klassen, die sich unterscheiden wie Wasser und Feuer, für welche aber doch verschiedenen Bezeichnungen existieren, beide Arten nennt man eben Detektive; und daher kommt es, daß alle Detektiven zusammengenommen einen üblen Leumund bekommen haben, während doch nur die eine Art von ihnen einen solchen wirklich verdient. Niemand kann mir zum Beispiel, der ich Verbrechen aufdecke oder zu verhindern suche, vorwerfen, daß ich ein unsauberes Handwerk betreibe, im Gegenteil, es ist ein ganz respektables und ehrenvolles. Geben Sie dies zu, Lord?«

»Soweit ich Sie kenne, halte ich Sie für einen Ehrenmann, mit dem zu verkehren niemand Anstoß nehmen könnte,« versicherte Harrlington, »Aber ich wiederhole Ihnen, daß ich überhaupt frei denke.«

»Die zweite Klasse von Detektiven, zu der ich nicht gehöre, welche ich selbst verachte, ist diejenige, deren Mitglieder man mit dem Namen Spitzel bezeichnet,« fuhr Sharp fort, »und deren Handwerk ist allerdings ein unsauberes.«

»Sie meinen diejenigen,« unterbrach ihn der Lord, »welche sich den Anschein geben, als wären sie selbst Verbrecher und Spitzbuben, mit solchen Kameradschaft zu machen suchen, und dann ihre Spießgesellen verraten Ich kann nicht zugeben, daß deren Handlungsweise zu mißbilligen sei, der Zweck heiligt die Mittel, dieser jesuitische Grundsatz darf hier wenigstens mit vollem Rechte angewandt werden.«

»Auch diese meinte ich nicht,« entgegnete der Detektiv, »ich selbst scheue mich ja nicht, mich als Verbrecher auszugeben, kann ich dadurch eine dunkle Tat aufdecken oder vereiteln. Nein, jene sind es, welche wir unter uns Prämienjäger nennen, die auf die gemeinste Art und Weise sonst ganz unschuldige Leute zu einer strafwürdigen Handlung verleiten, damit sie dieselben anzeigen können und die für die Anzeige ausgesetzte Belohnung bekommen. Ein Beispiel mag Ihnen dies erklären: In England steht eine hohe Strafe auf Hazardspiel, und die Detektiven werden von oben herab dazu angehalten, solchen Spielern besonders scharf aufzupassen, auch ist ihnen deshalb eine hohe Prämie für die Anzeige des verbotenen Spieles ausgesetzt worden. Ich selbst kenne nun Detektiven, welche sich einzig und allein darauf gelegt haben, Leute zum Hazardspiel zu verleiten, und haben sie einige Tage mit ihnen gespielt, so zeigen sie die Betreffenden an, arrangieren wohl auch eine förmliche Verhaftung. Dies ist nur ein Fall, aber es gibt noch unzählige andere, so zum Beispiel das Verführen junger Mädchen, oder wie sie ihre schändliche Arbeit zu bemänteln suchen, das Prüfen auf Sittlichkeit, Verleiten zu unsittlichen Handlungen und so weiter. Diese Spitzel sind daran schuld, daß wir Detektiven einen schlechten Leumund bekommen haben, der bei vielen Glauben gefunden hat, aber im Verträum zu Ihnen gesagt, Lord, mir selbst ist es höchst egal, was die Leute von mir denken. Sage ich mir, meine Handlungsweise ist gut, spricht mein Gewissen sie ehrlich, so kann die ganze Welt mich verurteilen, meinetwegen auch mit dem Finger auf mich zeigen, ich mache mir so viel daraus,« schloß der Detektiv und schnippte mit dem Finger.

»Dann bin ich vollkommen Ihrer Ansicht, Mister Sharp,« versetzte Lord Harrlington, »aber, so leid es mir tut, die gute Meinung, welche ich über Sie habe, darf mich nicht hindern, dem Willen Miß Petersens zu genügen. Sie kennen doch ebenfalls den Charakter dieser Dame, sie haßt alles, was nur in etwas einer Bevormundung oder auch nur einer Vorsorge für ihre Person ähnelt, und ich habe es ihr außerdem auch versprochen, mich ihr fügen zu wollen. Mister Sharp, ich entbinde Sie hiermit der Verpflichtung, weiter über das Schicksal der Miß Petersen zu wachen.«

»Schön,« sagte Nick Sharp nach einigem Überlegen, ich kann mich dieser Kündigung nicht widersetzen. Laut Ihres Kontraktes aber bin ich für die Dauer dieser Dienstreise engagiert: So lange Miß Petersen nicht sicher in New York angelangt ist, habe ich über sie zu wachen und werde dafür bezahlt. Erinnern Sie sich dieses Paragraphen? Sonst kann ich Ihnen denselben vorlesen, ich habe den Kontrakt bei mir.«

»Ist nicht nötig,« hinderte Harrlington den Detektiven welcher seine Brieftasche herausziehen wollte, »ich bin kein Freund von Umständen und Förmlichkeiten, das sehen Sie schon an dem Kontrakt, der von mir so knapp und doch so klar aufgesetzt ist, daß man ihn im Kopfe behalten kann. Sie meinen jedenfalls, daß ich nun, da Ihnen von mir gekündigt worden ist, ohne Ihnen eine Pflichtverletzung nachweisen zu können, Ihnen das ausbedungenen Gehalt weiterzahlen muß, bis die Reise beendet ist?«

Der Detektiv bestätigte dies. »Sie erhielten von mir pro Tag drei Pfund,« fuhr Harlington fort, »es ist ein sehr hoher Gehalt, umsomehr, da Sie ihn auch ohne Dienstleistung weiterbekommen.«

»Ich finde dies nicht,« bemerkte der Detektiv trocken, unter dem arbeite ich überhaupt nicht.«

»Aber Sie arbeiten nicht für mich.«

»Ich werde es doch tun.«

»Auch dann, wenn ich es mir verbitte?« fragte der Detektiv kurz.

»Ich verfolge ein Ziel, welches ich mir gleichzeitig mit der von Ihnen übertragenen Beschäftigung zur Aufgabe machte.«

»Welches ist dies?«

»Die genaue Kenntnis über die Verbrecherbande, durch welche Sie und die Vestalinnen fortwährend belästigt wurden.« »Hm, und Sie wollen dies fortsetzen?«

»Allerdings, ich werde jetzt versuchen, selbst als Mitglied aufgenommen zu werden, und, ist es mir auch nicht mehr erlaubt, Miß Petersen zu beschützen, so wird es mir doch wohl gestattet sein, Ihnen die Pläne mitzuteilen, welche wir gegen diese Dame spinnen, um ihrer habhaft zu werden.«

Des Lords Gesicht, erst etwas ernst und niedergeschlagen aussehend, klärte sich plötzlich auf.

»Das geht,« rief er aus, »auf diese Weise verletze ich weder den Willen von Miß Petersen, noch unterlasse ich, sie durch Sie überwachen zu lassen, wenn auch auf andere Weise, als bisher. Wird es Ihnen möglich sein, selbst ein Mitglied der Bande zu werden?«

»Ich hoffe es.«

»Und Miß Lind?«

»Die bleibt vorläufig an Bord der ›Vesta‹ und versieht ihren Dienst, wie bisher.«

»Warum betonen Sie das Wort »vorläufig«?«

»Weil ich glaube, daß sie bei dem Widerwillen von Miß Petersen gegen Detektiven ihre Rolle nicht mehr lange spielen kann.«

»Warum nicht?«

»Wodurch bin ich entlarvt worden?« fragte der Detektiv. »Durch die Unvorsichtigkeit der Herren des ›Amor‹ selbst. Sir Williams, wie auch Sie selbst, waren so unvorsichtig, mich bei der Unterredung vorgestern, als ich Sie als Mister Wood vor den Aussagen des vernommenen Chinesen warnte, mit meinem richtigen Namen anzureden. Miß Petersen fiel das auf, sie hatte den Namen Sharp schon gehört, und was sie noch nicht wußte, das hat ihr ganz sicher Miß Morgan erzählt.«

»Was hat Miß Morgan damit zu tun? Hat sie einen Grund, Ihre Gegenwart lästig zu finden?«

»Wahrscheinlich,« entgegnete der Detektiv ausweichend, »und dieselbe Person, welche Sie Miß Petersen zu entfremden sucht, welche mich nicht nur haßt, sondern mich als Detektiven zu fürchten Ursache hat, wird auch nicht eher ruhen, als bis Miß Lind die ›Vesta‹ verlassen hat.«

»Weiß sie denn, daß Miß Lind in meinem Dienste beschäftigt ist?«

»Sie wird eine Ahnung davon haben, und sofort, wenn diese ihr zur Gewißheit geworden ist, kann sie die Entfernung derselben bewirken. Erfährt Miß Petersen, daß Johanna Lind eine Detektivin ist, so wird sie außer sich darüber sein und sie unbarmherzig auf der Stelle fortjagen, und bekommt sie nur eine Ahnung davon, so wird sie sicher nicht eher ruhen, als bis sie sich davon überzeugt hat.

»Miß Morgan ist schlau,« fuhr der Detektiv fort, »es wird ihr nicht schwer fallen, bei Miß Petersen Mißtrauen zu entfachen und Miß Lind als Detektivin zu entlarven. Es ist sehr schwer, fortwährend mit jemandem insgeheim zu korrespondieren und dabei keinen Argwohn bei dem zu erregen, der dies nicht haben will.«

»Sie sprechen so geheimnisvoll von Miß Morgan. Was haben Sie eigentlich gegen diese Dame?« fragte Harrlington.

Sharp wich dieser Frage aus. Er sagte, er dürfe über den Charakter einer Person nicht sprechen, von der er nichts Schlechtes behaupten könne, sondern über die er nur Vermutungen hege. Er deutete aber offen an, daß er das Verhältnis kenne, welches in früheren Jahren zwischen ihr und Lord Harrlington bestanden, und bezeichnete Sir Williams als denjenigen, der ihm darüber Mitteilung gemacht habe.

Lord Harrlington nahm die Indiskretion Sir Williams' nicht übel. Er wußte, daß sein Freund den Detektiven nicht davon in Kenntnis gesetzt hätte, wenn er es nicht zu seinem Vorteil geboten hielt.

Dann kamen sie wieder auf den Brief zu sprechen, den Lord Harrlington an Miß Morgan geschrieben haben sollte, der aber in Ellens Hände geraten und von dieser gelesen worden war.

»Aller Wahrscheinlichkeit nach,« sagte der Detektiv, »liegt diesem Weibe daran, vorläufig Zwietracht zwischen Ihnen und Miß Petersen zu säen, was ihr auch gelungen ist. Erst versuchte sie sich bei Ihnen in Gunst zu bringen, und als sie dies nicht erreichte, griff sie nach einem anderen Mittel und bediente sich sogar sehr niederträchtigerweise eines gefälschten Briefes.«

»Wenn nun aber Ellen den Brief nicht erhalten hätte! Es war doch nur ein Zufall, den ich mir gar nicht erklären kann,« meinte Harrlington.

»Dann würde Miß Morgan schon dafür gesorgt haben, daß er doch in die Hände der Kapitänin kam. Es gibt ja so einfache Mittel, das zu bewerkstelligen: Liegenlassen, verlieren oder auch, ihn ihr in einem Streite zu zeigen und sich mit ihm zu brüsten und so weiter. Aber sie selbst wird bewirkt haben, daß er nicht an ihre, sondern an Miß Petersens Adresse kam.«

Hierauf teilte Sharp dem Lord die Abenteuer mit, welche er seit der Abfahrt des ›Amor‹ durchgemacht hatte.

»Miß Sargent und Miß Nikkerson sind bereits an Bord der ›Vesta‹, ich traf die Kapitänin dort nicht an und war auch ganz zufrieden damit, denn ihr kalter Dank hätte mich nicht erfreut, vielmehr mich zu einer beleidigenden oder doch spöttischen Äußerung hingerissen. Miß Staunton und Hannes haben unseren Zug versäumt, sie werden mit dem nächsten hier eintreffen.«

In diesem Augenblicke kam Hannibal herein und brachte seinem Herrn ein Telegramm.

»Hier eine Depesche von denen, über welche wir eben sprachen,« sagte Harrlington. »Hannes und Miß Staunton sind in Canton und werden mit der ersten Fahrgelegenheit hier eintreffen, telegraphiert Hannes.«


Illustration

»In Canton?« rief der Detektiv. »Die beiden jungen Leutchen scheinen das Versäumen des Zuges absichtlich arrangiert zu haben, um sich meiner Aufsicht zu entziehen und unternehmen nun eine kleine Vergnügungsreise auf eigene Faust. Ausgezeichnet, das sieht ihnen ganz ähnlich!«

Sharp erzählte dann noch, daß die wahnsinnige Mistreß Congrave in besorgniserregendem Zustande in einem Hospital in Scha-tou untergebracht sei, welches für kranke Seeleute eingerichtet und unter der Leitung von barmherzigen Schwestern stehe. Ein starkes Nervenfieber drohe ihr Leben zu vernichten, oder aber, wenn sie es überstände, würde eine Änderung in ihrem umdunkelten Gehirn stattfinden. Der Anblick der Photographie ihres Mannes habe die Krisis herbeigeführt.

»So bleibt es dabei,« sagte Lord Harrlington, als sich der Detektiv verabschiedete, »ich gebe Ihnen hiermit Ihre Entlassung, wie es Miß Petersen wünscht. Was Sie sonst unternehmen, geht mich nichts an — Sie wissen, was ich damit meine — nur bitte ich Sie, nicht, wie bisher, speziell in der Nähe der Kapitänin zu bleiben und über ihre Sicherheit zu wachen, sondern ihr den Schutz in anderer Weise angedeihen zu lassen, so, wie Sie es mir angedeutet haben, und womit ich einverstanden bin. Sie werden, wie bisher, bei den betreffenden Banken die Summen vorfinden, welche Sie zum Operieren nötig haben, denn ich mute Ihnen nicht zu, die Kosten aus Ihrer Tasche zu bestreiten, Good bye, Mister Sharp, ich wünsche Ihnen recht viel Glück, zu Ihrem neuen Berufe, lassen Sie es sich unter den Verbrechern und Gaunern recht gut gehen, und verschonen Sie uns vor allen Dingen und ganz besonders mich mit Diebstählen, Einbrüchen und Totschlägen.«

Lachend über diesen Wunsch, schüttelten sich beide Männer die Hand, Sharp zündete sich aus dem neben ihm stehenden Kistchen noch eine Zigarre an und entfernte sich, den Lord in tiefen und traurigen Gedanken zurücklassend.


2. Meuterei.

Die »Recovery« lichtete die Anker. Die sechzehn neugemusterten Matrosen standen an den Winden, um welche die Ankerketten laufen, sorgten dafür, daß diese nicht unklar wurden, das heißt, daß ihre Glieder immer glatt auf der Scheibe lagen und regulierten mittels der Hebel die Schnelligkeit des Emporhebens nach dem Kommando des Kapitäns, welcher auf der Brücke stand und alles leitete.

Auch die Heizer, ebenso viele wie die Matrosen, waren unten im Heizerraum emsig beschäftigt, das bewies die Rauchwolke, welche aus dem Schornsteine emporwirbelte drehte doch der Kapitän sofort, wenn die Anker auch noch nicht an Deck lagen, sondern nur erst eine gewisse Höhe erreicht hatten, den elektrischen Signalaparat, der dem Ingenieur im Maschinenraum befahl, die Schraube mit halber Kraft gehen zu lassen.

Hannes hatte sich geirrt, als er glaubte, ein Postdampfer könne die Fahrt von Canton bis nach Scha-tou in sechs Stunden zurücklegen.

Wohl lautete der Fahrplan so, aber es verhielt sich eher ebenso, wie bei den Schnelldampfern zwischen Deutschland und New-York, welche angeblich diese Fahrt in fünf Tagen zurücklegen können, worunter man jedoch nur die Ozeanfahrt, nicht aber die in der Nordsee versteht. Diese muß zugerechnet werden.

Canton liegt in einer tiefen Bucht, durch die Mündung eines Flusses gebildet, und das Schiff hat erst über hundert Meilen zurückzulegen, ehe es das offene Meer erreicht. Ebenso liegt Scha-tou in einer kleinen Bucht, alles Strecken, die man gewöhnlich nicht mitrechnet.

Die dreihundert Meilen von Canton bis Scha-tou konnte die »Recovery« erst in vierundzwanzig Stunden durchmessen, denn sie war kein Schnellpostdampfer und fuhr nur zwölf Knoten oder Meilen in der Stunde.

Auch Hannes stand an einer Winde und handhabte den Hebel, durch den das Zuströmen des Dampfes und somit die Umdrehungen der Scheibe reguliert werden, erklärte Hope oder jetzt Jim, wie solch eine Maschine zu bedienen sei und leitete sie an, die Kette richtig laufen zu lassen.

In Hope war wieder etwas wie Bangigkeit aufgestiegen, als sie erfuhr, daß sie eine Nacht zwischen diesen rohen Matrosen zubringen sollte.

»Wir bleiben an Deck,« tröstete Hannes. »Es verspricht eine schöne Nacht zu werden. Wir machen uns aus Segeln unter den Booten Hängematten und schlafen darin, sonst schadet es auch nichts, wenn wir uns die Nacht durch munter halten, den versäumten Schlaf holen wir dann morgen nach.«

»Sind denn nur die Matrosen alle so roh?« fragte Hope etwas niedergeschlagen. »Das ist ja ein Fluchen und Schwören hier, wie ich es noch nie gehört habe. Alles ist bei diesen Leuten »blutig«, sogar das Essen, und wenn Gott jeden blind machte, der es wünschte, so könnte kein einziger an Bord mehr sehen. Sieh nur den dort mit dem zerschnittenen Gesicht, wie er flucht und schimpft, weil die Winde nicht ordentlich läuft.« »Ja, es ist ein rohes Korps,« meinte Hannes. »Ein braver Kerl hütet sich, in solch einem Lande, wie China, von Bord zu laufen und auf ein anderes Schiff zu mustern. Merkwürdig ist es übrigens, wie diese Kerle zusammenhalten. War es mir doch schon heute morgen, als der Kapitän sich seine Leute aussuchte, als ob sie alle zusammen unter einer Decke steckten.«

»Nichtwahr, mir kam es auch so vor,« bestätigte Hope. »Entweder liegen sie schon lange an Land und kennen sich daher, oder sie sind vielleicht schon früher Schiffskameraden gewesen. Auch die Heizer stecken soviel die Köpfe zusammen und flüstern untereinander. Vorhin habe ich ganz deutlich gemerkt, wie sie sich von uns unterhalten haben, einer deutete auf uns und wurde von dem anderen sofort in die Seite gestoßen, daß er das Fingerzeigen lassen sollte.«

»Was sagten sie denn?«

»Sie sprachen spanisch oder portugiesisch, ich habe es daher nicht verstehen können.«

»Hm, es ist ein Lumpengesindel, aber der Kapitän, der erste Steuermann und der Bootsmann besitzen mein Vertrauen, das sind ehrliche Kerls, der zweite Steuermann dagegen hat einen falschen Blick, mir kommt es überhaupt vor, als habe er ein böses Gewissen, außerdem beschäftigt er sich so intim mit der Bande.«

»Aber er schnauzt sie doch gerade recht an, er flucht und schimpft über sie, daß einem die Haare zu Berge stehen.«

»Gerade das kommt mir so eigentümlich vor, denn manchmal scheint es mir dann wieder, als ob er sich heimlich mit ihnen unterhalte, und kommt der erste Steuermann oder der Bootsmann in seine Nähe, so fängt er wieder an zu schimpfen.«

»Was soll das aber bedeuten?«

»Ich weiß es nicht. Ruhig! Ein Heizer kommt vorüber, er könnte uns belauschen.«

Als der Heizer, der aus dem Maschinenraum kam und sich nach dem Logis begab, an ihnen vorüber war, blickten sich Hannes und Jim erstaunt an.

»Herrgott, Jim,« flüsterte Hannes, »es ist mir doch gerade, als ob ich dieses Gesicht schon einmal gesehen hätte.«

»Ich glaube dasselbe,« war die Antwort, »aber wo nur? Sahst du, wie er den Kopf abwendete, als er an uns vorüberging? Gerade, als wenn er von uns nicht erkannt sein wollte.«

Sie berieten hin und her, wo sie dieses dunkelrote Gesicht mit den schwarzen Augen und der eingebogenen Nase schon einmal gesehen hätten, konnten aber nicht darauf kommen.

»Nun,« meinte Hannes zuletzt, »wir sind ja nur 24 Stunden an Bord, so lange können wir es schon unter ihnen aushalten. Grün sind sie uns alle nicht gesinnt, das merkte ich schon, als wir an Bord kamen und den Chinesen halfen. Sie hätten lieber gesehen, wenn wir nicht angemustert worden wären, und nur, daß ich dem Renner, der allen Seeleuten verhaßt ist, eine Lektion erteilte, stimmte sie etwas günstiger.«

»Wir haben hier übrigens das größte Recht,« sagte Jim. »Wir haben uns beide als Jankees ausgegeben, ich bin auch wirklich einer, und dieses Schiff fährt unter dem Sternenbanner der Vereinigten Staaten; die anderen sind nur Engländer oder Südländer.« »Darauf kommt es nicht an,« versetzte Hannes. »Vorzug haben wir deshalb nicht zu beanspruchen, höchstens, daß der Kapitän uns als Landsleute freundlicher behandeln wird. Hoffentlich haben wir aber nicht nötig, seine Hilfe in Anspruch zu nehmen, und es müßte schon schlimm kommen, ehe ich das täte. Vorläufig bin ich noch Mann genug, mich von diesen Kerlen nicht schikanieren zu lassen.«

Ein Boot kam an das Schiff, der Lotse betrat die Kommandobrücke, und sofort drehte der Kapitän auf sein Geheiß den elektrischen Apparat; im Maschinenraum klingelte es, und die Schraube begann sich zu drehen — die »Recovery« trat die Reise an, vom Lotsen so lange geleitet, bis die Bucht verlassen und das offene Meer erreicht war.

Die Wachen wurden verteilt, Hannes richtete es so ein, daß Jim auf die seinige kam, trotzdem der zweite Steuermann im Willen hatte, sie zu trennen. Er ging einfach zu dem dieser Verteilung beiwohnenden Kapitän und bat ihn, daß er mit seinem Freunde zusammenbleiben könnte.

Brummend mußte sich der Steuermann dem Geheiß des Kapitäns fügen.

»Ist das nicht sonderbar, daß uns der Steuermann durchaus zu trennen suchte?« flüsterte Hannes dem Leichtmatrosen zu, als beide unter der Back standen und Taue zusammenbanden. »So sehr er sich auch die Mühe gab, es als ganz zufällig erscheinen zu lassen, mir entging seine Absicht doch nicht.«

Es wurde fast Abend, ehe die »Recovery« das offene Meer, die chinesische See, erreichte.

Um acht Uhr wurde die Steuerbordwache, zu welcher Hannes und Jim gehörten, abgelöst, der Steuermann übernahm jetzt das Kommando des Schiffes, und nachdem die Abgelösten das Abendbrot zu sich genommen hatten, legten sie sich entweder in ihre Kojen oder begaben sich aus dem Logis noch einmal an Deck, um im Freien noch eine Pfeife zu rauchen.

Hannes und Jim hatten sich vorn auf die Back gesetzt, plauderten zusammen, sahen zu, wie der Lotse von einem Boote abgeholt wurde, und trafen dann ebenfalls Vorbereitungen zu einem Lager für die Nacht.

Sie hatten weder Matratzen, noch Decken mitgenommen, aber die Nacht war warm, Regen nicht zu befürchten, und so beschlossen sie, wie schon Hannes vorgeschlagen hatte, in Hängematten zu schlafen.

Im Logis hatten sie zwei Segel liegen lassen, diese holten sie sich, knüpften die Enden unter je ein Boot und hatten auf diese Weise ein Bett hergestellt, wie es unter den Seeleuten sehr beliebt ist, denn es ist durch seine Elastizität so weich, als wären Sprungfedern darunter, und da die eine Seite höher gebunden wird, so ist auch ein Kopfkissen entbehrlich. In einer Minute ist so eine Hängematte hergestellt.

Hope wußte nicht, wie lange sie geschlafen hatte, als sie unter einem Schauer aufwachte.

Es hatte sich ein heftiger Wind erhoben; das Meer begann sich ungestüm zu bewegen, und in der Takelage ward schon das eigentümliche Sausen hörbar, welches den Seemann immer an das Brodeln im Bratofen erinnert.

›Der Teufel bratet sich sein Mahl‹, sagt der Matrose und wickelt sich fester in die dünne Decke, wünschend, daß das Zischen nicht stärker wird, sonst wird er durch den Ruf: ›Alle Mann an Deck‹ sicher zur außergewöhnlichen Arbeit aus der Koje geholt. Aber so sehr er sich auch Mühe gibt, wieder in Schlaf zu fallen, immer muß er dem unheimlichen Zischen zuhören, es läßt ihn seine Augen nicht wieder schließen.

Auch Hope konnte keinen Schlaf mehr finden; wie gebannt hingen ihre Augen an den dunklen Raaen, die nur schwach in der Dunkelheit sichtbar waren, und hörte auf das seltsame Geräusch, welches sie noch gar nicht vernommen hatte, weil die Raaen der ›Vesta‹ eines Segelschiffes, stets nach dem Winde gerichtet wurden, während die auf einem Dampfer gewöhnlich so stehen bleiben, wie sie eben einmal zufällig gewendet werden.

Außerdem war es kälter geworden; der starke Wind hatte die Luft abgekühlt, und schon begannen ab und zu die Kämme der schäumenden Wogen über die Bordwand zu kommen, und die beiden Schläfer in der Hängematte mit einem kalten Sprühregen zu überschütten.

Hannes merkte davon nichts. Er schlief nicht nur sanft weiter, er begleitete sogar das Seufzen in der Takelage mit einem kräftigen Schnarchen, und zwar in zwei Tonarten, einer hohen und einer tiefen, je nachdem er von dem schlingernden Schiff auf die eine oder auf die andere Seite geworfen wurde.

»Wenn ich eine Decke hätte, könnte ich wieder einschlafen, es friert mich zu sehr,« dachte Hope, »aber wie soll ich eine solche hier bekommen?«

Da fiel ihr ein, daß sie am Morgen in der Segelkoje, welche sich hinten im Schiff, ganz in ihrer Nähe befand, einige kleine Stücke Segeltuch gesehen habe. Sie beschloß, zwei davon zu holen, eins für sich, das andere, um Hannes damit zuzudecken, damit er wenigstens, wenn er aufwachte, nicht mit nassem Zeug an Deck zu gehen brauche.

Hope stand also auf und ging nach der Tür, welche zur Segelkoje führte. Sie bedurfte nur noch einiger Schritte, so hatte sie dieselbe erreicht. Sie wunderte sich noch, außer dem ersten Steuermann auf der Kommandobrücke niemanden an Deck zu sehen, die Matrosen waren wahrscheinlich alle, da der Dienst auf einem Dampfer ein sehr sorgloser ist, im Logis und unterhielten sich durch Gespräche oder Kartenspiel.

Das junge Mädchen huschte hinein und tastete im Dunklen sich über die Segel hinweg nach der Stelle, wo sie die Stücke hatten liegen sehen. Aber sie lagen nicht mehr dort, sie waren weggeräumt worden, und Hope, welche kein Feuerzeug bei sich hatte, blieb nichts anderes übrig, als so lange im Dunklen herumzutappen, bis sie die Stücke gefunden hatte, wenn sie nicht ihre Absicht aufgeben wollte.

So kroch sie denn über die aufgetürmten Segel hinweg, zupfte bald hier, bald da an einem Tuche, um zu prüfen, ob es nachgebe, oder ob es ein schweres Segel sei, und näherte sich schon der anderen Ecke der Koje, als sie plötzlich die Tür aufgehen und die Umrisse zweier eintretenden Männer sah.

Hope lag oben auf einem etwas tiefer befindlichen Segel in der äußersten Ecke der Kammer, schon wollte sie ihr Suchen fortsetzen und so ihre Anwesenheit zu erkennen geben, als die geflüsterten Worte eines der beiden Männer bewirkten, daß sie sich plötzlich dicht auf das Segel schmiegte und lauschte.

»Hier sind wir sicher,« hörte Hope leise sagen. »Der erste Steuermann steht auf der Brücke, hat uns nicht hineingehen sehen, und der Bootsmann schnarcht in seiner Koje, wie ein Bär. Ich habe mich soeben davon überzeugt.«

Hope kannte diese Stimme, es war die des zweiten Steuermannes, welcher um zwölf Uhr die Wache über nehmen mußte. Der Bootsmann ist auf jedem Schiffe Freiwächter, das heißt, er leitet nur während des Tages die Arbeiten der Matrosen, in der Nacht schläft er, geht also keine Wache, ebenso wie der Zimmermann.

»Und wo sind die beiden Grünschnäbel?« hörte Hope die andere Stimme flüstern, welche sie nicht kannte. Sie wußte sofort, daß mit den beiden Grünschnäbeln sie und Hannes gemeint waren.

»Die schlafen in Hängematten unter den Booten,« klang es zurück, »habe mir sie erst vor einigen Minuten angesehen. Die beiden Bengel scheinen heißes Blut zu besitzen; es geniert sie gar nicht, daß das Wasser fortwährend über sie hinwegspritzt, sondern sie schnarchen ein Duett zusammen.« »Ihr heißes Blut wird sich schon noch abkühlen,« lachte der andere leise. »Wenn sie erst Bekanntschaft mit dem Meere machen, wird die Hitze wohl nachlassen.«


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Hope schmiegte sich noch dichter an die Segel und hielt den Atem an — sie hatte die Drohung verstanden, dieselbe galt ihnen.

»Wollt Ihr die beiden Kerlchen wirklich hinüberschaffen? Es wäre schade um die Jungens!«

»Unbedingt,« flüsterte der Unbekannte, sie beide passen nicht für uns, der große gleich gar nicht, er besitzt zu viel von dem, was man Ehrgefühl und Rechtschaffenheit nennt; sein Verhalten dem Renner gegenüber hat das gezeigt, ebenso, daß er eine erkleckliche Quantität von Energie besitzt. Sie beide müssen, ebenso wie der Kapitän und der erste Steuermann, den Haifischen zum Futter dienen.« »Ihr seid entsetzliche Menschen,« hauchte der Steuermann.

»Euer Gewissen wird schon noch die nötige Weite erhalten, daß Ihr Euch auch nicht mehr viel aus einem Menschenleben macht,« lachte der Unbekannte wieder leise, »dankt Eurem Gott oder dem Teufel, daß Ihr Euch auf unsere Seite geschlagen habt, sonst wäre Euer Schicksal dasselbe.«

»Und seid Ihr auch aller Matrosen und aller Heizer sicher, daß wir nicht noch auf Widerstand stoßen?«

»Aller,« versicherte der Unbekannte. »Sechsundzwanzig Mann, darunter ich, gehören sowieso schon zu unserer Bande, auch die meisten der anderen, welche an Bord des Schiffes anmustern wollten, und die vier Fremden, deren Anmusterung wir nicht vereiteln konnten, haben wir schon für unsere Sache gewonnen, ebenso wie Euch.«

»Können keine Verräter darunter sein?«

»Wer bei uns einmal A sagt, muß auch B sagen, sonst baumelt er. Als sie das Handgeld von mir empfingen, haben sie sich dem Teufel mit Leib und Seele verschrieben. Dasselbe gilt für Euch, Steuermann.«

»Donner, höflich seid Ihr eben nicht! Ich werde einen groben Kapitän bekommen!«

»Seid unbesorgt!« lachte die unbekannte Stimme heiser. »Eine Krähe hackt der anderen die Augen nicht aus.«

Die Schiffsglocke schlug siebenmal, drei Doppelschläge und einen einfachen — es war halb zwölf Uhr.

»Was habt Ihr für einen Plan ausgesonnen, Kapitän?« hörte Hope den Steuermann fragen.

Ein Kapitän war der, mit dem der Steuermann sprach. Wenn er noch keiner war, dachte Hope, so wollte er ein solcher werden, denn, daß eine Meuterei ausbrechen sollte, wußte sie jetzt ganz bestimmt.

»Wir warten noch bis vier Uhr, wenn der erste Steuermann wieder auf Wache geht,« entgegnete der Unbekannte, »Wie Ihr sagt, kommt zu derselben Zeit immer der Kapitän an Deck, um sich Meldung erstatten zu lassen und in dem Augenblick, da die beiden ihre Kabine verlassen, müssen sie überwältigt werden. Der Bootsmann wird schon vorher im Schlaf unschädlich gemacht, ohne ihn zum Schreien kommen zu lassen. Die beiden Ingenieure überwältigen wir bei Gelegenheit, unten im Heizraume können sie nicht viel anfangen.«

»Und die beiden fremden Matrosen?«

»Sie bekommen einfach einen Schlag auf den Hirnkasten, wenn sie nicht freiwillig über Bord springen.«

»So wollt Ihr also nicht noch versuchen, sie Euren Absichten willfährig zu machen?«

»Nein, sie gefallen mir nicht. Ich kenne solche Charaktere. Diese Dummköpfe würden sich lieber töten lassen oder aber ihr Leben so teuer wie möglich verkaufen, ehe sie sich zu einem solchen Geschäft hergäben, wie wir es betreiben.«

»Und der Kapitän, der Steuermann, der Bootsmann und die Ingenieure?«

»Von denen gilt dasselbe. Ihr Leben ist verwirkt. Mitleid kenne ich nicht.«

»Aber wir brauchen jemanden, der mit der Maschine umzugehen weiß. Den Heizern, die an Bord sind, traue ich eine solche Fähigkeit nicht zu.«

»Das ist es eben, was mich so ärgert,« grollte der Unbekannte, »deshalb mußte ich mich als Heizer anmustern lassen, damit ich erst einmal mit der Maschine bekannt wurde. Es geht nicht anders, Ihr müßt einstweilen das Kommando an Deck übernehmen, und ich bleibe unten bei der Maschine, bis wir im nächsten Hafen einen richtigen Ingenieur an Bord geschickt bekommen.«

»Wer sorgt für diesen, und wohin fahrt Ihr?«

»Das ist mein Geheimnis und geht niemandem etwas an, als mich allein. Ich habe von dem, dem auch ich gehorchen muß, meine Befehle erhalten, und damit basta.«

»Hallo, Ihr seid kurz angebunden,« lachte der Steuermann, »na, meinetwegen, ich weiß, daß Ihr nicht plaudern dürft, und werde mich schon noch an Euer seltsames Sprechen und Handeln gewöhnen müssen.«

»Ihr werdet Euch dabei nicht schlecht stehen,« versicherte der andere. »Euer Gehalt geht ruhig fort, und wenn das Schiff zu dem gebraucht wird, was ich glaube, so werdet Ihr durch den Anteil am Gewinn Summen erhalten, die Euch bald zum reichen Manne machen werden.«

Die Schiffsglocke gab einen Schlag, ein Zeichen, daß es Zeit war, die Schlafenden zu wecken, welche die Wache übernehmen mußten, Matrosen, Heizer, wie Offiziere.

»Zehn Minuten vor Zwölf,« flüsterte der Unbekannte, »es ist die höchste Zeit, daß wir die Segelkoje verlassen, sonst wird der erste Steuermann argwöhnisch. Hier, Maat faßt das Segel mit an. Wir tragen es nach vorn und decken damit die Luke zum Maschinenraum zu. Fragt dann der Steuermann, warum, so antwortet Ihr, es taute stark, und die Maschinenteile könnten naß werden.«

»Noch eins, ehe wir gehen!« sagte der zweite Steuermann. »Wenn morgen früh um vier Uhr nun gerade ein Schiff in Sicht ist?«

»Das wird nichts ausmachen,« versetzte der Mann, den Hope nicht kannte, »wir nehmen ja alles unter Deck vor, überdies ist es ja um vier Uhr noch dunkel, die Sonne geht erst später auf. Und außerdem, übernehmt, Ihr jetzt die Wache auf der Kommandobrücke, ich werde Euch dann einen Kurs angeben, den Ihr steuern laßt, damit wir aus der Dampferlinie herauskommen. Segelschiffe haben wir nicht zu fürchten.«

»All right, Kapitän, so werde ich also für diese Fahrt Eure Stelle vertreten,« lachte der Steuermann.

»Und bin ich erst Kapitän dieses Schiffes, so sollt Ihr Euch über mich nicht zu beklagen haben.«

Beide faßten ein Segel an, schleiften es hinaus und trugen es nach vorn.

Hope lag noch immer da, die Hand aufs Herz gepreßt und glaubte, es müßte ihr springen. Sie hatte schon immer gefürchtet, sein lautes Klopfen könnte ihre Anwesenheit verraten.

Meuterei! Das war ihr einziger Gedanke.

Der Kapitän, der erste Steuermann, der Bootsmann, die beiden Ingenieure, Hannes und sie selbst sollten also als Opfer fallen, damit sich die Besatzung in den Besitz der »Recovery« setzen konnte; zu welchem Zwecke, das wußte sie allerdings nicht, aber sie hatte seit Antritt der Reise schon so Entsetzliches gehört und gesehen, daß sie das Schlimmste für möglich hielt.

Wie sollte sie nun aber unbemerkt aus der Segekoje kommen und die Bedrohten warnen, daß man die Meuterei noch rechtzeitig unterdrücken konnte? Sie waren ja nur sieben Mann, die Meuterer dagegen einunddreißig.

Ehe es zwölf Uhr schlug und die Steuerbordwache an Deck kam, mußte sie die Kammer unbedingt verlassen haben, sonst wurde sie an Deck vermißt, und schließlich fand man sie hier, an dem Platze, wo eben diese unheimliche Unterredung stattgefunden hatte.

Hope kroch über die Segel hinweg der Türe zu, öffnete sie ganz vorsichtig und spähte durch die schmale Spalte hinaus. In ihr Herz war plötzlich ein wunderbarer Mut eingezogen, bei ihr stand es jetzt, das Leben von sechs Männern zu retten, und unter diesen war auch Hannes, ihr Hannes. An ihr eigenes dachte sie in diesem Augenblick gar nicht.

An Deck war niemand zu sehen. Die Matrosen weckten die Heizer und ihre Kameraden, welche sie ablösen sollten, der zweite Steuermann zog sich in seiner Kabine zum Nachtdienst um, und der erste auf der Brücke hätte sie ruhig sehen können — er gehörte ja selbst zu den Bedrohten.

Schnell schlüpfte sie hinaus, war mit drei Schritten an ihrer Hängematte und lag im nächsten Augenblick darin. Hannes schlief noch immer fest.

»Steuerbordwache an Deck,« hallte es von der Kommandobrücke, gleichzeitig mit den acht Schlägen der Schiffsglocke.

Die Ablösenden erschienen sofort alle, sie konnten gar nicht geschlafen haben. Natürlich, das Gespräch über die schauerliche Tat, welche sie vorhatten, ließ sie nicht schlafen — vielleicht auch nicht ihr Gewissen.

Hope sprang heraus und rüttelte Hannes.

»Zwölf Uhr,« sagte der Matrose, sich die Augen reibend. »Donner und Doria!« rief er dann und sprang mit einem Satze aus der Hängematte. »Ich habe ja Wache am Ruder, Jim, schaffe die Hängematten wieder dahin, wo sie lagen, und während der zwei Stunden, die ich am Steuerrad stehe, kannst du mir etwas Gesellschaft leisten.«

Hope erschrak. Sie hatte gar nicht mehr daran gedacht, daß Hannes den Mann am Ruder abzulösen habe. Es war ihr sehr unangenehm, denn teilte sie ihm dort alles mit, was sie gehört, so mußten die anderen ihre Unterhaltung bemerken und konnten vielleicht Argwohn schöpfen. Lieber wäre es ihr gewesen, sie hätte den Matrosen in irgend einem versteckten Winkel sprechen können.

Ehe sie Hannes nur irgend etwas sagen konnte, war dieser schon zum Steuerrad gesprungen, hatte sich den zu steuernden Kurs übergeben lassen und die Speichen dem anderen aus der Hand genommen.

»Der Wind ist bös geworden,« sagte oben auf der Kommandobrücke der erste Steuermann zu dem ihn ablösenden Kollegen. »Lassen Sie noch einen Mann ans Ruder treten, das Ruder schlägt stark, ich merke es an dem Kompaß, und für einen Mann wird es etwas schwer zu halten sein.«

Der zweite Steuermann versprach, diesem Geheiß sofort nachzukommen. Er hatte dem ersten Maat zu gehorchen und mußte alles vermeiden, was bei diesem Argwohn hätte erwecken können. Jim, der Leichtmatrose, konnte seinem Gefährten Gesellschaft leisten. Auf diese Weise waren die einzigen der Mannschaft, welche nicht zu den Eingeweihten gehörten, von den anderen getrennt, sodaß diese nicht zu befürchten brauchten, bei unvorsichtig geführten Gesprächen belauscht zu werden.

»Jim,« rief er dem vorübergehenden Leichtmatrosen zu, während der erste Steuermann eben die Brücke verließ, »gehe als zweiter Mann ans Ruder! Halte aber gut fest, du Knirps, daß dich das Rad nicht umwirft, sonst könntest du Schaden erleiden, und das sollte mir leid tun.«

Jim achtete nicht auf den Spott, der in diesen Worten lag — er wußte ja, was dieser Mann Böses mit ihm vorhatte — er war nur froh, so Gelegenheit zu bekommen, mit Hannes ungehindert sprechen zu können.

»Hannes,« flüsterte Hope, als sie neben ihm am Rad stand, »ich muß dir Furchtbares mitteilen. Die ganze Besatzung besteht aus Meuterern, sie wollen den Kapitän, die Offiziere und uns ermorden, damit sie in den Besitz des Schiffes kommen. Der zweite Steuermann selbst wird sie anführen.«

Hannes vergaß für einen Augenblick ganz, den Kompaß zu beachten, er hielt das Rad fest, unbekümmert, daß die Nadel stark abfiel, und hörte mit offenem Munde die Worte seines Kameraden.

Dann aber raffte er sich zusammen. Das Rad gleichmäßig hin- und herdrehend, so wie es die Schwankung der Nadel erfordert, die Augen starr auf den Kompaß gerichtet, hörte er, ohne ein Wort zu erwidern, die Enthüllungen an.

»Wer war der, mit dem der zweite Steuermann sprach?« fragte er.

»Erst wußte ich es nicht,« entgegnete Hope, »vorhin aber, als die Wache an Deck kam, habe ich den Mann an seiner Stimme wieder erkannt. Es ist derselbe, der heute morgen beim Vorübergehen an uns den Kopf wegwendete.«

»Der Heizer mit den unheimlichen Augen und dem schwarzen Knebelbart also! Wo habe ich den Kerl nur schon einmal zu sehen Gelegenheit gehabt?«

»Laß das jetzt,« flehte Hope, »du bist klüger und erfahrener als ich, gib einen Rat, wie wir den Anschlag dieser Schändlichen verhindern können, oder ich laufe in meiner Verzweiflung zum Kapitän und erzähle ihm alles, obgleich ich weiß, daß es jetzt das Törichtste wäre, aber ich vergehe fast vor Angst.«

»Es wäre auch sehr töricht, Jim. Den Kapitän müssen wir natürlich warnen, ebenso die Offiziere, Ingenieure und den Bootsmann, aber jetzt noch nicht, und wir können es nicht tun, so lange wir am Ruder stehen. Ein Glück ist es, daß sie die Zeit so genau verraten haben, es sind also noch vier Stunden bis dahin, und inzwischen können wir noch viel entgegenarbeiten.«

»Wenn sie aber nun ihren Plan schon eher zur Ausführung bringen?«

»Wenn sie vor zwei Stunden mit der Meuterei beginnen, dann, mein armer Jim, müssen wir um unser Leben kämpfen, und wir wollen es so teuer wie möglich verkaufen. Revolver haben wir glücklicherweise bei uns, die anderen aber jedenfalls auch, denn die Matrosen auf amerikanischen Schiffen sind immer bewaffnet. Sind diese zwei Stunden am Ruder aber verstrichen, so erspähen wir die erste Gelegenheit, in die Kajüte zu kommen, selbst wenn wir dabei bemerkt werden sollten, alarmieren Kapitän und Offiziere und kommen den Meuterern zuvor.«

»Laß mich schon jetzt gehen oder schleiche du fort,« bat Hope. »Bedenke, unser aller Leben ist verloren, wenn sie schon eher beginnen, und wir sind an ihrem Tode schuld!«

»Es geht nicht,« beharrte aber Hannes. »Verläßt einer von uns das Steuerrad und geht in die Kajüte, so ist sofort alles verraten. Gedulde dich, meine Hope, glaube nur, daß es auch mir schwer wird, untätig hier stehen zu müssen.« Das waren zwei lange Stunden am Steuerrad, die längsten, die sie je verlebt hatten. Jede Minute ward zur Stunde; die aller halben Stunden gegebenen Schläge der Schiffsglocke ließen stets eine Ewigkeit auf sich warten. Sie sahen, wie die Matrosen in Gruppen zusammenstanden und fluchten, wie sie zwei und zwei in Winkeln saßen und Unheil ausbrüteten, und wie ab und zu ein Mann auf die Brücke ging und mit dem zweiten Steuermann sprach. Gab dieser schon jetzt das Zeichen, die Meuterei beginnen zu lassen, so war ihr Leben verwirkt.

Aber die Minute läßt sich auch in der schwersten Stunde nicht aufhalten, sie rollt dahin, in die Vergangenheit hinüber, und der Mensch darf sich darob freuen.

So gab auch endlich die Glocke der »Recovery« vier Schläge von sich, auf das Steuerrad kamen zwei dunkle Gestalten gegangen und lösten mit mürrischer Miene unsere beiden jungen Freunde ab.

»Diese zwei Stunden vergesse ich in meinem ganzen Leben nicht!« flüsterte Hope, als sie neben dem Matrosen dem Vorderteil des Schiffes zuschritt. »Ich bin in ihnen um zwei Jahre gealtert. Was nun, Hannes?«

»Setz' dich hierher, Jim!« sagte Hannes laut und zog den Leichtmatrosen neben sich auf ein Bündel Taue, welche nicht weit vom Eingang zur Kajüte lagen. »Erzähle mir, wie du eigentlich zur See gekommen bist.«

Hope verstand sofort den Wink, sie fing an, eine erfundene Geschichte zu erzählen und lauschte inzwischen aufmerksam den Worten, welche ihr Hannes, der sich ganz dicht an die Bordwand geschmiegt hatte und so gar nicht zu sehen war, zuflüsterte:

»Jemand von uns muß hinunter, den Kapitän wecken und ihm Mitteilung machen, es gibt keinen anderen Zugang zur Kajüte. Ich werde es tun. Singe jetzt ein Liedchen, Jim! Haben sie uns hier sitzen sehen, so müssen sie glauben, wir sind noch zusammen, ich aber schleiche mich hinunter, du singst weiter! Paß auf, jetzt ist's Zeit, niemand ist gerade an Deck zu sehen. Ich hole dich nach, wenn es Zeit ist.«

Hope begann zu singen, während Hannes wie ein Schatten dem Eingange der Kajüte zuglitt und sofort verschwunden war.

Dem jungen Mädchen stockte die Stimme, kaum konnte es die Worte hervorbringen, aber Hannes hatte ihr ja befohlen, leise zu singen, um die übrigen Matrosen nicht argwöhnisch zu machen, und so nahm sie allen ihren Mut zusammen und sang ein fröhliches Schifferliedchen.

»Mein Gott, wie lange bleibt Hannes aus! Wäre ich doch mit ihm gegangen.«

Minute nach Minute verstrich, Hannes kam nicht wieder. Kein Laut von unten drang zu ihr, kein Klopfen an der Tür, kein gesprochener Ton, kein Laut des Schreckens oder der Überraschung — alles totenstill.

Hope wurde plötzlich von einer unnennbaren Angst befallen. War Hannes von unten aufgestellten Posten abgefangen worden? Lag er jetzt schon gebunden auf den Planken oder gar schon mit dem Dolche in der Brust da?

Sie konnte es nicht mehr aushalten, sie mußte hinunter, koste es, was es wolle. War doch schon eine Viertelstunde seit dem Verschwinden des Matrosen verstrichen.

Der Leichtmatrose stand auf und wollte schon der Kajütentreppe zuspringen, als er plötzlich den zweiten Steuermann vor sich stehen sah.

»Wo ist dein Maat?« fragte er.

»Welcher?« konnte Hope nur verwirrt stammeln; die Kehle war ihr wie zugeschnürt.

»Dein Landsmann, Dummkopf!« herrschte sie der Steuermann heftig an.

»Ich weiß es nicht.« »Er war doch eben noch bei dir. Wohin ist er gegangen? Sprich, Bursche!«

Großer Gott, der Steuermann hatte Verdacht geschöpft. Vor Hopes Augen begann es zu flimmern, dem sonst immer unverzagten und schlagfertigen Mädchen drohte das Herz stillzustehen, als sie den Mann ansah, wie er argwöhnisch um sich blickte und sie dann scharf ins Auge faßte, sie glaubte, er richte die Schritte schon nach der Kajütentreppe.

»Hannes!« gellte es aus ihrem Munde.

Mit einem fürchterlichen Fluche stürzte sich der Mann auf sie, hob sie empor, dicht an der Bordwand, als wolle er sie ins Meer schleudern, von allen Seiten eilten die Matrosen herbei, einige, die glaubten, das Signal wäre schon gegeben, mit Messern und Revolvern in der Hand; aber plötzlich fühlte Hope den Griff des Steuermannes nachlassen. Der Mann wurde plötzlich rücklings zu Boden gerissen und vor ihr stand Hannes.

Noch hatten die herbeieilenden Matrosen sie nicht erreicht. Hannes packte das Mädchen am Arm, riß es dem Kajüteneingang zu, und beide stürzten mehr, als sie liefen, die steile Treppe hinab.

Oben erhob sich ein wüstes Geschrei, der Steuermann brüllte, die Matrosen heulten, Waffen klirrten; aber unten an der Treppe fand Hope den Kapitän, den ersten Steuermann und die Ingenieure versammelt, alle die Revolver in den Händen — Hannes hatte sie also doch alle geweckt und sie von der drohenden Gefahr in Kenntnis gesetzt, und, was Hope in ihrer Todesangst bezweifelt, sie hatten ihm auch geglaubt.

»Mir nach!« schrie der Kapitän als die Meuterer schon die Treppe herabstürmten und auch von der anderen Seite eilende Schritte hörbar wurden.

In der Kajüte, welche der Kapitän und die Offiziere bewohnten, führte ein zweiter Eingang vom Maschinenraum aus, für die Ingenieure bestimmt, und durch diesen sah man schon einige Gestalten eindringen. Hannes hatte Glück gehabt. Der zweite Ingenieur, welcher Wache hatte, war zufälligerweise gerade in seiner Kabine gewesen. Hannes traf ihn in dem Gange, erzählte ihm alles mit fliegenden Worten, und der Ingenieur hatte sofort den Kapitän und die anderen Offiziere gewarnt. So kam es, daß auch er gerettet wurde, wenn Rettung überhaupt noch möglich war. Nur der Bootsmann fehlte unter ihnen, er schien seinem Schicksal nicht entgehen zu können.


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Der Kapitän war nach einer Kammer geeilt, welche sich neben der Kajüte befand, hatte sie aufgeschlossen, und alle sechs Mann drängten sich hinein. Der ganzen Mannschaft war noch vor der Abreise bekannt gemacht worden, was die in dieser Kammer aufgespeicherten Fässer enthielten— Schießpulver, nach Amoy bestimmt, und die Matrosen und Heizer waren instruiert worden, wie sie sich zu benehmen hatten, wenn auf der »Recovery« Feuer ausbrechen sollte. Diese Kammer mußte zuerst unter Wasser gesetzt werden, sonst wären Schiff und Mannschaft verloren, es wäre eine furchtbare Explosion erfolgt.

Alle begriffen sofort, warum der Kapitän gerade hierher flüchtete. Niemand durfte hier auf sie schießen, wollten die Verfolger sich nicht selbst der Gefahr aussetzen, im nächsten Augenblicke als gräßlich zerfetzte Leichname mit den Trümmern der »Recovery« durch die Luft zu fliegen.

Die Schritte der Meuterer hallten durch die Gänge, von allen Seiten kamen sie herbeigeeilt, und ihre Stimmen schallten immer deutlicher an die Ohren der sechs Geflüchteten.

Der Kapitän hatte die Tür hinter sich zugezogen, aber nicht zugeschlossen. Im Scheine des Lichtes, welches durch ein Fensterchen der Tür aus dem erleuchteten Korridor in die Kammer fiel, rollte er ein Faß Pulver vor und sprengte durch einen Fußtritt den Deckel ab.

Im nächsten Augenblicke wurde die Tür aufgerissen, die ganze Mannschaft, bis an die Zähne bewaffnet, allen voran der führende Heizer und der verräterische Steuermann, standen vor der Tür, bereit, sich auf die in der Kammer Befindlichen zu stürzen und sie zu entwaffnen.

»Zurück!« donnerte der Kapitän sie an.

Er hätte nicht zu rufen nötig gehabt; beim ersten Blick in die Kammer taumelten die Vordersten zurück, stürzten sich auf die Hintenstehenden, und alle drängten sich rückwärts.

Da stand der Kapitän, den Revolver in der Hand, den Finger am Drücker, aber den Lauf nicht so, wie die Übrigen, auf die Anstürmenden gerichtet, sondern auf das vor ihm stehende Faß, dessen körniger, glänzender Inhalt sichtbar war. Ein leiser Druck nur, und ein furchtbarer Donner hätte die Luft erschüttert; eine feurige Garbe wäre zum Himmel aufgestiegen, und Schiff und Mannschaft wären auf ewig verschwunden gewesen.

»So schießt doch, O'Donnall!« sagte der Kapitän kaltblütig zu dem mit bebender Lippe und aschfahlem Gesicht dastehenden Steuermann. »Schießt doch! Warum tut ihr es nicht, elender Verräter!«

Keiner wagte, den Revolver zu heben, ein einziger Schuß in die Pulverkammer wäre für alle verderblich gewesen.

Plötzlich entstand eine Bewegung in der starr dastehenden Gruppe. Alle wendeten sich um und stürzten in wilder Flucht den Gang zurück; aber da krachten hinter ihnen Revolverschüsse, und Schmerzgeheul und das dumpfe Dröhnen niederstürzender Körper bewiesen, daß nicht alle Kugeln ihr Ziel verfehlt hatten. Im Gange lagen einige Gestalten bewegungslos da und wälzten sich in ihrem Blute.

»Vorläufig gerettet!« sagte der Kapitän und ging selbst wieder in die Kammer zurück, aus welcher die sechs Mann während des Feuerns getreten waren, »aber es wird nicht lange dauern, so werden sie andere Mittel probieren, uns aus dieser gesicherten Stellung zu jagen.«

Einige Minuten verstrichen über der Beratung, wie man sich die Meuterer vom Leibe halten könnte. Es war jetzt halb vier Uhr, die Nacht noch vollkommen dunkel.

»Ich bin fest überzeugt,« meinte der Kapitän, »daß die Meuterer draußen auf uns lauern. Ich möchte nicht den Versuch machen, meinen Körper auf dem Gange zu zeigen; sicher würde ich sofort eine Kugel bekommen.«

»Das können wir gleich probieren,« antwortete Hannes, zog seinen Rock aus, setzte die Mütze drauf und hing beides an einen Stock.


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Kaum bog er die Jacke etwas zur Tür hinaus, so fielen einige Schüsse, und das Tuch ward an verschiedenen Stellen durchlöchert. Hannes hatte diesen Kniff von John Davids gelernt, der ihn damals in Australien anwendete, als die Buschrähndscher die Engländer im Eisenbahnwagen fangen wollten.

»Brav gemacht, mein Junge!« rief der Kapitän. »Es ist so, wie ich sagte. Wir sitzen hier zwar vorläufig noch sicher, aber wie in einer Mausefalle. Gehen wir hinaus, so schießen sie uns alle wie tolle Hunde nieder.«

Ein seltsames Geräusch unterbrach ihn, es kam vom Fußboden her.

Unten in die Wand der Kammer war ein Loch gebohrt worden durch welches ein Schlauch hereinlief. Man hatte diesen angebracht, damit, wenn auf der »Recovery« Feuer ausbrechen sollte, die Pulverkammer mittels der Pumpe sofort unter Wasser gesetzt werden könnte, und das Pulver somit unschädlich würde.

Jetzt wollten die Meuterer diese Einrichtung benutzen, um den sechs Mann die Möglichkeit zu rauben, ihnen mit Explosion drohen zu können. Der erst glatt liegende Schlauch schwoll jetzt an, und Wasser begann in die Kammer zu strömen.

»Wenns weiter nichts ist,« lachte der Kapitän, »dem wollen wir bald abgeholfen haben.«

Er band den Schlauch dicht vor der Öffnung zusammen und schob ihn dann zurück. Es drang kein Wasser mehr ein, die Absicht der Meuterer war vereitelt.

»Kapitän Green!« ließ sich da die Stimme des schwarzen Heizers draußen auf dem Korridor vernehmen.

»Was giebt es, ihr Schufte?« rief der Kapitän zurück.

»Um Gottes willen, verlaßt nicht diese Kammer, will man mit euch Verhandlungen anknüpfen!« sagte der erste Steuermann.

»Werde mich schön hüten,« lachte der Kapitän.

»Kapitän Green,« klang es draußen wieder. »Wollt Ihr Bedingungen annehmen, die Euch und Euren Genossen das Leben retten?« »Ich nehme nur die Bedingung an, daß Ihr und die anderen Meuterer Euch in Eisen legen laßt, auf Gnade und Ungnade. Etwas anderes existiert für mich nicht. Dann will ich für Euch ein gutes Wort einlegen,« antwortete der Kapitän.

»Ihr seid Toren, ihr seid doch verloren, in einigen Minuten werden wir euch gefangen haben.«

»Und ihr seid Hunde, die sich gewaltig irren werden. Ehe ich in irgend etwas willige, sprenge ich das Schiff in die Luft.

»Hört erst, was ich euch vorschlage! Kommt heraus, liefert eure Waffen ab, und ihr sollt ein Boot zur Verfügung bekommen, mit dem ihr nach der nicht weit entfernten Küste rudern könnt. Das Schiff bleibt in unserem Besitz. Seid ihr damit einverstanden?«

»Wer bürgt mir dafür, daß Ihr nicht nur Schwindelei treibt?«

»Mein Ehrenwort!«

»Hahaha,« lachte Kapitän Green laut auf, »Schuft verdammter, reize mich nicht zur Wut, sonst sprenge ich schon jetzt die »Recovery« in die Luft. Dein Ehrenwort gilt mir ebensoviel, wie das Quieken einer Ratte.«

»Ihr werdet binnen einer halben Stunde zu bereuen haben, was Ihr mir jetzt gesagt,« klang es noch einmal höhnisch draußen. Dann schwieg die Stimme.

»Wir haben keine Hoffnung mehr,« sagte der Kapitän, sich zu seinen Leidensgefährten wendend und plötzlich sehr ernst werdend. »Unser Schicksal ist der Tod, wir werden mit der »Recovery« zum Himmel auffliegen.«

»Wir machen einen Ausfall,« schlug Hannes vor. »Müssen wir sterben, so wollen wir wenigstens so viele wie möglich mit ins Jenseits nehmen.«

»Alle wollen wir mitnehmen,« fuhr der Kapitän wild auf. »Keiner soll lebendig davonkommen, und das können wir mit dem da erreichen.« Er deutete dabei auf das vor ihm stehende, geöffnete Pulverfäßchen.

Wirklich, das war das beste Mittel, um sich an diesen Verruchten rächen zu können. Keiner war unter ihnen, der vor diesem Vorhaben zurückgebebt wäre. Hope fühlte ihr Herz sich unter diesen Männern erweitern, sie dachte an Simson, wie er sich gegen die Pfeiler des Saales neigte, sie umstürzte und sich selbst unter den Trümmern zerschmettern ließ, aber doch die Genugtuung hatte, das Wehegeheul der erschlagenen Philister zu hören. Diese Tat des Mannes hatte ihr schon als Kind das Herz schneller schlagen lassen; so wäre sie an seiner Stelle auch gestorben, versicherte das kleine Mädchen oft ihren Spielgefährten, und jetzt? Jetzt, sollte die Phantasie des Kindes zur Wirklichkeit werden. Sie kannte keine Angst mehr, sie sah den sie besorgt anblickenden Hannes mit leuchtenden Augen an und nickte beistimmend mit dem Kopfe.

»Noch wollen wir mit der Ausführung unseres Vorhabens warten,« sagte der Kapitän, »noch haben wir ja Zeit. Es könnte doch sein, daß wir durch irgend etwas gerettet würden. Ist auch die Zeit der Wunder vorbei, so geschehen doch immer noch Dinge, die wir Menschen uns nicht träumen lassen.«

Er zog die Uhr.

»Vier Uhr,« murmelte er. »In einer Stunde erst bricht der Tag an. Die Maschine arbeitet fortgesetzt. Wohin mögen die Meuterer wohl fahren?«

Der erste Steuermann hatte einen kleinen Kompaß bei sich, und der erste Blick darauf belehrte sie, daß die »Recovery« jetzt südlich steuerte.

Während sie noch darüber sprachen, daß dadurch das Schiff aus der Dampferlinie heraus in ein sehr wenig befahrenes Wasser käme, in dem höchstens einmal ein Segelschiff kreuzte, erschollen plötzlich über ihren Häuptern starke Axthiebe. Nur einen Augenblick lauschten sie diesem Geräusch, dann rief der Kapitän erbleichend:

»Ich weiß, was diese Schurken vorhaben, sie hauen oben ein Loch in die hölzerne Decke, schieben dann einen schlauch hindurch und setzen auf diese Weise die Kammer unter Wasser. Fließt es auch unten wieder heraus, das Pulver können sie doch durchnässen. Aber beim wahrhaftigen Gott, ehe ich es so weit kommen lasse, führe ich mein Vorhaben aus. Seid Ihr alle damit einverstanden?«

»Wir sind es,« klang es feierlich, wie aus einem Munde.

»Gut, so laßt sie nur Wasser pumpen. Erreicht es das Faß, so fällt der Schuß, und dann ...«

Er unterbrach sich plötzlich. Während seiner Rede hatte er die Decksplanke gemustert, von der schon Splitter herabfielen. Seine Augen streiften dabei die oberen Regale, auf denen Blechbüchsen standen, und plötzlich nahm sein Gesicht einen freudigen Ausdruck an. »Mein Gott,« rief er, »warum habe ich nicht eher daran gedacht? Wir haben ja Raketen hier.«

Schnell waren einige der Büchsen geöffnet, die Pappscheiben herausgeholt, die Zündschnur in Brand gesetzt, zu dem Fensterchen herausgehalten, und eben, als sich der erste Wasserstrahl von oben in die Kammer ergoß, fuhr zischend die erste, zweifarbige Rakete in die Höhe, und immer neue folgten ihr ... Rot, grün — rot, grün, eine nach der anderen sauste zum Himmel empor, schwebte dort einen Augenblick und fiel dann als eine rote und eine grüne Leuchtkugel langsam nieder, das Zeichen, welches alle Schiffe der Welt sofort veranlaßt, ihren Kurs zu ändern — ›Schiff in höchster Not‹.

Der Schlauch, welcher von oben durch das gehauene Loch den Wasserstrahl hereinsandte, blieb nicht in seiner ersten Lage, er wurde fortwährend hin- und herbewegt, sodaß das Wasser duscheartig sich über alle Gegenstände der Kammer ergoß, alles durchnässend. »Jacken aus, Hemden aus,« schrie der Kapitän, »und sie über das Faß gelegt! Das Pulver muß trocken bleiben; es enthält das Werkzeug unserer Rache, bleiben die Raketen ohne Erfolg, was ich selbst fast fürchten muß.«

Hope half dem Kapitän, die Raketen in Brand zu setzen und abzufeuern, die anderen folgten der Aufforderung und deckten das Pulverfaß so gut wie möglich zu.

»Nichts,« rief der Kapitän wieder. »Noch zwei Raketen sind übrig, und kein Schiff ist zu sehen.

»Männer,« sagte er, furchtbar ernst werdend, »die Zeit ist gekommen! Schreibe jeder noch etwas, seinen letzten Willen, wie er sein Leben verloren hat, dann stecke jeder sein Papier in eine dieser leeren Raketenbüchsen, die wasserdicht abschließen, und werfe sie ins Meer, dem Zufall es überlassend, ob jemand von unserem schrecklichen Untergang erfahren soll oder nicht.«

Mitten unter dem Regen, welcher von oben auf sie herabrann, untersuchte der Kapitän das Pulverfaß, wobei sich die anderen um ihn herumstellten, um das Wasser abzuhalten.

»Es ist die höchste Zeit,« sagte Kapitän Green, sich aufrichtend, »in fünf Minuten sind die Jacken durchnäßt und ebenso dann das Pulver, es wäre zu spät. Schreibt euer Testament!«

Er riß einige Blätter Papier aus seinem Notizbuch, verteilte sie und schrieb selbst auf eins ein paar Zeilen, welches er dann zusammenfaltete und in eine Büchse legte, die er verschloß.

Auch Hope hatte ein Blatt ganz voll gekritzelt, wobei ihr Hannes mit tränenden Augen zusah.

»Willst du nichts schreiben, Hannes?« fragte das junge Mädchen mit erstickter Stimme.

»An wen?« fragte er traurig. »Ich weiß niemanden, der sich dafür interessiert, ob Hannes Vogel da ist oder nicht, und die Person, welche Anteil daran nehmen würde, kann nicht mehr über meinen Tod weinen, wie ich nicht über den ihren — sie stirbt mit mir.«

»Mein Hannes,« rief Hope weinend und umschlang den Matrosen mit beiden Armen, »es hat nicht sein sollen, daß wir im Leben uns gehörten, erst der Tod vereinigt uns. Ach, es wäre doch so schön gewesen!«

Der Kapitän drängte, die Büchsen durch das Fenster zu werfen, sein Ruf schreckte die beiden auseinander. Kurz entschlossen schrieb Hannes einige Worte auf das Papier, steckte es in die Blechschachtel und vertraute auch sie dem Meere an.

»So,« sagte er, »vielleicht kennt der Kapitän, welcher sie fischt, meinen Namen, er erinnert sich des lustigen Schiffsjungen oder Leichtmatrosen und weiß nun, daß Hannes Vogel tot ist.«

»Sprecht ein letztes Gebet!« rief der Kapitän und richtete den Revolver auf das Pulverfaß. »Macht es kurz, ich zähle bis drei, dann hat die »Recovery« aufgehört, ein Schiff zu sein.«

Eben stieg die Morgensonne wie ein feuriger Ball am Horizonte auf, als wollte sie dem Schlußakte dieses entsetzlichen Dramas beiwohnen, welches sich während der Nacht abgespielt hatte.

»Eins — zwei — drei ...«

Der Schuß krachte, aber die Kugel hatte ihr Ziel verfehlt, sie schlug durch die hölzerne Tür.

Im letzten Augenblick, eben als der Kapitän abdrückte, stürzte sich Hope wie eine Wahnsinnige auf den Zielenden und schlug den ausgestreckten Arm in die Höhe.

»Ein Schiff!«

Dieser Ausruf vermischte sich mit dem Krachen des Schusses. Aller Augen richteten sich auf das Fensterchen, und da sah man, noch weit, weit in der Ferne, aber doch schon deutlich erkenntlich, die Masten eines großen Schiffes auftauchen, die über ihm schwebende Rauchwolke verriet, daß es zwar ein Segler, aber doch mit einer Maschine ausgerüstet war. »Eine Kreuzerkorvette,« schrie Kapitän Green, »ein Kriegsschiff. Schnell, Hannes, in meine Kabine geeilt, rechts unten in der Kiste liegen die Flaggen, hole die unsere.«

Hannes flog mehr, als er ging. In der nächsten Minute stand Kapitän Green am Fenster, steckte die Arme hinaus und schwenkte damit das Sternenbanner der Vereinigten Staaten durch die Luft, dem Kriegsschiffe winkend.

Der Schlauch oben ward herausgezogen, das Einfließen des Wassers hörte auf. Am Deck rannten die Leute hin und her, sie sahen, wie das Kriegsschiff direkt auf sie zuhielt und sich ihnen mit einer Schnelligkeit näherte, gegen welche es kein Entrinnen gab, und sahen ferner, wie unten aus dem Fenster die Flagge geschwungen wurde, um Hilfe flehend.

Oben fiel ein Schuß, mit einem Schmerzensschrei sprang Kapitän Green zurück, die Flagge aber noch in der durchschossenen Hand haltend. Doch schon stand Hannes am Fenster und schwenkte das Sternenbanner hin und her, möglichst schnell, um denen, welche oben nach seiner Hand zielten, keine Gelegenheit zu einem sicheren Schuß zu bieten.

Da ging auf dem Kriegsschiffe am hintersten Maste eine Signalflagge hoch — es war der Befehl, daß die »Recovery« halten sollte, und daß jenes Schiff das Recht hatte, diesen Befehl zu geben, das zeigte der Kriegswimpel an, welcher am mittelsten Mäste im Winde flatterte.

Die »Recovery« aber kam dieser Aufforderung nicht nach, sie dampfte weiter, sie hielt auch nicht, als das Kriegsschiff einen Kanonenschuß löste, das Zeichen, daß es jetzt gewillt sei, die Befolgung des Befehles zu erzwingen.

Die »Recovery« dampfte weiter, aber ein Entrinnen war nicht möglich, da das Kriegsschiff, welches bis jetzt seine Nationalität noch nicht gezeigt hatte, mehr Dampf aufmachte, es fuhr jetzt mit voller Kraft und kam ungeheuer schnell heran.

Da endlich gingen hinten an der Flaggenstange seine Farben hoch. Unausgesetzt schwenkte Hope das Sternenbanner.


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»Das Sternenbanner,« schrie Hannes, »ein Amerikaner.«

Ein höhnendes Lachen richtete aller Augen nach oben. Durch das in das Deck gehauene Loch blickten ein Paar grimmiger Augen, die kleine Gesellschaft musternd — es war der Heizer, der Anführer der Meuterer.

»Eure Freude war zu früh,« brüllte er hinab, »fahren wir zum Teufel, so sollt ihr uns wenigstens Gesellschaft leisten.«

Seine Hand, den Revolver auf das Pulverfaß richtend, streckte sich hindurch, und mit dem Schrei des Entsetzens, der allen beim Erkennen der fürchterlichen Absicht, angesichts der Rettung, sich entrang, vermischte sich der Knall des Schusses.

Die Kugel schlug ins Pulverfaß ein, die Umstehenden prallten zurück, stürzten sogar zu Boden, als wäre die Explosion schon erfolgt, aber sie fand nicht statt — das Pulver war schon zu sehr durchnäßt.

Noch hatten sie sich nicht von dem Schrecken erholt, als Hope wieder einen Schrei ausstieß, an das Fenster sprang, Hannes die Flagge aus der Hand riß und diese jetzt hin- und herschwenkte.

Das Kriegsschiff war sehr nahe. Schon konnte man die Matrosen sehen, welche, mit Büchsen und Entersäbeln bewaffnet, in Reih und Glied an der Bordwand standen, und auf der Kommandobrücke lehnte an dem Kompaß der Kapitän, ein junger, schöner Mann in der Uniform der Seeoffiziere der Vereinigten Staaten.

Unausgesetzt schwenkte Hope das Sternenbanner, und, nicht daran denkend, daß die Entfernung noch eine zu große war, um gehört zu werden, rief sie doch immer und immer wieder nach dem Schiffe hinüber, winkte mit der anderen Hand, schnell herbeizukommen und zu helfen. Jetzt hatte sich ihnen das Schiff so weit genähert, daß man alle Personen auf demselben, auch den Kapitän, deutlich erkennen konnte. Was die Meuterer oben taten, wußte man nicht, sie verhielten sich vollständig ruhig.

Da ließ Hope plötzlich die Flagge fallen, drängte den Kopf und die beiden Arme durch das Fensterchen und bog sich so weit als möglich mit dem Oberkörper heraus.

»Macdonald,« jubelte sie auf, »wir sind gerettet! Es ist Macdonald, mein Bruder.«


3. Van Gudens Ende.

Das Kaiserreich Japan setzt sich aus verschiedenen Inseln zusammen, von denen die größte Nipon ist, mit der Hauptstadt Jedo, in welcher der Kaiser seine Residenz aufgeschlagen hat und welche somit die Hauptstadt von Japan ist. Wichtiger aber, als diese selbst, und weit bekannter ist ihr Hafen, Yokohama, der an Bedeutung alle anderen dortigen Hafenplätze übertrifft.

Jokohama macht schon einen sehr europäischen Eindruck, sind doch die Japaner, obgleich von derselben Volksrasse, das vollkommene Gegenteil von den Chinesen. Wahrend diese ängstlich bemüht sind, sich vor jeder von außen kommenden Kultur abzuschließen, suchen jene sich alles anzueignen, was ihnen die fremden Kulturländer an Technik, Kunst und Wissenschaft bieten, lassen ihre Schiffe auf europäischen Werften bauen, versorgen ihr Land mit in England und Deutschland erbauten Maschinen und richten ihr Militär nach deutschem Muster ein, nicht nur der inneren Organisation nach, sondern auch in der Armierung, das heißt, in den Waffen.

In Hamburg oder Bremerhaven kann man beobachten, welche unzählige Mengen von in Deutschland gefertigten, landwirtschaftlichen und industriellen Maschinen, Dampfmotoren, Lokomobilen und Lokomotiven nach Jokohama verladen werden, und ebenso, daß alle die Kanonen neuester Konstruktion, nach Japan bestimmt, den Stempel »Krupp, Essen« tragen.

Aber die Japanesen wollen nicht immer ihr Geld an andere Länder ausgeben, sie schicken ihre intelligentesten, jungen Männer nach zivilisierten Staaten, meist nach Teutschland, und lassen sie dort auf Universitäten studieren, sie lassen nicht nur deutsche Offiziere die Soldaten einexerzieren, sondern sie errichten eigene Kriegsakademien, in welchen diese Offiziere als Lehrer fungieren, gründen Universitäten, kurz, sie bemühen sich, ihr Land so zu organisieren, wie es die japanesischen Gesandten in den Kulturländern gesehen haben, und nicht lange wird es mehr dauern, so hat Japan, das einst unbedeutende Reich, dessen Bewohner man sich meist als halbwilde Asiaten vorstellt, das Recht, sich mit jedem anderen mächtigen Staate messen zu können.

Schon der erste Anblick des Hafens von Yokohama beweist, wie sehr die kurzhaarigen Japanesen ihre bezopften Brüder überflügelt haben. Während in den chinesischen Häfen das Ein- und Ausladen von Schiffen noch immer so geschieht, wie es vor Hunderten von Jahren stattfand, das heißt, daß die Eingeborenen die Säcke und Kisten auf ihren Schultern ans Land tragen und dort an andere abgeben, welche sie nach Lagerschuppen befördern, arbeiten in Yokohama überall am Quai mächtige Dampfkräne, welche die emporgehobenen Waren sofort in bereitstehende Eisenbahnwaggons laden, geradeso, wie in jedem europäischen Hafen, der nur einigermaßen für die Bequemlichkeit der schiffahrenden Klasse sorgt.

Noch mehr tritt der Unterschied hervor, besucht man die Stadt selbst; überall erheben sich schöne Wohnhäuser, freundliche Villen, prächtige Paläste, deren Besitzer nicht nur Europäer, sondern meist Japanesen sind. Die chinesische Bauart tritt nicht mehr so hervor, der kindliche Stil hat einem geschmackvollen Platz gemacht, und ebenso fühlt man im Verkehr mit den Bewohnern dieses Landes nicht mehr die Überlegenheit heraus, welche den Europäer sonst befällt, wenn er mit einem ihm an Zivilisation nicht gleichstehenden Menschen zu tun hat.

Der Japanese, sowohl der in seiner Art gebildete, wie der ungebildete, der gewöhnliche Arbeiter, ist überhaupt ein Mensch, wie man ihn als Gesellschafter selten prächtiger finden kann. Er besitzt alle guten Eigenschaften der Chinesen, er ist intelligent, arbeitsam und mäßig, außerdem aber noch ehrlich, wahrheitsliebend, treu, dankbar, höflich und überaus bescheiden.

Eine wahre Freude ist es, mit Japanesen an Bord eines Schiffes zu arbeiten. Werden die Matrosen im allgemeinen als roh und ungeschliffen bezeichnet, so ist bei dem Japanesen eine Ausnahme zu machen. Der japanesische Matrose, welcher von jedem Kapitän gern angemustert wird, steht dem besten, europäischen — deutschen, englischen oder skandinavischen — weder an Geschicklichkeit, Mut, Kaltblütigkeit, noch Ausdauer nach, sein Pflichtbewußtsein wetteifert mit dem des deutschen Seemannes, worin dieser vor allen anderen Nationen den Vorzug verdient, aber, was diesem oft noch fehlt, besitzt er, und das ist ein sittsames Betragen, frei von aller Anmaßung, Roheit und Streitsucht.

Nur wer selbst mit Japanesen längere Zeit intim verkehrt hat, wie zum Beispiel als Schiffskameraden, kann dies beurteilen; wenn man aber glaubt, daß der japanesische Matrose nur darum so höflich ist, nur darum den Europäer stets zuerst durch die Tür gehen läßt, ihn nur darum beim Essen zuerst aus der Schüssel nehmen läßt und ihn nur darum in allem und jedem den Vorzug zukommen läßt, weil er in dem Europäer ein höheres Wesen sieht, so irrt man sich gewaltig. Der Japanese ist stolz; nie duldet er, daß er beleidigt wird, und glaubt er, daß dies geschehen, und daß eine Sühne erforderlich ist, so tritt er mit aller Energie zur Wahrung seines Rechtes auf, rächt sich, aber nicht so, wie der heißblütige Italiener oder Spanier, sondern benimmt sich dem Beleidiger gegenüber mit der größten Ritterlichkeit.

Mit einem Worte, das japanische Volk hat nicht nur das Anrecht, mit jeder zivilisierten Nation Europas verglichen zu werden, es besitzt noch viele Vorzüge vor dem Südländer. Dies hat auch der Krieg zwischen Japan und China bewiesen. Daß Ausnahmen vorkommen, das heißt, daß es unter den Japanesen auch schlechte Charaktere gibt, ist selbstverständlich, diese bestätigen ja nur die Regel. — — — — — — — —

Ganz Yokohama befand sich in einer ungeheuer aufgeregten Stimmung; trotz des noch frühen, aber schon sehr heißen Vormittags wogten in den Straßen Japanesen, Chinesen und Europäer bunt durcheinander. Karren, Wagen und Equipagen jagten über das sorgsam angelegte Pflaster, aber es war nicht das Geschäft, welches diese Mengen in Bewegung erhielt, sie eilten nicht hin und her, sondern alles strebte einer Richtung zu — und diese führte nach dem Hafen.

Gestern abend war ein amerikanisches Kriegsschiff, der »Conqueror«, auf deutsch, der »Eroberer« in den Hafen eingelaufen, und die ersten Matrosen, welche das Land besuchten, hatten Neuigkeiten erzählt, die wie ein Lauffeuer durch ganz Yokohama flogen und alles in Aufregung versetzten.

Dem Kommandanten des Schiffes, Korvettenkapitän Macdonald Staunton war es nicht nur gelungen, zwei chinesische Dschunken bei der Ausübung von Seeräuberei zu überraschen und die Piraten zu fangen, sondern er hatte auch die Besatzung der »Recovery« als Meuterer gefunden, diese ebenfalls gefangen und an Bord seines Schiffes genommen.

Als er Scha-tou passierte, war er, ohne den »Conqueror« in dem Hafen anlaufen zu lassen, von der Rhede aus an Land gegangen, hatte den dort liegenden Schiffen ›Amor‹ und ›Vesta‹ einen Besuch abgestattet, nach New-York telegraphiert und war dann in Begleitung jener beiden Schiffe nach Jokohama, seinem ihm vom Oberkommando vorgeschriebenen Reiseziel weitergesegelt.


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Schon an demselben Abende, da die Matrosen davon Andeutungen machten, war allen klar, daß einer der nächsten Tage eine außerordentliche Szene bringen mußte.

Die chinesischen Seeräuber mußten hängen, daran war kein Zweifel; dazu brauchte der Korvettenkapitän sich nicht erst die Erlaubnis zu holen, er hatte das Recht, sogar die Verpflichtung dazu. Aber, um als Richter über meuternde Matrosen auftreten zu können, brauchte er die Genehmigung desjenigen Landes, zu dem das betreffende Schiff gehörte, und die »Recovery« fuhr unter der Flagge der Vereinigten Staaten.

Auch darüber herrschte keine Unklarheit, daß das Schicksal der Meuterer dasselbe sein würde, wie das der Piraten: der Galgen.

Aber was für eine Aufregung entstand erst, als am anderen Morgen die englische Zeitung herauskam, die sich nicht nur der Europäer bemächtigte, sondern auch die eingeborenen Domestiken ergriff, welche dafür sorgten, daß dieses schier unglaubliche Gerücht in ganz Yokohama verbreitet wurde.

Der Kapitän, alle Offiziere und der Bootsmann von der »Recovery« waren durch das Erscheinen des amerikanischen Schiffes aus den Händen der Meuterer gerettet worden, der zweite Steuermann, welcher sich auf die Seite der Aufständischen geschlagen, hatte sich selbst entleibt; es wurde beschrieben, wie man die dem sicheren Tode Nahen in der Pulverkammer gefunden, wo sie sich gegen die Mannschaft verteidigt hatten, und, o Wunder, die Zeitung meldete das sonderbare Gerücht, daß einer der beiden treuen Matrosen gar kein Mann, sondern ein Mädchen, eine der Damen der ›Vesta‹, und das Merkwürdigste, daß sie die Schwester des Kapitäns Macdonald Staunton war, dem sie die Rettung verdankten, während der andere Matrose ein Diener eines englischen Herrn vom ›Amor‹ war.

Weiter schrieb die Zeitung, daß die Abführung aller gefangenen Verbrecher vom »Conqueror« nach dem Tribunal morgens um zehn Uhr stattfände, und ebendies hatte bewirkt, daß sich ganz Yokohama auf den Beinen befand und dem Hafen zuströmte, um dem Transport der gefesselten Meuterer nach dem Gefängnis beizuwohnen. Diese wurden kurz verhört, und inzwischen errichtete man am Hafen die Galgen, an denen die chinesischen Piraten ihr Leben aushauchen sollten.

War während dieser Exekution die Bestätigung eingelaufen, daß der Korvettenkapitän Macdonald Staunton über Leben und Tod der Meuterer zu entscheiden habe, so wurden die Leichen der Chinesen abgeschnitten, und deren Stelle nahmen dann die Meuterer ein, wenn der Richter nicht einen Grund fand, den oder jenen milder zu verurteilen und ihn zur Bestrafung den Gerichten der Vereinigten Staaten auszuliefern.

Aber dies war nicht zu erwarten. Meuterei ist ein zu entsetzliches Verbrechen, als daß es dafür eine Entschuldigung gäbe. — Tod am Strang, das war das einzige, was diejenigen verdienten, welche dem Kapitän den Gehorsam kündigten und sein Leben bedrohten. Jeder Kapitän ist an Bord seines Schiffes ein unumschränkter Herrscher, mit dessen Machtbefugnis man die eines Königs nicht vergleichen kann, seine Person ist heilig, sein Wort, sein Richterspruch sind unumstößlich, er darf jeden, der ihm den Gehorsam verweigert, auf der Stelle niederschießen, ohne daß er zu fürchten braucht, wegen seiner Tat zur Verantwortung gezogen zu werden. Spricht ihn sein Gewissen von einem Morde frei, so ist es gut, er darf nicht verurteilt werden; abgeschieden von aller Welt, ist er auf seinem Schiffe die einzige Gerichtsbarkeit.

Das Schiff ist eine Welt im kleinen; eine Meuterei bedeutet auf ihm eine Weltrevolution, und würden Meuterer nicht unnachsichtlich mit der strengsten Strafe belegt, wartete ihrer nicht der Tod, so würden sie sich bald mehren. Auf Gnade durften die Gefangenen nicht hoffen.

Noch fehlten einige Stunden an zehn Uhr, aber schon waren die Straßen dicht besetzt mit Fußgängern, Reitern und Equipagen. Die Polizei und die Soldaten hatten Mühe, die Passage offenzuhalten.

Währenddessen befanden sich die vollzähligen Besatzungen des ›Amor‹, wie auch der ›Vesta‹ an Bord des amerikanischen Kriegsschiffes und berieten mit dem Kapitän über das Schicksal eines Mannes, welcher auch gefangen worden war.

Es war van Guden, der einstige Anführer der Piraten, welcher auf einer der Dschunken sich als Gefangener befunden hatte und von den Chinesen verraten worden war.

Korvettenkapitän Macdonald Staunton, ein noch junger Mann, welcher in Zügen und Wesen den Bruder der neben ihm stehenden Hope nicht verleugnete, stand in der Mitte des Salons und erzählte der ihm zuhörenden Gesellschaft dasjenige, was ihm van Guden mitgeteilt.

»Teils von Ihnen, teils durch van Guden selbst habe ich erfahren, wie dieser Mann in die Gefangenschaft der chinesischen Seeräuber gekommen ist. Als er damals im Boote von Ihnen abfuhr, ist es seine Absicht gewesen, nach der Küste des nicht weit entfernten Festlandes zu rudern, aus welchem Grunde, hat er mir nicht mitgeteilt; ich weiß überhaupt nicht, was er für einen Plan hatte. Van Guden ist während seiner Gefangenschaft an Bord des »Conqueror« finster und stumm gewesen. Bei seinem Verhör habe ich nichts aus ihm herausbringen können, nur das sagte er, daß er sich ungehindert von Ihnen entfernt habe.

»Während dieser einsamen Fahrt ist sein Boot von einer Dschunke aus erblickt worden; man hat ihn gefangen, ihn nach heftiger Gegenwehr überwältigt und ihn dann zwingen wollen, als Kapitän das Kommando der Dschunke zu übernehmen, das heißt, sein früheres Handwerk als Anführer der Piraten oder doch dieser Dschunke zu betreiben, denn die abergläubischen Chinesen hofften, wenn sie ihn an Bord hätten, mehr Glück in ihrem räuberischen Tun zu haben, um wieviel mehr, wenn der einstige Fürst der Piraten selbst an ihre Spitze träte.

»Aber van Guden weigerte sich, dies zu tun, er trotzte allen Bitten der Chinesen, verachtete ihre Drohungen, und so ließen es die Piraten sich genügen, ihn als Gefangenen an Bord zu behalten. Was sie noch mit ihm begonnen hätten, weiß ich nicht, denn van Guden selbst kann es mir nicht sagen, und die Chinesen behaupteten, als ich sie zu einer Aussage zwang, daß sie ihn nur als eine Art Talisman an Bord hätten behalten wollen, weil seine Anwesenheit ihnen Glück brächte.

»Aus Ihrer Erzählung nun höre ich, daß sich van Guden auf eine Art und Weise betragen hat, welche darauf schließen läßt, daß er sein Treiben als Seeräuber aufgeben wollte. Er selbst hat sein möglichstes getan, um die Piraten zu vernichten, er hat sich überhaupt Ihnen gegenüber ehrenhaft benommen, wenn man von einem Räuber so sagen kann, und so kann ich Sie wohl verstehen, wenn Sie mich um seine Begnadigung bitten. Aber diese vollständig zu gewähren, liegt nicht in meiner Macht; mein Gewissen gestattet nicht, einen Menschen, der Seeräuberei getrieben hat, freizugeben, selbst wenn in seinem Leben eine Änderung eingetreten ist, die er dadurch bewies, daß er seine Waffen gegen seine einstigen Gefährten gerichtet und anderen geholfen hat. Jedes Verbrechen muß gesühnt werden, und ich, der ich hier die Stelle eines Richters vertrete, darf von diesem Grundsatz nicht abweichen. Wie ich schon sagte, mein Gewissen läßt es nicht zu. Darum, meine Herren und Damen, nehmen Sie es mir nicht für ungut, wenn ich Ihrer Bitte nicht entspreche, sondern diesen van Guden ebenso bestrafe, als hätte ich ihn selbst auf Seeraub betroffen.«

»Was würde seine Strafe sein, wenn er dem Gericht der Vereinigten Staaten ausgeliefert würde?« fragte Lord Harrlington den Kapitän.

»Unbedingt der Tod,« war die überzeugte Antwort.

»Selbst dann, wenn wir alle hier um seine Begnadigung bitten, sein Betragen uns gegenüber erzählen, sein genaues Schicksal enthüllen, und wenn auch Sie um Milderung der Strafe ersuchen?«

»Vielleicht könnte die Todesstrafe alsdann in lebenslängliche Zwangsarbeit umgewandelt werden,« entgegnete der Korvettenkapitän, »aber ich bezweifle dies. Ich bin über van Guden ziemlich genau orientiert, er hat zuviel zu verantworten, als daß er so etwas zu erhoffen hätte. Das einzige, was ich bewirken kann, wäre, daß er an England ausgeliefert würde, weil er fast nur englische Schiffe angegriffen hat. Aber dort findet er erst recht keine Gnade, dort würde er sicherlich mit dem Tode bestraft werden.«

»Und van Guden ist nicht der Mann, der Zwangsarbeit dem Tode vorzieht,« schalt Ellen ein.

»Kapitän Staunton,« nahm Harrlington wieder das Wort, »wir sind unter uns, haben keinen Verräter zu fürchten, und so können wir offen miteinander sprechen. Wäre es nicht möglich, daß van Guden entflieht?«

Macdonald Staunton sah sich im Kreise der Herren und Damen um, und ein flüchtiges Lächeln schwebte um seine Lippen. Er wußte recht gut, was diese Frage bedeuten sollte, aber er stellte sich so, als faßte er ihren Sinn anders auf.

»Nein,« sagte er, »eine Flucht ist nicht gut möglich. Van Guden liegt in einer Einzelzelle und wird von einem doppelten Posten bewacht. Er ist ein starker und kühner Mann, dem alles zuzutrauen ist, aber eine Flucht von Bord des »Conqueror« gehört zur Unmöglichkeit.«

Lord Harrlington hatte verstanden; auf diese Weise konnte van Guden nicht befreit werden, des Kapitäns Pflichtbewußtsein ließ etwas derartiges nicht zu.

»Sie merken, wie sehr wir uns alle für diesen Holländer interessieren,« begann er wieder. »Hat er doch eine Art von Berechtigung, uns Engländer, die wir seine Familie und ihn selbst ins Unglück gestürzt haben, glühend zu hassen. Aber eben, weit er sich trotz dieses Hasses gegenüber wie ein Ehrenmann benommen, uns wie ein Kavalier zum ritterlichen Kampf herausgefordert hat, fühlen wir Mitleid mit seinem Schicksal. Gestatten Sie uns daher, ihn hier noch einmal zu sprechen, ehe er dem Gefängnis übergeben wird, wo eine intime Unterhaltung ohne fremde Zeugen nicht gestattet ist.«

»Sehr gern,« versetzte der Kapitän und gab der vor der Tür stehenden Ordonnanz den Befehl, van Guden in den Salon führen zu lassen.


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Der Holländer trug noch seine chinesische Kleidung. Sein Gesicht war unbeweglich, keine Spur von Furcht und Niedergeschlagenheit konnte man darin bemerken.

Hochaufgerichtet, den Kopf in den Nacken geworfen, die Augen furchtlos auf die Anwesenden geheftet, so trat er in Begleitung einiger bewaffneter Matrosen ins Zimmer. Der Kapitän winkte; letztere blieben zurück, und van Guden trat ungefesselt einen Schritt näher.

»Van Guden,« begann Lord Harrlington und ging auf den Holländer zu, »wir fühlen Mitleid mit Ihnen. Als Sie uns im Boot verließen, hofften wir alle, ohne Ausnahme, daß es Ihnen gelingen möchte, in Sicherheit zu kommen. Es tut uns leid, Sie als Gefangenen wiederzusehen.«

Der Holländer hatte seine Augen starr auf den Sprecher gerichtet, ein eigentümliches Zucken bewegte bei diesen Worten sein Gesicht.

»Warum?« fragte er leise.

»Weil wir hofften, daß Sie ein anderes Leben anfangen würden; da Sie die Waffen, die Sie bis jetzt gegen uns, die Engländer, gerichtet haben, plötzlich gegen die Chinesen, Ihre früheren Kameraden, wendeten, so war daraus zu erkennen, daß Sie den Haß gegen uns aufgegeben haben, Ihr Unrecht einsahen und nun dieses wieder gutzumachen suchten.«

»Es war dies nicht der Fall, Sie überschätzen mich,« antwortete der Pirat mit fester Stimme. »Kämpfte ich gegen die Chinesen, so tat ich es nur, um mich für die mir zugefügte Schmach zu rächen. Eine Änderung in meinem Haß gegen euch ist nicht eingetreten, ich hasse euch Engländer nach wie vor.«

»Was würden Sie tun, wenn Ihnen die Freiheit geschenkt würde?«

»Ich würde die Engländer wieder schädigen, soviel ich könnte.«

Die Umstehenden sahen sich bestürzt an, das hatte niemand von diesem Manne erwartet.

»Auf welche Weise? Wieder als Pirat?« fragte Lord Harrlington weiter.

»Nein,« entgegnete van Guden offen. »Schon längst ist es mir zum Bewußtsein gekommen, was für eine erbärmliche, ich möchte fast sagen, lächerliche Rache an meinen Feinden das ist.« »Aber wie sonst?«

»Wäre ich damals nicht in die Hände der Chinesen gefallen, hätte ich das Land erreicht, so würde ich allerdings ein anderes Leben angefangen haben. Noch gibt es genug ehrliche Menschen, welche euch Engländer verurteilen, weil ihr ganz ungerechterweise Krieg anzettelt und euch fremder Länder bemächtigt, wozu ihr kein Recht habt, so zum Beispiel in Afrika, in Indien und anderen Gegenden. Habt ihr das Land erobert, so bezahlt ihr den Besiegten eine Summe und behauptet dreist, ihr hättet eine Kolonie gekauft. Was einzelne Menschen schon jetzt von euch behaupten, das wird einst die Weltgeschichte offen von euch sagen, und sie wird euch ein Denkmal setzen, welches euch, wie ihr jetzt seid, für ewige Zeiten an den Pranger stellt, den dagegen, der für die Bedrängten die Waffen ergreift, als Helden feiern. Dies würde ich getan haben; auch ich hätte mich auf die Seite eines solchen Volkes gestellt, welches die habgierigen, unersättlichen, scheinheiligen, hinterlistigen Engländer unter dem Vorwande, ihm die Zivilisation zuzuführen, unterjocht. Ihr habt die Sklaverei abgeschafft, aber wer ist es, der alle Menschen zum Sklaven seiner Habsucht machen möchte ...«

»Was meinen Sie damit?« unterbrach ihn Lord Harrlington erregt. Alle Anwesenden, hauptsächlich die Engländer, erhoben ein unwilliges Gemurmel.

»Was ich damit meine?« entgegnete van Guden höhnisch. »Ist es vielleicht nicht wahr, daß ihr Häuptlinge, Scheichs und so weiter mit einem Spottgeld bestecht, damit sie ihre Leute zwingen, für euch die schwersten Arbeiten zu verrichten? Soll ich euch noch mehr vorwerfen? Werden nicht gerade an England, dem Lande, welches die meisten Missionare unter heidnische Völker schickt, die meisten Götzenbilder angefertigt und verkauft? Wer schreit so gegen das Opiumrauchen als ein sittenverderbendes Laster und gestattet doch den Opiumhandel, nein, leistet ihm sogar in jeder Weise Vorschub und begünstigt ihn sogar, weil er ihm durch hohe Steuer ungezählte Summen einbringt? Wessen Bestreben ist es, sofort, wenn einem bisher unkultivierten Volke der Segen der Zivilisation zugeführt worden ist, ihm Branntwein zu verschaffen, der hoch besteuert ist? O, ich könnte noch massenhafte Beweise bringen, daß alles an euch Lug, Trug und Scheinheiligkeit ist.«

Des Holländers Augen blitzten, er hatte sich hoch aufgerichtet, und seine Stimme klang immer heftiger, als er diese Anschuldigungen den Engländern entgegenschleuderte. Und diese Anklagen waren keine ungerechten, wirklich wird die unparteiische Weltgeschichte einst aufdecken, welcher Mittel sich England bedient hat, um zu seiner jetzigen Macht und seinem jetzigen Reichtum zu gelangen.

»Hüten Sie sich!« rief Harrlington. »Sie stehen hier als Gefangener und nicht als freier Mann, der über eine Nation urteilen darf, die er nicht einmal genügend kennt, um sie verurteilen zu können. Daß Ihrem Vater in England unrecht getan worden ist, wissen wir, und eben dies hat uns veranlaßt, für Sie zu bitten, daß Ihre Strafe gemildert werde.«

»Ich will keine Milderung, ich bedarf keiner Gnade.« sagte der Holländer stolz, »und am wenigsten will ich sie von euch. Überlaßt mich der Gerechtigkeit dieses amerikanischen Kapitäns, er mag über mich verfügen, wie er will.«

»So würden Sie also die Waffen wieder gegen England ergreifen, sobald Sie sich auf freiem Fuße befänden?«

»Ich würde es tun, aber im ehrlichen Kampfe,« entgegnete der unversöhnliche Feind der Engländer.

Lord Harrlington wandte sich ab und zuckte bedauernd mit den Schultern. Jetzt hätte er um die Freiheit dieses Mannes nicht einmal mehr bitten dürfen, das war er seinem Vaterlande schuldig.

Van Guden wurde wieder abgeführt. »Der Mann will es nicht anders,« sagte Kapitän Staunton, »es tut mir sehr leid, daß dieser van Guden, der sonst ein ehrlicher Mann zu sein scheint, am Strang enden muß, aber ich kann nichts dagegen tun, die Gerechtigkeit muß ihren Lauf haben.«

Es war bald zehn Uhr, die Herren und Damen begaben sich an Deck, um sich die Meuterer anzusehen, welche jetzt oben zum Marsch nach dem Gefängnis aufgestellt waren.

Mit finsteren Blicken, die Köpfe zur Erde gesenkt, standen die an Händen und Füßen gefesselten Verbrecher da. Sie wußten, daß es kein Entrinnen mehr gab, der Tod am Galgen war ihnen gewiß, und sie wünschten nur, daß die Depeschen schon da wären, welche das Urteil bestätigten, damit sie nicht lange Stunden in Todesangst zu verbringen brauchten.

Je zwei Matrosen mit Gewehren und Entersäbeln bewaffnet, nahmen einen Mann in die Mitte, die Trommel wurde gerührt, und fort ging es, über die Laufbrücke an Land und durch die Reihen der zahllosen Zuschauer dem Gefängnisse zu, in welchem sie so lange bleiben sollten, bis sie verhört und die Depesche mit dem Todesurteil eingetroffen war.

Stumm schritten sie durch die Reihen und sahen nicht empor zu den Häusern, deren Fenster dicht mit Menschen besetzt waren, blickten auch nicht auf, wenn ihnen ein Schimpfwort oder eine Schmähung zugerufen wurde, vernahmen auch kein Trosteswort, wenn doch einmal ein solches fiel. Nur einmal zuckten sie alle merklich zusammen, als plötzlich eine Stimme aus der hintersten Reihe rief:

»Mut, Kameraden, wir helfen euch.«

Die meisten der Zuschauer, denen diese Worte ins Ohr drangen, hatten sie gar nicht einmal verstanden, denn sie waren auf spanisch gerufen worden, die aber, die sie verstanden, schauten sich vergeblich um. Die Menschen standen viel zu eng, als daß man den Schreier hätte entdecken können, und niemand war da, der wie ein Seemann ausgesehen hätte. Die Zuschauer waren entweder Japanesen, Chinesen oder anständig gekleidete Europäer.

Bald hatten sich hinter den Meuterern die schweren Tore des Kerkers geschlossen, und Kapitän Staunton, der den Zug selbst geleitet hatte, kehrte nach dem Schiffe zurück, wo er seine Schwester Hope auf ihn wartend fand.

»Macdonald,« sagte Hope, als sie mit ihm im Salon allein war und ihren Bruder umschlang, »du siehst, wie die englischen Herren um die Begnadigung van Gudens bitten, wie es der sehnlichste Wunsch meiner Freundinnen ist, daß ihm die Freiheit geschenkt wird. Gib sie ihm, ich bitte dich, nicht nur im Namen meiner Freundinnen darum, ich selbst möchte es gern. Du hast mir nie etwas abgeschlagen, hast mir früher jeden Wunsch erfüllt, so tue es doch auch diesmal. Du bist ja der einzige, der hier zu befehlen hat, in deinen Händen liegt Tod und Leben dieses Mannes.«

Ein leichtes Lächeln umspielte den Mund des Bruders.

»Das ist etwas anderes,« sagte er, »das Mädchen auf die Stirn küssend, »du hattest sonst auch nur Bitten, die ich erfüllen konnte, wenn sie auch manchmal unvernünftig genug waren, aber dieser jetzigen kann ich nicht nachgeben, ihre Gewährung kann ich nicht mit meiner Stellung als Kapitän und Richter vereinbaren.«

»Du bist grausam, Macdonald,« klagte das junge Mädchen, »die Damen setzten so sichere Hoffnung darauf, daß ich dich zum Nachgeben bewegen könnte. Aber es scheint nicht der Fall zu sein. In der langen Zeit, welche ich von dir getrennt war, ist deine brüderliche Liebe erkaltet, sonst hättest du es mir sicher nicht abgeschlagen. Warum lächelst du nur immer, Macdonald? Freust du dich auch noch darüber, daß du so grausam geworden bist?«

»Ich freue mich, daß ich meine Hope wiederhabe,« antwortete der Bruder zärtlich, »und noch dazu, daß es mir vergönnt ist, sie aus einer so großen Gefahr befreit zu haben. Aber sag', Hope, warum interessierst du, warum interessieren deine Freundinnen sich so für diesen holländischen Seeräuber?«

Stumm schritten die gefesselten Verbrecher durch die Reihen der Zuschauer.


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»Er ist kein Seeräuber!« rief Hope energisch. »Sprich dieses häßliche Wort nicht wieder aus. Van Guden hat Grund genug, die Engländer zu hassen, und ich und die Vestalinnen, wir streiten ihm sogar das Recht nicht ab, an denen Rache zu nehmen, die seinen Vater, ihn und seine ganze Familie ins Unglück gestürzt haben. Es ist ein ganz menschliches Gefühl, daß man die haßt, die einem das bitterste Unrecht zugefügt haben, und gerade van Guden ist ein Mann, der sich nicht kleinlich gerächt hat, sondern immer mit einer gewissen Ritterlichkeit aufgetreten ist. Der Kampf mit Lord Harrlington hat dies bewiesen.«

»Ei, ei,« lachte der Bruder, »seit wann ergreifst du denn so feurig Partei für das verfolgte Recht? Etwas schwärmerisch bist du allerdings immer angelegt gewesen, du hast dich als Kind stets für einen Romanhelden begeistert, der alle seine Feinde tötet, aber ich dachte, als erwachsenes Mädchen würde sich das legen.«

»Du selbst bist ja auch so ein Mensch, der für alles Romantische und Abenteuerliche schwärmt,« entgegnete Hope, »warum wirfst du mir denn so etwas vor? Nochmals bitte ich dich, laß den Holländer unbemerkt entfliehen!«

»Auf keinen Fall,« sagte der Offizier ernst, »noch diese Stunde wird er gehenkt!«

»Schon diese Stunde? Ich denke, die Exekution der chinesischen Piraten, zu denen van Guden gehört, wird erst am Nachmittag vorgenommen?«

»Ich lasse ihn an Bord des »Conqueror« von meinen eigenen Leuten hängen.«

Hope blickte erstaunt auf.

»Warum denn?«

»Weil es mir von Wichtigkeit ist, daß dieser gefährliche Verbrecher möglichst bald aus der Welt kommt, er ist kühn und tatkräftig, seine Flucht wäre doch nicht so unmöglich.«

»So gibst du mir nicht nach? Du hast seinen Tod wirklich beschlossen?«

Hope befreite sich trotzig aus den Armen ihres Bruders.

»Ich werde nie wieder etwas von dir erbitten,« schmollte sie, mit Tränen in den Augen.

»Kind, sei nicht so töricht!« entgegnete der Bruder vorwurfsvoll und hob ihren Kopf empor. »Ich weiß recht wohl, was dich dazu treibt, seine Befreiung zu erwirken. Die Damen, deine Freundinnen, haben dich damit beauftragt, weil sie glauben, ich, als dein Bruder, würde es dir am wenigsten abschlagen, du hast ihnen auch versichert, es würde dir ein leichtes sein, weil, wie du ihnen vielleicht gesagt hast, du mich um den Finger wickeln könntest.«

»Das ist nicht wahr, das habe ich nicht gesagt,« unterbrach ihn das weinende Mädchen.

»Dann etwas Ähnliches. Aber diesmal hast du dich geirrt, ich kann und darf dich nicht erhören. Van Guden hat den Tod verdient und soll ihn dulden. Aber nun etwas anderes, Hope! Wie kommt es, daß du mit dem Matrosen, der mit dir an Bord der »Recovery« war, so intim verkehrst? Ich habe dich vorhin sogar Hand in Hand mit ihm gesehen.«

»Weißt du nicht, daß er als Diener eines der englischen Herren an Bord des ›Amor‹ ist?«

»Das ist kein Grund, mit ihm Hand in Hand zu gehen,« lächelte der Bruder.

»Er ist mein Freund,« sagte Hope einfach.

»So!«

Dieses »So« klang ganz eigentümlich. Hope erhob die Augen und blickte ihren Bruder erstaunt an.

»Hast du etwas dagegen?« fragte sie. »Gegen diesen Freund? Nein, ich wünschte aber, du unterließest es, mit ihm zu intim zu verkehren.«

»Aber warum denn?«

Die Frage klang völlig überrascht.

»Weil ich gern möchte, daß du —«

Der Kapitän brach kurz ab.

»Was möchtest du, Macdonald?«

»Nichts, nichts,« er umarmte seine Schwester, »mir stieg ein garstiger Gedanke auf. Tue, was du willst, meine Hope! Du weißt ja, ich habe eine ebensolche Natur, wie du, auch ich denke anders, als die meisten Menschen.«

»Das ist nicht wahr,« schmollte das Mädchen, »du hast mir allerdings früher einmal gesagt, dir wäre ein Räuber und Mörder, der auf der Landstraße mit Gefahr seines Lebens Reisende überfällt, lieber, als ein Kerl, der seine Mitmenschen mit einem ehrlich aussehenden Gesicht betrügt und um ihr Geld beschwindelt. Jetzt aber denkst du anders.«

»Das ist lange her,« lachte der Offizier, »damals war ich noch ein Kind, das in jedem Indianer einen Helden sah.«

Ein lauter Schrei an Deck unterbrach das Gespräch der beiden Geschwister, ein Kommando erscholl, noch ein Schrei, dann wieder ein Kommando — und alles war still bis auf das Geräusch, welches die über Deck eilenden Matrosen verursachten.

»Was war das?« fragte Hope angstvoll.

»Van Guden hat soeben sein Leben am Strick beendet,« antwortete der Kapitän ernst.

Mit einem Schrei prallte Hope zurück. Dann bedeckte sie das Gesicht mit beiden Händen und schluchzte laut. Als der Bruder sie umarmen und an seine Brust ziehen wollte, stieß sie ihn zurück.

»Grausamer,« weinte sie, »konntest du unserer Bitte nicht nachgeben? Er wäre doch noch ein anderer Mensch geworden, er hätte nur einer Erziehung bedurft. Und in derselben Stunde noch, da ich dich um sein Leben bitte, läßt du an ihm dein strenges Urteil vollziehen.«

In diesem Augenblick wurde die Tür geöffnet, und Lord Harrlington und noch einige andere der englischen Herren, welche sich noch an Bord befunden hatten, traten ein.

»So haben Sie van Guden doch hängen lassen?« rief Harrlington vorwurfsvoll.

Kapitän Staunton zuckte die Achseln, seine Stimme klang aber etwas gereizt, als er erwiderte:

»Ich habe getan, was ich für meine Pflicht hielt, etwas anderes gab es nicht.«

Die Herren waren über diesen Ton etwas betroffen, sahen aber doch ein, daß sie im Unrecht waren, und entfernten sich unter einem Vorwande bald wieder.

Oben angekommen betrachteten sie, wie auch einige der Damen, die Leiche, welche soeben von einer Raa heruntergelassen und von den Matrosen in Empfang genommen wurde.


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»Wie elend er aussieht,« meinte ein Herr, »er ist ganz weiß im Gesicht geworden.«

»Mir kommt es fast vor, als wäre er mit einem Male viel magerer geworden,« sagte Sir Williams.

»Die letzten Minuten vor seinem Tode haben ihn sicher furchtbar angegriffen, man findet oft bei Toten, namentlich bei Hingerichteten, daß sie ganz anders aussehen, als im Leben.«

Die Leiche wurde von den Matrosen in Segelleinwand geschlagen und fortgetragen. Die Herren und Damen verließen das Schiff, um sich nach dem Platze zu begeben, wo bald die Hinrichtung der mehr als 40 Piraten stattfinden sollte. Wollten sie dieser auch nicht beiwohnen, so wollten sie doch wenigstens den Eindruck beobachte«, welche diese Exekution auf die zuschauenden Japanesen, Chinesen und Malayen machte. — — —

Unten im Salon standen noch immer Bruder und Schwester, aber letzterer Augen waren nicht mehr mit Tränen gefüllt, ihr Gesicht war wieder das alte, fröhliche. »Bin ich nun wieder dein lieber Bruder?« fragte der Kapitän.

»Du böser Macdonald!« flüsterte Hope und küßte den Bruder auf die Lippen.

»So komm' nach der Offiziersmesse! Die Herren haben bis jetzt fast noch keine Gelegenheit gehabt, mit dir ein Wort zu wechseln, und doch freuen sich alle so sehr darauf, die kleine Hope wiederzusehen.«

»Kenne ich sie denn?«

»Ich glaube ja, und einen ganz besonders gut.«

»Wer soll das sein?«

»Leutnant Murbay.«

»Ach der,« sagte Hope und zog die Mundwinkel in die Höhe, »ich mache mir nicht viel aus ihm.«

»Er aber destomehr aus dir.«

»Das ist mir ganz gleichgültig.«

»Du tust ihm unrecht, wenn du so etwas von ihm sagst. Leutnant Murbay ist eine treue Seele, er hat dich sehr gern, das wirst du bemerkt haben, wenn du seine Schwester besuchtest und er auf Urlaub zu Haus war. Er ist ein stiller, bescheidener Mensch, der sich aber sehr gekränkt fühlen würde, wenn er hörte, wie du über ihn sprichst. Komm', Hope, er wird dir Grüße von deinen Freundinnen bringen.«

Der Kapitän bot seiner Schwester den Arm und führte sie hinaus.


4. Ned Carpenter.

Das Verhör der dreißig Meuterer war vorüber, das eingetroffene Urteil ihnen vorgelesen worden — es lautete auf Tod am Galgen. Bei Tagesanbruch sollten dieselben Balken, an denen gestern die Chinesen gehangen hatten, ihre Leichen tragen.

Dennoch hatten die Männer noch nicht alle Hoffnung verloren, sie gehörten zu jener Bande, die unter dem Befehle des Meisters stand, und schon bei dem ersten Zuruf: ›Mut, Kameraden, wir helfen euch!‹ war etwas von Hoffnung in ihren Herzen aufgegangen, und am Nachmittag, als sie einzeln zum Verhör über den Hof geführt wurden, war von dem am Türe Posten stehenden japanesischen Soldaten jedem einzelnen noch einmal diese Versicherung zugeflüstert worden.

Das Verhör war ein sehr einfaches gewesen. Sie wurden nach ihrem Namen gefragt, dieser mit der Mannschaftsliste der »Recovery« verglichen, ihnen das Protokoll verlesen, wie es nach der Aussage des Kapitäns Green und seiner Offiziere aufgesetzt wurden war, und da sie keine Einwendungen dagegen machen konnten — es hätte ja doch nichts genutzt — wurde ihnen das Urteil verlesen, immer jedem einzeln.

Sie wurden wieder in ihre Zellen geführt, wo sie die letzte Nacht vor ihrem Tode verbringen sollten. Schlaflos lagen alle auf ihren Pritschen in dem kleinen, langen, schmalen Gemach und grübelten darüber nach, wie wohl ihre Rettung bewerkstelligt werden sollte; es geschah ja sehr häufig, daß die zu der Bande des Meisters gehörenden Leute auf eine geheimnisvolle Weise befreit wurden, hauptsächlich darum, damit die von Todesangst gefolterten Delinquenten keine Geständnisse machten. Dann wieder malten sie sich aus, wie die erwartete Hilfe doch ausbleiben könne, sie fühlten schon, wie ihnen der Strick um den Hals gelegt, wie sie emporgezogen wurden, unter dem Trommelwirbel der Soldaten, und ein kalter Schauer rieselte durch ihr Gebein, Angsttropfen standen auf ihrer Stirn.

Aber nein, sie brauchten keine solche Furcht vor dem Tode zu haben. Noch waren sie im Besitze von Geheimnissen, durch deren Verrat sie sich vom Galgen loskaufen konnten. Bekamen Sie auch nicht die Freiheit geschenkt, lebenslängliches Zuchthaus war doch immer noch besser als der Tod, der ist ein zu bitteres Kraut.

Wurde ihnen erst die Schlinge über den Kopf gestreift, dann war noch immer Zeit, anzudeuten, daß man Sachen von der größten Wichtigkeit aufdecken könnte, die Exekution wurde verschoben, ein neues Verhör angestellt, sie wurden wahrscheinlich nach New-York geschickt, und schon diese Verzögerung war nicht mit Gold zu bezahlen.

Allerdings war dann zu befürchten, der Rache des Meisters zu verfallen; unheimliche Gerüchte gingen über die Schnelligkeit seiner strafenden Hand um, aber so oder so, sterben hätten sie doch gemußt, und waren sie erst im Zuchthaus, dann waren sie auch der Gefahr entrückt, einen Dolchstich ins Herz und das Siegel auf die Stirn gedrückt zu bekommen, dorthin reichte auch der Arm des Meisters nicht mehr.

Aber noch war es nicht so weit.


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Still lagen die Matrosen auf den Matratzen und lauschten; jedes kleinste Geräusch ließ sie zusammenzucken und den Atem anhalten; klapperte der Schlüsselbund des Schließers, so hofften sie, er käme zu ihnen, um ihnen in flüsternden Worten mitzuteilen, daß sie frei waren, schallte draußen der Schritt des auf- und abpatrouillierenden Soldaten, so dachten sie, es wäre der Schritt des Retters.

Aber Stunde auf Stunde verrann; das Abendbrot wurde ihnen gebracht; die Nacht brach an, und lange noch lagen sie horchend da. Natürlich konnte eine Befreiung erst bei Dunkelheit erfolgen.

Nur einer war unter ihnen, der diese Aufregung nicht teilte. Er lag völlig still auf der Matratze, den Kopf auf dem Arm, die Augen geschlossen, und alles schien anzuzeigen, daß dieser Mann in der Nacht vor dem Tode ruhig schlief, als habe er ein gutes Gewissen oder als ob er den morgenden Tag noch zu verleben hatte.

Als der Schließer, der von zwei Soldaten mit geladenem Gewehre begleitet wurde, ihm Tee und ein Schüsselchen mit Reis hineinschob, richtete er sich nicht auf, öffnete nicht einmal die Augen.

Kaum aber waren die drei wieder fort und begaben sich zur nächsten Zelle, so stand er mit einem Sprunge, doch völlig geräuschlos, mit den Füßen auf der Matratze, klammerte sich an das Gitter des Fensterchens, zog sich daran hoch und spähte hinaus.

Im nächsten Augenblick lag er wieder wie zuvor bewegungslos auf der Pritsche und stellte sich schlafend.

»Dem schmeckt die Henkersmahlzeit nicht,« meinte der Schließer zu den Soldaten, als er nach einer Stunde die noch gefüllte Reisschüssel und den kaltgewordenen Tee herausnahm.

Die Dunkelheit war schon angebrochen, noch eine Stunde, und in der Zelle mußte vollkommene Finsternis herrschen.

Was für Gedanken aber waren es, welche dem stilliegenden Delinquenten durch den Kopf sagten?

Er prägte sich noch einmal genau die Lage des Gefängnisses ein, über welche er sich seit beinahe sechsunddreißig Stunden bei jeder nur möglichen Gelegenheit orientiert hatte. Der Transport nach dem Gefängnis, der Weg über den Hof zum Verhör, und ferner die Aussicht durch das Fensterchen, jedesmal, wenn die draußen wachenden Soldaten nicht durch das Schiebefensterchen in die Tür sehen konnten, hatten ihm gezeigt, wie das Gefängnis lag, wie seine Einrichtung war, und wie die Bewachung der Gefangenen gehandhabt wurde.

In der kleinen Zelle war nichts weiter vorhanden, als eine Pritsche mit Matratze und wollener Decke, ein Stuhl und ein Waschbecken. Sie lag im ersten Stock, aber dieser war zu hoch, um bei einem Sprung hinab mit dem Leben davonkommen zu können.

Das Fensterchen, von der Diele aus nicht erreichbar, war mit einem starken, eisernen Gitter versehen und außerdem war, wie bei fast allen Gefängnissen, noch ein Drahtgitter angebracht, um ein Herauswerfen von Papier zu verhindern.

Die Aussicht von diesem Fenster ging nach einem freien Felde, unter der Zelle aber befand sich noch ein Hof mit einer hohen Mauer, welche das Gefängnis rings umschloß, viel zu hoch, als daß man im Sprunge den obersten Rand hätte erreichen können.

In diesem Hof patrouillierten fortwährend vier Soldaten, die Gewehre über der Schulter, auf und ab, an jeder Seite des Hauses einer. Sie wurden nur eine Stunde auf diesem Posten gelassen, damit sie während dieser kurzen Zeit ihre ganze Aufmerksamkeit, ohne dabei zu ermüden und dadurch nachlässig zu werden, auf die Fenster des Hauses richten konnten. Ein Pfiff von ihnen alarmierte die ganze Wache, ein Schuß rief noch eine starke Abteilung von Soldaten herbei.

In der Zelle war es völlig dunkel geworden.

Der Gefangene richtete sich auf, setzte sich auf die Pritsche und dehnte und streckte seine Glieder. Er war ein mittelgroßer Mann, kräftig, aber nicht knochig gebaut, mit einem Gesicht, das von einem hellblonden Stoppelbart umrahmt wurde. Es war nicht unangenehm zu nennen — da man aber seinem unstäten Äußern ansah, daß er nicht gern beobachtet wurde, weil wahrscheinlich sein Gewissen kein reines war, so wollen wir uns nicht länger mit seinem Aussehen beschäftigen.

Er lauschte aufmerksam auf den Schritt des im Korridor gehenden japanesischen Soldaten, wartete, bis derselbe an der Zelle vorüber war, griff dann in sein strohiges, blondes Haar, wühlte darin herum und brachte eine kleine Säge zum Vorschein.

Trotz der äußerst genauen Untersuchung, die mit den Gefangenen vorgenommen wurde, war dieses Instrument doch dem sonst in dergleichen Sachen äußerst erfahrenen Beamten entgangen.

Der Gefangene rückte vorsichtig, ohne das geringste Geräusch dabei zu verursachen, die Pritsche an die Wand, sodaß sie gerade unter das Fenster zu stehen kam, stellte sich darauf und begann an den Eisenstangen zu feilen.

Bald waren alle unten durchgefeilt, die haarscharfe Säge aus Uhrfederstahl, die er fortwährend durch den Mund zog, um sie zu befeuchten, gab keinen Ton von sich, das leise Knirschen konnte nur in sein eigenes Ohr dringen. Das winzige Instrument durchschnitt das harte Eisen überraschend schnell.

Als die Stäbe unten durchsägt waren, begann er mit derselben Arbeit am oberen Ende, und kaum eine Viertelstunde war vergangen, so legte er die durchsägten Stäbe auf die Matratze und sägte auch noch mit wenigen Strichen in das Drahtgitter eine Öffnung, groß genug, um seine schlanke Gestalt durchzulassen.

Vorläufig streckte er nur den Kopf durch und spähte lange in die Nacht hinaus.

Der einsame Wachtposten schritt auf und ab, sah, das Gewehr im Arm, gedankenvoll vor sich hin und warf nur manchmal einen Blick an dem Hause hinauf. Es war ja noch nie vorgekommen, daß ein Gefangener ausgebrochen war, und selbst, wenn ihm die Flucht aus einem Fenster gelungen wäre, über die drei Meter hohe Mauer konnte er doch nicht kommen, und außerdem rief der Pfiff der Soldaten noch die drei Kameraden herbei.

Es war zu dunkel, als daß der Kopf des Gefangenen von unten hätte gesehen werden können.

Der Mann stieg von der Pritsche, betrachtete prüfend die wollene Decke, zog mit aller Kraft daran und warf sie dann unwillig wieder weg — das morsche Zeug war zerrissen.

Wieder stieg er auf die Pritsche und blickte nach unten.

»Ein verfluchter Sprung,« murmelte er zwischen den Zähnen; »werde meine Knochen zusammennehmen müssen, daß ich sie nicht breche. Na, bin schon einmal vier Stockwerk hoch heruntergesprungen, ohne mir ein Bein dabei zu verstauchen, aber man wird mit jedem Tage älter!«

Nach dieser letzten, sehr richtigen und nicht zu bestreitenden Bemerkung legte er die Hände trichterförmig an den Mund und ahmte täuschend das Krächzen des Käuzchens viermal nach.

Der Soldat unten hielt es nicht einmal für die Mühe wert, den Kopf zu erheben, um nach dem Nachtvogel zu sehen. Hier gab es Käuzchen genug, manche Nacht hindurch konnte man ihr Geschrei vernehmen, und er war als Stadtkind zu unerfahren, um zu bemerken, daß die Pausen, welche zwischen den einzelnen Rufen eingehalten wurden, merkwürdig waren.

Der zweite folgte gleich auf den ersten, der dritte etwas später, und der vierte ließ sehr lange auf sich warten.

Der Gefangene lauschte einige Zeit, ohne eine Erwiderung dieses Zeichens vernehmen zu können; plötzlich aber erscholl an der Außenseite der Mauer, eben da, wo der Posten sich gerade befand, ein furchtbarer Lärm, ohne daß man den Urheber desselben bemerken konnte.

Stimmen heulten, Pfiffe gellten, dann fielen einige Schüsse, und die Japanesen vernahmen, wie ein Mann um Hilfe schrie. Der Lärm fand zwar außerhalb des Gefängnishauses statt; dennoch waren die Soldaten verpflichtet, die Ursache desselben zu ergründen, denn wer wußte, ob die Männer, welche sich da draußen befanden, nicht irgend einen Befreiungsversuch vorhatten, bei dem sie überrascht worden waren!

Die Pfeife des Soldaten an der Mauer rief die Wachtmannschaft herbei, aber in demselben Augenblick, als er das Instrument in den Mund steckte, ließ er es erschrocken wieder fallen und riß das Gewehr von der Schulter.

Aber es war schon zu spät, er kam zu keinem Schuß mehr.

Von einem Fenster des ersten Stockes, da, wo die Meuterer gefangen gehalten wurden, war ein dunkler Gegenstand heruntergefallen, klatschend auf die Erde geschlagen, aber, als wäre es ein Gummiball gewesen, sofort wieder emporgesprungen. Einige Sätze, und die Gestalt war an der Mauer, ein Sprung, und sie saß oben auf dem Sims, und eben, als der Soldat den Kolben an der Wange hatte, war sie verschwunden.

Dennoch schoß der Japanese sein Gewehr ab, die Wache lief herbei, Befehle erschollen, die Soldaten eilten hinaus, aber so genau sie auch die Umgebung der Gefängnismauern absuchten, weder von den Leuten, welche vorher Lärm verursacht hatten, noch von dem Gefangenen, der diese Gelegenheit zur Flucht benutzt hatte, war eine Spur zu finden.


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Als der Soldat den Kolben an der Wange hatte, verschwand die Gestalt.


»Wer ist es gewesen?« fragte heftig der verantwortliche Offizier den herbeieilenden, zitternden Schließer.

»Nummer siebenundzwanzig, einer der Meuterer, Red Carpenter. Er hat die Eisenstäbe durchgefeilt und ist durchs Fenster gesprungen.« In der nächsten Minute donnerte ein Böllerschuß durch die Nacht, die Garnison wurde alarmiert, und bald eilten Patrouillen von Soldaten und Schutzleuten durch die Straßen Yokohamas, alle Zugänge, besonders die zum Hafen führenden sperrend, und die Umgebung des Gefängnisses nach dem entflohenen Gefangenen absuchend.

»Hol' über,« rief ein Mann, der wegen des strömenden Regens in einen Wachstuchmantel gehüllt war, über den Kanal, welcher das eigentliche Yokohama von einer kleinen Vorstadt trennt, die hauptsächlich von den sich überall einnistenden Chinesen bewohnt wird.

Es war erst Abend, aber die Dunkelheit schon eine vollkommene.

Der Japanese kam aus der Bretterhütte heraus, die sich auf der anderen Seite des Kanals befand, warf ein Tuch über seinen Kopf, sprang ins Boot und ruderte hinüber. Er hatte zwar die auf englisch gerufene Aufforderung nicht verstanden, denn selten kam es einmal vor, daß ein Europäer dieser schmutzigen Vorstadt einen Besuch abstattete, aber was hätten die Worte anders bedeuten sollen als den Wunsch, hinübergerudert zu werden. Die Brücke war viel weiter oben, und bei diesem schrecklichen Regen den weiten Weg nach dort zu machen, hätte sich kaum ein Japanese unterfangen, um wieviel weniger ein Engländer.

Der Mann im Wachstuchmantel und Wachstuchhut, in seinem ganzen Äußeren den Seemann verratend, stieg ein, bezahlte auf der anderen Seite den Fährmann, der erstaunt das ihm in die Hand gedrückte, große Silberstück betrachtete.

Der Fremde sprach mehrere Male ein japanesisches Wort langsam aus, den Fährmann dabei fragend anblickend, und jetzt verstand dieser, warum er einen solchen reichen Lohn für seine kleine Mühe bekommen hatte, er sollte dem Engländer, der nicht japanisch sprach, eine Frage beantworten. Mehrmals mußte der Mann im Mantel das Wort wiederholen, denn es ist schwer, ein fremdes, vorgesprochenes Wort so wiederzugeben, daß es dem Eingeborenen verständlich ist; er wurde ungeduldig, fluchte, sprach es in allerlei Arten aus, tief, hoch, breit, schnalzend, und endlich war es ihm doch gelungen, den Sinn des Wortes dem Japanesen begreiflich zu machen.

Dieser nickte, deutete gerade aus in die Gäßchen der schmutzigen Vorstadt, zählte an den Fingern, deutete bald rechts, bald links, und wußte, fast ohne ein Wort dabei zu sagen, doch so geschickt den Weg nach der chinesischen Herberge, welche so hieß, wie das Wort lautete, zu erklären, daß der Fragende gar nicht irregehen konnte.

Verwundert schaute der Japanese dem Fremdling nach, der eiligst der angedeuteten Richtung folgte. Heute hatte der Fährmann schon einmal einen ganzen Trupp von Europäern, alle etwas schäbig gekleidet, über den Kanal setzen müssen, und einer davon, der ziemlich gut spanisch sprach, hatte nach derselben Herberge gefragt. Dort sollte wahrscheinlich heute abend eine Orgie mit chinesischen Mädchen gefeiert werden, ein Fest mit Trinken, Singen und Tanzen, wie es die englischen Seeleute so lieben, dachte der Fährmann, und wachen sie morgen früh mit schwerem Kopfe auf, so haben sie keinen einzigen Dollar mehr in der Tasche, dafür wird schon der Wirt sorgen.

Der Fremde war genau den Anweisungen des Fährmanns gefolgt, und bald stand er vor einem Hause, welches den anderen, elenden Hütten gegenüber so genannt werden konnte. Es war größer, mit Fenstern versehen, und auf dem Dache befand sich sogar ein Schornstein.

Jetzt aber waren die Fenster mit Läden verschlossen, durch deren Ritzen ein schwacher Lichtschimmer drang.

»Wer ist da?« fragte hinter der Tür eine Stimme auf spanisch, als der Fremde mit der Fußspitze leise an das Tor pochte.

»Mach' auf!« raunte der Außenstehende. Sofort wurde die Tür geöffnet, und der Fremde trat schnell ein.

Drinnen saßen um einem Tisch herum auf hölzernen Schemeln gegen zwanzig wildaussehende Gestalten, die Matrosen des einstigen »Friedensengels«, der als »Möve«, vom Feuer zerstört worden war.

Der Eingetretene schüttelte die Regentropfen vom Mantel und Hut, warf beides auf einen Stuhl und wischte sich das Wasser aus dem knochigen, verwitterten Gesicht.

»Alle versammelt?« fragte er kurz.

»Ja, Seewolf,« erwiderte derjenige, der ihn eingelassen hatte, und begab sich an den Tisch zurück.

Die Matrosen, welche in die durch Rauch schon verdickte Luft des Zimmers immer mehr Dampfwolken hineinbliesen, welche sie ihren Holz- und Tonpfeifen entlockten, hatten große Kannen vor sich stehen, aus denen sie sich die Gläser mit rotem Weine füllten; aber das feurige Getränk vermochte nicht, bei ihnen eine heitere Laune hervorzurufen. Es herrschte eine sehr gedrückte Stimmung.

Auch der Seewolf ließ sich auf einen Schemel nieder und füllte sich ein Glas.

»Nichts angekommen?« fragte ihn einer der Matrosen.

»Was geht es dich an?« fuhr ihn der Seewolf grimmig an. »Das sind meine Sachen.«

Aus diesen Worten entnahmen alle, daß der Seewolf, welcher sich nach Yokohama begeben hatte, um Befehle vom Meister zu empfangen, entweder keine vorgefunden oder schlechte Nachrichten bekommen hatte.

Der Seewolf stürzte zwei große Gläser Wein hinunter und sagte dann, etwas milder gestimmt:

»Nichts war da, aber habt keine Angst, Jungens; ist uns auch seit einiger Zeit manches schief gegangen, unseren letzten Auftrag haben wir wenigstens gut ausgeführt, und beim Teufel, es war kein leichtes Stückchen. Dessen wird sich der Meister wohl auch bewußt sein und sich dafür erkenntlich zeigen.«

Diese Worte brachten wieder etwas Stimmung in die stumme Gesellschaft.

»Es geht uns aber auch jetzt alles verkehrt,« meinte einer, »wir haben kaum so viel Verdienst, um uns ein Glas Wein kaufen zu können.«

»Geht anderen auch so,« tröstete der Seewolf, »und besser ist es doch, wir können Wasser trinken, als daß sie uns den Strick um den Hals legen. Schlimm ist es freilich, das ist wahr, aber wenigstens ist es ein Trost, daß selbst die Schlanksten von uns, die vor Hochmut mich kaum kennen wollen, von diesen verfluchten Engländern und Mädchen auch an der Nase herumgeführt werden.«

»Wer ist das?«

»Tannert, dieser Überschlaue.«

»Ist Tannert auch hinter den Mädchen her?« riefen einige verwundert, wie aus einem Munde.

»Das nicht,« entgegnete der Seewolf, »er ist in Australien beschäftigt, weiß nicht, was er dort treibt, wahrscheinlich macht er so seine Geschäfte in Geldsachen oder in etwas Ähnlichem, wovon wir nichts verstehen.«

»Aber was hat er mit den Mädchen zu tun? Ich denke, er mischt sich überhaupt nicht in solche Sachen?«

Der Seewolf schmunzelte, trank sein Glas wieder aus und wischte sich den weißen Bart.

»Ihr wißt doch,« begann er, »daß damals in Australien einer der entsprungenen Sträflinge dem Tode durch Flucht entgangen war — er hieß Snatcher. Es mußte dem Meister kolossal viel daran liegen, diesen Mann in seine Hände zu bekommen, und da sich Tannert gerade in Townville aufhielt, so wurde dieser, als der Schlaueste, damit beauftragt, ihn nach Sydney zu bringen.«

»Warum denn?« fragte einer.

»Das weiß ich nicht. Wirklich gelang es Tannert, sich des Snatcher zu bemächtigen, aber es war schwierig, ihn unbemerkt an Bord eines Schiffes zu bringen, denn lebendig sollte er unbedingt in Sydney abgeliefert werden. Doch dem klugen Tannert war dies ein leichtes, er betäubte den Snatcher, steckte ihn in ein Faß, schrieb darauf: ›Gesalzenes Schweinefleisch,‹ verzollte es selber, das heißt, er machte eine falsche Plombe daran und setzte es einstweilen in einen kühlen Keller, damit das Fleisch nicht stinkig werde.«

Ein wieherndes Gelächter über diesen Witz unterbrach den Seewolf, der selbst mitlachen mußte.

»Also,« fuhr er fort, »so weit war alles in Ordnung. Das Faß ward richtig an Bord gebracht, in Sydney ausgeladen, und als Tannert das Faß öffnete, was meint ihr, was darin war?«

»Snatcher, aber tot,« rief ein Matrose.

»Jawohl, Snatcher war fort, aber dafür lag ein toter Hund darin.«

Alle rissen vor Staunen Mund und Nase auf, dann aber erscholl wieder ein brausendes Gelächter.

»Wie in aller Welt ist denn das zugegangen?« fragte einer von den Matrosen.

»Weiß nicht, ebensowenig, wie Tannert und sein Genosse, der bei ihm war. Diese Superklugen sind eben einmal tüchtig angeführt worden. Uns ist auch schon manches mißglückt, aber so blamiert, wie sie, haben wir uns denn doch niemals.«

»Woher habt ihr denn dies erfahren, Seewolf?«

»Ich traf vorhin einen auf dem Bureau, der mit dabei war, als das Faß geöffnet wurde. Tannert hielt erst eine lange Rede, wie geschickt er alles angefangen habe, ließ sich einen Schwamm und kaltes Wasser geben, um den Bewußtlosen gleich wachzurufen, kurz und gut, traf alle Vorbereitungen, und wie er den Deckel öffnete, da lag ein räudiger Hund vor ihm Ich habe gelacht, daß mir die Tränen über die Wangen gerollt sind.«

»Wo ist dieser Snatcher aber denn geblieben?«

»Dies auszuspionieren, dazu ist jener Mann da, der mir dies erzählte. Es war zu vermuten, daß Snatcher von den englischen Herrchen aufgenommen worden ist, warum, weiß ich auch nicht, und der Abgesandte hat dies auch wirklich erfahren. Aller Wahrscheinlichkeit nach, sagt er mir, wird Tannert noch einmal beordert, dieses Snatchers habhaft zu werden.«

»Das muß ja eine furchtbar wichtige Person sein, dieser Snatcher, daß Tannert hinter ihm hergejagt wird.«

»Wahrscheinlich, er steht jedenfalls mit den Damen in Verbindung, sonst würden sich die Engländer sicher nicht seiner angenommen haben.«

»So steht also zu erwarten, daß wir mit Tannert noch mehrmals zusammentreffen?« fragte einer.

»Aller Vermutung nach, ja,« meinte der Seewolf ärgerlich, »denn Snatcher ist und bleibt an Bord des ›Amor‹, er soll krank sein.«

»Nun möchte ich nur wissen, wer dem sonst so geschickten Tannert einen solchen Streich spielen konnte? Tannert läßt sich doch nicht so leicht übers Ohr hauen.«

»Das hat er eben diesmal bewiesen,« lachte der Seewolf. »Nun aber, Kinder, wenigstens etwas Angenehmes für heute abend, werdet es alle nötig gebrauchen.«

Die Gesichter der Männer heiterten sich plötzlich auf, als der Seewolf, ihr jetziger Kapitän ohne Schiff, in die Brusttasche griff und einen schweren Beutel zum Vorschein brachte.

Begierig hefteten sich die Augen aller auf die Silberstücke, welche auf den Tisch rollten und in gleicher Anzahl den Umsitzenden zugeschoben wurden.

»So,« sagte er, nach Vollendung dieses Geschäftes, »da habt ihr nun euren Lohn. Das muß man dem Meister lassen, pünktlich bezahlen tut er. Und nun, Jungens, füllt eure Gläser und stoßt an auf die dreißig oder vielmehr neunundzwanzig Seelen, die heute morgen mit eurer Hilfe vom Galgen aus dem Teufel in die Arme gelaufen find. Prosit, Jungens!«


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Lachend taten sie ihm Bescheid; der Inhalt der Gläser wurde hinabgegossen, und die strahlenden Augen, die roten Gesichter bewiesen, daß der Wein zu wirken begann, und daß durch die Verteilung des Geldes eine bessere Stimmung eingetreten war.

»Hahaha,« lachte der am rohesten aussehende Kerl, »das haben wir auch wirklich gut gemacht. Haben die Burschen hingehalten und hingehalten, ihnen immer wieder zugerufen, den Mut nicht zu verlieren, daß sie wahrhaftig noch glaubten, als sie schon am Galgen in der Luft baumelten, es erscheine ihnen noch ein Rettungsengel und schnitte ihnen den Strick durch.«

»Es muß aber doch eine verdammte Sache sein, immer so auf Hilfe vertröstet zu werden,« meinte einer, sich in den Haaren wühlend, »und schließlich, wenn die Rettung schon zu spät, endlich einzusehen, daß alles nur Schwindel war.« »Was hilft's?« entgegnete der Seewolf gleichmütig. »Wenn wir uns so läppisch dumm benommen und uns eine so sichere Beute, wie die »Recovery« war, aus den Zähnen hätten rücken lassen, ginge es uns auch nicht besser. Versprechungen bekämen wir auch, aber ob sie gehalten würden, wäre eine andere Sache.«

»Na, uns ist es auch nicht viel besser ergangen!«

Der Seewolf warf dem, der diesen Ausruf getan hatte, einen wütenden Blick zu.

»Oho,« entgegnete er, »ist uns auch nicht immer alles geglückt, so schlimm ist es uns doch nie ergangen, und, was die Hauptsache ist, wir haben uns nie fangen lassen.«

»Ich würde nicht so lange warten,« meinte ein Matrose nachdenklich, »bis ich am Galgen hinge. Andere habe ich angeführt, aber mich sollten sie nicht anführen.«

»Was würdest du tun?« schrie der Seewolf heftig und sprang auf, mit der Faust auf den Tisch donnernd, daß die vollen Weingläser überliefen. »Sprich, was würdest du tun? Etwa verraten? Bei Gottes Tod, es wäre dein letztes Wort!«

Der Matrose entfärbte sich, er hatte da eben etwas sehr Unbedachtes gesagt, aber er sammelte sich sofort wieder.

»Was ich tun würde?« sagte er langsam. »Einfach dasselbe wie Ned, ich wollte schon einen Ausweg finden, und wenn sie mich in einen feuerfesten Turm steckten.«

»Ja, du,« lachte ein anderer Matrose, »Red Carpenter ist ein anderer Kerl, als du. Aber, weiß Gott, wo mag nur dieser Bursche stecken? Habt ihr nicht gehört, Seewolf, ob er gefunden worden ist oder nicht?«

»Nichts,« entgegnete der Seewolf, »er ist und bleibt spurlos verschwunden. Das wäre auch eine schöne Geschichte, wenn der jetzt noch gefangen würde und alles verriete. Dann hätten wir unser Geld umsonst erhalten, und schließlich würde es uns auch noch das nächste Mal abgezogen.« »Das tut der Meister nicht,« schaltete ein anderer, grauhaariger Mann ein.

»Wenn auch, fatal wäre es doch, wenn Ned Carpenter gefangen werden sollte. Lieber wäre es mir doch gewesen, wenn auch er mit am Galgen gehangen hätte.«

»Habt keine Angst,« lachte ein Matrose, »Red Carpenter ist nicht der Mann, der sich fangen läßt. Ich kenne ihn, ich bin an Bord eines Schiffes mit ihm zusammen gewesen, ehe ich zu euch kam, Seewolf. Ich sage euch, dieser Ned ist ein Kerl, der Haare auf den Zähnen hat.«

»Gewiß, ein pfiffiger Bursche ist er,« warf ein anderer ein, »aber, daß er so mir nichts, dir nichts aus der ersten Etage herunterspringt und auch noch über die drei Meter hohe Mauer wegsetzen kann, das hätte ich ihm doch nicht zugetraut. Wo er nur stecken mag? Erfährt er, daß wir hier sind, dann sucht er uns sicher auf.«

»Kennt Ihr ihn, Seewolf?« fragte ein Matrose.

»Nein. Wie lange zählt er denn schon zu uns?«

»Etwas über ein Jahr, der Bursche hat Chance; entwischt er diesmal, so wird es nicht lange dauern, und er gehört zu denen, die nur befehlen.«

»Paßt auf, Seewolf, daß er Euch nicht ins Gehege kommt,« lachte ein anderer. »Er ist nicht nur ein schlauer Kerl, er ist auch ein fixer Seemann, der wie ein Teufel segeln kann. Es wäre nicht unmöglich, daß er ein Schiff zu führen bekommt. Der Meister braucht jetzt gerade tüchtige Kräfte.«

»Unsinn,« brummte der Seewolf mürrisch und warf dem Sprecher einen bösen Blick zu, »er ist doch noch ein grüner Junge gegen mich alten, erfahrenen Kerl.«

»Na, wenn der zu befehlen gehabt hätte, wäre die »Recovery« sicher nicht verloren gegangen. Aber dieser Schuft, der Italiener, oder was er ist, der früher auf der Insel der Glücklichen gewesen ist, mußte sich natürlich die Beute entgehen lassen.« »Er soll ein ehemaliger Kapitän gewesen sein,« meinte ein Matrose.

»Ja,« ergänzte ein anderer, »und er soll Grund haben, sich nicht mehr bei den Seemannsämtern sehen zu lassen, ebensowenig wie wir alle, wenn wir uns nicht unkenntlich machen.«

»Mag er sein, was er will,« sagte der Seewolf, »recht ist dem dummen Kerl jedenfalls geschehen, daß er sein Leben am Galgen beschließen mußte.«

Die Krüge waren leer, die Matrosen, wieder mit vollen Taschen, riefen den chinesischen Wirt und ließen sie wieder füllen. Es waren Piraten, sie dachten nicht an morgen, denn wer von ihnen wußte, was der morgende Tag brachte? So lange Gelegenheit war, mußte genossen werden. Der nächste Tag konnte vielleicht nicht mehr ihnen gehören.

»Und van Guden ist auch gehängt worden!« sagte wieder einer nach einer Weile.

»Ist dem Laffen auch ganz recht geschehen,« entgegnete der Seewolf. »Als ich ihn damals aufsuchte, um ihm einen Brief zu bringen, benahm er sich mir gegenüber so hochmütig, daß ich ihm am liebsten eine ins Gesicht geschlagen hätte.«

»Oho,« lachte der alte, grauhaarige Bursche — es war des Seewolfs Steuermann — »das hättet ihr wohl bleiben lassen.«

»Ich?« rief der Seewolf und sprang auf, vom Wein erhitzt. »Ihr wißt doch alle, daß ich eine verdammt gute Faust schlage.«

»Braust nicht gleich so auf!« rief der Steuermann, ebenfalls heftig. »Ich weiß gar nicht, was heute abend mit Euch los ist, habe mich schon die ganze Zeit über euch geärgert. Ihr werft den anderen vor, daß sie sich zu dumm benommen haben, daß sie sich der »Recovery« leicht bemächtigen konnten, und wer ist es denn gewesen, der sich von diesen Mädchen wie ein kleines Kind hat im Schlafe überwältigen und binden lassen? War Euch damals die ›Vesta‹ nicht auch schon so gut wie sicher? Und was seid Ihr nun? Ein Kapitän ohne Schiff, hahaha!«

»Hütet Euch!« zischte der Seewolf, nach dem Messer greifend. »Wäret Ihr nicht ein alter Kamerad von mir, ich hätte Euch schon nach dem ersten Worte eine andere Antwort gegeben. Nehmt zurück, Steuermann, was Ihr gesagt habt! Das war etwas anderes bei mir; wir sind verraten worden, man hat uns ein Schlafmittel ins Essen getan. Nehmt es zurück!«

Auch der Steuermann war aufgesprungen, desgleichen die anderen Matrosen, bereit, sich auf den betrunkenen Seewolf zu werfen und ihn an einem Morde zu hindern.

»Ich nehme nichts zurück, was wahr ist,« rief der Steuermann dem mit glühenden Augen und verzerrtem Gesicht Dastehenden zu. »Ihr sprecht über andere, und denkt nicht an Euch selbst. Ebenso ist es mit van Guden. Hatte er auch ein paar Schrullen im Kopfe, das war doch ein Kerl, mit dem du dich ebensowenig vergleichen kannst, wie wir alle zusammen«

»Hund verdammter!« brüllte der Seewolf und wollte sich auf den Steuermann stürzen, das Messer in der Faust; der Chinese floh in einen Winkel, der Angegriffene wich etwas zurück und faßte einen Krug am Henkel, und die Matrosen streckten die Arme aus, um den Wütenden im rechten Moment packen zu können.

Aber es kam zu keiner blutigen Szene; wie gebannt blieben plötzlich alle stehen, so, wie sie sich eben befanden, hielten den Atem an und lauschten.

An der Tür wurde stark geklopft.

Des Seewolfs Wut hatte sich sofort gelegt, selbst der Rausch war verflogen, jetzt galt es, zu handeln.

»Wer ist es?« flüsterte er dem Chinesen zu.

»Ich weiß es nicht.«

»Sind wir hier sicher?«

»Ja, ich glaube, wenn ihr euch selbst nicht verraten habt.«

Das Glas wurde Ned Carpenter an die Lippen gesetzt.


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Das Pochen ließ nicht nach, sondern wurde immer stärker.

»Geht hin und fragt, wer es ist,« sagte der Seewolf und ließ sich wieder auf seinen Schemel nieder. »Setzt euch, Jungens, und tut, als hätten wir uns hier zu einer Kneiperei versammelt.«

Das Pochen wurde draußen immer fortgesetzt, es wurde immer schneller und ungestümer.

Der Chinese ging ängstlich nach der Tür.

»Wer ist draußen?« fragte er.

»Tod dem Verräter!« erklang eine flüsternde Stimme.

Wie elektrisiert sprangen alle auf und sahen sich mit bestürzter Miene um — es war das Erkennungszeichen der zum Bunde des Meisters Gehörigen.

»Öffnet die Tür!« rief der Seewolf, sprang selbst hin und schob den Riegel zurück.

Er wäre bald zu Boden geworfen worden, mit solcher Gewalt stürzte ein Mann herein, nur mit zerfetzten Lumpen bedeckt, Gesicht und Hände über und über voll Blut, den Kopf verbunden, rannte gegen den Tisch und fiel dann erschöpft auf einen Stuhl, die Hände und den Kopf auf den Tisch legend.

»Ned!« rief einer der Matrosen. »Ned, in des Teufels Namen, bist du es wirklich?«

»Ned Carpenter,« klang es überall erstaunt wieder.

»Ich bin's!« hauchte der entsprungene Gefangene. »Gebt mir ein Glas Wein, oder die Besinnung verläßt mich!«

Der Kopf wurde ihm in die Höhe gehoben, das Glas an seine Lippen gesetzt und ihm der Wein hinabgegossen. Erst jetzt merkten die Matrosen, daß die Kleider des Entsprungenen so naß waren, daß das Wasser aus ihnen herabrann.

»Unglücksmensch!« sagte der Seewolf und trat dicht au den Matrosen heran. »Du bist verfolgt worden und hast dich hierher gewandt. Wir sind verloren, wenn man dich hier findet.« Der halb Besinnungslose schüttelte den Kopf.

»Ich bin jetzt sicher,« stöhnte er. »Ihr habt nichts zu fürchten.«

»Bist du verfolgt worden?«

»Verfolgt?« der Entsprungene lachte bitter. »Gejagt, gehetzt, müßt ihr sagen. Mit Hunden war man hinter mir her, aber ich bin ihnen doch entkommen.«

»Seit wann hat man deine Spur verloren?«

»Schon seit heute mittag.«

»Wo hast du dich verborgen gehalten?«

»Weit von hier, in einem undurchdringlichen Dornengebüsch, in das kein Mensch hinein kann, höchstens ein wildes Tier, und als solches bin ich ja behandelt worden.«

Seine Kleider gaben Zeugnis davon, daß er die Wahrheit sprach, denn sie waren buchstäblich in Fetzen zerrissen, und Gesicht und Hände zeigten Dornenrisse.

»Hat man dich gesehen, als du dich in dieser Vorstadt zeigtest? Bist du über die Brücke gegangen, oder hast du die Fähre benutzt?« forschte der Seewolf weiter.

»Durch den Kanal bin ich geschwommen, kein einziger Mensch hat mich gesehen. Ach, wie das Salzwasser brennt,« er griff bei diesen Worten an den Verband, der sich um seine Stirn schlang.

»Bist du verwundet worden?«

Ned schüttelte verneinend den Kopf.

»Nein. Beim Springen aus dem Fenster bin ich mit der Stirn gegen den Boden geschlagen. Gebt mir noch ein Glas Wein!«

Der Genuß des Weines kräftigte den matten Mann sichtlich, er erholte sich langsam.

»Aber zum Teufel, so sprecht Euch doch aus! Woher wißt Ihr denn, daß wir hier versammelt sind? Das weiß doch sonst keiner, und Ihr lauft direkten Weges hierher?«

Dem Seewolf fiel es mit einem Male ein, daß dieser Mann nicht zufällig hierherkam, das konnte ja gar nicht sein, sondern daß er hergeschickt worden war, und er hatte sich nicht darin getäuscht.

»Wer führt unter euch den Namen Seewolf?« fragte Ned, sich im Kreise umblickend.

»Hier!« rief der Pirat, »was habt Ihr?«

»Dann ist dieser Brief für Euch!«

Er holte einen Brief hervor und händigte ihn dem Seewolf ein — er trug das Siegel des Meisters.

»Wie kommt Ihr zu diesem Schreiben?« fragte der alte Pirat erstaunt. »Ich denke doch, Ihr habt niemanden getroffen?«

»Doch, einen Mann, lest den Brief und gehorcht dem, was er sagt; ich weiß so ziemlich, was darin steht.«

Der Seewolf überflog den Inhalt, ein freudiges Lächeln erhellte sein Gesicht, »Hurra, Jungens!« schrie er fröhlich, »der Seewolf hat wieder ein Schiff, und ihr habt einen Kapitän. Aber,« wandte er sich etwas sorgenvoll an Ned Carpenter, »seid Ihr auch fähig, uns zu führen? Der Brief sagt, wir sollten uns Eurer Führung anvertrauen, Ihr wüßtet, wo ein Schiff läge, dessen wir uns bemächtigen könnten.«

»Ich bin es.«

»Auf denn, Jungens!« rief der alte Seewolf mit vor Freude blitzenden Augen. »Leert die Gläser auf unser neues Schiff und kommt mit! Ned, Herzensjunge, ich möchte dich umarmen, wenn du nicht so entsetzlich naß wärst.«

»Halt, halt,« beschwichtigte dieser, »wir haben noch einige Stunden Zeit, ehe wir das Schiff verlassen finden. Macht keine Torheiten durch Übereilung, laßt uns lieber noch ein paar Krüge von diesem Weine leeren.«

Niemandem war dies lieber als den Matrosen. Die Gläser erklangen, die erst so traurige Stimmung der schiffslosen Mannschaft war plötzlich die lustigste geworden, sie hatten ja nun wieder Aussicht, ein Schiff zu bekommen.

Während der Seewolf das Schreiben mit dem Siegel sorgfältig verbrannte, betrachtete er Ned Carpenter von der Seite.

Das mußte ja ein ganz besonderer Mensch sein, da ihm ein solcher Auftrag zu teil wurde, und, wie er jetzt erzählte, war er von dem Manne, der ihm das Schreiben übergeben hatte, auf eine ganz wunderbare Weise gerettet worden. Nun, der Brief bewies ja, daß man ihm trauen könne, und außerdem bewies die Flucht Red Carpenters auch schon, was für eine tüchtige Kraft er war.

Einige Stunden vergingen noch, als Ned nach der Zeit fragte.

»Es ist gleich zwölf Uhr,« antwortete der Seewolf.

»Dann ist es Zeit, daß wir aufbrechen,« rief Ned und stand auf. »Wir haben noch einen kleinen Weg zu marschieren. Die Anordnungen gebe ich euch unterwegs, Kameraden, es ist nicht die geringste Gefahr bei der Wegnahme des Schiffes.«

»Aber so sprecht doch, wo liegt es denn, und wie kommt es, daß es verlassen ist?«

»Es ist nicht verlassen,« war die Antwort, »es ist sogar vollständig ausgerüstet und wartet nur auf die Bemannung. Ein alter Wächter, ein Engländer, ist darauf, aber der geht heute nacht zu einem Gelage, und da haben wir Gelegenheit, ohne jedes Aufsehen uns des Schiffes zu bemächtigen.«

»Wo liegt es denn, daß wir das können?«

»Etwas weiter von hier ab, es ist auf eine Sandbank aufgelaufen.«

»Auf eine Sandbank? Dann müssen wir es ja aber erst flottmachen?«

»Unsinn,« lachte Ned, »heute nacht um zwölf Uhr ist Springflut, das weiß der alte Wächter nicht, sonst würde er sich hüten, gerade um diese Zeit das Schiff zu verlassen.«


5. Ein Mordversuch.

Nordwärts ahoi! Blauer Himmel, blaues Meer, oben die lachende Sonne und im Wasser ihr zitterndes Spiegelbild.

O, du unendlicher Ozean, wie bist du so schön, wenn du deine schäumenden Wogen zornig schüttelst, wenn auf deinem Rücken die mächtigen Eisberge donnernd zusammenschlagen und in Myriaden von flimmernden Krystallstückchen auseinanderstäuben; wie erweitert sich das Herz bei einem solchen Anblicke, aber mit wie süßen Schmeicheleien weißt du das Gemüt zu bezaubern, zeigst du deine heitere Seite, den blauen Spiegel mit dem Bilde der Sonne darin!

Traurigkeit, Kummer, Sorge — sie müssen bei deinem Anblick fliehen, du lehrst, wie schön die Welt ist, und daß man in ihr sich nicht das Leben durch selbstgemachte Qualen verbittern soll, wenn wir Menschen sein wollen, welche über den Tieren stehen.

Die Geschöpfe freilich, welche in dir, du friedliches Meer, ihr Wesen treiben, haben weiter keine Gefühle, als nur ein einziges, das des Selbsterhaltungstriebes, aber die Natur gab ihnen kein Gewissen, welches sie lehrt, von sich selbst aus Recht und Unrecht zu unterscheiden; der Stärkere verschlingt den Schwächeren, und sie haben das Recht dazu; wenn dies aber bei der Menschheit ebenso geschieht, wird nicht einmal ein Richter auftreten, welcher Verantwortung fordert? Wird nicht am jüngsten Tage ihr Urteil gefällt, so wird sie doch diese Welt schon, oder ihr eigenes Gewissen richten — die Tiere brauchen dies nicht zu fürchten, die ihnen von der Natur angeborenen Eigenschaften sprechen sie frei. —

Die Haifische, die unzertrennlichen Begleiter eines jeden Schiffes in südlichen Gewässern, umschwärmten auflauernd die ›Vesta‹. Das über Bord geworfene Fleisch, die Reste der Mahlzeit, ein Lappen, ein Schuh, alles war ihnen willkommen, alles verschwand in ihrem gefräßigen Rachen, aber am liebsten hätten es diese Fische gesehen, wenn eine der sich über Bord lehnenden Gestalten ins Wasser gefallen wäre. Daß sie ein Mädchen zerrissen hätten, wäre ihnen gleichgültig gewesen, Schönheit gilt bei ihnen nichts, das an den Mast gebundene Kalb wäre ihnen ebenso lieb gewesen, als wenn sie eine Venus zum Frühstück bekommen hätten. Die Stillung des Hungers war bei ihnen die Hauptsache.

Gierig sahen sie an dem Schiffe empor, von dessen Bordwand die rosigen Gesichter herunterblickten, auf der die halbentblößten Arme lagen, so lecker anzusehen, daß den Haifischen das Wasser im Munde zusammengelaufen wäre, hätten sie nicht sowieso schon in Unmenge davon gehabt.

Aber das Wohlgefallen war nicht ein einseitiges, das heißt, nicht nur die Haifische beschäftigten sich in sehnsüchtigen Gedanken mit den Vestalinnen, sondern auch deren Aufmerksamkeit war auf die Tiere gerichtet.

»Nun schnell ein Stück Speck, aber nicht zu klein, die Tiere können eine tüchtige Portion vertragen,« rief [???] einer Vestalin zu, welche heute die Küche zu besorgen hatte.

Das Mädchen hämmerte bereits mit dem Holz[???] und Meißel an dem herbeigeholten Faß mit [???]speck.

»Sehen Sie sich vor, daß Ihnen Mister Youngpig nicht ins Gesicht springt,« lachte Miß Thomson. In geheucheltem Schrecken ließ das Mädchen den erhobenen Holzhammer sinken.

»Das ist auch wahr,« rief sie, »bis jetzt haben wir ihn noch nicht wiedergefunden, hier wird er aber wahrscheinlich drin sein.«


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»Dann kommt er eben an die Angel,« lachte Ellen, die Mädchen waren bei vorzüglicher Laune; wie konnte es bei dem herrlichen Wetter anders sein? »Haben auch Sie in Ihrer Kabine alles ordentlich untersucht, daß sich der Reporter nirgends versteckt hat?« fragte das Mädchen, am Fasse weiterpochend.

»Alles,« versicherte Betty, »keinen Koffer habe ich undurchsucht gelassen.«

»In meinem Museum sieht es aus, als wäre darin eine Schlacht geschlagen worden,« ließ sich Hopes Stimme vernehmen, »ich habe nicht nur Koffer und Kisten durchwühlt, die Hutschachteln ausgepackt, sogar mein armes Krokodil habe ich aufgetrennt und nachgesehen, ob sich Mister Youngpig darin versteckt hat.«

»Und ich glaube doch, daß er hier ist,« sagte Miß Murrey, »in Yokohama hat er mir hoch und heilig geschworen, sich wieder an Bord der ›Vesta‹ zu begeben.«

»Was haben Sie ihm darauf geantwortet?«

»Dann würde er diesmal sicher die Peitsche zu fühlen bekommen und über Bord spazieren müssen, aber diese Drohung machte nicht den geringsten Eindruck auf ihn, er lachte darüber und zeigte mir die Photographien, die er bereits von uns und dem Inneren der ›Vesta‹ besitzt.«

»Es sollte wirklich ein empfindliches Exempel an ihm statuiert werden, hätte er sich abermals an Bord geschlichen,« sagte Miß Sarah Morgan.

»Und doch war es ein Glück, daß er an Bord war,« entgegnete Ellen. »Wer weiß, was unser Schicksal gewesen wäre, hätte der Reporter nicht den Plan jener Matrosen belauscht. Wir sind ihm großen Dank schuldig.«

Das Faß war geöffnet, ein Stück Speck wurde herausgenommen und dieses von Ellen geschickt an einem mächtigen Haken befestigt, mit welchem ein Haifisch gefangen werden sollte.

»Der Haifisch ist nicht eßbar?« fragte eins der Mädchen.

»Nein, sein Fleisch ist zäh und hat einen widerlichen Beigeschmack,« erklärte Ellen, »nur ganz junge Tiere kann man zur Not essen, aber die sind schwer zu fangen, weil natürlich die Alten beim Hineinwerfen des Köders die Jungen verdrängen und zuerst anbeißen.«

Das Fangen des Haifisches kann nicht mit einem gewöhnlichen Tau und Angelhaken vorgenommen werden, es gehört dazu eine ganz besondere Vorrichtung, dieselbe, wie man sie zum Fangen von Delphinen und Schweinsfischen anwendet.

Alle diese großen Fische haben nämlich die Angewohnheit, sobald sie merken, daß die in dem Köder steckende Angel mit dem Widerhaken ihnen ins Fleisch faßt, sich mit ungeheurer Schnelligkeit um sich selbst zu wälzen und nach rückwärts zu ziehen, wenn die Haken auch immer tiefer in die Eingeweide dringen.

Durch die blitzschnelle Bewegung wird das Tau aufgewickelt, die Kraft, mit der sie nach rückwärts streben, ist eine ungeheure, eben durch ihre eigene Schraubenbewegung, und selten findet man einmal ein Tau, welches dabei nicht reißt. Wenn es nicht aufgewickelt wird, so hält dagegen selbst ein schwaches und um dieses zu verhüten, hat man eine einfache Vorrichtung konstruiert.

Das Tau ist an seinem oberen Ende an einem Ringe befestigt, welcher drehbar ist, und der Fisch mag sich nun so schnell wälzen, wie er will, der Ring geht immer mit, also auch das Tau, und ein Aufwickeln der einzelnen Schnüre, oder, wie diese in der Seemannssprache heißen, der einzelnen Kathelen findet nicht statt, das Tau reißt nicht.

Kaum war das etwa kopfgroße Stück Speck klatschend in das Wasser gefallen, so entstand ein Pusten und Drängen im Wasser, alle Haifische schossen gleichzeitig darauf zu, stießen mit den Köpfen zusammen, fuhren wieder auseinander und begannen von neuem den Versuch, sich des leckeren Bissens zu bemächtigen.

Aber es ist dem gefräßigen Haifisch nicht so leicht, seiner Beute habhaft zu werden.

Der mit haarscharfen Zähnen bewehrte Rachen dieses Fisches sitzt nicht, wie bei anderen, vorn am Kopfe, sondern unten und zwar weit hinten, der Kopf bildet mit dem Bauche eine glatte Fläche und da, wo die Grenzlinie beider ist, befindet sich das leicht gebogene Maul.

Ehe der Haifisch seine Beute fassen kann, muß er sich stets erst auf den Rücken werfen, sie also von unten fassen, und haben einige Fische dasselbe Ziel im Auge, so vergeht oft lange Zeit, ehe einer von ihnen den Gegenstand zu packen bekommt, der eine Fisch dreht sich auf den Rücken, taucht unter, ehe er die Beute aber fassen kann, wird er von den anderen verdrängt. Dieses Spiel kann oft lange dauern, schließlich gelingt es aber doch einem Hai, die Beute zu verschlingen. Sofort ist sie in dem Rachen verschwunden, er schießt blitzschnell davon und wird von seinen Kameraden eine Strecke weit verfolgt, doch kehren diese bald nach dem Schiffe zurück, auf neue Beute wartend.

War der über Bord geworfene Gegenstand ein Köder, das heißt, verbarg er einen Haken am Tau, so kann der Fisch natürlich nicht fliehen, sondern beginnt sofort seine Umdrehungen, und die übrigen ziehen sich etwas von ihrem unglücklichen Gefährten zurück, ohne aber eine Warnung aus seinem Schicksal zu nehmen, denn auf den nächsten Köder schießen sie mit derselben Gier los.

So geschah es auch hier.

Schon nach einigen Minuten war es einem Haifische, einem mächtigen Tiere, mit Hilfe seiner riesigen Kraft gelungen, alle Rivalen zu verdrängen, er tauchte unter, drehte sich um, der voller Zähne starrende Rachen öffnete sich, ein Schnappen — und das Stück Speck war verschwunden.

Wie sich das Tier dann auch wand und riß, das Tau folgte allen seinen Bewegungen und gab nicht nach.

»Über den Block,« rief Ellen.

Nach der vorher gegebenen Anordnung wurde hinten an den oben befindlichen Ring noch ein Tau geknüpft, doch so, daß er sich noch drehen konnte, dieses Tau durch einen Block, das heißt über eine Rolle gezogen, aus welcher es nicht herausspringen kann, der Block an eine Raa emporgehißt und das Seil um eine Winde geschlungen. Jetzt begann die Arbeit der Mädchen.

Langsam wurde die Winde von ihnen in Bewegung gesetzt, und so sehr sich auch der Fisch sträubte, er wurde immer mehr aus dem Wasser emporgehoben, und schließlich hing der Fisch dicht am Schiffsrumpf, nur noch mit dem Schwanze, mit dem er wütend die Fluten peitschte, im Wasser. Aber seine Macht war gebrochen, er war nicht mehr fähig, die drohende Bewegung und das Reißen fortzusetzen.

»Hiev auf,« kommandierte Ellen.

Der Hai schwebte frei über der Bordwand, der Block wurde geschwenkt, das Tau wieder nachgelassen und das gewaltige, fast vier Meter lange Tier lag an Deck, furchtbar mit dem Schwanze um sich schlagend.

»Seht euch vor!« rief Ellen und entging selbst nur durch einen schnellen Sprung dem Schicksal, von einem Schlage getroffen zu werden.

Wie die Alligatoren, so können auch die großen Fische und ganz besonders die Haie ihre Schwanzflossen so kräftig gebrauchen, daß die durch einen Schlag getroffenen Knochen zerschmettert werden.

Doch das Raubtier sollte nicht lange seine Umgebung in respektvoller Entfernung halten, Ellen näherte sich ihm von der Seite — seine Zähne brauchte man nicht zu fürchten, denn der Kopf lag bewegungslos — und brachte ihm einen kräftigen Hieb mit einer Axt im Nacken bei. Noch einmal zuckte der Haifisch krampfhaft zusammen, er schnellte förmlich in die Höhe, schlug noch mehrere Male mit dem Schwanze so weit herum, daß dessen Spitze den eigenen Leib berührte, und war tot — der Axthieb hatte ihm das Rückgrat zerschnitten.

Die Mädchen schnitten zuerst den Leib des Riesen auf und öffneten den Magen, um sich davon zu überzeugen, was der Haifisch in letzter Zeit alles verschlungen hatte. Der Inhalt bezeugte, was für ein gefräßiges Tier der Hai ist.

Der Magen enthielt nicht nur das Stück Speck mit der Angel, sowie einen Scheuerlappen, welcher vor einer halben Stunde von einem Mädchen über Bord geworfen worden war, sondern, außer einer Unzahl von schon halb verdauten Fischen, auch noch eine Menge von solchen, deren Zustand verriet, daß sie soeben erst verschlungen worden waren.

Während der Haifisch hinter Schiffen herschwimmt und auf die über Bord geworfene Nahrung lauert, ist er fortwährend noch beschäftigt, größere und kleinere ihm begegnende Fische zu verschlingen, und seine Verdauungskraft ist so groß, daß er nimmer satt werden kann — der Haifisch, die Hyäne des Meeres, ist das gefräßigste Tier — er ist unersättlich, höchstens die Möwe kann mit ihm verglichen werden.

Mit geschickten Händen lösten die Mädchen dem Fische die Haut ab und hängten sie zum Trocknen auf, brachen die Kiefer aus, welche mit dreikantigen, spitzen und glasharten Zähnen gespickt waren und schälten noch das Rückgrat heraus. Der übrige Fisch wurde über Bord geworfen und das Deck von den Resten der blutigen Schlächterei gereinigt.

Das Rückgrat des Haifisches ist sehr geschmeidig, zugleich aber fest und unzerbrechlich und wird deshalb mit Vorliebe zu Spazierstöcken verarbeitet. Ist das Tier aber noch jung, so ist sein Rückgrat so geschmeidig, daß man es um die Hand wickeln kann, ohne es zu zerbrechen.

Ein Mädchen nahm das Stück Speck, aus welchem der Haken wieder entfernt worden war, aber sie wurde von Hope daran gehindert.

»Der Speck ist ja noch ganz gut,« sagte sie lachend, »den können wir noch zum Mittagessen verwenden.«

»Shocking!« riefen die umstehenden Mädchen aus.

»Das ist gar nichts Unglaubliches,« behauptete aber Hope, »Hannes Vogel hat mir schon erzählt, daß, wenn an Bord von Schiffen Haifische geangelt werden, der Speck aus dem Magen einfach herausgeschnitten wird und wieder ins Salzfaß zurückwandert, ob Sie es glauben oder nicht.«

Auch Miß Murray, welche schon größere Seereisen gemacht hatte, bestätigte das eben Gesagte. Die Passagierdampfer ausgenommen, gehen alle Schiffe sehr sparsam mit dem Proviant um, und am allermeisten die Segler. Der Koch, welcher mit dem ihm übergebenen Vorrat an Lebensmitteln langen muß, liefert den Speck zum Köder, läßt ihn aber nicht im Magen des Gefangenen, sondern verwendet ihn stets wieder für die Mannschaft.

Zu einem solchen Heroismus konnten sich die Damen, so gern sie sonst auch die Sitten der Seeleute nachahmten, nicht aufschwingen, auch brauchten sie mit dem mitgenommenen Proviant nicht eben sparsam umzugehen.

War das schöne Wetter, welches eine Arbeit in der Takelage unnötig machte, zu solch einem Sportvergnügen geeignet gewesen, so gestattete es auch Reinigungsarbeiten, welche weder bei unruhiger See, noch im Hafen gut vorgenommen werden können — nämlich das Waschen der Farbe an der Außenseite des Schiffes.

Die Vestalinnen machten sich daran, mit Sand und Seifenwasser die weiße Farbe des Außenbords abzuwaschen und dadurch dem Schiffe ein besseres Aussehen zu geben.

Bretter wurden an ihren Enden mit Tauen versehen, über Bord gelassen und an der Bordwand befestigt, sodaß die Mädchen auf ihnen sitzen oder stehen und das Abseifen vornehmen konnten.

Auf jedem Brett befand sich ein Mädchen, neben sich einen Eimer mit Seifenwasser und Sand, und bearbeite mit Lappen und Bürste die Weiße Farbe, während andere, Obenstehende dafür sorgten, daß das Brett auf den Zuruf der Arbeitenden bald höher gezogen, bald heruntergelassen wurde.

Es war dies eine an und für sich ungefährliche Arbeit, das Brett war breit, die Taue fest und die Vestalinnen bereits in allen seemännischen Verrichtungen zu bewandert, um durch ungleichmäßiges Anziehen oder Nachlassen der Taue das Brett in eine schiefe Lage zu bringen, wodurch die Daraufstehenden ins Wasser gefallen wären.

Das wäre schließlich auch weiter kein Unglück gewesen, die ›Vesta‹ fuhr langsam, das Wasser war warm, aber die Haifische unten hätten sich die leckere Beute nicht entgehen lassen — die Herabgestürzten wären sofort den scharfen Zähnen zum Opfer gefallen. Daher durfte das Brett auch nicht zu tief hinabgelassen werden, sonst hätte leicht ein Fisch emporschnellen und ein Mädchen ergreifen können, aber die untere Fläche dicht über der Wasserlinie war noch rein, weil diese schon bei mäßigem Seegang ja fortwährend von den Fluten überspült wurde.

Johanna befand sich unter den zehn Vestalinnen, welche den Platz auf dem Brette einnehmen sollten. Mit Hilfe von Miß Thomson und einem anderen Mädchen umschlang sie die Brettenden mit Tauen.

»Nehmen Sie lieber ein anderes Tau,« riet ihr Betty, »dieses ist schon sehr oft gebraucht worden.«

»Es ist noch stark genug, um meine Wenigkeit zu tragen,« entgegnete Johanna lächelnd.

»Seien Sie nicht unvorsichtig!« warnte aber Betty nochmals. »Ein Sturz ins Wasser ist dem sicheren Tode gleich zu achten. Sehen Sie nur da, wie die Haifische sich gerade hier versammelt haben und uns mit gierigen Augen anstarren.«

Johanna schlang das Seil, welches an einigen Stellen etwas schadhaft war, um einen Poller, stemmte sich gegen die Bordwand und zog mit aller Gewalt daran.

»Es hält,« sagte sie dann einfach, »es könnte selbst das Gewicht von einem halben Dutzend Personen tragen.«

Während die zu dieser Beschäftigung abgeteilten Mädchen, in der Seemannssprache »Außenbordreiniger« genannt, fleißig scheuerten und wuschen, hatten die übrigen andere Arbeit an Deck oder im Zwischendeck zu tun, und nur ab und zu sprangen sie hinzu, um auf Zuruf den Mädchen draußen den Eimer mit Wasser zu füllen oder die Stellung des Brettes zu verändern.

Ellen befand sich im Kartenhaus und beschäftigte sich mit Ordnen der Karten und Bücher, als plötzlich ein gellender Schrei ihr Ohr erreichte. Mit einem Sprunge hatte sie das Häuschen verlassen und sah, wie alle Mädchen, welche sich an Deck befanden, nach einer Stelle der Bordwand stürzten.

Eben schwang sich dort Johanna, bleich wie der Tod, an einem Tau über die Brüstung. Von dem zweiten Tau war nur der obere Teil an dem Kupfergeländer befestigt, der andere schleppte im Wasser nach, es war gerissen, ebenso lag auch das Brett mit einer Seite im Wasser.

Johanna hatte sorglos auf dem Brette gearbeitet, in ihre Arbeit völlig vertieft und nicht auf die unter ihr spielenden Haifische achtend.

Da plötzlich, ohne das geringste vorherige Anzeichen, wie etwa einen Ruck zu bemerken, hatte das Brett auf einer Seite nachgegeben, der Eimer war sofort abgerutscht und ins Wasser gestürzt, und der völlig ahnungslosen Johanna war dasselbe Schicksal beschieden. Schon berührten ihre Füße das Wasser, schon drängten sich die Haie um sie herum, wälzten sich auf dem Rücken und sperrten die drohenden Rachen auf, ihre Beute zu empfangen, als es dem Mädchen noch gelang, das festgebundene Tau zu ergreifen.

Sie schrie entsetzt auf, hatte aber noch die Geistesgegenwart, sich sofort emporzuziehen, und entging somit den unheimlichen Tieren, welche sich schnappend aus dem Wasser nach der entschlüpften Beute emporreckten.

Im nächsten Augenblicke stand Johanna, an allen Gliedern zitternd, an Deck — sie war gerettet.

»Das Tau ist gerissen,« rief Miß Thomson der herbeieilenden Kapitänin zu.

Ellen prüfte das an Deck liegende Seil und bestätigte nach der ersten Prüfung, daß es wirklich an einer schadhaften Stelle dem Gewicht nachgegeben habe und gerissen sei.

Nicht so Johanna!

Kaum hatte sie sich etwas von dem Schrecken erholt, so nahm sie kopfschüttelnd das Ende in die Hand und betrachtete es aufmerksam.

Plötzlich nahmen ihre Züge einen sonderbaren Ausdruck an.

»Dieses Tau ist nicht gerissen,« rief sie, »es ist angeschnitten worden, und dann erst sind die einzelnen Stricke geplatzt.«

Die Mädchen umdrängten die Sprecherin, welche etwas behauptete, was eine unter ihnen als Mörderin bezeichnete, besahen sich das Tau, konnten aber erst lange nichts finden, was diese Behauptung bestätigte, bis Johanna an einigen kaum bemerklichen Spuren bewies, daß hier wirklich ein scharfes Messer angesetzt worden war.

»Es ist nicht möglich!« rief Ellen jedoch. »Das Tau wird sich an dem kupfernen Geländer gescheuert haben und dadurch an der Stelle geschwächt worden sein, an welcher es aufgelegen hat.«

»Sehen Sie hier,« entgegnete Johanna und nahm das Ende des Seiles in die Höhe, »es ist nicht einmal lang genug, um den Rücken des Geländers erreichen zu können, also ist der Durchbruch auch nicht dort erfolgt. Nein, ich behaupte, daß hier mit einem Messer darüber gefahren worden ist, einige Kathelen sind durchgeschnitten worden, und die übrigen sind dann allerdings von selbst gerissen, weil sie mein Gewicht und das des Brettes allein nicht mehr zu tragen vermochten.«

»So hat eine der Damen im Vorbeigehen mit einem scharfen Gegenstande, etwa mit der Kante einer Kiste oder eines Fasses daran gestoßen, und dadurch ist der Schnitt entstanden,« sagte Ellen mit finsterem Gesicht und entschieden, »es ist nicht anders zu erklären, wenn Sie, Miß Lind, durchaus darauf bestehen wollen, daß das Seil durchschnitten worden ist.«

»Miß Lind,« ließ sich da auch Miß Murray vernehmen, und der Ton ihrer Stimme war ein ungehaltener, »fast scheint es mir, als ob Sie behaupten wollten, das Tau wäre von einer unter uns absichtlich durchschnitten worden, um Sie ins Wasser fallen und eine Beute der Haifische werden zu lassen. Wissen Sie jemanden unter uns, den Sie einer solchen Tat für fähig halten könnten? Haben Sie auch nur eine Vermutung, so sprechen Sie sie offen aus!«

Johanna antwortete nicht; sie wandte sich ab und beschäftigte sich damit, das Brett an Deck zu heben. Doch Ellen trat auf sie zu und sagte, die Hand auf ihre Schulter legend, in ernstem Tone:

»Miß Lind, Sie haben einen Argwohn ausgesprochen, so ungeheuerlich, daß ich ihn noch gar nicht fassen kann. Sagen Sie jetzt, ich verlange es von Ihnen, als Kapitänin ›Vesta‹, was veranlaßt Sie zu der schier unglaublichen Behauptung, daß dieses Tau absichtlich durchschnitten worden sei?«

Johanna antwortete noch immer nicht, sie schien die Worte kaum zu vernehmen, ihr Busen wogte stürmisch.

»Wäre es wirklich so,« fuhr Ellen fort, »so ist es klar, daß es mit der Absicht geschehen ist, Ihren Tod herbeizuführen, daß also eine unter uns Ihren Tod wünscht. Kennen Sie jemanden, der Grund dazu hätte? So sprechen Sie doch, Miß Lind, haben Sie eine Feindin unter uns, kennen Sie jemanden, dem Sie so etwas zutrauen?«

Nach und nach waren alle Mädchen herbeigekommen, die Kunde, daß an Miß Lind ein Mordversuch gemacht worden sei, hatte sich schnell verbreitet und war übertrieben worden; die aus dem Zwischendeck Kommenden erwarteten schon, ihre Gefährtin als Leiche vorzufinden, und hörten erst mit Entsetzen, dann mit wachsendem Unwillen von der Behauptung Johannas, der Schnitt wäre dem Tau absichtlich beigebracht worden, um sie ins Meer stürzen zu lassen.

»Ich habe nicht gesagt,« entgegnete Johanna endlich, »daß es auf mein Leben abgesehen, sondern nur, daß an dieses Tau ein Messer angesetzt worden ist.«

»Aber wer soll dies getan haben?« rief Ellen.

»Ich weiß es nicht, traue auch keiner einzigen meiner Freundinnen etwas Derartiges zu, und ich wüßte keine unter ihnen, die mir mit dieser Tat hätte schaden wollen,« sagte Johanna, »aber diejenige, welche es getan hat, wird wohl eine Ursache dazu gehabt haben.«

»Sie sind aufgeregt, der Schrecken gibt Ihnen solche Worte ein,« rief Ellen, nur mit Mühe ihren Unwillen beherrschend, »sonst würden Sie nicht so sprechen. Wer unter Ihnen, meine Damen, kann etwas aussagen, was die Behauptung von Miß Lind bestätigt? Hat jemand gesehen, daß kurz vorher, als sie das Brett unter den Füßen verlor und daher aufschrie, eine Vestalin in der Nähe der Taue war?«

Alle schüttelten die Köpfe; niemand konnte sich erinnern, in jenem Augenblicke jemanden dort gesehen zu haben, und meinten sie doch, eine oder die andere an der Bordwand erblickt zu haben, so sprachen sie deren Namen nicht aus, denn es wäre frevelhaft gewesen, die Freundinnen einer derartigen Tat beschuldigen zu wollen.

Ellen ließ sich nicht weiter auf das Vorkommnis ein, tief verstimmt ging sie in das Kartenhaus zurück.

Auch der anderen Mädchen hatte sich eine Mißstimmung bemächtigt; die anfangs so frohe Laune war dahin, der Unfall war es weniger, welcher den Wechsel der Laune bewirkte, vielmehr die Behauptungen, welche Johanna aufstellte, und welche wenig Glauben bei ihnen fanden. Viele konnten nicht einmal erkennen, daß das Tau überhaupt Spuren von Messerschnitten aufwies, nur den Scharfsichtigsten fiel es auf, und deren Aussagen mußten die anderen einfach glauben. Aber jede fühlte ein Mißbehagen, es war jeder zu Mute, als wäre die Beschuldigung, den Mordversuch vollführt zu haben, direkt gegen sie geschleudert worden.

Erst gegen Abend trat eine Änderung der Stimmung ein.

Die Kapitänin konstatierte, daß man von dem eigentlichen Kurse, welcher nach Luzon, einer Insel der Philippinen-Gruppe führte, durch ungünstigen Wind und von der Seite kommende Strömung bedeutend abgewichen war. Ellen gab daher neue Segel- und Ruderkommandos.

»Wir werden bald durch eine Gruppe von Inseln segeln müssen,« erklärte sie, »welche zwar noch nicht zu den Philippinen gerechnet werden, aber ganz denselben Charakter tragen. Sie sind, ebenso wie diese, sehr vulkanisch, und zwar kamen vor etwa hundert Jahren so heftige Erderschütterungen auf ihnen vor, daß sie von ihren erschreckten Bewohnern verlassen worden sind. Einige der Inseln sind sogar vollständig unter der Wasseroberfläche verschwunden. Sie standen früher, ebenso wie jetzt die Philippinen, unter Oberhoheit der Spanier, welche auf ihnen bedeutende Städte und Forts errichtet hatten. Wie gesagt, jetzt sind sie nichts weiter, als öde, trostlose und menschenverlassene Eilande.«

Da meldete die auf dem Ausguck liegende Vestalin ein Segel voraus, und nicht lange dauerte es, so war man sich darüber einig, daß es ein stilliegendes Vollschiff war.

Der ›Amor‹ war noch immer in großer Entfernung hinter der ›Vesta‹ zu sehen.


6. An Bord des »Blitz«.

»Steuermann Nagel!«

Keiner der an Deck des Vollschiffes arbeitenden oder herumstehenden Matrosen hatte diesen Ruf getan, keiner hatte sich dem Steuermann Adam Nagel, den wir bereits in Bombay kennen lernten, zugewendet, die beiden Worte schienen, wie von einer Geisterstimme herrührend, aus der Luft zu kommen.

Der kleine, untersetzte Steuermann, welcher eben neben dem Bootsmann stand, gab diesem noch einige Anordnungen über die auf dem »Blitz« vorzunehmenden Arbeiten.

»Der Kapitän ruft mich,« sagte er dann; »ich glaube, Bootsmann, wir werden bald vor Anker gehen, Herr Anders hat zu Uhlenhorst etwas Derartiges gesagt.« Anders war der junge Mann, welcher den Kapitän Hoffmann begleitete, als er den Eingang zu der Insel an der Westküste von Afrika suchte, und der dann die Arbeiten auf ihnen leitete. Uhlenhorst war der zweite Steuermann des »Blitz«, unter dessen Namen und Aussehen einst Nick Sharp den Vestalinnen in Indien Gesellschaft leistete.

Steuermann Nagel ging mit breitspurigem Schritte über die Planken des stilliegenden Schiffes die zur Kajüte führende Treppe hinunter und betrat ohne Anklopfen das Arbeitszimmer des Kapitäns.

Er fand ihn mit Anders, dem Ingenieur und ständigen Begleiter des Kapitäns, rechnend vor dem Schreibtisch sitzend.

»Nagel,« wandte sich Hoffmann an den Eingetretenen, der an der Tür stehen geblieben war, ohne aber gerade besondere Zurückhaltung zu beobachten, »lassen Sie die Taucher aufhören zu arbeiten, in etwa einer Stunde werde ich Sie wahrscheinlich nötig haben. Setzen Sie die Lotleine in stand und lassen Sie die Apparate an Deck schaffen! Wissen Sie, Steuermann,« fuhr er dann in fragendem Tone fort, »aus welcher Gegend der Matrose Brentano stammt?«

»Seine Heimat liegt nicht weit von hier,« antwortete der Steuermann, »er ist ein Eingeborener von einer Philippinen-Insel. Als er vorhin die erste von ihnen sah, wurde er ganz rasend vor Freude, obgleich er sonst allen Grund hat, sein Heimatland nicht eben sehr zu lieben.«

»Die Heimat bleibt immer die Heimat,« bemerkte Hoffmann, »selbst wenn man in ihr das Schmerzlichste erfahren hat. Ich weiß, daß er hier zu Hause ist, ich meinte aber, ob es Ihnen bekannt ist, von welcher Insel er stammt.«

»Nein, das ist mir nicht bekannt.«

»Bitte, schicken Sie ihn herunter!«

Steuermann Adam Nagel entfernte sich. »Wir fahren jetzt nur noch sechs Knoten die Stunde,« meinte der Kapitän zu dem Ingenieur, einen unter einem [???]skasten befindlichen Apparat betrachtend, welcher das Aussehen einer Uhr besaß,, »wie lange Zeit würde es bei [???]er Fahrt noch dauern, bis die Batterien wieder ge[???] sind?«

»Die letzte schnelle Fahrt hat sie fast vollständig erschöpft,« entgegnete der Ingenieur, »es war die höchste Zeit, daß wir wieder unter Segel fuhren. Ich habe vorhin, als wir acht Knoten liefen, etwa fünfzig Stunden gerechnet, ehe die Batterien wieder gespeist sind, jetzt dauert es natürlich noch länger,«

»Es hilft nichts,« meinte Hoffmann achselzuckend, ???] werde den »Blitz« bald vor Anker gehen lassen, selbst wenn wir noch nicht die nötige Kraft gesammelt haben.«

»Aber wir brauchen noch ziemlich viel zum Bedienen der Pumpwerke.«

»Diese Kraft können wir uns auf andere Weise beschaffen,« meinte Hoffman. »An der Insel, wo der »Blitz« wahrscheinlich ankern soll, herrscht eine ziemlich starke Strömung, wie die Karte hier angibt, und diese wird reichen, die Pumpen in Bewegung zu setzen. Im schlimmsten Falle greifen wir die Reserve-Batterien an.«

Wieder betrachtete Hoffmann einen auf dem Tische stehenden Apparat.

»Der »Blitz« kann noch vierundzwanzig Stunden mit [???]zig Knoten Fahrt laufen, so wie die Uhr jetzt steht, ist das ist genügend, wir brauchen die Elektrizität nicht zu sparen.«

»So herrscht da, wo Sie tauchen wollen, eine starke Strömung?« fragte der Ingenieur besorgt.

»Ja, wie gesagt, der Strom läuft ungefähr vier Knoten.«

»Aber Sie selbst haben mir oft gesagt, daß es gefährlich ist, mit dem Skaphander in der Strömung zu tauchen. Ein Tau ist zu schwer, und die Kupferdrähte sind zu schwach, um ein Fortreißen zu verhindern.« »Es geht aber nicht anders bei dem Unternehmen, welches ich vorhabe. Ich suche mir nur die kräftigsten und geschicktesten Leute aus, welche an Drähten bleiben, ich selbst aber werde ohne alle Verbindung tauchen.«

»Tuen Sie das nicht!« bat der Ingenieur. »Werden Sie fortgerissen, so können Sie, wenn Sie sich nicht nach oben verständigen können, in die größte Gefahr kommen.«

»Bei mir ist nicht viel zu fürchten,« lächelte Hoffmann, »ich fühle mich im Skaphander ebenso sicher, als wäre ich auf dem Lande. Ich kann aber keinen Draht gebrauchen, er würde mich oft hindern irgendwo einzudringen, und außerdem würde ich ihn dabei immer der Gefahr aussetzen, daß er sich an scharfen Kanten durchscheuert. Lieber will ich aber ohne Draht tauchen und mir bewußt sein, keine Verbindung zu haben, als plötzlich zu merken, daß die Verständigung aufgehört hat, denn dann sind natürlich Sie und die übrigen oben in der größten Besorgnis, und das würde mich beunruhigen. Im Apparat mit dem Schlauch zu tauchen, wäre vollkommen unnütz.«

»Kennen Sie schon die Tiefe dort?« fragte wieder Ingenieur Anders.

»Dort gerade nicht, aber in der Nähe. An der nächsten Stelle beträgt sie ungefähr hundert Meter.«

»Das ist sehr tief,« meinte der Ingenieur kopfschüttelnd.

»Aber nicht für den Skaphander. Der Druck des Wassers würde den Schlauch des anderen Apparates zusammenpressen, beim Skaphander ist das nicht möglich. Außerdem suche ich mir die kräftigsten Männer aus, und ich selbst habe schon in bedeutend größeren Tiefen getaucht.«

Die Tür öffnete sich, und der gerufene Matrose trat ein. Man sah ihm auf den ersten Blick an, daß er malayisches Blut in den Adern hatte, aber seine Gesichtsbildung erinnerte an die der Spanier. Brentano war ein Tagale, das heißt ein Mischling von einem Spanier und einer der zum Stamme der Malayen gehörenden Rassen, welche auf den Philippinen eingewandert sind, während die eigentlichen Bewohner dieser Inseln Alfuren sind.


Illustration

»Brentano,« redete Kapitän Hoffmann den gelbhäutigen Matrosen an, »stammst du von diesen Inseln, zwischen denen wir uns jetzt befinden?«

»Von den Babuyan-Inseln? Nein, es sind überhaupt nur sehr wenige von ihnen bewohnt,« war die Antwort, »meine Heimat liegt an der Nordküste von Luzon.«

Luzon ist die größte Insel der Philippinen, aus zwei zusammenhängenden Teilen bestehend, von denen der nördliche gebirgig, der südliche flach ist und viele Binnenseen hat. »Du bist aber auf den Babuyan-Inseln bekannt?« fragte Kapitän Hoffmann wieder.

»Ja, sehr gut. Es waren früher große Städte darauf, von den Spaniern gegründet, und als Kind war es mein liebstes Vergnügen, wenn ich meinen Vater im Boote begleiten konnte, der zwischen diesen Inseln fischte. Er erzählte mir oft, wie er sich noch erinnern könnte, als kleines Kind die spanischen Kolonieen gesehen zu haben, mit ihren Soldaten und Festungen, und zeigte mir auch die Stelle, wo letztere gestanden. Oft brachte das Netz des Fischers dort merkwürdige Gegenstände herauf, Gewehre, Helme, Säbel und andere Waffen, die in den Maschen des Netzes hängen geblieben waren, und war das Meer nicht tief, so tauchte ich wohl selbst hinunter und suchte nach solchen Gerätschaften.«

»Ist dir bekannt, auf welche Weise die Ortschaften im Meer versunken sind?«

»Ja, Kapitän. Die Inseln wurden einst von einem großen Erdbeben heimgesucht, viele von ihnen sind völlig verschwunden, mit ihren Städten und Menschen, und die übrigen sind zum Bewohnen fast untauglich geworden, wie sich auch ihr Aussehen völlig verändert hat.« »Weißt du, wo die spanische Festung Callagos gestanden hat, die nicht mehr existiert?«

»Auch das weiß ich. Es ist nicht mehr weit von hier. Es war die größte aller Städte dort, erzählte mir mein Vater, und wir haben oft versucht, mit Netzen an langen Stricken den Meeresgrund zu erreichen, hoffend, etwas Wertvolles dabei zu fischen. Aber die Stadt ist tief, tief gesunken, wir kamen mit unseren längsten Stricken nicht auf den Boden.«

»Es wird doch angenommen, daß die Städte einfach durch das Erdbeben vom geöffneten Boden verschlungen worden sind, und daß nur einige Gegenstände und Gerippe von Menschen, welche sich außerhalb der Insel auf Schiffen befunden haben, diesem Schicksal entgangen sind. Wie kommt Ihr nun darauf, gerade da, wo diese Stadt gestanden hat, nach Überresten zu suchen?«

Der Matrose lächelte.

»Ich merke, Kapitän,« lächelte er, »Sie sind mit dem bekannt, was unter den Eingeborenen erzählt wird. Ich weiß nicht, woher es kommt, aber es wird behauptet, daß die Festung Callagos nicht so, wie die übrigen Städte, einfach versunken ist, sondern daß sich nur die Insel, auf welcher sie gestanden, gesenkt hat. Früher glaubte ich auch daran, weil ich es immer zu hören bekam, aber jetzt nicht mehr. Warum soll diese Stadt gerade eine Ausnahme gemacht haben?«

Die beiden Herren sahen einander an.

»Wirst du die Stelle bezeichnen können, wo die Stadt gestanden haben soll?« fragte Hoffmann wieder.

»Ja, ganz genau.«

»Schön, so werde ich dich nachher noch gebrauchen. Es ist gut, du kannst jetzt gehen.«

Als der Matrose das Arbeitszimmer verlassen hatte, klappte Hoffmann an dem Tische einen Deckel auf, unter welchem ein Telegraphen-Apparat sichtbar wurde. Er drückte mehrmals die Taste und sagte dann zu seinem Ingenieur:

»Ich lasse jetzt die Sonne aufnehmen, um zu berechnen, wo wir sind. Kommen wir früh genug an die Stelle, wo sich einst das spanische Callagos erhoben hat, so beginne ich noch heute die Untersuchung. Wirklich, ich brenne vor Verlangen, die Wahrheit zu erfahren. Auch die Eingeborenen der Philippinen also haben dieselbe Vermutung, wie der englische Gelehrte, daß die Insel Callagos nicht zerstört worden ist, sondern sich nur gesenkt hat, und daß somit die auf ihr stehende Stadt mit dem gleichen Namen auch erhalten ist. Der Gelehrte schließt dies aus der massiven Beschaffenheit der Insel und aus der Bewegung des Erdbebens, welches Callagos selbst nicht berührt haben soll. Wie aber diese Eingeborenen zu der Vermutung gekommen sind, weiß ich nicht.«

»Es kommt häufig vor, daß ein Volksglauben mehr Wahrheit enthält, als man ihm gewöhnlich zuschreibt,« entgegnete der Ingenieur gedankenvoll. »Wie ist es zum Beispiel in der Provinz Algier gewesen! Die dort wohnenden Araber haben immer behauptet, daß ihr wasserarmes Land mächtige unterirdische Flüsse und Seen habe, ohne daß diese jemals von einem Menschen gesehen worden wären oder daß man nur ein Wasserrauschen gehört hätte. Dieser Glaube war eben da, man tröstete sich mit dem Gedanken, wenn über der Erde alles an Wassermangel verschmachtete, daß es unten im Überfluß vorhanden wäre. Die französische Regierung sandte ihre besten Wasserbau-Ingenieure nach Algier, um zu untersuchen, ob doch vielleicht etwas Wahres an dieser Behauptung wäre, wodurch die sonst wenig erträgliche Provinz in eine blühende und reiche verwandelt worden wäre, aber so tief man auch grub, man stieß auf kein Wasser, und die französischen Gelehrten bewiesen haarscharf, daß in Algier überhaupt keine unterirdischen Wasserläufe existieren könnten, das Gestein, die Formation, die ganzen Verhältnisse ließen dies überhaupt nicht zu. Ihre Beweise überzeugten alle, nur die dort seßhaften Araber selbst nicht, diese glaubten weiter an die unter ihnen sich forterbende Sage. Da kommt ein blutjunger, englischer Techniker nach Algier, der etwas Ahnung vom Wasserbau hat, beschäftigt sich mit den unterirdischen Bodenverhältnissen Algiers und wirft alle Aussagen der Gelehrten mit einem Male über den Haufen; er zeigte, daß sie statt hundert Meter nur hundert und drei Meter hätten zu graben brauchen, um wirklich auf Überfluß an Wasser zu stoßen, aber nicht nur das, er beweist ferner auch, in welchen Irrtümern überhaupt die ganze Wasserbau-Wissenschaft bis dahin befangen war. Ist das nicht etwas Ähnliches, wie hier? Woher wußten die Araber, daß ihr Land Wasser habe, welches nur gehoben zu werden brauchte, um Algier in eine fruchtbare Provinz zu verwandeln?«

Der Telegraphen-Apparat fing an zu klappern, Kapitän Hoffmann las die gegebenen Zahlen ab und berechnete den Ort, wo sie sich jetzt befanden. »Erst in zwei Stunden können wir jene Stelle erreicht haben, der »Blitz« fährt zu langsam, aber wir wollen jetzt die Maschinenkraft schonen, wer weiß, ob wir sie nicht noch nötig gebrauchen. Außerdem ist es doch schon zu spät, um das Tauchen anfangen zu können; besser ist es, wir beginnen morgen früh, sobald die Strömung am schwächsten ist.«

»Wann würde das sein?«

»Wenn die Ebbe mit der Flut wechselt, und das ist für diese Gegend ungefähr um acht Uhr morgens.«

Eine Glocke ertönte auf dem Tische, wieder hob und senkte sich der Hebel des Telegraphen-Apparates und druckte auf den laufenden Papierstreifen Punkte und Striche.

»Ein Schiff in Sicht,« sagte Hoffman nach Durchlesen desselben, »noch eins und sogar ein Dampfer. Merkwürdig, was diese hier zu suchen haben.«

Plötzlich sprang er auf, die Augen auf den Apparat gerichtet, welcher noch immer arbeitete.

»Es ist die ›Vesta‹ rief er, »und der Dampfer ›Amor‹, sie fahren gerade auf uns zu.«

Der Hebel hörte auf zu schreiben, die Meldung des Steuermannes war zu Ende.

Kapitän Hoffmann war in der Kunst unerfahren, sich zu verstellen, und so zeigten auch jetzt, beim Lesen dieser vom Steuermann gegebenen Worte, seine Züge einen seltsamen Ausdruck, der Hoffmanns Hilfsingenieur nicht entging. Doch wußte er nicht, ob es Ärger oder Freude war, was dazu Veranlassung gab.

»Ist es Ihnen nicht lieb, daß diese beiden Schiffe sich gerade jetzt, da Sie eine interessante Arbeit vorhaben, uns nähern?« fragte er einfach. »Im Gegenteil,« rief Hoffmann, sprang auf und trat ans Fenster, welches nicht so klein wie auf anderen Schiffen war, sondern eine ganz beträchtliche Größe aufwies, aber mit noch stärkerem, fast zolldickem Glas versehen war, »im Gegenteil, es freut mich ganz außerordentlich, diese Schiffe wiederzusehen. Ich gestehe, daß ich sogar gehofft habe, ihnen in diesen Gewässern zu begegnen. Sie wissen ja, daß ich überhaupt immer über ihren Aufenthalt orientiert bin.«

Seinem offenen, ehrlichen Gesicht konnte man ansehen, daß er die Wahrheit sprach, wie sehr er sich freute, den ›Amor‹ und die ›Vesta‹ ansegeln zu sehen.

»Werden Sie die unterseeischen Untersuchungen auch vornehmen, wenn die beiden Schiffe hier bleiben?« fragte Herr Anders wieder.

»Gewiß, warum nicht? Die Herren und Damen wird das Ergebnis meiner Forschung sogar interessieren, sie reisen nicht des Geschäfts wegen, sondern zum Vergnügen und zur Förderung ihrer Bildung. Nur steht zu befürchten,« Hoffmanns Züge nahmen jetzt einen besorgten Ausdruck an, »daß sie um die Erlaubnis bitten werden, mich bei meinem gefahrvollen Unternehmen begleiten zu dürfen.«

»Würden Sie dies gestatten?«

»Nein, wenn ich nicht zu sehr bestürmt werde. Ich verlange es ja selbst von meinen eigenen Leuten nicht, im Skaphander zu tauchen, sondern frage sie stets vorher, ob sie gewillt sind oder nicht, damit ich mir bei einem etwaigen Unglücksfall keine Vorwürfe zu machen brauche.«

»Sie selbst aber behaupten doch,« lächelte der Ingenieur, welcher mit dem Kapitän fast in dem Verhältnis eines Freundes stand, oder, wenn man genauer beobachtete, von Hoffmann wie ein Sohn behandelt wurde, »daß das Tauchen im Skaphander ungefährlich wäre, und Sie beweisen dies auch dadurch, daß Sie ohne jede Vorbereitung in diesem Taucherkostüm den Weg zum Meeresboden antreten, sogar ohne Verbindungsdrähte, als wenn es einen Spaziergang auf der Promenade gälte.«

»Es ist natürlich, daß man zu dem, was man selbst erfunden oder doch wenigstens verbessert hat, selbst das größte Zutrauen besitzt; ich bin doch kein amerikanischer Schiffsbauer, der auf einem von ihm selbst gelieferten Schiffe nicht um alles Geld der Welt fahren möchte,« lachte Hoffmann und fuhr dann, wieder ernst werdend, fort, »es ist ja nur für den gefährlich, welcher den Druck des Wassers nicht aushalten kann, also besonders für schmächtige Personen, und eine solche bin ich eben gerade nicht, weil ein sofortiges Aufziehen nicht möglich ist und der Mann durch Bewußtlosigkeit vielleicht die Fähigkeit verliert, sich durch seine eigene Luft emporheben zu lassen. Ebenso kann leicht der Fall eintreten, daß die Drähte reißen, dann ist eine Verständigung mit dem Schiffe nicht mehr möglich, und der Taucher ist vollständig auf sich selbst angewiesen. Darum meine Vorsicht und mein Bedenken, ehe ich jemandem gestatte, in Skaphander größere Tiefen zu betreten.«

»Sie spielten vorhin auf die amerikanischen Schiffsbauer an,« sagte der Ingenieur. »Ist es wirklich wahr, daß diese Leute so sehr schlechte Schiffe auf ihren Werften vom Stapel laufen lassen?«

»Natürlich gibt es Ausnahmen unter ihnen,« entgegnete der Kapitän, »im allgemeinen aber ist es Tatsache, daß von amerikanischen Werften Schiffe geliefert werden, deren Qualität unter jeder Kritik ist. Es ist weniger Schuld der Erbauer, daß solch' schlechte Ware geliefert wird, als vielmehr, wie überall und bei jedem, die Schuld der Abnehmer, überhaupt derjenigen, welche die Schiffe gebrauchen wollen. ›Recht viel für's Geld — möglichst billig, wenn es auch nichts taugt‹, das sind die Maximen, nach denen leider heutzutage gekauft wird, und zwar nicht nur Kleinigkeiten, Luxusartikel und so weiter, sondern sogar so wichtige Sachen, wie Schiffe, von deren Solidität die Sicherheit von Menschen abhängt. Da fällt mir ein Geschichtchen ein, welches sich in einer Hafenstadt Nordamerikas vor einigen Jahren abspielte, und welches so recht den Yankee charakterisiert.

»Eine Aktien-Schiffsgesellschaft läßt auf einer Werft für dreimalhunderttausend Dollars einen Passagierdampfer erbauen,« erzählte Hoffmann. »Das Schiff ist fertig und läuft vom Stapel, der Direktor ist mit dem Aussehen des Schiffes zufrieden und fordert, ehe er die Kosten dafür bezahlt, den Erbauer auf, die erste Probefahrt zu machen. Der Werftbesitzer wird verlegen, er sucht nach Entschuldigungen, wendet und krümmt sich, kurz und gut, er will der Probefahrt auf dem Schiffe nicht beiwohnen, als ihm der Direktor aber energisch erklärt, das Geld nicht eher auszahlen zu wollen, als bis er zur Mitfahrt bereit sei, sagte er endlich:

»›Geben Sie mir nur zweimalhunderttausend Dollars, aber erlassen Sie mir die Probefahrt, und die Sache ist all right.‹«

Ingenieur Anders lachte laut auf.

»Der Erbauer fürchtete, die Kessel würden ihm um die Ohren fliegen und die Nieten herausgehen,« lachte er, »aber er wußte schon, wie er den Direktor zu nehmen hatte.«

»Natürlich,« meinte Hoffmann, »der hat die hunderttausend Dollars in seine Tasche gesteckt und die Probefahrt ebenfalls ruhig vom sicheren Lande aus angesehen.«

Die ›Vesta‹ und der ›Amor‹ waren unterdessen so nahe herangekommen, daß man sie aus dem Fenster deutlich sehen konnte. Auch sie hatten den »Blitz«, das befreundete Schiff, erkannt und begrüßten es, indem, sie ihre Namen signalisierten und die Nationalitätsflagge an der Fahnenstange dreimal auf- und abzogen.

Kapitän Hoffmann ließ den Gruß erwidern, ohne aber den Befehl dazu mündlich zu erteilen, noch sich dabei des Sprachrohrs zu bedienen, durch welches Steuermann Nagel gerufen worden war. Der Telegraph spielte auf dem »Blitz« eine große Rolle.

Der Kapitän schien sich überhaupt meist in seinem Arbeitszimmer aufzuhalten oder doch wenigstens sehr viel Zeit darin zu verbringen; die überall auf Tischen, Stühlen und Pulten herumliegenden, aufgeschlagenen Bücher, Landkarten und beschriebenen Papiere bewiesen, wie sehr er sich mit Studien beschäftigte, aber die auf seinem Arbeitstische aufgestellten Apparate verrieten auch, wie wir übrigens schon bemerkt haben, daß er sich von hier aus nicht nur vollkommen über die nautischen Verhältnisse des »Blitz« orientieren konnte, über Fahrschnelligkeit, Kurs, und so weiter, sondern, daß es ihm auch möglich war, von hier aus seinen Leuten Kommandos zukommen zu lassen, das ganze Schiff nach seinem Belieben zu dirigieren.

Jetzt eilte er an Deck, der »Blitz« lag auf Befehl mit aufgezogenen Segeln still und erwartete die beiden Schiffe, deren Besatzungen an der Bordwand standen und unverhohlen der Freude Ausdruck gaben, das befreundete Schiff anzutreffen.

»Kapitän Hoffmann,« rief Ellen hinüber, sobald die ›Vesta‹ in Sprachweite war, »welch ein unverhofftes Wiedersehen! Darf ich Sie fragen, was Sie veranlaßt, zwischen diesen öden Inseln stillzuliegen? Fast sieht es aus, als wollten Sie hier Ihr Nachtlager aufschlagen.«

»Erraten!« rief Hoffmann zurück. »Allerdings will ich, wenn auch nicht gerade hier, während der Nacht liegen bleiben, und wenn die ›Vesta‹ dem »Blitz« dabei Gesellschaft leistet, so soll es mir äußerst angenehm sein.«

»Ich habe eigentlich keinen Grund, meine Fahrt zu unterbrechen,« entgegnete Ellen, »doch ich vermute, daß etwas Außerordentliches Sie veranlaßt, vor Anker zu gehen. Ich habe schon soviel von den wissenschaftlichen Untersuchungen gehört, welche Sie während Ihrer Reise unternehmen sollen, daß Sie meine weibliche Neugierde verzeihen müssen, wenn ich einmal einer solchen beiwohnen möchte; habe ich recht, wenn ich vermute, daß es sich in diesem Falle um etwas Ähnliches handelt?«

»Es ist wirklich so, und wenn Sie meinem Unternehmen beiwohnen wollen, so soll es mir sehr angenehm sein.«

Unterdessen war auch der ›Amor‹ angelangt, und beide Schiffe lagen links und rechts vom »Blitz«, aber noch in genügender Entfernung, um manövrieren zu können. Als die Engländer erfuhren, daß Kapitän Hoffmann sich in diesen Gewässern aufhielt, um morgen früh eine interessante Beobachtung anzustellen, über die er sich vorläufig noch nicht aussprach — die Entfernung war zu einer bequemen Unterhaltung doch zu groß — so beschlossen auch sie sofort, dem »Blitz« Gesellschaft zu leisten.

Jetzt gab Hoffmann den Befehl, die Segel fallen zu lassen, um mit den Schiffen gleiche Fahrt halten zu können — die schwarze Leinwand des »Blitz«, über welch' sonderbare Farbe sich alle so wunderten, rollte herab.

»Wie merkwürdig,« rief Ellen erstaunt, als sie das Ausführen des Kommandos beobachtete, »die Matrosen legen die Brassen einfach über die Winden, machen eine Handbewegung, und jene beginnen sich aufzuwinden, ohne daß sie selbst drehen. Der »Blitz« muß also eine Hilfsmaschine haben. Wer hätte das gedacht!«

»Es ist ja kein Schornstein zu sehen,« meinte eine der Vestalinnen.

»Wer weiß, wo dieser verborgen ist! Nun, heute abend, wenn mir vor Anker liegen, wollen wir dem »Blitz« einmal einen Besuch abstatten, und die Maschine, welche die Winde in Bewegung setzt, in Augenschein nehmen.«

»Kapitän Hoffmann soll aber jede Bitte um Besichtigung seines Schiffes rundweg abschlagen,« sagte Miß Thomson.

»Uns gegenüber wird er dies schon nicht tun, deshalb habe ich keine Sorge,« lächelte Ellen. »Ich glaubte immer, Kapitän Hoffmann könnte überhaupt niemandem eine Bitte abschlagen, wohl, wenn er brieflich darum gefragt wird und brieflich antworten kann, aber nicht, wenn man ihn unter vier Augen spricht. Nun, wir werden ja sehen!«

Auch auf dem ›Amor‹ war die seltsame Manövrierfähigkeit des »Blitz« bemerkt worden, und die Herren, welche doch alle im Bedienen eines Schiffes sehr bewandert waren, weil die Jachten ungeheuer aufmerksam und schnell bedient werden müssen, waren außer sich vor Staunen über die Schnelligkeit, mit welcher auf jenem Rollschiff gearbeitet wurde.

Noch war das Kommando nicht über die Lippen des Kapitäns, so lagen die Brassen über den Winden und gleichzeitig, wie mit einem Zauberschlage, hatte sich die schwarze Leinwand wieder entfaltet. Die Besatzung eines Kriegsschiffes hätte nicht besser exerzieren können. Alles ging Hand in Hand, jeder einzelne Matrose hatte seine »Station«, das heißt den Platz, auf welchen er beim Kommando sofort springen mußte.

Bei dem schwachen Winde dauerte es noch zwei Stunden, ehe der »Blitz« die Stelle erreicht hatte, wo er die Nacht über liegen bleiben sollte. Noch ehe Hoffmann ankern ließ, signalisierte er den beiden Schiffen, dicht an sie heranzufahren, und kaum lagen sie links und rechts, dicht neben dem seinen, so rasselten aus den Klüsen, das heißt aus den Löchern, welche sich hinten und vorn im Schiffsrumpf befinden, donnernd die Ankerketten herab, die eisernen Haken bohrten sich in dem Grunde fest, und der »Blitz« lag still.

»Lassen Sie die Anker nicht fallen,« rief Kapitän Hoffmann, »Sie finden keinen Grund.«

Aber diese Warnung kam zu spät oder fand keine Beachtung. Die Mannschaften des ›Amor‹, wie auch der ›Vesta‹, gewöhnt, immer wie bei einem Wettspiel möglichst schnell zu arbeiten, und besonders, wenn sie von fremden Seeleuten beobachtet wurden, waren sofort dem Beispiele Hoffmanns gefolgt; auch ihre Anker fielen. Zu spät sahen sie ein, wie unklug sie gehandelt hatten, als sie die Anker einfach fallen ließen, ohne vorher die Tiefe gemessen zu haben.

Sie ahmten einfach das Manöver des ›Blitz‹ nach, denn, dachten sie, warum sollten ihre Schiffe nicht dasselbe ausführen können wie dieser? Aber ihre langen Ankerketten waren bereits abgelaufen, ohne Grund gefunden zu haben. Die des ›Blitz‹ dagegen rasselten noch einige Minuten weiter, ehe die Anker den Boden erreicht hatten — seine Ketten mußten schier unendlich lang sein.

Für den ›Amor‹ war es ein leichtes, seine beiden Ketten emporzuheben. Sie wurden einfach über die Winden gelegt, der Dampf hineingeleitet, die Arbeiter daneben gestellt, und ohne daß sich die Herren darum zu kümmern brauchten, rollten sie auf, bis die Anker wieder regelrecht am Schiffsrumpf hingen.

Nicht so war es auf der ›Vesta‹, das Ankerhieven war für die Damen eine sehr beschwerliche Arbeit, welche, waren die Ketten, wie jetzt, abgelaufen, stundenlang dauerte. Das Ablassen ging von selbst von statten, aber beim Emporwinden mußten die Mädchen so lange um das Gangspill, in dem die Handspeichen steckten, marschieren, bis die Anker wieder oben lagen. Drei Stunden waren für diese Arbeit mindestens zu rechnen.

Ellen war wütend, die anderen Vestalinnen ärgerlich, als sie den Matrosen des ›Blitz‹ anmerkten, wie diese kaum ein spöttisches Lächeln über das Mißgeschick der Mädchen unterdrücken konnten, aber es half nichts, sie mußten sich zur unbequemen Arbeit aufraffen.

Auf dem ›Amor‹ begann bereits die Dampfwinde zu arbeiten; Hoffmann leitete noch das Ankern, sobald er aber damit fertig war, wandte er sich an Ellen, welche auf der Brücke stand und Kommandos erteilte.

»Es ist meine Schuld, daß Ihnen das passierte, Miß Petersen,« sagte er, »ich hätte Sie eher warnen sollen, hier nicht die Anker fallen zu lassen, es ist hier »Wie lang sind denn eigentlich Ihre Ketten?« rief Ellen, schon wieder etwas beruhigt. Die Mädchen steckten bereits die Handspeichen in das Gangspill.

»Bedeutend länger, als die anderer Schiffe,« lächelte Hoffmann, »ich führe sie als Ballast mit. Aber lassen Sie nur, die Damen brauchen sich nicht die Mühe zu machen, die Ketten durch eigene Kraft aufzuwinden, in zehn Minuten sollen sie wieder an Ort und Stelle liegen.«

Er beauftragte einige Matrosen, ein starkes Stahltau herbeizubringen und ließ dieses von den Vestalinnen nach seiner Weisung mit einer doppelten Schlinge um das Gangspill winden. Die Enden des Taues konnte man sehen, sie liefen erst über eine Winde an Deck des »Blitz« und dann ins Zwischendeck hinein.

Waren die Damen schon verwundert gewesen, wie geschwind das Segelmanöver des »Blitz« ausgeführt worden war, so waren sie jetzt völlig erstaunt über die Kraft, welches dieses Schiff beherbergen mußte. Auf einen Wink des Kapitäns begann die Winde zu arbeiten, so daß sich das Gangspill mit drehen mußte, und noch waren keine zehn Minuten vergangen, so lagen die Anker wieder über dem Wasserspiegel — die Kette des ›Amor‹ war erst zum vierten Teile aufgewunden. Die stärkste Schiffsmaschine hätte keine solche Kraft entwickeln können, wie jetzt diese Winde, welche die schweren Ankerketten aufzog, als wären sie dünne Bindfäden.

»Was für eine Kraftmaschine mag er nur an Bord haben?« meinte Ellen zu ihren Freundinnen.

»Jedenfalls einen von Elektrizität getriebenen Motor,« behauptete Miß Murray, »Sie erinnern sich doch, daß wir schon mehrere Male beobachtet haben, wie er Elektrizität verwendete, so zum Beispiel, als er mit farbigen Lichtern signalisierte und als er den riesigen Scheinwerfer in Tätigkeit setzte. Es kann gar nicht anders sein.«

»Aber wenn der »Blitz« wirklich mit einer elektrischen Maschine ausgestattet ist, so wundert es mich, daß diese nicht zur Fortbewegung des Schiffes benutzt wird.« »Wer weiß, ob dieses nicht doch der Fall ist,« meinte Johanna, »wir haben den ›Blitz‹ noch nicht im Dock gesehen. Sehr leicht möglich, daß er im Inneren Maschinen und außenbords eine Schraube trägt.«

Ebenso wurde auf dem ›Amor‹ darüber gesprochen, wie seltsam es sei, daß der ›Blitz‹ die schweren Ankerketten mit solcher Leichtigkeit aufwinden könne; auch die Herren wußten, daß dem ›Blitz‹ Elektrizität zur Verfügung stand.

Die Unterhaltung wurde unterbrochen durch Kapitän Hoffmann, welcher wieder an Deck erschien und die Besatzungen beider Schiffe mit höflichen Worten einlud, an Bord des ›Blitz‹ zu kommen, wo er sie über dasjenige, was er vorhabe, in Kenntnis setzen wolle.

Gern folgten alle dieser Einladung; war ihnen doch einmal Gelegenheit geboten, das Innere des Schiffes zu besichtigen, für welches sie sich immer mehr zu interessieren begannen.

Die Herren und besonders die Vestalinnen glaubten doch, die Räumlichkeiten ihrer Schiffe, welche ihnen zu gesellschaftlichen Zusammenkünften dienten, mit möglichster Eleganz und ebenso vielem Geschmack eingerichtet zu haben, wie aber waren sie erstaunt, als sie Kapitän Hoffmann in die große Kajüte führte, welche fast das ganze Zwischendeck einnahm!

Der ›Blitz‹ war ein sehr großes Vollschiff, bedeutend größer als die ›Vesta‹, und nicht wie diese, in mehrere geräumige Kajüten eingeteilt, sondern den Hauptteil machte nur ein Salon aus, in den die Gäste jetzt ohne Zeremonie eintraten.

Auf den ersten Blick sah man, daß dieser mächtige Saal, so elegant er auch mit Tischen, Stühlen, Diwans und anderen Möbeln ausgestattet war, doch einem ganz anderen Zwecke diente, als eine Gesellschaft aufzunehmen.

Hope klatschte beim Eintreten vor Entzücken in die Hände, sie sah hier ihre Kabine, das sogenannte Museum, hundertfach vergrößert, wieder. Es war wirklich ein Museum, das sich ihren erstaunten Augen darbot. Die ganze Erde, alle Meerestiefen hatten zu seiner Ausschmückung beitragen müssen. Rings an den Wänden liefen Regale und Simse hin, auf denen ausgestopfte Tiere standen, vom Löwen und Königstiger an bis zur sibirischen Spitzmaus herab, überall in der Mitte waren Gruppen solcher ausgestopfter Tiere in natürlichen Stellungen verteilt, aufgebaut.


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Einer Person, welche zum ersten Male diesen Raum betrat, mußte ein Grausen überlaufen.

Gleich beim ersten Blick sah man einen prachtvollen Löwen, zum Sprunge zusammengeduckt, so natürlich, daß man förmlich das Glühen der Augen, den heißen Atem und das dumpfe Knurren zu bemerken glaubte, aber die Augen streiften über den Eintretenden hinweg nach einer Antilope, welche sich angstvoll auf den Boden schmiegte, als wäre sie durch den furchtbaren Blick des Raubtieres der Fähigkeit beraubt, sich durch Flucht ihrem Schicksale zu entziehen. Man erwartete jeden Augenblick, die Katze würde durch die Luft sausen und die Pranken in den Leib der unglücklichen Antilope schlagen, so natürlich war alles gemacht.

In einer anderen Gruppe kämpften zwei Leoparden miteinander, der größere hatte den schwächeren zu Boden geworfen und stand, die Tatze zum Schlag erhoben, auf ihm; wieder in einer anderen schickte sich eine Riesenschlange eben an, einen südamerikanischen Hasen in dem weitaufgerissenen Rachen verschwinden zu lassen. Kurz, die meisten der ausgestopften Tiere, und es war eine große Anzahl vorhanden, vertraten nicht nur einfach als ausgestopfte Felle ihre Gattung, sondern es war ihnen mit kunstvoller Hand Leben verliehen worden, und zwar mit solcher Treue, daß man sofort merkte, der Arrangeur müßte mit dem Leben und Charakter dieser Tiere völlig vertraut sein.

»Es gibt kein einziges unter diesen Tieren,« erklärte Kapitän Hoffmann, »welches ich nicht mit eigener Hand erlegt hätte, dort, jenen Kolibri sowohl, wie diesen Kondor, dessen Flügel fast den ganzen Saal in der Breite durchmessen, dieses Kaninchen wie dort den Löwen. Ich habe mich bemüht, die Tiere immer in solcher Stellung aufzubauen, in der ich sie selbst überrascht habe, und so erinnere ich mich stets bei ihrem Anblicke des Jagdabenteuers, welches ich dabei erlebte.«

Desgleichen hatte das Meer seine seltensten Bewohner hergeben müssen, um dieses Museum zu schmücken, und wer sie kennt, diese seltsamen, komischen und schrecklichen Gestalten, welche Fischen nicht mehr ähneln, der kann sich ein Bild von dieser Abteilung machen.

Aber Kapitän Hoffmann mußte nicht nur ein eifriger Jäger und Fischer sein, denn auch die gesamte Insektenwelt der Erde war durch Repräsentanten vertreten, von den bunten Schmetterlingen, deren Flügelspanne einen Viertelmeter beträgt, bis zum kleinsten Holzwurm; sie alle waren in Glaskästen aufgereiht, welche an der Wand hingen.

Doch nicht nur das Reich der Säugetiere, Vögel, Fische, Amphibien, wie Schlangen und Schildkröten, Schnecken, Muscheln und so weiter hatte hier seine Wohnung aufgeschlagen, auch das Reich der Pflanzen war vertreten, wie das der Steine, und die Edelsteine bildeten eine Abteilung für sich. Die Diamanten in allen Farben und Größen, die Smaragden, Rubinen, Topase und so weiter, welche hier zu sehen waren, hätten nicht von einem fürstlichen Vermögen aufgewogen werden können, desgleichen die Perlen. Und alles war, wie Hoffmann sagte, von ihm selbst gesammelt, nicht ein einziges Stück des Museums war angekauft worden.

Alle übrigen freien Stellen des Saales wurden von Bücherschränken ausgefüllt, und mit Bewunderung bemerkten die Gäste, daß die Werke in fast allen Sprachen der Erde abgefaßt waren. Aber es waren nicht nur Schaustücke; Kapitän Hoffmann mußte sich wirklich viel mit ihnen beschäftigen, und der Inhalt mußte ihm geläufig sein, denn überall lagen auf Tischen und Stühlen aufgeschlagene Bücher herum, ebensogut in englisch, deutsch, französisch, spanisch oder italienisch, wie in außereuropäischen Sprachen, in arabisch, indisch, sogar in Sanskrit, der ältesten Sprache,

Sonst waren die Wände noch mit Waffen und Gegenständen geschmückt, wie man sie bei fremden, wilden oder wenig kultivierten Volksstämmen vorfindet, aber nicht nur kleine, wie sie als Zimmerschmuck dienen, sondern es waren beispielsweise Boote der Südsee-Insulaner, eine Binsenhütte der Neger von Ostafrika und anderes mehr vorhanden.

Jetzt wurde der Saal von dem schwachen Lichte beleuchtet, welches die untergehende Sonne durch die vielen Fenster hereinwarf, aber auch bei Nacht konnte hier Tageslicht hervorgezaubert werden, wie Hoffmann zeigte.

Es herrschte, wie gesagt, nur ein trübes, unsicheres Licht im Saale, plötzlich aber — Hoffmann stand gerade an einem Schranke, in welchem viele Apparate aufgestellt waren — hüllte vollkommene Finsternis die Anwesenden ein, kein Strahl drang mehr durch die Fenster; sie mußten durch irgend eine Vorrichtung gleichzeitig mit Läden verschlossen worden sein.

Noch ehe die in der schwärzesten Finsternis Stehenden sich über die Ursache dieses plötzlichen Wechsels vollkommen klar waren, erscholl da, wo sich Kapitän Hoffmann befand, ein lautes Knattern und Prasseln. Lange, blitzähnliche Flammen schienen aus dem Wandschranke zu zucken, und dann strahlte plötzlich der Saal im Scheine von unzähligen elektrischen Glühlämpchen wieder, welche überall angebracht waren und ein so helles Licht von sich gaben, daß selbst das der Sonne nicht damit zu vergleichen war.

»Sie müssen ja eine enorm starke Maschine zum Erzeugen von Elektrizität haben!« rief Ellen erstaunt. »Aber Sie besitzen doch keinen Dampfmotor, sonst würden Sie nicht immer unter Segel fahren, sondern sich der Fortbewegung mit der Schraube bedienen.« »Auch der ›Amor‹ besitzt eine Maschine und fährt doch meist unter Segel,« antwortete Hoffmann lächelnd, »ebenso verhält es sich mit dem ›Blitz‹.«

»Wo haben Sie die elektrische Maschine stehen?« fragte Harrlington, erst jetzt die unzähligen, grünen Drähte bemerkend, welche wie Schlangen an den Wänden des Saales emporkrochen und an der Decke weiterliefen. »Haben Sie mehrere gleichmäßig verteilt, oder ist nur eine einzige, große vorhanden, und womit wird dieselbe bewegt?«

»Ich habe überhaupt keine elektrische Maschine,« lächelte Kapitän Hoffmann.

»Nicht?« riefen alle gleichzeitig, erstaunt.

»Nein, ich speise alle meine Lampen und Apparate aus Batterieen.«

»Nicht möglich! Zu so vielen Lampen müßten Sie ja eine ungeheure Anzahl und enorm große Batterieen besitzen.«

»Und doch ist es so, und meine Batterieen sind nicht einmal umfangreich.«

»Aber Sie wollen doch nicht sagen, daß Sie mit der aus den Batterieen entnommenen Elektrizität auch die Winde in Bewegung setzten, welche vorhin die Kette aufhievte?« »Gewiß, es war dies ein Aufwand von Kraft, welchen meine Batterieen kaum merken. Sie sind so stark, daß ich sämtliche an Deck stehenden Winden zu der schwersten Arbeit verwende und mich noch die ganze Takelage bewegen kann, und immer, ohne die Batterieen besonders angreifen zu müssen.«

Das Erstaunen der Zuhörer wuchs immer mehr, sie alle waren mit den Gesetzen der Elektrizität genügend bekannt, sie wußten auch, wie weit man sich dieselbe dienstbar gemacht hatte, und waren in der Maschinerie bewandert, aber etwas Ähnliches, wie hier, hatten sie noch nie gesehen.

Kapitän Hoffmann tat dabei, als handele es sich um etwas ganz Einfaches.

»Aber, was haben Sie denn in aller Welt für Batterieen? Es müssen doch ganz ungewöhnliche sein, denn mit jenen, welche wir kennen, kann man kaum einige Glühlampen in Funktion setzen. Zu jeder größeren Kraftleistung durch Elektrizität ist doch eine Dynamomaschine nötig, welche erst wieder durch einen Motor getrieben werden muß.«

»Ich habe allerdings eine eigene Erfindung, diese Batterieen zu verwenden,« erklärte Hoffmann. »Sie sind insofern unerschöpflich, als die ihnen entnommene Kraft sich immer wieder ersetzt, und diejenige, welche verloren geht, steht mir kostenlos zur Verfügung.«

»Ich verstehe Sie nicht, erklären Sie sich , bitte näher!« rief Lord Harrlington.

Hoffmann wurde etwas verlegen.

»Verzeihen Sie mir,« sagte er dann, »wenn ich Sie nicht vollständig über das System aufkläre, welches ich zur Erzeugung der Elektrizität verwende, aber ich werde Ihnen nachher die Batterieen zeigen, und Sie werden sich über ihre Einfachheit wundern, wenigstens über ihr einfaches Aussehen. Würde ich Ihnen aber das Prinzip erklären, worauf das Erzeugen der Elektrizität beruht so würden Sie schwerlich viel davon verstehen, selbst wenn Sie Fachmann wären, weil natürlich ein Geheimnis dabei ist, in dessen Besitz ich zufällig gekommen bin. Nur so viel will ich Ihnen erklären, daß ich nach jeder geforderten Arbeit darauf bedacht bin, die verlorene Kraft möglichst wieder zu ersetzen, zum Beispiel durch die eigene Reibung der Räderwerke, und daß ich die verloren gehende Elektrizität dem Meere entnehme. Verzeihen Sie die Offenheit, mit welcher ich Ihnen erkläre, nicht weiter auf diese Erfindungen eingehen zu wollen, aber wirklich, glauben Sie mir, Sie würden ihnen nicht folgen können. Ich bin Ingenieur und habe mich Zeit meines Lebens fast ausschließlich nur mit Elektrizität beschäftigt, bin aber nicht zum Erklären befähigt. Jeder meiner Sätze, welchen ich mit endlosen Formeln zum nötigen Verständnis ausschmücken müßte, würde Ihnen ein Rätsel sein, während ich alles selbstverständlich finde, und, was die Hauptsache ist, das Geheimnis, welches ich besitze, ist mir Wohl bekannt, ich kenne seine Wirkung, ich kann diese ausnutzen, aber ich weiß nicht, auf welche Weise sie stattfindet.«

Immer erstaunter hatten die Herren und Damen seinen Worten gelauscht, aber da sie sahen, wie verlegen Kapitän Hoffmann dabei wurde, so unterdrückte jeder seine Neugier und hoffte nur, noch mehr Merkwürdiges auf diesem Schiffe zu sehen. Übrigens hatte Hoffmann recht, eine gründliche Kenntnis der Gesetze der Elektrizität ging ihnen doch ab, sie wußten nur so viel davon, wie ihnen einst auf der Schule über diese merkwürdige Naturkraft gelehrt worden war.

»Nur eine Frage erlauben Sie mir noch,« nahm Lord Harrlington das Wort. »Sie sagten, Sie entnähmen dem Meere Elektrizität?«

»Ja. Wie in der Luft stets Elektrizität vorhanden ist, welche sich zum Beispiel bei Gewittern in Gestalt des Blitzes zeigt, so auch im Meer. Durch Reibung des Salzwassers mit einem Amalgam nun erzeuge ich mir beliebig viel Elektrizität. Dieses Amalgam ist das Geheimnis, von dem ich sprach; ich kann es herstellen, weiß aber weder, warum es solche Kraft besitzt, noch wie es wirkt.«

»Warum benutzen Sie diese Kraft nicht, um den ›Blitz‹ damit zu treiben?«

»Ich tue dies doch manchmal,« lächelte Hoffmann.

»Aber Sie fahren doch immer mit Segeln?«

»Gewiß, eben um durch Reibung des Amalgams mit dem Meerwasser Elektrizität zu erzeugen. Die erhaltene Elektrizität verwende ich für die Lampen und Apparate; ist genügend vorhanden, so kann ich sie auch zum Treiben des Schiffes benutzen. Der ›Blitz‹ besitzt eine Schraube.«

Die Gäste gaben sich mit dieser Erklärung zufrieden, sie wollten dem Ingenieur, der seine jedenfalls immensen Kenntnisse unter dem Mantel der Bescheidenheit verbarg, nicht weiter über die Geheimnisse des ›Blitz‹ ausforschen, aber sie wünschten sich alle Glück, einmal Gelegenheit gefunden zu haben, das Schiff in seiner Tätigkeit besichtigen zu können. Sie hofften nur, daß der morgende Tag noch recht viel neue Überraschungen bringen möchte; alles hier an Bord schien ja mit übernatürlichen Kräften ausgestattet zu sein, wie sie bald noch merken sollten.

Kapitän Hoffmann kam auf sein Vorhaben zu sprechen; es handelte sich um nichts Geringeres, als um einen Besuch des Meeresgrundes, ja, sogar um einen Spaziergang auf demselben.

Er erzählte ihnen von der spanischen Festung Callagos, welche einst hier, wo der ›Blitz‹ eben ankerte, auf einer Insel gestanden hatte und welche, wie bereits erwähnt, durch ein von einem schrecklichen Orkan begleitetes Erdbeben verschlungen worden war.

Ein spanischer Gelehrter, der diese Inselgruppe zum Gegenstand seiner wissenschaftlichen Studien gemacht, hatte die Vermutung ausgesprochen, die Insel Callagos, wäre wahrscheinlich nicht, wie die übrigen Inseln, zerborsten und vollständig vernichtet, sondern wäre einfach untergesunken, alles Daraufstehende mit sich nehmend, und unter den umwohnenden Eingeborenen ging ein ähnliches Gerücht.

Sie behaupteten, jene Spanier in Callagos, die Unterjocher ihres Landes, müßten zur Strafe für ihre Freveltaten auf dem Merresgrunde weiterleben, ihre Häuser stünden noch ebenso da, wie früher, die Soldaten müßten noch exerzieren, alles ginge derselben Beschäftigung nach, und war das Meer recht stürmisch, das Wasser aber klar, so sollte man sie sogar mit verzweifelten Gesichtern in der Tiefe sehen können.


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Die gesunkene Stadt morgen zu besuchen, wenn an dem Gerüchte überhaupt etwas Wahres war, lag in der Absicht des Kapitäns.

Hoffmann gab seinen Gästen die Erklärung über den Taucherapparat, in welchem er den Meeresboden betreten würde, über den Skaphander, welcher sich sehr von dem sonst angewendeten Taucherapparat unterscheidet, obgleich es auch seine Hauptaufgabe war, den Mann unter Wasser mit frischer Luft zu versehen.

Als Hoffmann in der Erklärung so weit war, daß ein Vorzeigen des Apparates selbst nötig wurde, trat, als wäre er gerufen worden, oder als hätte er dem Erklärer gelauscht, ein Matrose mit den Bestandteilen des Skaphander herein. Die meisten, hatten so vertieft zugehört, daß sie dies nicht bemerkten, die übrigen wunderten sich allerdings, doch hatten sie schon bemerkt, daß der Ingenieur in diesem Saale jedenfalls, in der Lage war, sich durch irgend ein Mittel mit seinen Leuten an Deck verständigen zu können.

Der Skaphander hatte dasselbe Aussehen wie ein sonst gebräuchlicher Taucherapparat, nur wurde ihm die Luft nicht mittels eines Schlauches zugeführt, sondern diese befand sich in zusammengepreßtem Zustande in einem Kasten, welcher auf dem Rücken getragen wurde. Zwei Schläuche führten die Luft in den dicken Glasballon, der den Kopf des Tauchers verhüllte. Gleichzeitig befand sich in dem Kasten auch eine elektrische Batterie zum Speisen der vorn am Gürtel getragenen Glühlampe. Am Gürtel befand sich noch ein Telegraphen-Apparat, durch welchen mittels eines Kupferdrahtes nach oben Zeichen gegeben werden konnten, während der Taucher die gegebenen Anweisungen durch Klopfen im Ballon hörte.

Dann kam, man auf die Merkwürdigkeiten zu sprechen, welche den Taucher auf dem Meeresgrunde erwarteten, die in größerer Tiefe lebenden, seltsamen Geschöpfe und Pflanzen; Hoffmann erzählte von riesigen, vielarmigen Polypen, von Seeschlangen, ungeheueren Krebsen und Spinnen, und daß er nicht übertrieb, das bewies er mit Photographieen, welche er mittels eines intensiven, elektrischen Lichtes und eines eigens dazu erfundenen Apparates am Meeresgrund aufgenommen hatte. Auch trat mitten in seiner Erzählung ein anderer Matrose herein und brachte seltsame Muscheln, Seesterne und andere Gebilde, wie man sie nur in großen Tiefen vorfindet, und die wenig bekannt sind.

Ellen hatte mit angehaltenem Atem den Erzählungen des Ingenieurs gelauscht, ihre Augen leuchteten fieberhaft, als sie die Photographien der Meereswunder betrachtete, und die rätselhaften Gebilde, die umhergereicht wurden, wanderten in ihren Händen.

»Kapitän Hoffmann,« sagte sie mit erregter Stimme, als der Ingenieur geschlossen hatte, »treten Sie die Reise nach dem Meeresgrunde allein an?«

»Noch vier meiner stärksten und geschicktesten Taucher nehme ich mit mir,« antwortete er.

»Warum die geschicktesten? Ist es so schwierig, im Skaphander zu tauchen? Gehört dazu erst Unterricht?«

»Das nicht. Jedermann kann darin tauchen, wenn er kräftig genug ist, den Wasserdruck auszuhalten, denn das Zuführen und Einatmen der Luft wird durch einen Mechanismus geregelt. Der Taucher muß nur im Telegraphieren bewandert sein, und die Waffen, welche er mitbekommt, geschickt zu führen wissen, denn auf dem Meeresgrunde ist es nicht ganz ungefährlich. Gewaltige Tiere lauern auf ihre Beute, und je tiefer man kommt, desto größer werden die Ungeheuer, desto größer die Gefahr. Ich selbst gehe ohne Telegraphenapparat hinunter, damit mich die Drähte nicht hindern, und so müssen meine Leute für die Verständigung sorgen.«

»Also jeder kann im Skaphander tauchen, Kapitän Hofmann?« rief Ellen. »Dann nehmen Sie mich mit! Ich bin kräftig und unerschrocken. Ich werde Ihnen nicht hinderlich sein, außerdem spreche ich Sie von jeder Verantwortung frei.«

Hoffmann wurde über diese Bitte bestürzt, noch mehr, als auch verschiedene der Herren ihn bestürmten, auch sie an der Expedition teilnehmen zu lassen. Vergebens warnte er — es half ihm nichts. So, wie es ein Ingenieur, Herr Anders, geahnt hatte, ließ man ihn nicht eher in Ruhe, als bis er nachgiebiger gestimmt war.

»Gut denn,« sagte er endlich, »ich gestatte den Herren, im Skaphander den Meeresboden zu besuchen, aber nicht hier. Hier ist es zu tief. Ich kenne flachere Stellen, nicht weit entfernt, wo Sie die Wunder der Meerestiefe schauen können.«

»Aber die gesunkene Stadt ist ja das Interessanteste,« rief Lord Harrlington. »Nein, können wir nicht Callagos sehen, so wollen wir überhaupt nicht tauchen. Kapitän Hoffmann, geben Sie nach! Wir sind alle gesunde, kräftige Männer, welche Ihren stärksten Matrosen nichts nachgeben; probieren Sie es nur einmal. Sehen Sie mich an, ich bin zwar schmächtig gebaut, aber stellen Sie mich einmal dem Matrosen gegenüber, den Sie vielleicht als Herkules bezeichnen, und dann wollen wir einmal sehen, wer von uns beiden die schwereren Gewichte heben kann. Ebenso hier mein Freund Williams, der erträgt sicher auch jeden Wasserdruck, und für Lord Hastings brauchen Sie keine Angst zu haben, dessen Knochen vertragen die Umarmung eines Bären. Nichts da, Kapitän Hoffmann, Sie müssen unsere Begleitung erlauben, oder wir springen Ihnen einfach nach.«

Alles Widerstreben Hoffmanns half nichts, er mußte schließlich klein beigeben.

»Meinetwegen,« sagte er, »ich gestatte Ihnen, mich zu begleiten, so weit es die Anzahl der Skaphander erlaubt, nur erkläre ich hiermit den Herren, daß ich oder meine Leute für keinen Unglücksfall verantwortlich zu machen sind.«

»Und ich?« rief Ellen.

»Sie dürfen auf keinen Fall mit,« erklärte Hoffman entschieden. »Ihr Körper hält den Druck nicht aus.«

»Oho,« entgegnete Ellen, »das kommt erst auf eine Probe an. Ich glaube, daß ich, ebenso wie jeder dieser Herren, befähigt bin, den Gang in die Tiefe anzutreten.«

Ellen setzte dem in Verlegenheit getriebenen, armen Kapitän so lange zu, bis ihm nichts anderes übrig blieb, als auch ihr die Begleitung zu erlauben.

Eine Vorsichtsmaßregel mußte sie aber über sich ergehen lassen, bei deren Verweigerung er ihr das Tauchen unter keinen Umständen erlaubt hätte. Während die anderen Taucher nur durch Drähte mit dem ›Blitz‹ in Verbindung blieben — das Telegraphieren war ja allen vom Schiffsdienst aus bekannt — sollte Ellen an einem Tau befestigt werden, und sie mußte in die Hand Hoffmanns das feste Versprechen abgeben, sich an demselben sofort emporziehen zu lassen, sobald es der Kapitän zur Wahrung der Sicherheit für notwendig halten sollte.

Die Herren und Damen, hatten sich wieder an Bord ihres Schiffes zurückbegeben, um eine vor Aufregung schlaflose Nacht zu verbringen, nur eine einzige war noch für einige Zeit auf dem ›Blitz‹ zurückgeblieben — Johanna.

Wir finden beide, Johanna und Hoffmann, in leisem, innigem Zwiegespräch in dem Salon stehen.

Das Gespräch mußte bald eine andere Wendung genommen haben, des Ingenieurs Gesichtsausdruck ward erst bestürzt, ja unwillig, dann aber traurig, und kopfschüttelnd hörte er der Geliebten zu, welche ihn mit irgend einer Bitte bestürmte und nicht eher ruhte, als bis sie eine Zusage erhalten hatte.

»Gut denn,« sagte er endlich und schloß Johanna in seine Arme, »wenn du es für deine Pflicht hältst, so will ich dich nicht davon abhalten. Aber natürlich mußt auch du an einem Tau befestigt werden, und außerdem mußt du mir versprechen, dich nicht aus meiner Nähe zu entfernen, eher von Miß Petersen, als von mir.«

»Ich werde dafür sorgen, daß Ellen immer in deiner, also auch in meiner Nähe bleibt,« lächelte sie.

»Und ich werde sorgen, daß meiner lieben Johanna kein Unglück passiert,« sagte Hoffmann und küßte seine

Braut, »doch kann ich dir nicht sagen, welch schwere Sorgen mich ängstigen, weiß ich dich in fortwährender Gefahr und die, in welche du dich morgen begiebst, ist keine kleine.«


7. Auf dem Meeresgrunde.

Der Morgen war angebrochen. Als die Besatzungen des ›Amor‹ und der ›Vesta‹ an Bord des in der Mitte liegenden Schiffes kamen, fanden sie dessen Mannschaft schon in vollster Tätigkeit vor, die Skaphander und alle zu deren Bedienung nötigen Apparate in Ordnung zu bringen. Kapitän Hoffmann, der diese Arbeiten leitete, begrüßte sie und gab dann den Herren, welche ihn begleiten wollten, die nötigen Verhaltungsmaßregeln.

Es waren dies vier Herren, für mehr reichten die an Bord vorhandenen Skaphander einmal nicht aus, und dann waren dies auch die einzigen, Harrlington, Hastings, Williams und Davids, welche den Gang in die Tiefe unternehmen wollten. Fehlte es den übrigen auch nicht an Mut — sie hatten oft genug bewiesen, daß dies nicht der Fall war — so befällt einem doch immer ein ganz eigentümliches Gefühl, wenn man so allein, von aller Welt abgeschlossen, auf dem Meeresgrunde steht und der Wasserdruck einem um die Ohren saust. Nicht die Furcht vor dem Tode, welcher in jedem Moment und in vielerlei Gestalten den Menschen erwarten kann, ist es, was das Herz schneller schlagen macht, es ist das Bewußtsein der Verlassenheit.

Ellen hatte während der Nacht nicht ihren Entschluß geändert, wie der Ingenieur gehofft hatte, noch immer brannte sie vor Verlangen nach dem abenteuerlichen Unternehmen, sie konnte den Augenblick nicht erwarten, da sie in einer Kabine den Skaphander umlegen sollte.

Wie erstaunt waren aber alle, als sie noch eine Begleiterin in Johanna fand, welche dem Kapitän ganz im geheimen den Wunsch, mitzugehen, mitgeteilt haben mußte.

Die anderen Vestalinnen zogen vor, auf der Oberfläche des Wassers zu bleiben, beneideten aber den Mut ihrer Gefährtinnen.

Noch ehe das Taucherkostüm angelegt wurde, erklärte Kapitän Hoffmann den Mitgehenden die Waffen, deren sie sich am Meeresgrund nötigenfalls bedienen sollten. Es waren dies ganz seltsam aussehende, kleine Flinten, mehr Pistolen mit sehr dicken Kolben und sehr langen Läufen ähnelnd.

»Sie sind geladen,« erklärte Hoffmann. »Die zwanzig Kugeln befinden sich hier im Kolben und werden mittels zusammengedrückter Luft aus dem Lauf geschleudert. Ehe Sie schießen, ziehen Sie diesen Hebel zurück und bringen ihn nach Gebrauch der Waffe in seine alte Lage zurück, damit das Gewehr wieder gesichert ist. Sehen Sie sich ja vor, doch Sie sind ja gewohnt, mit Waffen umzugehen, und so brauche ich nicht ängstlich zu sein, wenn ich Ihnen die Gewehre in die Hand gebe.«

»Kann man denn mit ihnen auch unter Wasser schießen?« fragte Harrlington erstaunt, »und hat die komprimierte Luft denn eine genügende Kraft, um die Kugeln tödlich wirken zu lassen? Dieselben müssen ja, der Bohrung des Laufes nach zu schließen, winzig klein, kaum so groß wie eine Erbse sein,«

»Es sind Glaskugeln mit Elektrizität geladen,« sagte Hoffmann einfach. »Ich bitte Sie nochmals, vorsichtig zu sein; wohin sie treffen und sich entladen, erzielen sie dieselbe Wirkung, als wenn der Blitz einschlüge.«

Die Gesellschaft betrachtete höchlichst erstaunt diese so unschuldig, fast wie Kinderspielzeug aussehenden Waffen, welche doch den Blitz beherbergen sollten, nur Sir Williams zog ein ganz merkwürdiges, sinnendes Gesicht, während er sich mit seinem Gewehre beschäftigte.

Die zweite Waffe, welche zu jedem Taucherkostüm gehörte, war ein langes, scharfes und äußerst starkes Messer, aus bestem Stahl gefertigt, welches man wie einen Meißel oder ein Stemmeisen gebrauchen konnte, ohne einen Bruch befürchten zu müssen.

Hoffmann erklärte noch einmal den Teilnehmern, wie sie zu telegraphieren hatten, wie sie sich durch Regelung der Luftzufuhr beliebig im Wasser heben und senken könnten, wie sie sich bei der Annäherung von Haifischen und anderen Seetieren verhalten sollten, die Art der Verteidigung, ihr Verhalten bei einem eventuellen Unglücksfall, zeigte ihnen die Uhr in der Innenseite des Glasballons, der den Kopf bedeckte, das am Gürtel hängende Schiefertäfelchen, mittels dessen sie sich untereinander verständigen könnten, wie sie die Lampe vorn zum Glühen brächten, und ließ dann die Aufforderung ergehen, sich den Skaphander anzulegen.

Nach zehn Minuten traten auch Ellen und Johanna aus der Kabine, in welcher sie sich gegenseitig den Skaphander angetan hatten, und gingen mit schweren Schritten über Deck. Obgleich die beiden Mädchen das leichteste Kostüm bekommen hatten, wog doch jede am Fuße befestigte Bleiplatte gegen dreißig Pfund.

Alle Taucher, es waren mit Hoffmann deren elf, wurden von letzterem nochmals genau untersucht, ehe der Glasballon über den Kopf gestülpt wurde, und sobald dies geschehen war, wurden von ihm selbst die Luftkästen auf den Rücken gehängt und der Mechanismus, welcher das Zu- und Abströmen der Luft regelte, in Funktion gesetzt. Dann erst, nachdem die Taucher auf die Täfelchen geschrieben hatten, daß sowohl die Atmung eine geregelte war, als auch, daß sie die ihnen gegebenen Klopfzeichen gut verstehen konnten und ihre eigenen Signale an dem Telegraphenapparate sichtbar wurden, ließ er sich von seinem Ingenieur Anders ebenfalls ankleiden. Der Luftkasten sorgte nach Angabe Hoffmanns fünf Stunden für die zur Atmung der Taucher nötige Luft, man hatte ihnen aber streng ans Herz gelegt, auf keinen Fall länger als vier Stunden unter Wasser zu bleiben, sondern nach Ablauf dieser Frist nach oben zu telegraphieren und sich dann durch das von ihm angegebene Signal an die Wasseroberfläche zu heben, ebenso, wie er [???] das ernste Versprechen abgenommen hatte, ihm in [???] Fällen und unwiderruflich zu gehorchen, selbst wenn sie den Zweck seines Befehles nicht einsehen könnten.

»Übrigens, glaube ich kaum nötig zu haben,« hatte er gesagt, »Sie vor zu langem Aufenthalt im Wasser zu warnen. Schon nach einer Stunde werden Sie herzlich froh sein, an das Sonnenlicht zurückkehren zu dürfen.«

Kapitän Hoffmann sprang zuerst direkt von Deck ins Wasser hinunter, die Fluten schlossen sich schäumend über dem Glasballon, eine Sekunde noch, und von der Gestalt war nichts mehr zu sehen, nur die elektrische Glühlampe leuchtete noch wie ein glühender Punkt, bis auch dieser unsichtbar wurde.

Kaum drei Minuten vergingen, so erschien oben auf dem Telegraphenapparat die Anzeige, daß die übrigen ihm nachfolgen sollten, der Platz sei ein günstiger, und während sich die Taucher anschickten, der Aufforderung nachzukommen, zogen die Obenstehenden die Drähte, welche Hoffmann vorläufig noch bei sich gehabt hatte, empor — er hatte sich losgemacht und war somit völlig abgeschlossen von allem Verkehr mit der Oberwelt.

Ein Taucher sprang nach dem anderen ins Wasser, zuerst Ellen und Johanna, beide außerdem noch an eine lange Leine befestigt, bis auch der letzte verschwunden war.

Miß Petersen wurde doch etwas ängstlich zu Mut, als sie auf dem Laufbrett stand und in die Flut sah, welche sich im nächsten Augenblick für Stunden über ihr schließen sollte. Ein starker Ruck an dem sie haltenden Tau machte sie aufmerksam, daß man auf sie warte, sie blickte sich um, fast in der Absicht, noch im letzten Augenblick ihren Entschluß aufzugeben, da aber bemerkte sie das spöttische Lächeln einiger Matrosen, schnell wendete sie sich wieder um, erhob die Hand zum Signal, und sofort klappte das Laufbrett nieder — Ellen fiel senkrecht in das Wasser.

Blitzschnell schoß sie in die Tiefe, so glaubte sie wenigstens, und wieder bemächtigte sich ihrer eine Angst, aber dieselbe war unnötig, wie sie bald bemerkte. Die erste Schnelligkeit war nur durch den Fall durch die Luft hervorgerufen worden, bald sank Ellen langsam zu Boden, gezogen vom Gewicht der Bleisohlen.

Innerhalb zweier Minuten hatte sie den Boden des Meeres erreicht, und sofort bemerkte sie etwas, was sie während der Fahrt nicht wahrgenommen; ein ziemlich starkes Sausen ertönte in ihren Ohren, das nicht gerade unerträglich, aber doch sehr unangenehm war und später sehr lästig, vielleicht schmerzhaft zu werden versprach. Es war eine Folge des Wasserdruckes.

Noch war Ellen nicht völlig zum Bewußtsein gekommen, wo sie sich eigentlich befand — sie fühlte nur festen Boden unter den Füßen — als sie am Arm gefaßt wurde.

Entsetzt wendete sie sich um, die Hand am Messer, denn ihre Phantasie war mit den Bildern grausiger Tiere erfüllt, aber sie erkannte zu ihrer Freude in dem durchsichtigen Wasser von herrlicher, smaragdgrüner Farbe den ersten der Taucher — Hoffmann — der ihr winkte, ihm schnell zu folgen.

Welches Entzücken erfüllte Ellen, als sie die ersten paar Schritte getan hatte.

Wohl fühlte sie einen beklemmenden Druck, wo aber war die Anziehungskraft, welche sie an den Boden fesselte? Bei jedem Schritte wurde sie förmlich wie ein Gummiball in die Höhe geschleudert, sie glaubte, mit einem Satz bis an die Oberfläche springen zu können, hätte sie es gewollt, und sie mußte ganz vorsichtig auftreten, um dieses Hüpfen zu vermeiden. Sie hatte aber nicht lange Zeit, Betrachtungen darüber anzustellen, denn Hoffmann, an diesen Gang völlig gewöhnt und sich wie auf der Erde bewegend, zog sie schnell eine Strecke weit davon, wie Ellen merkte, damit die Drähte der nachkommenden Taucher sich nicht mit den ihren verwickelten. Der Grund war eben, mit bunten Steinen und großen Muscheln, dicht besät.

Hoffmann ließ Ellen sich auf einen großen Stein setzen, eilte noch einmal hinweg, und kam dann mit Johanna zurück. Die vier Herren wurden von den Tauchern einzeln nach derselben Stelle geführt. Die Marschordnung ward von Hoffmann so eingerichtet, wie er es schon vorher ausführlich angegeben hatte, und der Zug, den Ingenieur an der Spitze, bewegte sich langsam vorwärts.

Dicht hinter Hoffmann schritten die beiden Mädchen, hinter ihnen die acht Männer zu zweien, neben jedem der Taucher einer der Herren.

Entweder hatte der Ingenieur das Terrain des Meeresgrundes ganz genau erkannt, vielleicht durch Untersuchung mit dem Lot, an dessen unteres Bleiende gewöhnlich Fett geschmiert wird, damit die daran hängen bleibenden Steinchen die Bodenbeschaffenheit verraten, oder das Glück war ihm günstig gewesen — der Platz, wo sie gelandet, war der dazu geeignetste. Kaum waren sie eine kleine Strecke weit gegangen, so schien der Boden von Schluchten durchwühlt zu werden, tiefe Risse klafften zu beiden Seiten, und oft sperrten mächtige Felsblöcke den Weg.

Es war gar kein Zweifel, hier hatte einst eine furchtbare vulkanische Eruption den Boden umgestaltet.

Kapitän Hoffmann bückte sich einmal, hob etwas auf und hielt es, sich umdrehend, hoch empor — es war eine alte Flinte, aber von Seegras so umwachsen, daß man sie kaum als eine solche erkennen konnte.

Bisher hatten die Taucher noch nicht nötig gehabt, über eine der Spalten hinwegzusetzen, plötzlich aber blieb der Vorausschreitende stehen und deutete nach vorn. Das Wasser war sehr klar, man konnte einige Meter im Umkreis sehen, ohne die Lampen dazu nötig zu haben, dann aber verschwammen die Umrisse der Gegenstände. Jetzt jedoch konnte man auf dem Erdboden etwas Dunkles unterscheiden, und, was sie vorher nicht vermochten, erkannten sie beim Näherkommen; eine wohl zehn Meter breite Spalte tat sich vor ihnen auf.

Hoffmann winkte zurück und war der erste, welcher über den Schlund setzte. Ein großer Schritt brachte ihn über den Abgrund selbst, aber er sank nicht unter, sondern blieb stehen und arbeitete sich durch Schwimmbewegungen nach der anderen Seite hinüber. Während vorher immer aus seinem Taucherhelm die verbrauchte Luft in Form von kleinen Bläschen emporgestiegen war, hörte dies jetzt auf, eine einfache Vorrichtung verschloß ihr den Austritt, und dadurch war es möglich, eine größere Tragkraft zu erzielen, und somit das Untersinken zu verhindern.

Wäre der Luft noch länger der Austritt versperrt worden, so wäre der Taucher sogar emporgehoben worden, allerdings nicht hoch, denn er konnte es für längere Zeit in der gebrauchten, schlechten Luft nicht aushalten.

Die beiden Mädchen, wie auch die Herren ahmten dieses Manöver nach, sie waren vorher genügend instruiert worden, und außerdem hatten sie ja die darin schon geübten Matrosen neben sich. So langten alle ohne Zwischenfall auf der anderen Seite an, und noch manche Spalte mußte auf diese Weise überschritten werden, ebenso wie man die den Weg versperrenden, oft mächtigen Felsblöcke mehr überflog, als überschritt.

Es kam allen vor, als wären sie Vögel, welche sich ebensogut auf der Erde, wie in der Luft fortbewegen können.

Hoffmann blieb plötzlich stehen, schrieb etwas auf die Tafel und zeigte sie den hinten Gehenden.

»Callagos.« Nur das eine Wort stand darauf, und als sie den Schreiber fragend ansahen, deutete er mit der Hand voraus. Was die übrigen noch nicht hatten sehen können, war seinem Adlerblick nicht entgangen, aber nicht lange dauerte es mehr, so entdeckten alle die alte, versunkene Stadt.

Wie aus dem Nebel tauchten vor ihnen Zinnen und Türme auf, man bemerkte in den Mauern die Schießscharten, und beim Näherkommen gewahrte man sogar die daraus vorsehenden Geschützrohre.

Eine fieberhafte Erregung bemächtigte sich aller, am meisten der Gäste, aber auch dem Ingenieur konnte man sie anmerken. Er schritt mit schnellen Schritten voraus, Sprang wie eine Gemse über die Klüfte, flog wie ein Vogel über die Blöcke, und zwar so geschwind, daß ihm die anderen kaum folgen konnten.

Bald stieß man auf menschliche Gerippe, ab und zu traf man auch auf die Überreste eines zerfallenen Steinhauses, aber nicht häufig, denn in jener Gegend werden die meisten Gebäude nur aus Holz oder leichtem Fachwerk aufgeführt, und solche waren natürlich bei der Eruption vollständig vernichtet worden.

Näher und näher kam man der eigentlichen Stadt Callagos, der einstigen spanischen Festung, aber doch war noch immer ein ziemlich weiter Weg zurückzulegen.

Wohl hatte sich Williams' Aufmerksamkeit fortwährend mit der versunkenen Stadt beschäftigt, aber noch ein anderer Gedanke ging ihm im Kopfe herum, etwas höherliegendes, was er nicht begreifen konnte, und so lange ihm dies nicht klar wurde, fühlte er sich nicht beruhigt.

Sie waren nun schon etwa eine Viertelstunde immer geradeaus gegangen, und war die zurückgelegte Strecke eben keine große, so war es doch wunderbar, daß die Drähte noch immer so direkt nach oben liefen, wie zuerst, da sie ins Wasser sprangen. Wie kam das nur? Williams mußte sich darüber Gewißheit verschaffen — in einigen Sprüngen hatte er Hoffmann erreicht und faßte ihn am Arm.

Der Ingenieur blieb stehen, schaute den Engländer fragend an und zeigte auf das Täfelchen; eine mündliche Verständigung verhinderte das starke Glas und das Sausen im Ohr.

»Wie kommt es, daß die Drähte immer direkt über uns bleiben?« schrieb Williams auf den Schiefer und deutete nach oben.

Hoffmann las das Geschriebene, griff dann nach seinem Täfelchen und kritzelte darauf einige Zeilen.

»Die Apparate befinden sich nicht mehr auf dem ›Blitz‹, sondern in einem Boote. Der Matrose vor Ihnen trägt einen Kompaß, er telegraphiert nach oben die eingeschlagene Richtung, und das Boot folgt uns,« las Williams.

Jetzt war ihm das Wunder klar; wie er nun erst merkte, trug einer der Taucher des ›Blitz‹ vorn am Gürtel einen Kompaß, den er unausgesetzt beobachtete, und dessen Abweichungen er nach oben telegraphierte. Auch kam es Williams vor, als wenn Hoffmann manchmal Fingerbewegungen mache, welche von demselben Taucher verstanden wurden und jedesmal neues Telegraphieren veranlaßten. Beide verständigten sich also untereinander mittels einer Fingersprache. Die Apparate befanden sich in einem Boote, welches die Richtung einschlug, die seiner Bemannung von unten durch Zeichen angegeben wurde.

Man stieß auf immer mehr Gerippe, Waffen, Feldgerätschaften, Wagenteile und so weiter, Beweise, daß der vulkanische Boden, über den sie schritten, einst von fleißigen Händen bebaut, daß überhaupt hier ein reges Leben geherrscht hatte.

Die Mauer war erreicht. Man sah jetzt erst, daß die Stadt Callagos wohl noch vorhanden war, daß aber die meisten Häuser Steinhaufen glichen und ebenso wie [die] Mauer halb zerfallen waren oder doch tiefe Risse hatten. Ein Tor hätte die Taucher in die Straßen eingelassen, aber Kapitän Hoffmann nahm nicht diesen Weg, der steinerne Bogen hätte ja übrigens die Drähte und Taue der beiden Mädchen zurückgehalten. So setzten sie über die Mauer hinweg und befanden sich zwischen den Häusern, in denen jetzt kein ernstes Männerwort, kein heiteres Mädchenlachen ertönte, in denen nur stumme Fische ein- und ausschwammen, und deren Wände mit Seeschnecken und Muscheln bedeckt waren.

Callagos machte, soweit man dies noch erkennen konnte, den völligen Eindruck einer spanischen Stadt. Die Häuser waren niedrig und platt, mit wenigen oder gar keinen Fenstern an der Außenseite, weil diese nach dem innenliegenden Hofe hinausführten.

Hoffmann ging, von keinem Tau gehemmt, ab und an in ein Haus, kam aber immer sofort wieder heraus, denn es bot sich ihm nichts Interessantes darin, nur Gerippe und metallenes und steinernes Hausgerät, welches der zerstörenden Wirkung des Seewassers trotzen konnte.

Nur einmal winkte er, als er wieder aus einem sehr großen, burgähnlichen Hause trat, daß ihm die anderen hineinfolgen sollten. Die Matrosen machten sich selbst und den Herren die Drähte, den Damen außerdem noch die Taue los, einer hielt diese und die übrigen gingen dem Ingenieur nach.

Sie schritten durch mehrere Gänge, in welchen sie die elektrischen Lampen anwenden mußten, gingen durch verschiedene Gemächer, in denen manchmal Gerippe von Menschen lagen, kamen auch durch einen Hof, wo in einem halb offenen Gebäude wohl gegen fünfzig Pferdegerippe lagen — es war der Pferdestall gewesen — und wurden dann von dem Ingenieur in einen sehr geräumigen Saal geführt.

Die Eintretenden prallten vor dem Anblick, der sich ihnen hier bot, entsetzt zurück.

Um einen mächtigen Tisch, dessen festes Holz das Wasser ebensowenig zu zerstören vermocht hatte, wie es ihn hatte emporheben können, saßen in schweren Lehnsesseln von demselben Holze achtundzwanzig Gerippe in halbliegender Stellung, die knöchernen Arme auf die Lehne gestützt, den Kopf hintenüber gebeugt, als wenn sie im Schlafe vom Tode überrascht worden wären.

Das Merkwürdigste aber war, daß um ihre knöchernen Leiber lederne Gürtel mit Schwertern hingen. Es war fast, als ob die Gerippe die Offiziere dieser Burg gewesen wären, welche bei einer Versammlung vom Tode überrascht wurden.

Noch mehr machte das Aussehen des Saales dies glaubhaft. Die zersprungenen Wände waren mit Schildern und Schwertern dekoriert, Wappen hingen daran, deren Inschriften aber so von Seepflanzen überwuchert waren, daß man sie nicht mehr lesen konnte, die mächtigen Bücherregale waren einst mit Aktenstücken gefüllt, und in den silbernen Pokalen perlte einst der Wein.

Kapitän Hoffmann schrieb auf seine Tafel:

»Die Obersten der spanischen Festung! Haben ihren unvermeidlichen Untergang gesehen, sich bewaffnet und in den Ratssaal gesetzt, den Tod erwartend,« lasen die übrigen auf dem herumgereichten Täfelchen.

Der Ingenieur nahm einigen Gerippen die schönen, mit Edelsteinen gezierten Schwerter und händigte diese, sowie zwei Pokale seinen Leuten zum Tragen ein — er wollte sie seiner Sammlung einverleiben — seinem Beispiele folgten die Herren und die Mädchen, um ein Andenken an Callagos mitzunehmen.

Nach Verlassen des Saales durchwanderten sie noch einige andere Gemächer und kamen zuletzt auch in einen sehr großen Raum, in welchem eiserne Bettstellen standen. Auf diesen und zwischen diesen lagen eine Unmenge von menschlichen Gerippen und dazwischen Waffen umhergestreut. »Das Quartier der spanischen Besatzung des Forts,« schrieb Hoffmann auf die Tafel.

Da viele Gerippe noch auf den eisernen Betten lagen, so war zu vermuten, daß die unglücklichen Bewohner der Stadt von dem alles zerstörenden Erdbeben nachts überrascht worden waren. Nicht der Trommelwirbel, der Donner der Kanonen hatten die Schläfer erweckt, das furchtbare, unterirdische Rollen der entfesselten, vulkanischen Kraft hatte sie aus den Betten stürzen lassen.

Es mußte furchtbar gewesen sein, als die Unglücklichen den Boden unter den Füßen weichen fühlten, und als durch die splitternden Fenster die Fluten hereingestürzt kamen.

Die Eindringlinge in das Reich der Abgeschiedenen durchlief ein Grausen, eiligst verließen sie das Gemach, in dem der Tod so furchtbar gehaust hatte.

Sie traten durch eine zweite Tür aus dem Hause und kamen auf einen freundlichen Platz, dem man sofort ansah, daß er einst der Friedhof der spanischen Besatzung des Forts gewesen war. Aber durch die Erderschütterungen war der Boden geborsten und hatte die Begrabenen ausgeworfen, überall lagen auch hier Gerippe umher oder streckten die knöchernen Glieder teilweise aus dem Erdreich hervor.

Da erblickte Hoffmann einen Steinsarg, der zwar ebenfalls aus seiner Lage geschleudert worden, sonst aber noch ganz unversehrt geblieben war.

Auf dem Deckel war eine Inschrift eingemeißelt, und die Umstehenden lasen die Worte:

»Lagao Bernardo de Lormas G.c.d.P.«

Wieder schrieb Hoffmann, welcher sehr gut über die einstigen Verhältnisse Callagos orientiert sein mußte, auf seiner Tafel und erklärte den Gefährten, wer der Gestorbene gewesen sei.

»Der ehemalige Generalkapitän, der spanische Gouverneur der Philippinen, Lermas, hier begraben.«

Auf den Wink des Deutschen hoben zwei Matrosen den Steinsarg empor und trugen ihn dem Ausgange des Friedhofes zu. Hätten sie dies oben auf der Erde tun sollen, wäre er ihnen zu schwer gewesen, sie hätten ihn nicht einmal aufheben können, aber bekanntlich vermindert sich im Wasser das Gewicht eines Körpers ganz bedeutend und zwar um so viel, als er Wasser verdrängt, und da der Stein sehr dünne Wände besaß, wasserdicht abschloß, also inwendig mit Luft gefüllt war, so konnte er ohne Anstrengung von den zwei Männern davongetragen werden.

Hoffmann führte die Gesellschaft auf einem anderen Wege nach der Stelle zurück, wo sie die Drähte gelassen hatten, aber der Marsch dahin sollte noch mehrere Male unterbrochen werden, und zwar durch drohende Gefahren. Der Ingenieur blieb Plötzlich stehen, drehte sich um, hob die Hand empor zum Zeichen, auf ihn zu achten und ließ sich dann auf den Rücken zu Boden sinken, die elektrische Büchse in Bereitschaft setzend.

Die anderen folgten sofort seinem Beispiel, und bald sahen sie, was jener schon vorher bemerkt hatte.

Über ihnen wurde es dunkel, das Licht fand nicht mehr den Weg zu ihnen herab, denn eine Unzahl großer Fische schwamm vorbei, der Zug wollte gar nicht enden. Die ersten schwammen sehr hoch, die letzten aber tiefer, und die den Zug schließenden so tief, daß man sie deutlich erkennen konnte — es waren riesige Haifische.

Schon waren sie fast vorbei, als der letzte, ein Ungeheuer von fünf Meter Länge, die Gestalten am Boden liegen sah, umkehrte und blitzschnell auf Hoffmann zuschoß.

Die Situation war eine gefährliche, denn der Fisch hatte nicht nötig, sich erst umzuwälzen, er konnte seine Beute sofort fassen, und seine Bewegung war eine so schnelle, daß man ihr kaum folgen konnte.

Aber der Hai erreichte trotz der blitzschnellen Bewegung den am Boden liegenden Ingenieur nicht, ein Strahl, aus vielen Bläschen zusammengesetzt, entquoll dem Laufe seines Gewehres, der Fisch zuckte noch einmal zusammen und sank dann langsam, bewegungslos auf den Grund — die Glaskugel hatte ihn erreicht, war zerplatzt und hatte dieselbe Wirkung hervorgebracht, als wenn der Fisch von einem Blitzstrahl getroffen worden wäre.

Die übrigen Tiere waren nicht mehr zu sehen, der Ingenieur sprang daher auf, ebenso seine Gefährten, und der Marsch wurde fortgesetzt.

Der Weg führte an einem Steinhäuschen vorbei, welches noch sehr gut erhalten war. Es besaß sehr große Türen und Fenster, welche fast die ganzen Wände einnahmen.

Hoffmann war schon vorbeigeschritten, als er noch einen Blick hineinwarf und dann plötzlich hastig zurücksprang, das Messer aus dem Gürtel riß und die beiden Mädchen, zurückdrängte. Er hatte eine furchtbare Gefahr entdeckt, von welcher er verschont geblieben wäre, wenn er weitergegangen wäre, welche aber den Nachfolgenden verderblich werden mußte. Da er aber nun umkehrte, brachte er sein eigenes Leben in Gefahr.

Ein dicker, fleischiger Arm, wohl zwanzig Zentimeter im Durchmesser mit großen warzenähnlichen Saugnäpfen versehen, streckte sich etwa fünf Meter weit durch eins der Fenster heraus, und ehe der Ingenieur ihm entfliehen konnte, war er gepackt worden — das Tier hatte sich an dem Körper des Mannes festgesaugt.

Doch nur für einen Augenblick sahen die vor Schrecken Erstarrten ihren Anführer in dieser Lage, im nächsten fuhr das Messer des Ingenieurs über den Arm und das abgeschnittene Stück sank zu Boden — er war frei.

Keiner der Gefährten war sich darüber unklar, mit was für einem Tiere man es hier zu tun hatte, In dem weitfenstrigen Hause hatte sich ein riesenhafter Polyp festgesetzt und lauerte auf Beute, die er mit den Fangarmen ergriff, an sich zog und fraß.

Der Polyp gehört zu einer eigentümlichen Gattung von Seetieren, er ist, so lange er schwimmt, eigentlich eine formlose Masse, die verschiedene Gestalt annimmt. Er besitzt keine Knochen, sondern besteht nur aus einer Art Gallert. Seine Nahrung verschafft er sich mit Hilfe der Fangarme, von denen die einzelnen Arten von Polypen — es gibt deren sehr viele — eine verschiedene Anzahl besitzen, bei allen aber sind sie vorn mit Saugwarzen versehen, mit denen sie sich an vorüberschwimmende Fische festsaugen, diese an sich heranziehen, mit den Armen umschließen und in dieser Weise auch verzehren, ohne eigentlich ein Freßwerkzeug zu besitzen — die Saugnäpfe sind zugleich Verdauungsorgane.

Obgleich der Polyp ganz weich ist, besitzt er doch eine ungeheure Muskelkraft, es ist durchaus keine Sage, wenn behauptet wird, daß schon Personen von Polypen aus dem Boote gehoben worden sind. Solcher Kopffüßler gibt es eine große Menge; der bekannte Tintenfisch ist ein solcher, aber nur ein kleiner, und daß man größere nicht oft fängt, kommt daher, daß diese Riesen ihrer Gattung nur in größeren Tiefen leben. Dennoch ereignet es sich manchmal, daß ein solcher, besonders nach einem Sturm, aufs Land verschlagen wird, aber dann sofort wieder in sein Element zurückzukehren sucht.

Mau darf überhaupt nicht an der Existenz von Seeungeheuern zweifeln, weil man sie nicht sieht, die großen Tiefen, wie es zum Beispiel eine solche bei China von sechstausend und mehr Metern gibt, beherbergen jedenfalls Tiere, welche kolossal groß gebaut sein müssen, um den Wasserdruck ertragen zu können. Aber es kommt doch manchmal vor, daß ein Menschenauge ein solches Wunder zu schauen bekommt. So strandete vor etwa dreißig Jahren in einer Bucht der Nordsee ein riesenhafter Polyp, welcher die ganze Bucht einnahm, aber nicht lange gehalten werden konnte, weil er sofort starb und in Verwesung überging. An der Küste von Labrador (brit. Nordamerika) fanden Fischer den gegen zehn Meter langen Arm eines solchen Meerungeheuers, und noch jetzt kann man im zoologischen Museum zu Paris ein etwa ein Meter langes Horn sehen, welches im hölzernen Kiel eines Schiffes steckend gefunden wurde. Dieses hatte nachts im freien Fahrwasser plötzlich einen furchtbaren Stoß erhalten, so daß die Besatzung glaubte, es wäre auf einen verborgenen Felsen oder auf ein gesunkenes Wrack gelaufen. Im Dock fand man dann dieses Horn, welches jedenfalls einem bisher unbekannten Tier gehört hatte.

Hat man auch nicht nötig, jedem zu glauben, der eine meilenlange Seeschlange gesehen haben will, eine Tatsache ist es doch, daß es Polypen, Krebse und andere Seetiere von riesenhaften Dimensionen gibt. Nicht nur Seeleute können davon erzählen, selbst wissenschaftliche Bücher führen oft Beispiele an, daß solche Tiere erblickt worden sind, und manche Museen sind im Besitze von Teilen derartiger Ungeheuer.

Kapitän Hoffmann hatte sich also durch einen Messerschnitt von dem saugenden Arme befreit, er drängte die Nachkommenden noch mehr zurück und beriet mit seinen Matrosen in einer nur ihnen bekannten Fingersprache das Weitere. Man hätte zwar einen anderen Weg einschlagen können, aber dieser war der kürzeste, und Hoffmann beschloß demnach, die Gesellschaft an dem Ungetüm vorbeizuführen, obgleich sich jetzt drohend aus allen Türen und Fenstern lange Arme herausreckten, begierig, die seltene Beute zu erfassen.

Die Messer wurden bereit gehalten, und, die beiden Mädchen an der Außenseite schützend, fetzten die Männer sich hintereinander durch die enge Gasse in Bewegung. Der Sarg wurde von zwei Matrosen getragen, der dritte, wie die Engländer sorgten dafür, daß die Leute nicht von den Fangarmen ergriffen wurden.

Wohl gelang es dem Polypen ab und zu, einen der Männer zu packen, aber immer trennte das haarscharfe Messer den Arm vom Rumpfe, und noch ehe der Zug diese Höhle des unheimlichen Raubtieres passiert hatte, gab der Polyp seine Versuche auf, er streckte keine begehrlichen Arme mehr heraus, oder aber, sie waren ihm vielleicht alle abgetrennt wurden.

Diesmal mußte Lord Harrlington an den Ingenieur eine Frage stellen.

»Warum haben wir den Polypen nicht geschossen?« schrieb er auf die Tafel.

»Die Glaskugeln finden keinen Widerstand an dem weichen Körper, sie zerplatzen nicht, sind also wirkungslos,« war die Antwort.

Bald war der Platz erreicht, wo der Taucher mit den Drähten warten sollte, wer aber beschreibt das Entsetzen aller, als sie wohl die Drähte und die beiden Taue noch im Wasser hängen sahen, der Taucher aber verschwunden war.

Hoffmann befestigte sofort die Drähte an seinem Apparat, derselbe funktionierte, der Deutsche bekam auf seine Anfrage Antwort und teilte dieselbe den anderen mit.

Der Taucher hatte sich nicht nach oben begeben, sein letztes Telegramm war gewesen: »Ich muß ...« dann war der elektrische Strom plötzlich unterbrochen worden, der Mann muß durch irgendetwas von den Drähten fortgerissen worden sein, oder er hatte sich selbst davon abgelöst. Letzteres war wahrscheinlicher, denn Hoffmann fand, daß die Schrauben des Drahtes, mit dem der Vermißte verbunden gewesen war, unbeschädigt geblieben waren.

Was aber hatte den Mann veranlaßt, diesen Platz aufzugeben, sich selbst von der Verbindung mit oben zu befreien? War er von einem Tier bedroht worden und hatte er deshalb die Flucht ergriffen?

Da sah Harrlington einen stählernen Gegenstand nicht weit entfernt auf dem Boden liegen, es war die weggeworfene Büchse des Tauchers. Schon wollte der Lord daraufzu eilen und sie aufheben, als Hoffmann, der den Gegenstand seiner Aufmerksamkeit jetzt ebenfalls gesehen hatte, ihn am Arme ergriff und daran hinderte. »Bleiben Sie und die anderen Herren, sowie die Damen hier,« schrieb er auf, »ich und die drei Taucher kommen aber gleich zurück.«

Hoffmann überlegte noch eine kurze Zeit, gab dann seinen drei Leuten einen Wink und schritt der Richtung welche der Vermißte, wie die fortgeworfene Waffe, genommen haben mußte.

Man hatte sich auf einem kleinen Platze befunden, der Weg, den Hoffmann mit seinen Matrosen einschlug, führte direkt in eine Gasse hinein. Diese wollte er durchstreifen, und fand er den Mann nicht, so wollte er erst seine Gefährten an die Oberfläche bringen, sich selbst mit einem neuen Luftkasten versehen und andere Leute mitnehmen, denn man war nun fast drei Stunden unter Wasser, um dann das Suchen abermals und gründlicher vorzunehmen.

Hoffmann hatte die Leistungsfähigkeit des Skaphander auf fünf Stunden angegeben, aber es verhielt sich anders, ein Mann konnte in diesem Taucherkostüm bald die doppelte Zeit aushalten, allerdings in einem Zustande, der wenig beneidenswert war.

Die nach dem Vermißten Suchenden waren vom Glück begünstigt, sie kamen eben zur rechten Zeit, ihren Genossen vom sicheren Tode zu retten. Sie fanden ihn in einer Lage, die ihn unfähig machte, den Ort, nach dem er rasch geflüchtet war, zu verlassen.

Die drei Männer waren noch nicht weit gegangen, als sie plötzlich zwischen zwei eng zusammenstehenden Häusern eine dunkle Masse sich bewegen sahen, um welche etwas wie von unzähligen Bindfäden hin- und herwogte.

Die Matrosen waren sich noch nicht klar, was für ein großes Tier dies sei, aber der Ingenieur erklärte ihnen bald, daß es ein vielarmiger Polyp wäre, der dort wie festgekeilt in der Häuserspalte saß. Das Tier war nicht so groß, auch besaß es nicht so ungeheuer dicke Fangarme wie das vorhin Gesehene, aber statt sieben oder acht, züngelten wohl über hundert davon im Wasser hin und her, blitzschnell schossen sie umher, wurden zurückgezogen und schnellten dann plötzlich vor, daß man ihren Bewegungen kaum folgen konnte.

Etwas anderes aber war es, was die vorsichtig Näherkommenden mit großer Freude erfüllte.

Der Polyp war nicht zufällig hierhergeraten, er hatte sich hierhergelegt, um auf eine Beute zu lauern, die ihm vorher durch schleunige Flucht entgangen war — auf den vermißten Taucher.

Man konnte den Mann durch das Fenster in einer Ecke des Hauses mit dem Messer in der Hand stehen sehen, den Angriff des Polypen erwartend, aber er hatte einen solchen nicht zu fürchten, denn die Fangarme des Tieres konnten ihn nicht erreichen, und der Körper war zu mächtig, um ihn durch das kleine Fenster zu drängen.

Ohne die Dazwischenkunft der Gefährten wäre der Mann verloren gewesen, denn ehe er die Hunderte von Fangarmen abgeschnitten, wäre er längst erdrückt gewesen. Nur durch Flucht hatte er sich retten können, denn der Polyp schwimmt langsam, und daher konnte sich der Mann auch hier verbergen, um sich wenigstens nicht zu weit von dem Platze zu entfernen, wo er erwartet wurde. Aber eine Falle war es, in der er sich befand — er konnte den Zufluchtsort ohne fremde Hilfe nicht wieder verlassen.

Schnell berieten sich die Männer, wie gegen das Ungetüm vorzugehen sei. Das Gewehr konnte nicht gebraucht werden, einige abgesandte Glaskugeln hatten nur den Erfolg, daß das Tier wütend mit den Armen um sich schlug, ohne seinen Standpunkt aufzugeben oder zu verändern.

Schon waren sie sich darüber einig, daß es kein anderes Mittel gäbe, als dem Ungeheuer mit dem bloßen Messer auf den Leib zu rücken und es zum Weichen zu bringen — standen sie sich einander kaltblütig bei, so war dieser Kampf kein so sehr gefährlicher, er mußte schließlich zu ihren Gunsten ausfallen — als das Tier plötzlich selbst einen ähnlichen Entschluß faßte.

Durch den Anblick der vier Männer gereizt oder vielleicht auch die neue Beute jenem vorziehend, ging es selbst auf sie los. Langsam setzte es sich in Bewegung. Es streckte die vorderen Fangarme so weit wie möglich aus, saugte sich am Boden fest, zog sich heran, löste die Arme und streckte sie wieder aus, auf diese Weise sich fortbewegend, etwa so schnell, wie ein Mann gehen kann.

Natürlich ließen die vier Taucher das Tier nicht erst an sich herankommen. Hoffmann deutete dem aus seiner Gefangenschaft befreiten Matrosen an, welchen Weg er einschlagen sollte, und eilte dann selbst mit seinen Gefährten dieser Richtung zu, dicht an dem Ungetüm vorüber, welches vergeblich seine hundert Arme begehrlich nach der entschlüpften Beute ausstreckte und dieser nachzufolgen suchte.

Auf einem Umwege liefen die Männer dem Versammlungsort zu, wer aber beschreibt ihren Schrecken, als sie, ebenso wie das erste Mal, die Drähte verlassen fanden! — Auch die zurückgebliebenen sechs Personen waren verschwunden!

Das erste war, daß Hoffmann nach oben telegraphierte, ob die Leute im Boot eine Nachricht erhalten hätten, und der erste Teil der Depesche enthielt auch eine erfreuliche Mitteilung. Er lautete:

»Die Herren sind oben angelangt.«

Also hatten sie sich aus irgend einem Grunde auf die Weise, wie ihnen Hoffmann angegeben, an die Oberfläche treiben lassen. Wo aber, waren die Mädchen? Was hatte sie veranlaßt, dem Beispiele der Engländer nicht zu folgen? Wo waren sie jetzt? Wahrscheinlich noch unterwegs! Sie trieben noch nach oben, denn sie hatten die leichtesten Apparate, und Hoffmann hatte sich schon Vorwürfe gemacht, ihnen so schwere Sohlen gegeben zu haben, aber dies war nötig gewesen, denn sonst wäre ihnen der Gang auf dem Meeresboden zu beschwerlich geworden. Die Taue und Drähte hingen noch da, also mußten sie sich durch das Füllen der Luftblase nach oben haben treiben lassen.

»Wo sind die Damen?« telegraphierte Hoffmann hinauf.

»Sie sind noch nicht oben,« kam die Antwort zurück.

Nach einigen Minuten fragte der Ingenieur nochmals an, aber der Bescheid lautete ebenso. Entweder ging ihre Aufwärtsfahrt, zu welcher sie etwa zehn Minuten brauchten, sehr langsam von statten, oder sie waren unterwegs stecken geblieben, oder auch, und das war die schlimmste Befürchtung, sie hatten die Fahrt überhaupt noch nicht angetreten und befanden sich noch auf dem Meeresboden.

Hoffmann mußte sich darüber Gewißheit verschaffen.

Er verständigte seine Leute, mit ihm zu kommen, befestigte die Drähte am Apparat, öffnete ein Ventil und sofort strömte aus dem Kasten Luft in zwei Blasen, welche sich zusammengefaltet auf Brust und Rücken eines jeden Tauchers befanden. Kaum fingen sie an, von der Luft geschwellt zu werden, so wurden die Männer emporgehoben, und als die Behälter völlig gefüllt waren, fuhren die Taucher mit der größten Schnelligkeit nach der Oberfläche des Meeres empor.

Sie spähten scharf aus, ob sie die Gestalten der beiden Mädchen sehen konnten, aber sie erblickten dieselben nicht, und doch wären sie ihnen sicher nicht entgangen, wenn sich dieselben noch unterwegs befunden hätten.

Hoffmann erschien zuerst über dem Wasser, es wurde ihm ins Boot geholfen, ebenso den Nachfolgenden. Die vier Engländer waren schon des Kostüms entledigt und harrten mit angstvollen Gesichtern der Kundschaft, welche ihnen der Ingenieur bringen würde.

»Wo haben Sie die Damen verlassen?« fragte Hoffmann, welcher sich nur den Glasballon, nicht aber, wie die anderen schon erschöpften Taucher, den Skaphander hatte abnehmen lassen, den Lord Harrlington. »Unten bei den Drähten,« erwiderte der halbverzweifelte Lord, »wir warteten Ihrer Rückkehr. Als sie aber nach einer halben Stunde noch nicht zurück waren, beschlossen wir, wenigstens die Drähte anzulegen, um uns mit Ihrem Boote verständigen zu können. Eben wollten wir dieselben uns gegenseitig festmachen, als wir plötzlich eine Unzahl riesiger Polypen auf uns zukriechen sahen. Offen gestanden, wir verloren etwas die Fassung, die Kugeln nützten nach Ihrer eigenen Aussage nichts, zum Kampf mit dem Messer waren es zu viele Tiere, und so einigten wir uns, mit Hilfe der Luftblasen schnell an die Oberfläche emporzusteigen. Schon waren die Tiere ganz nahe, wir hatten keine Zeit mehr, die Drähte anzulegen, sondern ließen uns sofort emportreiben.«


Illustration

»Die Damen haben Sie nicht an den Tauen befestigt?« unterbrach ihn der Ingenieur.

»Nein, auch dazu war es zu spät! Doch folgten auch sie unserem Beispiele, ich selbst sah, wie Miß Petersen sowohl, wie Miß Lind, auftrieben, anfangs waren sie dicht neben mir, aber bald, ich weiß nicht, woher es kam, vermehrte sich meine Schnelligkeit, wie auch die der anderen Herren, die beiden Damen blieben zurück.«

»Sie hätten Ihre Fahrschnelligkeit vermindern können,« sagte Kapitän Hoffmann, »wenn Sie etwas Luft ausströmen ließen. Die Apparate der Damen waren leichter, ihre Sohlen aber ebenso schwer, wie die Ihren.«

»Ich wußte nicht genügend damit umzugehen,« gestand Harrlington offen, »auch war ich fest überzeugt, daß die Damen etwas später nachkommen würden.«

»Es ist jetzt unnütz, darüber zu sprechen,« meinte Hoffmann ernst und zog die Uhr — er war der einzige, welcher seine Fassung behalten hatte, die Gesichter der anderen, selbst die seiner Matrosen, drückten Angst und Bestürzung aus — »die Damen sind jetzt gerade vier Stunden und zehn Minuten im Wasser, fünfzig Minuten können sie noch gut atmen.«

»Und dann?« rief Harrlington in heller Verzweiflung. »Kapitän Hoffmann, schnell, geben Sie mir einen anderen Skaphander, wir wollen wieder nach unten gehen und sie suchen.«

»Einige Minuten noch,« wehrte Hoffmann ab, »ein Erstickungstod ist noch nicht zu befürchten. Ich sagte Ihnen zwar, der Apparat enthielte nur für fünf Stunden Luft, aber ich tat dies nur aus Vorsicht. Eine richtige Atmung ist allerdings nur für fünf Stunden möglich, nach dieser Zeit aber springt der Mechanismus um, er arbeitet dann noch für drei Stunden so, daß dem Taucher gerade die zum Leben notwendige Luft zugeführt wird. Ist dies auch nicht gesund, so reicht es doch eben hin, um ihn am Leben zu erhalten. Herr Anders,« wandte er sich an den mit im Boote befindlichen Hilfsingenieur, »rüsten Sie zwei Matrosen,« er nannte ihre Namen, »mit Skaphandern aus und geben Sie mir einen neuen Luftkasten. Ich werde nach den Vermißten suchen, weit können sie nicht sein.«

»Wir gehen mit Ihnen,« riefen Lord Harrlington und die anderen im Boote befindlichen Herren. Das Boot lag nicht weit vom »Blitz« entfernt.

»Sie bleiben!« sagte Hoffmann in einem Tone, welcher keinen Widerspruch zuließ. »Herr Anders, sorgen Sie dafür, daß die auf dem Meeresgrunde befindlichen Gegenstände, darunter ein Steinsarg, emporgehoben werden.«

Einige Minuten später trat der Ingenieur, mit neuem Luftkasten ausgerüstet, nebst zwei anderen Matrosen nochmals die gefährliche Reise an. Niemand sah ihm an, welche Angst sein Herz durchwühlte. Sein Äußeres war völlig ruhig, das Gesicht, die Stirn zeigten keine Falte, und sein Auge blickte so klar wie immer. Alles an ihm war Kraft, Kaltblütigkeit und Überlegung.

Ein schmerzliches Gefühl durchbebte die Engländer, als sie die drei Männer in den Fluten verschwinden sahen; wie gern wären sie gefolgt, aber sie sahen ein, daß ihre Körper, sehr erschöpft und geschwächt, nicht noch einmal drei Stunden unter Wasser hätten aushalten können.

Würden die Retter bald zurückkommen? Allein oder mit den Damen? Vielleicht mit deren .... ? Sie wagten nicht, diesen Gedanken auszudenken.

Das einzige, was ihnen Mut einflößte, war das Verhalten Hoffmanns. Wäre er auch nur unruhig gewesen, hätte auch er Besorgnis gezeigt, so würde sich ihre Angst bald in Verzweiflung verwandelt haben, aber das sichere Benehmen des Ingenieurs flößte ihnen Hoffnung ein. Auch sein Hilfsingenieur, Herr Anders, obgleich selbst etwas aufgeregt, versicherte wieder und wieder, der Kapitän würde die Damen unbedingt wiederbringen, ob tot oder lebendig, das wagte er allerdings nicht auszusprechen, und er führte als Trost verschiedene Beispiele an, wie vermißte Taucher immer wieder gesund und wohlbehalten zurückgebracht worden seien.

Die Herren hörten nur mit halbem Ohre zu; die Uhren in den Händen starrten sie fortwährend auf die Wasserfläche, jeden Augenblick das Erscheinen von drei, nein, von fünf Taucherhelmen erwartend.

Aber Minute verrann auf Minute, sie wurden ihnen zu Stunden, die erste ihnen zur Ewigkeit gewordene Stunde verstrich, und noch kräuselte sich nicht das Wasser.

»Eine Stunde,« stöhnte Lord Harrlington, und seine verzweifelten Blicke begegneten denen der Gefährten.

»Die zweite Stunde ist vorbei,« seufzte Sir Williams sechzig Minuten später, »nur noch eine Stunde, dann ist die Luft zu Ende. Mein Gott, mein Gott!«

Starr richtete Harrlington die Augen auf seine Uhr, aber wie sehr er auch den Blick auf den Zeiger heftete, derselbe ließ sich in seinem Laufe nicht aufhalten.

»Drei Stunden!« schrie Harrlington förmlich auf und ließ sich ächzend auf die Ruderbank fallen.

Der Ingenieur warf einen mitleidigen Blick auf den händeringenden Lord, er ahnte, warum seine Angst um die Mädchen in Verzweiflung ausartete.

»Wir haben noch Hoffnung,« sagte er leise. »Fünfzig Minuten halten die Skaphander noch aus.«

»Geben Sie mir einen Skaphander!« rief Lord Harrlington außer sich. »Schnell, schnell, einen Skaphander! Zum Teufel, Mann, zögern Sie nicht. Einen Skaphander!«

»Sie bekommen ihn nicht,« antwortete der Ingenieur dem sich wie wahnsinnig Gebärdenden fest. »Sie können nichts helfen und würden vielleicht Herrn Hoffmann gar nicht finden. Wer weiß, wo er sich jetzt befindet.«

»Einen Skaphander will ich haben,« schrie aber Harrlington und wollte einen Apparat vom Boden aufheben, um sich ihn anzulegen. »Schnell, ich muß hinunter, koste es, was es wolle, helfen Sie ihn mir anlegen, schnell, schnell!«

»Sie bleiben hier, Lord,« entgegnete Anders mit finster gerunzelter Stirn und trat auf den Apparat, den Harrlington schon halb in die Höhe gehoben hatte, so daß er ihn wieder fallen lassen mußte.

Aber Harrlington war ganz von Sinnen, die Angst um seine Geliebte verdrängte jedes andere Gefühl, mit einem heiseren Wutschrei stürzte er sich auf den Ingenieur, hob ihn wie ein Kind in die Höhe und wollte ihn schon über Bord schleudern, als einige Matrosen ihm in den Arm fielen.

Gleichzeitig ertönte ein heller Jubelruf aus Williams Munde:

»Sie kommen!«

Wie gelähmt fiel Harrlington in dem heftig schwankenden Boote auf eine Bank und sah eben noch einen Taucherhelm über dem Wasser erscheinen.

Ihm folgte ein zweiter, aber noch nicht der Hoffmanns, denn dieser war, als der größte, sofort erkenntlich. Aber nicht lange dauerte es, so teilte sich nochmals das Wasser, und die letzten drei kamen dicht nebeneinander zum Vorschein. Alle waren ohne Drähte, auch die der zuletzt erscheinenden Taucher.

Anders hatte es den Engländern verschwiegen, daß er an dem Apparate wohl erkannt hatte, wie plötzlich der elektrische Strom unterbrochen wurde, daß die Drähte also gelöst worden waren, um nicht neue Angst hervorzurufen.

Die beiden ersten waren schon im Boot, als Hoffmann den beiden Mädchen, welche er hinten am Gürtel gefaßt hatte, ebenfalls hineinhalf. Die Helme wurden ihnen abgeschraubt, zwei bleiche, farblose Gesichter mit geschlossenen Augen blickten den Umstehenden entgegen.

Während sich Hoffmann mit Johanna beschäftigte, bog sich Lord Harrlington dicht über Ellen, so dicht, daß sein Mund ihre kalten Lippen berührte, aber er achtete nicht darauf, er fühlte nur den warmen Atemhauch.

»Sie lebt!« rief er außer sich vor Freuden.

»Auch Miß Lind,« entgegnete Hoffmann.


8. Von Polypen belagert.

Die Engländer waren wirklich nicht schuld daran gewesen, daß die beiden Mädchen auf dem Boden zurückgeblieben waren, hätten sie und ganz besonders Harrlington, geahnt, daß dieselben nicht mitkamen, so wären sie ihnen zur Seite geblieben oder beim Bemerken ihres Fehlens sofort wieder umgekehrt, trotz der fürchterlichen Gefahr, die ihnen unten drohte.

Es war alles so geschehen, wie Harrlington in kurzen Worten dem Ingenieur erzählt hatte.

Nicht lange hatte sich Hoffmann mit seinen drei Matrosen entfernt gehabt, als die bei den Drähten Wartenden durch eine Handbewegung von Williams aufgefordert wurden, nach einer bestimmten Richtung zu blicken.

Zu ihrem Schrecken sahen sie da einige formlose Klumpen, wohl zwei Meter hoch und breit, angekrochen kommen, und, so undeutlich die Gestalten sich im Wasser ausnahmen, an den umhergreifenden Armen erkannte man sie doch sofort als Polypen, welche sich direkt auf sie zu bewegten.

John Davids war der erste, welcher sein Gewehr in Bereitschaft setzte, aber sofort teilte ihm Harrlington mit, daß nach Aussage des Ingenieurs die elektrischen Glaskugeln bei dem weichen Körper der Tiere keine Wirkung erzielten, und alle sahen ein, daß sie sich nur durch schleunige Flucht retten konnten.

Es mochten wohl gegen zehn Ungeheuer sein, welche sich ihnen näherten, also zu viele, um daran denken zu können, ihnen mit dem Messer erfolgreich gegenüberzutreten, aber sie hofften auch nicht, ihnen durch Flucht entgehen zu können, denn das Wasser täuscht in der Entfernung sehr. Alle glaubten, die Tiere kämen bedeutend schneller heran, als es wirklich war. In der Tat waren sie auch schon nahe, und es war die höchste Zeit zu fliehen, wollte man nicht in ihrer Umarmung erdrückt werden.

Unbekannt mit dem Umstande, daß die Polypen sich nicht schnell fortbewegen konnten, waren sofort alle mit Harrlingtons geschriebenem Vorschlage einverstanden, sich durch Benutzung der Luftblasen in die Höhe heben zu lassen. Es war anzunehmen, daß ihnen die Tiere nicht folgten, und war es der Fall, so konnte man sich während der Auffahrt noch immer mit der Waffe wehren.

Es war keine Zeit mehr, die Drahte oder den Mädchen die Taue anzulegen, die Ventile wurden geöffnet, zischend fuhr die Luft aus einem besonderen Teile des Kastens in die Blasen, diese füllten sich, und gleichzeitig wurden alle von der sich ausdehnenden Luft nach der Oberfläche emporgetragen.

Ellen befand sich in der Mitte zwischen Harrlington und Davids, dicht neben ihnen, plötzlich aber merkte sie, wie ihre Fahrt gehemmt wurde. Ihre Nachbarn stiegen höher, sie selbst folgte langsamer, dann war es ihr, als ob sie stillstände, und schließlich merkte sie, daß sie wieder langsam zu Boden sank, erkannte zu ihrem Entsetzen, daß die Blasen immer dünner wurden, weil aus einem ihr unbekannten Grunde die Luft daraus entwich.

Sie schrie laut auf; der Ruf in dem engen Glasballon schmetterte ihr in den Ohren, aber er drang nicht heraus, sie versuchte die Blase noch einmal zu füllen, aber umsonst, es ging nicht. Dieselbe war entweder beschädigt, oder der Mechanismus funktionierte nicht mehr. Sie sank immer tiefer.

Ellen sah, wie die Gestalten der fünf anderen über ihrem Kopfe immer kleiner wurden, sie hatten also ihr Zurückbleiben nicht bemerkt, und Verzweiflung bemächtigte sich ihres Herzens.

Plötzlich aber faßte sie wieder Mut, sie sah, wie wenigstens eine Gestalt sich wieder vergrößerte, also zu ihr herabkam, und zwar sehr schnell, denn die Blasen ihres eigenen Apparates waren noch immer mit etwas Luft angefüllt, aus denen des herabkommenden Tauchers dagegen mußte sie vollständig herausgelassen worden sein.

Bald war der Taucher neben ihr, und Ellen erkannte nicht nur anfangs an dem kleinen Apparat, sondern dann auch durch einen Blick in den Glasballon, daß es niemand anders war, als Johanna, die das Zurückbleiben ihrer Freundin bemerkt hatte und sofort wieder umgekehrt war, um bei ihr zu bleiben.

Kaum fühlten beide den Boden wieder unter den Füßen, so ergriff Johanna Ellen bei der Hand und zog sie so schnell als möglich fort.

Es war ein Glück gewesen, daß zwischen ihrem Aufstieg und der abermaligen Landung einige Zeit verstrichen war, sonst wären sie direkt in die Arme der raubgierigen Polypen geraten, so aber hatten diese, als sie sahen, daß die erwartete Beute sich entfernte, ihren Weg fortgesetzt; und Ellen und Johanna erreichten eine Strecke hinter ihnen den Meeresboden.

Kaum aber erblickten die Tiere die beiden Gestalten, so änderten sie ihre Richtung, als hätten sie überall Köpfe und Augen, und krochen wieder zurück.

Jetzt mußten die Mädchen fliehen; Hand in Hand eilten sie davon, so schnell sie konnten, und nach einigen Minuten schon hatten sie wenigstens den Trost, zu sehen, daß ihnen die Polypen nicht folgen konnten — sie blieben zurück.

Als sie die Tiere aus den Augen verloren hatten, hielten sie in ihrem hüpfenden Laufe ein, näherten sich einander und sahen sich in die erhitzten Gesichter.

Johanna war die erste, welche nach dem Schiefertäfelchen griff und an ihre Freundin die Frage stellte:

»Können Sie sich nicht erheben?«

»Nein,« ließ Ellen den Griffel mit zitternden Händen antworten, »mein Apparat funktioniert nicht mehr.«

Johanna versuchte, ob sie den Fehler an dem Apparate ihrer Freundin entdecken könne, aber umsonst, die Blasen füllten sich nicht zum zweiten Male.

»Steigen Sie wieder empor und sagen Sie es Hoffmann, ich warte hier auf dieser Stelle,« schrieb Ellen auf die Tafel.

Johanna überlegte. Es war wirklich das beste, (?) sich nach den Drähten zurückzubegeben und zu telegraphieren, war mit Gefahr verbunden, vielleicht hielten sich die Polypen noch dort oder in der Nähe auf.

Das Mädchen öffnete das Ventil, welches die Gummiblasen füllte, aber vergebens, auch bei ihr kam keine Luft mehr. Hoffmann hatte ihnen gesagt, daß man durch das Öffnen dieses Ventils die Blasen mit Luft füllen und sich emporheben könne, aber nicht, daß es nur einmal möglich sei, denn mehr Luft war in jenem separaten Teile des Kastens nicht vorhanden. Wohl konnte diese Luft von dem mitgenommenen Luftvorrate ersetzt werden, aber damit waren die Mädchen nicht bekannt.

»Auch mein Apparat funktioniert nicht mehr,« schrieb Johanna, »wir müssen nach den Drähten zurück und um Hilfe telegraphieren.« Ellen sah ein, daß es kein anderes Mittel gäbe.

Wie Johannas Herz, so beschlich auch das ihrige eine Bangigkeit, wenn sie die Uhr ansah, welche anzeigte, daß sie den Apparat bereits vier Stunden benutzt hatte, es war die Zeit, nach welcher sie, dem Rate Hoffmanns gemäß, schon nach der Oberfläche zurückkehren sollten. Noch hatten sie eine Stunde Zeit — was dann?

Ellen schauderte. Sie schlug die Richtung ein, welche nach den Drähten führte, wurde von Johanna aber an der Hand gefaßt und zurückgehalten.

Johanna schüttelte einige Male verneinend den Taucherhelm hin und her und zeigte dann gerade nach der entgegengesetzten Richtung.

Ellen wußte nicht, was ihre Freundin meinte.

»Wollen Sie zu den Drähten zurück?« fragte sie.

»Ja.«

Ellen deutete nach ihrer Richtung, aber wieder schüttelte Johanna energisch den Kopf und zeigte entgegengesetzt. Die beiden Mädchen waren verschiedener Meinung über den Weg, den sie gekommen waren.

»Kommen Sie mit mir, Sie sind im Irrtum,« schrieb Ellen.

»Ich täusche mich nicht,« war die Antwort, »wir kommen dort am Korallenbusch vorbei.«

»Dort steht auch einer!« erwiderte Ellen.

»Aber nicht jener, den wir passierten.«

Noch mehrmals zeigten sie sich die beschriebenen Täfelchen vor, sie konnten sich jedoch über die einzuschlagende Richtung nicht einigen, Ellen behauptete, links, Johanna, rechts abgehen zu müssen.

»So kommen Sie doch,« war das letzte, was Ellen schrieb, und selbst den Schriftzügen konnte man ansehen, wie unwillig sie war. »Einige Schritte werden Sie überzeugen, daß ich recht gehabt habe.«

Johanna antwortete nicht mehr, sie fügte sich dem Eigensinn der Kapitänin, obgleich sie ganz bestimmt wußte, daß diese im Irrtum war. Hoffentlich merkte Ellen bald selbst, daß sie den verkehrten Weg einschlugen.

Beide gingen dahin, wo nach Ellens Meinung die Drähte liegen sollten; die Entfernung, die sie zurücklegten, war nach Johannas Berechnung schon eine größere, als sie vorher durchlaufen hatten, noch aber hielt Ellen in ihrem Marsche nicht inne.

Plötzlich blieb sie stehen, sah sich um und griff dann nach Tafel und Schieferstift.

»Etwas mehr nach links,« war alles, was sie schrieb.

Johanna verschmähte es, eine neue Einwendung zu machen; mit zitterndem Herzen folgte sie der angegebenen Richtung, es wurde ihr immer klarer, daß Ellen sich irrte.

Die Gegend nahm ein anderes Aussehen an. Der Meeresgrund war nicht mehr mit Steinen und Felsbrocken übersät, auch die Erdrisse hörten auf, er wurde ebener als zuvor, und vor ihnen zur rechten Hand tauchte eine grüne Fläche auf, seltsam anzusehen, fast wie ein Wald, nur, daß sein unterster und mittelster Teil ebenso grün wie sein oberer war.

Wieder blieb Ellen stehen, und Johanna erkannte an dem Gesichtsausdruck ihrer Freundin, daß diese jetzt auch zugeben mußte, einen falschen Weg gegangen zu sein.

»Wir haben uns verirrt,« schrieb Ellen langsam, fast zögernd, »ich gestehe meine Schuld!«

»Folgen Sie mir, ich bin noch orientiert,« antwortete Johanna sofort.

Johanna war nicht im Irrtum gewesen, als sie in der von Ellen angegebenen Richtung eine falsche vermutete, doch war Ellens eigensinniges Bestehen auf ihrer Behauptung zu verzeihen, denn der Umkreis, in welchen man sehen konnte, war ein sehr geringer, und wirklich hatte es dort den Eindruck gemacht, als müsse man gehen, wie Ellen wollte.

Doch Johanna wurde nicht so leicht getäuscht, Sie gehörte zu jenen Personen, welche sich nie in einer Richtung irren, welche den einmal betretenen Weg immer wiederfinden, und welche selbst mit verbundenen Augen genau angeben können, wo Nord, Süd, Ost und West liegt. Es ist das ein Instinkt, der manchem angeboren ist, und der sich zum Beispiel bei allen Naturvölkern noch vorfindet.

Beschämt, sich ihres Unrechts bewußt, folgte jetzt Ellen ihrer Freundin. Sie hatte sich in ihrem ganzen Leben in den größten Wäldern und den ausgedehntesten Prärien nicht verirrt, daher war ihr Selbstbewußtsein gekommen, sie gestand sich aber jetzt, daß dies nur auf einer scharfen Beobachtungsgabe beruht habe, welche an Merkzeichen den Weg immer wiederfand. Hier, wo man nur einige Meter weit sehen konnte, war es anders.

Johanna ging nicht denselben Weg zurück, sie wußte ganz genau, wo sich die Drähte befanden, und, um direkt dahin zu gelangen, mußten sie eine Ecke des vor ihnen liegenden Waldes oder Gebüsches durchschneiden.

Erst als sie dicht vor dem grünen Pflanzenwuchs standen, sahen sie, aus was dieser eigentlich bestand. Er war sehr hoch und setzte sich aus einer Art von lang aufgeschossenem Seetang zusammen, welcher an einigen Stellen eine Höhe bis zu vier Metern erreichte und unten ziemlich breit war.

Der Boden dieses unterseeischen Waldes war mit einem weichen, moosartigen Gewächs bedeckt, auf welchem zahlreiche größere und kleinere Schnecken und den Mädchen unbekannte, insektenartige Tiere, wie auch Spinnen, umherkrochen. Der Gang durch den Wald bot keine Schwierigkeiten, die Pflanzen standen weit genug auseinander.

»Wollen wir durch den Wald gehen?« fragte Ellen, als Johanna dem Saume desselben zuschritt. Ein banges Gefühl bemächtigte sich des Mädchens, es scheute sich, diesen unterseeischen Wald zu betreten, in dem ihnen vielleicht neue Gefahren, scheußliche Ungetüme drohen konnten. »Ja,« war die geschriebene Antwort, »keine Zeit mehr, ist der kürzeste Weg.«

Ellen folgte willig dem vorausschreitenden Mädchen, das die schwankenden Pflanzen auseinanderbog und mit mutigem Schritt vorwärtsstrebte, Ihrem instinktiven Gefühle nach mußten sie in wenigen Minuten den gewünschten Platz erreicht haben.

Nur einmal wurde die Wanderung auf eine unliebsame Weise unterbrochen.

Eben war Johanna um einen Felsen von roten Korallen gebogen, als sie plötzlich zurücksprang und Ellen wegdrängte. Im nächsten Augenblicke kam ein riesiger Krebs hinter dem Korallenfelsen hervor, ebenso gestaltet, wie die anderen Seekrebse, aber wohl zwei Meter lang und einen halben Meter hoch. Die Scheren schienen befähigt zu sein, den stärksten Büffelknochen zu zerschneiden, und die hervorquellenden Augen, die auf die Mädchen gerichtet waren, hatten eine unheimliche Größe. Das Tier bewegte sich langsam auf die Mädchen zu, die Scheren auf- und zuklappend, den geschuppten, vielgliedrigen Schwanz hoch emporhaltend.

Weder Johanna, noch Ellen ergriffen die Flucht; diesem langsamen Tiere konnten sie sich noch immer entziehen, aber in beider Köpfe war sofort der Gedanke gewonnen, an diesem Tiere einmal die Wirkung der elektrischen Kugeln zu probieren; an dem harten Panzer mußten dieselben sofort explodieren.

Fast gleichzeitig entquollen beiden Gewehren blasige Strahle; gleichzeitig erreichten auch die Glaskugeln das Schalentier, und ihre Wirkung war eine überraschende. Sie konnten keinen Knall hören, sie sahen keine Stücke auffliegen — der Wasserdruck verhinderte das — aber im nächsten Augenblicke lag das riesige Tier geborsten auf dem Boden, der Panzer war in tausend Splitter zerbrochen.

Sie schritten über den ekligen Kadaver hinweg, und nun dauerte es nicht mehr lange, so hatten sie den Ausgang erreicht, sahen die Drähte und Taue noch immer im Wasser hängen, fuhren aber sofort wieder zurück, und verbargen sich hinter einem Korallenriffe, denn eben da, wo die Drähte waren, wimmelte es förmlich von Polypen. Der Ort, den Hoffmann als Versammlungspunkt bestimmt hatte, mußte der gewöhnliche Aufenthaltsort der Tiere sein, und nur damals, als sie von ihm aus ohne Drähte weitergegangen waren, hatten die Tiere ihn eben einmal verlassen gehabt.

Was war nun zu tun? Es war keine Möglichkeit vorhanden, an die Drähte zu kommen; wie riesige Drachen hielten die Polypen sie belagert. Sollten die Mädchen denn hier für immer von der Oberwelt abgeschnitten sein, auf dem Meeresgrunde zum ewigen Schlafe gebettet werden, ohne vorher noch einmal die freundliche Sonne, die Lebensspenderin der Erde, gesehen zu haben? Ihre Herzen krampften sich bei diesem Gedanken zusammen.

Es war nicht genug, daß sie nicht die Drähte erreichen konnten, einige Polypen mußten sie hinter dem Korallenfelsen hervortreten gesehen haben, denn die Ungeheuer verließen ihren Ruheplatz und krochen und wälzten sich dem Versteck der Mädchen zu.

Also verloren? Ellen warf noch einen Blick nach der im Ballon befindlichen Uhr, noch fünfundvierzig Minuten, dann war die Luft erschöpft, der Erstickungstod trat ein!

Doch jetzt galt es vor allen Dingen, der Umarmung jener weichen und doch so muskulösen Riesenarme zu entgehen, die Mädchen faßten sich wieder an den Händen, um sich ja nicht zu verlieren, und rannten, in den freien Händen die kleinen Gewehre, so schnell wie möglich durch den Wald, welcher sie weit überragte und sie bald den Augen ihrer Verfolger entziehen mußte, wenn diese nicht noch von einem anderen Sinne als dem des Gesichtes geleitet wurden.

Plötzlich schwebte ein dunkler Schatten von oben auf sie herab; sie konnten die Gestalt, welche die Sonne verdunkelte, nicht erkennen, sie schwamm langsam in großen Kreisen um die beiden Mädchen herum. Diese blieben stehen, eine neue Gefahr schien ihnen zu drohen.

Wahrscheinlich war jenes große Tier ein Fisch, vielleicht ein Hai, der die Beute gespürt hatte; aber dann dachten sie wieder daran, daß die Haifische selten allein, vielmehr gewöhnlich in Schwärmen herumstreifen.

Mochte es sein, was es wolle, Johanna entsicherte die Büchse, hob sie und zielte auf das schwimmende Tier. Es war ein Glück, daß sie den Schuß nicht verzögert hatte, denn eben, als die Glaskugel dem Laufe entfuhr, kam der Fisch auf sie zugeschossen.

Sie konnten noch sehen, daß es ein Exemplar jener gewaltigen, äußerst gefährlichen Schwertfische war, dessen spitzes, meterlanges Horn von den Tauchern mehr als der Rachen des Haies gefürchtet wird, dann erreichte ihn die Kugel, und er sank sofort leblos auf den Grund.

Die Mädchen hatten jetzt weder Zeit, noch Verlangen, das getötete Tier und die Wirkung des Schusses zu betrachten, jede Minute war kostbar. Mit flüchtigem Fuße eilten sie weiter, mehr nach rechts abbiegend, um auf einem Umwege abermals den Platz, wo die Drähte sich befanden, zu erreichen.

Die beiden Mädchen kamen an einem gesunkenen Fahrzeug vorüber, einer chinesischen Dschunke, welche, halb vom Sande umhüllt, auf der Seite lag, so daß die Masten den Boden berührten. Das Wrack konnte noch nicht lange die Oberfläche des Wassers mit dem Meeresgrund vertauscht haben, denn die Holzteile des Schiffes waren noch nicht mit Seepflanzen und Muscheln überzogen, sondern zeigten ein ganz frisches Aussehen. Einige Tage konnte es erst hier liegen.

Dieses wurde bestätigt durch die Leiche eines in chinesische Gewänder gehüllten Mannes, der nicht weit von dem Schiffe auf dem Boden lag. Die durch den Zersetzungsprozeß im Inneren der Leiche entstandenen Gase hätten diese schon längst emporgetragen, wenn sie nicht durch ein Gewicht daran verhindert worden wäre. Eine Unzahl von Schnecken und Muscheln saß nämlich auf der Leiche; viele seltsam gestaltete, unbekannte Tiere nagten mit Zähnen, rissen mit Zangen, saugten mit Warzen an dem schon halbverfaulten Fleische, darunter auch zwei jener Riesenkrebse, mit denen Ellen und Johanna schon vorher Bekanntschaft gemacht hatten. Ein anderes Schauspiel veranlaßte beide, trotzdem sie in höchster Lebensgefahr schwebten, doch den Schritt zu hemmen und mit stockendem Atem und starren Augen ihm zuzusehen.

Nicht weit von der Leiche des Chinesen waren zwei Seeungeheuer miteinander in einen Kampf auf Leben und Tod verwickelt. Das eine davon war ein Riesenkrebs, das andere ein Scheusal, welches sie jetzt zum ersten Male sahen, und bei dessen Anblick ihre Haare sich sträubten.

Es war völlig gestaltet wie eine Spinne, aber nur in tausendfach größerem Maßstabe. Der kugelrunde Körper mochte wohl einen Meter im Durchmesser betragen, die Beine, von denen der Körper getragen wurde, waren zwei Meter lang und so stark wie ein Menschenarm, von Muskeln strotzend. Die Augen traten weit aus dem Kopfe. Das Tier war von dem Krebse bei einem Bein gepackt wurden, und die Scheren schienen dasselbe abschneiden zu wollen, so dicht waren sie zusammengequetscht. Aber die Spinne wußte ihre Kraft geschickt anzuwenden, sie hatte den Krebs auf den Rücken gedreht, und, des Schmerzes in dem schon halbzerschnittenen Fuße nicht achtend, alle Beine in die weichen Bauchteile des Krebses gebohrt und versuchte, das Schalentier auseinander zu reißen.

Die Mädchen warteten das Ende dieses Kampfes nicht ab, in möglichst weiter Entfernung zogen sie vorüber, denn vielleicht konnten ja die Tiere voneinander ablassen und einen Angriff auf sie machen, und wer wußte, ob der geschwollene Leib der Riesenspinne der Glaskugel einen genügenden Widerstand bot, um sie zum Zerplatzen und Entladen der Elektrizität zu bringen.

Wieder hatten die Mädchen die Grenze des Waldes erreicht, aber mit einem lautlos verhallenden Schrei des Entsetzens sprang die zuerst heraustretende Ellen wieder zurück, denn ein ungeheurer Polypenarm hatte sich ihr begehrlich entgegengestreckt.

War denn der Wald ganz von diesen Ungeheuern umstellt? Gab es denn keinen Ausweg?

Schon näherte sich ihnen der Polyp, und zu seiner Seite und hinter ihm erblickten die Mädchen noch mehrere; der erste war so nahe, daß sie jeden Augenblick von seinem Arm gepackt werden konnten, in eiliger Flucht ging es rückwärts, da aber kamen noch von anderen Seiten Polypen heran, sie schienen verloren, überall, wohin sie sahen, erblickten sie die ungeheuerlichen Tiere, mit den Fangarmen herumgreifend und sich auf sie zu bewegend.

Vor ihnen lag die gesunkene Dschunke, gleichzeitig entstand in ihnen der Gedanke, daß sie nur dort sich vor den Ungetümen verbergen konnten.

Noch zwanzig Minuten.

War diese Zeit hin, so lieferte der Apparat keine Luft mehr, der Erstickungstod trat ein, aber lieber eine oder zwei Minuten Qual erleiden, als sich von jenen schrecklichen Armen umschlingen, sich ein Glied nach dem anderen abreißen und aussaugen zu lassen!

Sie kamen au der Stelle vorbei, wo vorhin die beiden Tiere gekämpft; sie sahen noch, daß die Spinne den Krebs auseinander gerissen hatte; die Schale, welche dem Gewichte eines Eisenbahnzuges gespottet hätte, war in der Mitte gespalten, und die Spinne, ebenso wie ihre Gattung auf der Erde frisches Fleisch dem toten vorziehend, weidete sich an dem leckeren Mahle,

Instinktiv eilten die Mädchen dem Schiffe zu, nur im Innern desselben Rettung vor den Polypen erhoffend, kletterten das schrägliegende Deck an Tauen hinaus, erreichten die geöffnete Luke und stiegen in das Zwischendeck, in die Kajüte hinein. Leider war kein Lukendeckel vorhanden, er war weggespült worden, sonst hätten sie sich vollständig abschließen können; aber durch das enge Loch konnte kein Polyp herein, und der sich hereinstreckenden Arme wollten sie sich schon erwehren.


Illustration

Sie fühlten in dem dunklen Räume Boden unter den Füßen, setzten gleichzeitig die elektrische Lampe in Brand und — die Kniee wollten ihnen den Dienst versagen, sie wollten fast wieder nach der Luke steigen und sich willig den Polypen als Beute hingeben, ein so entsetzlicher Anblick bot sich ihnen dar.

Der ganze Raum war mit in Verwesung begriffenen Leichen angefüllt, aber das Aussehen derselben war ein zu schreckliches; die Nerven der Mädchen konnten den Anblick nicht ertragen. Sie lagen nicht am Boden, sondern schwebten alle an der Decke, von den im Innern entwickelten Gasen getragen. Alle Glieder der Körper waren bis zur Ungeheuerlichkeit aufgeschwollen.

Das Erschrecklichste aber war, daß unzählige Tiere sich mit den Leichen beschäftigten und um sie stritten, Schnecken, Muscheln, kleine Spinnen, Krebse, Würmer von Meterlänge, plattgedrückte Käfer, so groß wie ein Teller, alles nagte, fraß und saugte und riß an den menschlichen Kadavern, deren Gewänder in Lumpen hin- und herwogten. Große Tiere waren in dem Raume nicht vorhanden, die enge Luke gestattete ihnen keinen Zutritt, aber jener Krebs, der auf die beiden Mädchen zukroch, war noch immer im Besitz von Scheren, welche ihnen gefährlich werden konnten.

Ein Schuß aus Johannas Büchse machte seinem Leben ein Ende, und um den von den Schalen gelösten Körper sammelten sich bald wieder gefräßige Tiere.

Noch waren die Freundinnen erstarrt von diesem grauenhaften Schauspiel, als sich durch die Luke schon ein Arm mit Saugwarzen hereinstreckte und fast schon Johannas Skaphander berührte; aber ein Schnitt von Ellens Messer löste ihn vom Rumpfe, der Stumpf zog sich blitzschnell zurück, und der Arm wand sich in schrecklichen Zuckungen am Boden.

Entsetzt flüchteten die Mädchen in den hintersten Winkel des Raumes, wünschend, daß die zehn Minuten erst vorüber wären, daß sie nicht, noch völlig frisch und lebensfähig, den Eintritt des Todes mit solcher Genauigkeit berechnen könnten.

»Wollen wir uns gegenseitig die Helme abschrauben?« schrieb Ellen auf ihr Täfelchen.

Johanna schüttelte den Kopf, sie war mit dem Selbstmordversuch ihrer Freundin nicht einverstanden.

»Hoffen Sie,« schrieb sie zurück, »unsere Rettung kann in einer Minute geschehen, und vielleicht ist diese nicht mehr fern.«

»Noch neun Minuten!«

»In der neunten Minute ist es noch Zeit.«

»Auch wir werden von den Scheusalen so benagt werden! Lebe wohl, Johanna!«

Das Mädchen antwortete nichts, sie schritt nach der Luke, schoß eine große Spinne, welche ihr den Weg versperren wollte, trat, das Messer in der Hand, dicht an die Öffnung, hakte die Lampe vom Gürtel, stellte sie auf die Kante und entfernte sich soweit, als die Drähte des kleinen Apparates gestatteten.

Ellen verstand, worauf ihre Freundin noch Hoffnung setzte. Vielleicht, daß der intensive Lichtschein der Glühlampe die suchenden Taucher auf ihre Spur brachte, denn daß man mit aller Anstrengung nach ihnen forschte, davon waren beide fest überzeugt. Die Drähte hatten ja noch vorhin im Wasser gehangen, also lag auch das Boot noch immer oben am alten Platze. Die Engländer und ihre Freundinnen würden schon alles aufbieten, keine Mühe, keine Gefahr scheuen, die Vermißten wiederzufinden, und daß Hoffmann nicht eher ruhen würde, als bis er seine Geliebte gefunden habe, davon war Johanna fest überzeugt.

Sie hatte solches Vertrauen zu ihrem Felix, wie er sich so gern von ihr nennen hörte, sie wußte, daß er nicht eher diesen Platz verlassen würde, als bis er seine Johanna entdeckt habe, lebendig oder tot, und jetzt, nur wenige Minuten vor ihrem Tode, schwebte sein Bild, diese hohe, kräftige Gestalt, mit den geistvollen, ernsten und doch so milden Zügen, mit den treublickenden Augen, in denen keine Spur von Falschheit oder Argwohn zu lesen war, ihr vor, und erheiterte noch ihr Herz, erfüllte es noch mit Entzücken.

Von einem solchen Manne beweint zu werden, das war des Sterbens wert.

»Fünf Minuten,« zählte Ellen, nach der Uhr sehend, »vier — drei — zwei — eine —«

Johanna befestigte die Lampe wieder an den Gürtel und ging zu ihrer Freundin zurück.

»Das Deck ist voll von großen Polypen, wir können nicht hinaus,« schrieb sie auf, zeigte das Täfelchen Ellen und streckte ihr die Hand hin zum Lebewohl für immer.

Ellen nahm die Hand nicht an. Mit einem schnellen Griff riß sie das Messer aus der Scheide und wollte es sich in die Brust stoßen, um so durch einen schnellen Tod den Qualen des Erstickens zu entgehen, aber sie kam nicht zur Ausführung der Tat. Johanna umfaßte mit festem Griff das Handgelenk Ellens, diese suchte sich frei zu machen; ein wildes Ringen entstand, als kämpften beide miteinander, und doch kam es der einen nur darauf an, das Messer frei zu bekommen, um es sich selbst ins Herz zu stoßen, der anderen, ihre Freundin daran zu hindern.

Plötzlich ließen beide sich los; das Messer entfiel Ellens Hand — ein seltsames Knarren und Rasseln drang in beider Ohren, welches aus den Schläuchen zu kommen schien, die von den Luftkästen in den Glasballon führten.

Was war das? Gerade fünf Stunden waren sie jetzt unter Wasser, die Luft war verbraucht, der Mechanismus lief ab. Das Geräusch hörte bald wieder auf, das Räderwerk wurde nicht mehr von der zusammengepreßten Luft getrieben, jetzt mußte der Kampf mit dem Erstickungstode beginnen.

Stöhnend sank Ellen zu Boden.

Aber, war es denn möglich, fühlten sie nicht, wie noch immer ein frischer Lufthauch dem Munde zugeführt wurde, zwar nicht mehr so stark, wie zuvor, aber immer noch kräftig genug, um das Atmen zu gestatten. Wirklich, es war so, sie konnten sich nicht darüber täuschen.

»Der Apparat funktioniert noch, Mut, Miß Petersen!« schrieb Johanna auf.

Langsam richtete sich Ellen wieder empor und steckte das Messer in den Gürtel. Neue Hoffnung zog in beider Herzen ein, zwar keine freudige, eine angstvolle, spannende, aber dennoch war ihnen noch die Möglichkeit geboten, durch Verzögerung des Todes Gelegenheit zu finden, sich zu retten.

Entweder war zufällig noch etwas Luft in den Apparaten vorhanden, oder sie waren überhaupt so eingerichtet, daß sie auch noch nach fünf Stunden funktionierten, aber weniger Luft lieferten.

»Der Apparat arbeitet noch,« schrieb Johanna, »liefert weniger Luft, aber sie genügt.«

Wie lange war ihnen das Leben noch vergönnt? Ach, wenn sie doch wenigstens dies gewußt hätten!

Jetzt aber galt es, die Zeit, welche ihnen noch vergönnt war, möglichst auszunutzen.

Beide gingen wieder an die Luke und setzten ihre Lampen auf deren Kante. Johanna kam dann auf den Einfall, sie nicht einfach brennen zu lassen, sondern sie abwechselnd immer schnell aufflammen und wieder verlöschen zu lassen, was der Ausschalthebel am Gürtel gestattete, wodurch eine Art Blinkfeuer entstand. Vielleicht lenkte dieses die Aufmerksamkeit der Suchenden auf das Versteck.

Jedenfalls erzielten sie noch einen anderen Vorteil. So lange die Lampen ruhig gebrannt, hatte sich ab und zu ein Polypenarm durch die Luke gestreckt, und nur durch den Gebrauch der Messer waren sie dem Schicksale entgangen, erfaßt und herausgerissen zu werden. Schon lag der Boden um sie herum voll von scheußlichen, wie Schlangen sich windenden und krümmenden Armen, deren Lebenskraft eine sehr große war. Seit aber die Lichter blitzartig zuckten, wagten die Polypen nicht mehr, sich der Luke zu nähern; sie schienen sich zu fürchten, das Deck der Dschunke verließen sie jedoch nicht. Sie hielten den Eingang förmlich belagert.

Wieder verging eine Stunde, eine zweite, und noch standen die Mädchen an der Luke und ließen ihre Lampen unaufhörlich aufzucken, ohne sich durch Schriftzeichen zu unterhalten, ohne daran zu denken, daß bereits der Hunger sich bemerkbar zu machen begann, ja, ohne fast noch eine Hoffnung zu haben, durch ihre Bemühungen die Retter herbeirufen zu können; mechanisch handhabten sie noch den Hebel.

Die dritte Stunde war angebrochen.

Da fühlte sich Ellen mit einem Male von hinten am Fuße gefaßt und umklammert; entsetzt wandte sie sich um und sah eine große Spinne, nicht so groß wie die erste, aber immer noch groß genug, um ihr gefährlich zu werden. Das Tier hatte den Fuß gepackt und versuchte hineinzubeißen.

Noch ehe Ellen, welche in diesem Augenblicke ihre Lampe gerade nicht brennen hatte, etwas tun konnte, sich von dem langbeinigen Ungetüm zu befreien, wurde es schon von einer Kugel aus Johannas Büchse getroffen. Die Spinne knickte zusammen und fiel mit geborstenem Körper tot zu Boden.

Johanna hatte bemerkt, welche Gefahr ihrer Freundin drohte und kam derselben zu Hilfe; sie merkte aber nicht, daß in demselben Augenblick, da sie das Gewehr losdrückte und den Rücken der Luke zuwendete, sich durch diese ein Arm hineinstreckte und sie von hinten packte.

Im Nu hatte sich derselbe festgesaugt; Johanna konnte nicht mehr nach ihrem Messer greifen, Ellen bemerkte die Situation ihrer Freundin noch gar nicht — mit einem Ruck wurde diese emporgehoben und durch die Luke gezwängt — sie befand sich in der Gewalt des Polypen. Ellen stieß einen furchtbaren Schrei aus, riß das Messer aus dem Gürtel und stürzte an die Luke, gewillt, ohne Rücksicht auf ihr eigenes Leben, der Unglücklichen zu Hilfe zu eilen, damit sie wenigstens mit ihr sterben könne. ^

Sie sah, wie sich die Arme des riesenhaften Polypen um den Körper Johannas schlangen, wie diese ihre Glieder matt unter dem fürchterlichen Druck sinken ließ, wie die anderen Polypen begehrlich ihre Arme ausstreckten, um auch einen Anteil an der Beute zu bekommen, auf die sie so lange gewartet hatten — dann war sie draußen und stürzte mit erhobenem Messer auf das scheußliche Ungetüm zu.

Aber sie erreichte es nicht.

Plötzlich sprang die große Gestalt eines Tauchers im Skaphander zwischen sie und den Polypen, Ellen sah nur undeutlich, wie der Mann in jeder Hand einen kleinen, blanken und runden Gegenstand hielt, an dem Kupferdrähte hingen, wie er auf den Polypen, der Johanna umfaßt hielt, zusprang und ihn ohne weiteres mit den Händen packte.

Ellen wußte nicht, ob dies alles Wirklichkeit oder nur ein Traum sei; aber es war kein Zweifel, das Ungetüm schmolz plötzlich wie durch Zauberei zusammen, es schien sich aufzulösen, die Arme krochen zusammen, und schließlich war der mächtige Polyp nur noch eine zusammengeschrumpfte Masse, als wäre er verbrannt. Dies alles ging jedoch nicht langsam vor sich, sondern plötzlich, fast in einer Sekunde war es geschehen.

Johanna war frei, sie lag, jedenfalls besinnungslos, in den Armen des Tauchers, den Ellen an der großen Gestalt als Hoffmann erkannte.

Dieser Polyp war nicht der einzige, welcher auf diese für Ellen rätselhafte Weise vernichtet wurde; zwei andere Taucher griffen die umherkriechenden Polypen an, welche sich eiligst entfernen wollten, aber ihrem Schicksale nicht entgingen. Furchtlos stürzten sich die Taucher auf die Riesen, die drohenden Arme nicht achtend, umschlangen sie, packten sie, wo sie nur konnten, und fast im nämlichen Moment war der Polyp in eine formlose, schwarze Masse verwandelt.

Jetzt nahmen die Taucher, nachdem sie aus dem Zwischendeck das von der erschreckten Johanna weggeworfene Gewehr geholt hatten, Ellen in ihre Mitte, Hoffmann setzte Johanna wie ein Kind auf seinen Arm, und die drei Männer liefen so schnell, wie es ihre Kostüme erlaubten, den Meeresgrund entlang.

Bald hatten sie die Stelle erreicht, wo vorhin die Drähte und Taue gehangen hatten, die jetzt aber fort waren. Hoffmann machte sich an den Gummiblasen und Kästen der Mädchen zu schaffen, es strömte Luft hinein, sie wurden emporgehoben und strebten der Oberfläche zu, von Hoffmann während der Fahrt hinten am Gürtel gehalten, um ein neues Unglück zu verhüten.

Zehn Minuten später lagen die beiden Geretteten im Boot. Ellen war bei Bewußtsein, sie fühlte sich nur ungemein schwach hätte es doch nur wenige Minuten noch gedauert, so wäre der Luftvorrat völlig erschöpft gewesen, aber die frische Luft, der warme Sonnenschein, gaben ihr bald die Farbe der Gesundheit wieder.

Johanna lag in tiefer Ohnmacht da; der Druck der Arme des Polypen hatte ihr die Besinnung geraubt, aber er war nicht stark genug gewesen, ihr die Knochen zu zerbrechen und sie zu töten; eine Sekunde aber hätte genügt, um dies geschehen zu lassen. Der Retter war im rechten Augenblick eingetroffen.

Hoffmann ließ die beiden Mädchen an Bord der ›Vesta‹ bringen, er zweifelte nicht daran, daß auch Johanna sich bald wieder erholen würde.


9. Der betrogene Zauberkünstler.

»Warum ist mein Vater kein NegritoDie Eingeborenen, die im Innern der Philippinen leben. gewesen? Warum hat meine Wiege nicht auf den Philippinen gestanden?« seufzte Sir Williams in kläglich komischem Tone und streckte seine Glieder in dem weichen Grase, welches den Stamm eines in prachtvoller Blüte stehenden Granatbaumes umwucherte, »Dann brauchte ich mir vom Schneider nicht mehr Maß zum Anzug nehmen zu lassen, brauchte meine Füße nicht mehr in enge Hülsen von Rindleder zu zwingen, Hemd, Strümpfe, Hut, Schlips, sogar die Manschetten wären überflüssig geworden. Ungeniert, wie mich der liebe Gott erschaffen hat, würde ich in der schönen Natur umherwandeln, aus diesem Bache das köstlichste Naß schlürfen, nicht zu vergleichen mit Champagner und Portwein, und soviel ich tränke, am anderen Tage würde ich doch keine Kopfschmerzen haben. Verspürte ich Hunger, so kletterte ich auf einen Baum und pflückte mir die herrlichsten Früchte; wollte ich schlafen, so legte ich mich ins Gras; ich kennte keine Sorgen mehr; ich wüßte gar nicht mehr, was Schulden sind, denn ich hätte nichts, auf das mir jemand etwas borgen würde; ich kennte überhaupt gar kein Geld, denn wo wäre die Tasche, in welche ich die Geldbörse stecken sollte? O, warum bin ich kein Negrito! Sehen Sie dort die nackten Geschöpfe, wie sie so friedlich zusammenhocken und sich gegenseitig die Läuse absuchen, ist das nicht idyllisch? Sie kennen keinen Zank, keinen Neid, wenn der eine einmal ein Tierchen mehr findet als der andere; sie rauchen ihre Manilla-Zigarre, die sie sich gebettelt haben, und spotten über uns dumme Europäer, die wir uns mit selbstgeschaffenen Sorgen das schöne Leben verkümmern, uns selbst Sünde schaffen. Warum wissen diese Eingeborenen nicht, daß es unanständig ist, einer nackten Dame gegenüberzusitzen? Shocking, rufen Sie, meine Ladies, aber es ist so, diese Eingeborenen dort unter den Palmen haben auch ein Sittlichkeitsgesetz, davon bin ich fest überzeugt, aber es erstreckt sich nicht darauf, ob das andere Geschlecht angezogen ist oder nicht. Ist dieses ihr Sittlichkeitsgesetz roher oder feiner, als das unsrige? Darüber läßt sich streiten. Ach, warum bin ich kein Negrito mit brauner Haut, buschigem Haar und dicken Lippen, aber mit sorglosem Herzen!« schloß Williams seine lange, philosophische Betrachtung. »Lieber Hendricks, geben Sie mir die Kognakflasche her, vielleicht, daß dieses feurige Getränk meine Wehmut beseitigt. Bin ich erst Eingeborener und habe mich hier häuslich niedergelassen, so ist es mit den alkoholischen Getränken doch vorbei. Milch, Eier, Wasser und Früchte sollen dann meine einzige Nahrung bilden.«

Lachend hatten ihm die Umsitzenden zugehört.

Alle Engländer des ›Amor‹, die Amerikanerinnen, wie auch Kapitän Hoffmann und Herr Anders lagen hier im Schatten des mächtigen Baumes und genossen die Kühle des herannahenden Abends.

Die Gegend, wo sie sich befanden, lag nicht weit ab von Manila, der Hauptstadt der Philippinen, oder wie die Eingeborenen ihre Heimat nennen, der »Tausendinseln«. Hier war noch ein Stamm der Ureinwohner ansässig, der Negritos, welche immer mehr und mehr verdrängt werden und langsam aussterben, weil sie nicht die Sitten und Gewohnheiten der stärkeren Eindringlinge annehmen wollen. So stirbt jeder Stamm aus, der sich der vordringenden Kultur nicht fügt. Entweder er reibt sich im Kampfe auf, oder es wird ihm nicht die Möglichkeit gelassen, sich fortzupflanzen, weil sein Gebiet immer mehr eingeschränkt wird, und ihm die Mittel zur Erhaltung des Lebens geraubt werden. Auch die Negritos sind ein solches Volk, das in paradiesischer Unschuld dahinlebt. Die äußerst fruchtbare Vegetation der Philippinen liefert ihnen alles, was sie brauchen, Früchte, Beeren und Wurzeln, die Vögel versorgen sie mit Eiern, die Bäche mit Wasser, und ein Baum mit dichten Zweigen dient ihnen beim Schlafen als Schutz gegen Tau, der Rasen als Ruhebett. Das muß schon ein sehr fleißiger Eingeborener sein, der sich dazu aufschwingt, aus Rinde, Bambus und Binsen sich eine Art von Hütte zu bauen; es ist eher ein Schaustück, sein Reichtum, denn durch das Dach würden doch die Tautropfen dringen, und ein starker Wind würde alles über den Haufen werfen.

Möglich vielleicht, daß die Bedürfnislosigkeit der Negritos mit der vulkanischen Beschaffenheit der Insel zusammenhängt. Die Philippinen werden, ebenso wie die ganze Inselreihe bis hinauf nach den Liu-Kiu und Japan sehr oft von kleineren oder größeren Erdbeben heimgesucht, welche die von den Eingeborenen erbauten, primitiven Wohnhäuser völlig vernichten, und die noch tätigen Vulkane drohen täglich, alle auf die Felder verwendete Arbeit innerhalb einer Stunde nutzlos zu machen, was aller paar Jahre vorkommt.Am 3. April 1868 fand zum Beispiel ein furchtbares Erdbeben statt, das ganz Manila in Trümmer legte. 400 Tote und 2000 Verwundete wurden gefunden. Der Schaden belief sich aus acht Millionen Dollar. Gegen 600 Gebäude waren eingestürzt. Dabei aber dauerte die Katastrophe nicht länger als eine halbe Minute!

Dadurch haben die Negritos, die Ureinwohner dieser gefährlichen Gegend, eine Art von Berechtigung, nicht für die Zukunft zu sorgen. Sie leben eben von dem, was ihnen die freigebige Natur bietet, denken nicht an den morgenden Tag, sondern sind zufrieden, wenn sie leben und den hungrigen Magen gefüllt haben.

Die Mitglieder der Gesellschaft kamen in einen Streit über die Frage, über welche schon so mancher sich den Kopf zerbrochen hat, ob ein zivilisiertes Volk, wie zum Beispiel hier die eingedrungenen Spanier, das Recht habe, den eigentlichen Bewohnern Stück für Stück ihres Besitztums wegzunehmen, das sie zur Fristung ihres Lebens nötig haben, selbst wenn dafür bezahlt wird, und daß sie die Vertriebenen auch noch zu der ihnen unbekannten Arbeit zwingen wollen.

Mit einigen Meinungsdifferenzen waren alle darüber einig, daß die Welt der Zivilisation gehört, daß man allerdings das Recht habe, ein Volk, welches den Boden nicht nach Kräften ausnutzen will, entweder dazu zu zwingen, oder, widersetzt es sich, einfach zu verdrängen, aber es wurde auch die ungestüme Art getadelt, wie einige Nationen, besonders die Spanier, dabei vorgegangen sind. Die englischen Herren waren ehrlich genug, zu gestehen, daß selbst ihr eigenes Volk von der Schuld grausamer Handlungsweise gegenüber Naturvölkern nicht freigesprochen werden kann, aber das Hausen der Spanier, zum Beispiel bei der Besitzergreifung Mexikos und der südamerikanischen Staaten, stellt ja alles Ähnliche in den Schatten.

Dann kam das Gespräch auf den Umstand, daß die Negritos äußerst diebisch sind. Der Begriff von Mein und Dein fehlt ihnen vollkommen, sie nehmen alles, was ihnen gefällt, und da dies natürlich in einem Lande, welches von arbeitenden und besitzenden Klassen bewohnt wird, nicht geduldet werden kann, so bemüht man sich einesteils durch Hinsendung von Missionaren, diesen Kindern der Natur klarzumachen, daß Stehlen eine Sünde ist, andererseits zeigt man durch Anwendung von Strafmitteln, daß Stehlen eine unerlaubte Handlung ist.

Alle waren darüber einig, daß die Stehlsucht der Eingeborenen nicht zu entschuldigen sei, möchte man sie bezeichnen, wie man wolle, nur einer nahm für diese Neigung der Negritos mit glühendem Eifer Partei — Marquis Chaushilm.

Dieser Herr fand Geschmack an allem Extremen und Sonderbaren, gefiel sich oft in den merkwürdigsten Behauptungen, und so verteidigte er auch jetzt die nackten Negritos gegen die Beschuldigung, daß ihre Neigung, sich fremde Besitztümer anzueignen, eine Sünde sei, die unnachsichtlich bestraft werden müsse.

So ernst er sich aber dabei auch anstellte, wußten doch alle, daß der Herzog nur ein scherzhaftes Gespräch anzetteln wollte, denn im Inneren war er vollkommen der entgegengesetzten Meinung. Auch er verurteilte diese Sucht zum Stehlen.

»Gehen Sie weg mit Ihren Missionaren,« rief er auf die Rede einer der Damen, daß die Missionare den Negritos auf Grund der Bibel klarzumachen suchten, Stehlen sei nicht erlaubt, »ich weiß recht gut, daß alle diese Schwarzröcke von dem Prinzip ausgehen, Nehmen ist seliger denn Geben. Wie kommen gerade diese Leute dazu, den unschuldigen Schwarzen das Gegenteil eintrichtern zu wollen?«

»Oho,« rief dieselbe Dame, »das ist doch wohl zu viel gesagt. Was Sie von den Dienern der Kirche behaupten, ist eine Beleidigung unserer gesamten religiösen Verhältnisse. Meiner Meinung nach hat die Mission bei rohen, unkultivierten Völkern immer gute Dienste getan; aus faulen Menschen sind fleißige, aus diebischen ehrliche, aus dummen und unwissenden solche geworden, die den Boden und die Schätze ihres Landes auszunutzen verstehen. Es gibt natürlich überall Ausnahmen, so auch unter den Missionaren, aber im allgemeinen muß man doch von ihnen sagen, daß sie in dem Entsagen, in dem Bestreben, gute Sitten und edle Gesinnung auszusäen, Großes geleistet haben. Wie können Sie beweisen, Marquis, daß die Missionare das Gegenteil von dem biblischen Gesetze, ›Geben ist seliger denn Nehmen‹ ausüben?«

»Wie ich das beweisen will?« antwortete Chaushilm. »Das werde ich Ihnen gleich sagen. Der Missionar gibt überhaupt nichts, was ihm selbst gehört, sondern nur fremdes Eigentum fort, er selbst aber nimmt fortwährend. Erstens, in seiner Jugend nimmt er Unterricht in einer Missionsschule, nimmt dann eine Stellung als Missionar an; hat er, eine solche im Auslande gefunden — finden und nehmen ist manchmal kein großer Unterschied — so nimmt er ein Paar Zentner Bibeln mit, nimmt ein Schiff und fährt, nachdem er Abschied genommen hat, nach seiner Station, wo er erst seine Schutzbefohlenen in Augenschein nimmt, von ihren Sitten und Angewohnheiten Kenntnis nimmt, und erst, wenn er soviel genommen hat, gibt er die Bibeln aus, die ihm gar nicht gehören. Wo bleibt da der Grundsatz, ›Geben ist seliger denn Nehmen‹? Ich habe dies nur kurz ausgeführt, aber es mag genügen.«

Alle mußten über den sonderbaren Beweis lachen, Mit dem Marquis Chaushilm seine Zuhörer zu überzeugen suchte.

»Ich halte mich für geschlagen, Ihre Beweisführung war eine glänzende,« lachte die Verteidigerin der Missionare, Miß Thomson. »Nun aber müssen Sie auch beweisen, daß es kein Unrecht ist, wenn die Negritos alles nehmen, was in den Bereich ihrer Finger kommt.«

»Das ist nicht wahr,« rief Chaushilm mit geheuchelter Entrüstung, »die Negritos sind durchaus nicht so diebisch, wie sie immer verschrieen werden. Natürlich, wenn sie Hunger haben, müssen sie denselben stillen; die Eindringlinge, ich will sie Spanier nennen, haben ihnen alles weggenommen, wodurch sie sich früher auf anständige Art genährt hatten. Den Boden, der früher die herrlichsten Früchte trug, haben sie mit stinkigem Tabak bepflanzt, die Erde, in welcher einst die saftigsten Wurzeln steckten, haben sie um- und umgewühlt, um totes, unschmackhaftes Gold und andere Erze zu finden, und so weiter und so weiter. Haben da die Eingeborenen nicht auch das Recht, den Spaniern wieder das zu nehmen, was sie brauchen? Ich für meinen Teil täte es auch so.«

»Die hungernden Schwarzen mögen arbeiten, sie sehen hier überall, daß ein arbeitender Mensch nicht nur sich sättigen, sondern auch nach getaner Arbeit für seine Bequemlichkeit sorgen kann.«

»Arbeiten!« rief Chaushilm verächtlich und streckte behaglich die Glieder ins Gras. »Ich arbeite auch nicht und hungere weder, noch vermisse ich eine Bequemlichkeit. Nein, lassen Sie mir meine schwarzen Brüder in Ruhe. Sie säen nicht, auch ernten sie nicht, und ihr himmlischer Vater ernährt sie doch — diese Wahrheit der Bibel muß auf sie angewendet werden — und sie sind glücklich dabei. Übrigens, was ist denn so Schlimmes dabei, wenn diese unschuldigen Leutchen einmal ein paar Tabaksblätter vom Felde stehlen, aus einem unverschlossenen Schranke ein Brot nehmen oder untersuchen, welche Sorte Arrak der reiche Haziendero in seinem Weinkeller liegen hat — Brot, Tabak und Branntwein, das sind der heutigen Menschheit eben unentbehrliche Bedürfnisgegenstände; wären die Missionare nicht hergekommen, so wären diese auch nicht hier bekannt — und heißen sie einmal eine Ente mitgehen, die sich nicht genügend legitimieren kann, na, deswegen gehen weder die Philippinen unter, noch macht Spanien bankerott.«

»Aber Entenbraten gehört doch nicht zu den unentbehrlichsten Bedürfnissen,« meinte Charles Williams, der behaglich der Manila-Zigarre bläuliche Rauchwölkchen entlockte.

»Wie, auch Sie, Williams?« rief Chaushilm. »Gerade bei Ihnen hoffte ich, Beistand zu finden; für Sie habe ich das Wort ergriffen, denn Sie haben doch die Absicht, Hut, Stiefel, Kleider und so weiter beiseite zu werfen und sich hier als Negrito niederzulassen. Und nun reden Sie gegen mich.«

»Ich muß es mir erst noch einmal überlegen,« entgegnete Williams, »die Sache hat doch einen Haken. Einmal kann ich nicht auf Steinen barfuß gehen, als echter Negrito muß ich dies aber unbedingt, und dann bin ich kein Freund von süßen Früchten. Ich liebe Erdbeeren, Ananas, Pfirsichen und Apfelsinen nur, wenn sie in Bowle schwimmen, daher muß ich mich erst einmal erkundigen, ob die Negritos diesen Fortschritt der Kultur auch schon kennen.«

»Dann würden Sie unter den Negritos eine weiße Schwalbe sein,« lachte Miß Thomson.

»O,« meinte Charles trocken, »bei Vermeidung von Seife würde schon eine Änderung meiner Hautfarbe eintreten.«

»Dort kommt schon einer der Eingeborenen auf uns zu, er will Sie wahrscheinlich als Bruder begrüßen,« sagte ein anderes Mädchen.

Unter einem Orangenbäumchen hatte eine Gruppe von Eingeborenen gelegen, Männer, Weiber und Kinder, die ersteren nackt, bis auf einen winzig kleinen Schurz, ja sogar, um an den Urzustand im Paradies zu erinnern, bis auf ein an einem Bindfaden hängendes Blatt. Die Kinder aber waren selbst ohne dieses Kleidungsstück. Es waren große, wohlgebaute Gestalten, denen man ansah, daß sie zur Arbeit wohl befähigt gewesen wären, aber durch Untätigkeit waren ihre Arme schwach geblieben, sie zeigten Anlagen zur Muskulatur, aber die Muskeln waren nicht ausgebildet; die Männer besaßen die zarten Glieder der Weiber, die ebensowenig arbeiteten wie sie.

Sie waren von den weißen Fremdlingen mit Zigarren beschenkt worden, hockten im Schatten des Baumes und rauchten phlegmatisch, die Weiber und Kinder ebenso, wie die Männer, und beobachteten neugierig die lustige Gesellschaft.

Jetzt näherte sich einer von ihnen der Gruppe unter dem Granatbaume.

»Sehen Sie, er will zu Ihnen, weil er weiß, daß Sie ihn und seinen Stamm so warm verteidigt haben,« meinte Charles, als der Eingeborene langsam, aber ohne Scheu zu verraten, auf Chaushilm zuschritt, »entweder er bedankt sich bei Ihnen für Ihre Verteidigungsrede, oder er bettelt Sie an.«


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Das letztere war natürlich das Richtige. Der Eingeborene blieb vor dem im Grase liegenden Marquis stehen, steckte den Finger in den Mund, saugte daran, stieß die Luft aus den aufgeblasenen Backen und schaute dabei bittend den Daliegenden an.

Chaushilm hatte verstanden, aber er tat, als könne er den Wunsch des Negrito, ihm eine Zigarre zu schenken, nicht begreifen, um zu sehen, was er weiter tun würde. Der Eingeborene war durchaus nicht verschämt im Betteln, im Gegenteil, er gebärdete sich sehr zudringlich. Er kniete neben Chaushilm auf den Boden, strich mehrmals schmeichelnd über dessen Kniee, machte die bittenden Handbewegungen der Kinder, und schließlich, als der Marquis noch immer nicht in die Brusttasche griff, versuchte er sogar, ihm liebkosend die Wange zu tätscheln. Dabei machte er wiederholt die Gebärde des Rauchens.

»Geben Sie ihm nur eine Zigarre,« lachte ein junges Mädchen, »sonst fällt er Ihnen noch um den Hals und küßt Sie ab.«

»Würden Sie dann eifersüchtig werden?« fragte Chaushilm, den Eingeborenen von sich haltend.

»Wenn eine jener schwarzen Damen dort den Herzog um eine Zigarre gebeten hätte,« sagte Charles, »so würde er sich schneller erweichen lassen. Ich habe vorhin gesehen, wie er einer eine ganze Hand voll Zigarren und auch noch Streichhölzer gegeben hat. Das Weib dampft schon seit einer Stunde wie ein Postdampfer mit 30 Knoten Fahrt.«

»Übertreiben Sie nicht,« rief Chaushilm, etwas ärgerlich darüber, daß alle über Williams Worte lachten, »ich gab ihr nur einige zerbrochene Zigarren. Und du, schwarzer Spitzbube,« wandte er sich an den Eingeborenen, »kannst du nicht arbeiten, wenn du rauchen willst? Mußt du gleich alles in die Luft paffen?«

»Herzog, an Ihnen ist ein Advokat verloren gegangen,« meinte Williams unter dem Gelächter der anderen. »Sie machen es ja gerade wie ein Verteidiger, der einen des Diebstahls angeklagten Gauner als den ehrlichsten Menschen schildert, der unter Gottes Sonne existiert und ihm selbst dabei nicht weiter traut, als er ihn sehen kann.«

»Sie haben recht, ich habe unüberlegt gesprochen. Nein, mein lieber Freund,« wandte er sich wieder an den Negrito, der ihm noch immer die Wangen zu streicheln versuchte, »vergib mir meine harten Worte, du sollst auch die größte Zigarre haben, die ich bei mir trage, auf die Qualität kommt es dir doch weniger an.«

Chaushilm hatte schon lange seiner Tasche eine Zigarre entnommen und sie in seiner Hand verborgen gehalten. Des Eingeborenen scharfem Auge war dies nicht entgangen, sonst würde er sich gar nicht so lange bei Chaushilm aufgehalten, sondern seine Bettelei bei einem anderen versucht haben, aber der Engländer wußte dies nicht.

Er wollte sich mit dem Negrito einen Spaß machen. Bei seinen letzten Worten griff er dem Eingeborenen an die Nase, zog daran und brachte dann plötzlich in der geöffneten Hand eine Zigarre zum Vorschein.

»Der Tausend!« rief er. »Deine Nase ist wohl ein Zigarrenetui? Was bettelst du mich denn an, wenn du selbst Zigarren bei dir hast?«

Der Eingeborene verstand diese auf englisch gesprochenen Worte nicht, aber er hatte doch kapiert, daß ihm Chaushilm die Zigarre aus der Nase gezogen.

Er machte ein verblüfftes Gesicht.

»Und hier im Ohr steckt ja noch eine andere,« sagte Chaushilm und brachte aus einem Ohre des Schwarzen wieder eine Zigarre zum Vorschein.

Der Eingeborene machte ein furchtbar dummes Gesicht, sprang auf, griff sich in die Nase und Ohren und suchte darin vergeblich nach anderen Glimmstengeln.

Die Zuschauer brachen in ein unauslöschliches Gelächter aus, als der Mann mit seinen Bemühungen nicht einhielt, bald auf das eine Bein, bald auf das andere sich stellte und auf den Boden stampfte, um die vermeintlich versteckte Zigarre aus den Ohren zu schütteln.

Auf einen Wink Chaushilms war sein Freund Hendricks zu ihm gerutscht.

»Was hast du denn eigentlich alles in deiner Nase, mein Junge?« sagte der Marquis, griff wieder an die Nase des Eingeborenen und brachte eine Schachtel Streichhölzer zum Vorschein. »Eine Apfelsinenniederlage hast du auch darin,« fuhr er fort und zog eine Frucht nach der anderen hervor.

Der Negrito schien das alles nicht begreifen zu können; er zog ein unbegreiflich dummes Gesicht, in dem sich halb Angst, halb Bewunderung vor diesem Zauberer ausdrückte. Dann plötzlich begann er im Kreise herumzutanzen, immer um Chaushilm herum, blieb wieder stehen, griff in Nase und Ohren und begann wieder seine Sprünge, dabei ein lautes Geschrei ausstoßend.

Die anderen Eingeborenen waren, teils durch das Gelächter der Herren und Damen angezogen, teils durch das Geschrei ihres Genossen herbeigerufen, näher herangekommen und umringten ebenfalls den Engländer, der ihnen Zigarren und Früchte aus Nase und Ohren ziehen konnte.

»Marquis Chaushilm,« rief Lord Harrlington, »Sie bekommen Beschäftigung. Zeigen Sie Ihre Kunst noch an einigen anderen, und ich wette, Sie werden von den Negritos zum Proviantmeister erwählt.«

»Öffnen Sie nur Ihre Zigarrentaschen,« ließ sich Williams vernehmen. »Sehen Sie nur, Miß Thomson, wie die Schwarzen alle ihre Nasenlöcher hinhalten, das alte Weib dort stößt sich bald mit den Fingern das Trommelfell durch, so tief greift es ins Ohr hinein.«

»Marquis Chaushilm,« rief Ellen dazwischen, »Sie haben in Batavia bei der Vorstellung Ihre Künste in keiner Weise gezeigt, sind uns also noch Ihr Auftreten schuldig. Nun produzieren Sie sich einmal hier den Eingeborenen gegenüber als Zauberkünstler!«

Ein Bravorufen stimmte dem Vorschlag Ellens bei, Chaushilm mußte als Zauberer auftreten.

Der Marquis besaß wirklich einige Fertigkeit in Taschenspielerkunststückchen, und zwar hatte er sich mit seinem Freunde Hendricks einige Tricks eingeübt, mit denen er bei schlechtem Wetter den Herren oft im Salon die Zeit Vertrieb. Sie wirkten weniger überraschend, denn Chaushilm besaß nicht die nötige Übung, um sie natürlich erscheinen zu lassen, als vielmehr erheiternd, weil er sich bei den ausführenden Kunststückchen immer absichtlich versah, vergriff, sich selbst anführte und dergleichen mehr, worauf Chaushilm und Hendricks sich gegenseitig die Schuld zuschoben und dadurch immer die Lachlust ihrer Freunde erweckten.

Jetzt aber wollte er seine Fertigkeit anwenden, um die unwissenden, abergläubischen Eingeborenen in Staunen zu setzen. Diese merkten sicher nicht so bald den unschuldigen Betrug, der allen seinen Kunststückchen zu Grunde lag.

Es waren die einfachsten Sachen, die Chaushilm vor den Augen der Eingeborenen ausführte, aber er setzte sie in das grenzenloseste Erstaunen. Das erste war, daß er allen wieder Zigarren aus Nase und Ohren zog und ihnen diese gab, da er ihr Eigentum nicht behalten wollte — fügte er wenigstens erklärend zu den Herren und Damen hinzu — was zur Folge hatte, daß wieder ein allgemeines Suchen nach dem köstlichen Kraute begann, das zur Trauer aller aber erfolglos war. Ebenso brachte er noch Kupfer- und Silbermünzen zum Vorschein, ließ aus der Nase eines Eingeborenen einen wahren Regen von Kupferstücken in seine Hand fallen, warf Apfelsinen in die Luft, wo sie spurlos verschwanden, und ließ sie dann in die Tasche eines der Herren wandern, füllte seinen Hut mit Apfelsinen, und als er ihn umstülpte, fiel keine heraus. Er stach sich das Messer in die Hand, aß sein Taschentuch auf, verbrannte es sogar und behauptete dann, ein Wilder säße darauf, was sich auch wirklich als richtig erwies. Kurz und gut, er machte dieselben Sachen, die man von jedem Zauberkünstler auf dem Jahrmarkt oder beim Vogelschießen ausgeführt sehen kann.

Das Erstaunen der Schwarzen wuchs immer mehr und mehr, je übernatürlicher das Verschwinden und Wiedererscheinen der Gegenstände wurde. Aber nicht nur Freude malte sich in ihren Mienen, sie drückten auch Ehrfurcht, ja sogar Scheu aus vor diesem weißen Fremdling, der so mir nichts, dir nichts, überall, wohin er auch greifen mochte, Apfelsinen, Zigarren, Geld und Tücher zum Vorschein brachte und alles auf Kommando verschwinden lassen konnte, auf dessen Geheiß unsichtbare Hände die Sachen wegnahmen und anderswo hinlegten.

Außerdem war es eine gewaltige Ehre für sie, von diesem vornehm gekleideten Weißen so behandelt zu werden, es schmeichelte ihnen ungemein, wenn der Engländer so ungeniert ihren schwarzen Körper berührte, denn von den Spaniern, den Beherrschern der Philippinen, waren sie nur gewohnt, mit Abscheu, schlimmer als Tiere, behandelt zu werden. Scheu senkten sie die schmutzigen Hände auf Chaushilms Geheiß in die Tasche seines eleganten Rockes und brachten dann die vermißten und verzauberten Gegenstände zum Vorschein.

Die Zuschauer amüsierten sich köstlich über die Eingeborenen und über die komische Feierlichkeit, welche Chaushilm an den Tag legte, selbst dem ernsten John Davids wurde ab und zu ein Lächeln abgenötigt. Ebenso wie dieser, war auch Kapitän Hoffmann der einzige, welcher nicht in das laute Lachen mit einstimmte, aber auch er lächelte fortwährend, und zwar sehr heiter, nur schien es, als ob er sich weniger über die Gesichter und das Benehmen der Eingeborenen amüsierte, als vielmehr über den Zauberkünstler selbst und die Zuschauer. Es mußte ihm unangenehm sein, daß er immer lächelte, denn wiederholt fuhr er mit dem Finger über den Mund, als wolle er das Lachen wegwischen, oder hielt sich selbst das Taschentuch vor den Mund.

Chaushilm wollte seine Vorstellung schließen, zuletzt aber noch ein Glanzstück zum Besten geben. Er ließ sich von einem Eingeborenen eine frische Apfelsine vom Baume pflücken, schälte sie langsam ab, und, o Wunder, aus den Schalen flog ein kleiner Vogel zwitschernd hervor und verschwand in den Zweigen des Baumes. Gott weiß, wie Hendricks den Vogel gefangen, jedenfalls aber hatte er ihn in die auf den Rücken gehaltene Hand des Freundes gesteckt.

Die Eingeborenen waren außer sich über diese Wundertat des Marquis, unbedingt, er war ein mächtiger Zauberer, dem man sich nicht mehr auf einen Meter nähern dürfe. Ihre Scheu verwandelte sich aber in Entzücken, als ihnen Chaushilm andeutete, alle die auf einen Haufen aufgestapelte Zigarren, Früchte, Goldstücke und so weiter — von sämtlichen Herren und Damen zusammengesteuert — seien ihr Eigentum.

Eiligst rafften sie die Schätze auf und waren bald im Walde verschwunden, ohne nur ein Wort des Dankes zu sagen.

»Das war einmal billig amüsiert!« rief Chaushilm lachend. »Weiß Gott, solch dankbares Publikum habe ich noch nie versammelt gesehen. Sehen Sie wohl, meine Herrschaften, daß ich recht hatte, als ich dieses Völkchen als ein unschuldiges, heiteres und glückliches bezeichnete! Ich brauche ihnen nur eine Zigarre aus der Nase zu ziehen, so lachen sie im ganzen Gesicht, und schenke ich sie ihnen, so stellen sie sich vor Freude auf den Kopf. Wirklich, so wie heute habe ich mich noch niemals amüsiert, und so billig dazu auch noch nie.«

Es wurde noch einiges über das Erlebte gesprochen, dann beschloß man, nach Manila znrückzukehren, denn die Sonne stand schon tief am Himmel, die Dunkelheit mußte bald eintreten.

Chaushilm knöpfte den Rock auf, um nach der Uhr zu sehen. Plötzlich nahmen seine Züge einen bestürzten Ausdruck an.

»Meine goldene Uhr und Kette,« stammelte er, »sie sind verschwunden.«

Unter den Anwesenden entstand bei diesem Ausruf eine allgemeine Bestürzung, welche sich noch mehrte, als Chaushilm, mit den Händen in den Taschen wühlend, fortfuhr: »Auch meine Geldbörse, mein Notizbuch, mein Messer, meine Haarbürste, alles ist weg!«

Da trat Hoffmann heran und ging auf Chaushilm zu, der noch immer, mit den Händen bald in diese, bald in jene Tasche greifend, dastand.

»Haben Sie die Sachen nicht vorher weggelegt?« fragte Hoffmann.

Ein Kopfschütteln des vor Überraschung Sprachlosen war die einzige Antwort.

»Dann muß ich Ihnen sagen,« fuhr Hoffmann fort, »daß die Negritos Ihnen alles gestohlen haben. Ich muß mir Vorwürfe machen, Ihnen nicht schon eher gesagt zu haben, daß diese Eingeborenen die geschicktesten Diebe auf der ganzen Erde sind, ebenso auch die gewandtesten Taschenspieler. Ich wunderte mich schon immer darüber, daß sie bei den von Ihnen gezeigten Kunststückchen Staunen heuchelten, denn so etwas kann hier das kleinste Kind, aber ich hielt es mehr für einen Ausdruck der Freude über Ihre Vertraulichkeit. Daß sie dieses Staunen aber nur vorgaben, um Ihnen gemütlich alle Wertsachen stehlen zu können, habe ich natürlich nicht ahnen können, sonst würde ich Sie gewarnt haben.«

Ein erschütterndes Lachen unterbrach den Sprecher. Es rührte von Williams her, der sich ins Gras zurückgeworfen hatte und lachte, daß ihm die Tränen über die Backen liefen und der Atem auszugehen drohte.

»Chaushilm — Herzog — das war ein — billiges Amüsement,« brachte er in Zwischenpausen hervor und hielt sich die Magengegend, »diese unschuldigen — harmlosen — glücklichen — Kinder der Natur — köstlich — hahaha — ich kann nicht mehr, ich platze vor Lachen — armer Chaushilm!«

Von diesem ungeheuren Lachen wurden die anderen mit angesteckt, die Situation war auch eine zu komische, und schließlich lachte Chaushilm selbst aus vollem Halse mit.


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»War die Uhr ein Andenken?« fragte eins der Mädchen mitleidig,

»Das nicht,« entgegnete Chaushilm. »aber ich denke noch an die vierzig Pfund Sterling, die ich für sie bezahlt habe.«

»Und die Börse? War viel drin?«

»Ach, das ist Nebensache, mich ärgert es nur so furchtbar, daß mich diese schwarzen Bestien so blamiert haben. Tun sie, als wollen sie vor Staunen auf den Rücken fallen, und dabei, während ich sie aus meinen Taschen Apfelsinen ziehen lasse, heißen sie Uhr, Kette, und alles mitgehen. Es ist rein zum Tollwerden!«

»Gehen Sie schnell den Leuten nach und verlangen Sie die Sachen zurück,« riet Harrlington.

»Leicht gesagt, nachgehen und zurückverlangen,« entgegnete der Marquis, »die Kerle sind spurlos verschwunden, und wo soll man diese dunkelhäutigen Spitzbuben in der Finsternis finden? Schließlich stehlen sie mich noch dazu, ich traue ihnen jetzt alles zu.«

»Selbstverständlich gehen wir mit,« riefen einige Herren und machten sich sofort bereit, die Verfolgung der Diebe aufzunehmen. Während sich die anderen nach dem Flecken zurückbegaben, von wo aus sie mittels Wagen Manila erreichen wollten, eilten diese trotz der bald anbrechenden Dunkelheit in den Orangenwald, und wirklich hatten sie das Glück, ebendieselben Leute, mit denen sie sich vorhin belustigt hatten, wiederzufinden. Dieselben bereiteten sich gerade unter Bäumen und Büschen ihr Nachtlager.

Hannibal, der den Dialekt der Eingeborenen einigermaßen sprach, war ebenfalls mitgenommen worden, und so fand eine Verständigung ohne viel Schwierigkeiten statt. Das Verhör wurde zuerst mit demjenigen vorgenommen, welcher Chaushilm um Zigarren angebettelt hatte, aber bald sahen die Herren die Fruchtlosigkeit ihrer Bemühungen ein.

Was nützten bei diesem Volke alle Vorstellungen, Bitten, Drohungen, Versprechen von Finderlohn und so weiter, sie beteuerten ihre Unschuld, sogar Tränen standen ihnen zur Verfügung. Sie sagten, man solle sie doch untersuchen, und als Sir Williams über die Aufforderung, ihre nackten Körper nach den Gegenständen zu untersuchen, lachen mußte, stimmten sie sofort alle in sein Gelächter ein.

»Weg ist weg,« sagte Chaushilm phlegmatisch. »Lassen Sie die Kerle in Ruhe, die wollen auch einmal ein Vergnügen haben. Hier, mein Junge,« wendete er sich an den ersten Schwarzen, den er im besonderen Verdachte des Diebstahls hatte, »hier hast du noch den Uhrschlüssel dazu, du hast ihn mitzunehmen vergessen. Rechts herum wird aufgezogen, aber hübsch langsam, sonst bricht die Feder.

»Behalte die Uhr als ein teures Andenken von mir, mein Name steht inwendig eingraviert, und wenn du sie einmal versetzen solltest, so fordere getrost zehn Pfund, sie ist es wert.«

»Sie wollen die Uhr ihnen wirklich überlassen?« fragte Harrlington erstaunt.

»Ja, hiermit vermache ich meine Uhr, die Geldbörse mit etwa zehn Pfund Sterling, mein Notizbuch und alles übrige, was mir auf eine mir unerklärliche Weise abhanden gekommen ist, diesen Negritos hier,« entgegnete Chaushilm feierlich. »Habe ich sie erst mit aller Kraft verteidigt; habe ich behauptet, ihr Stehlen sei keine Sünde, weil dieser Begriff in ihrem Lexikon fehlt, so will ich meine Aussage nicht durch meine Handlungsweise Lügen strafen. Überdies,« fuhr er fort, »was bleibt mir denn anderes übrig? Gott weiß, wohin diese Kerle die Sachen versteckt haben, in hohle Baumstämme, vergraben, oder vielleicht gar verschluckt. Eine Nachforschung wäre vergeblich, und sie durch Gewalt zum Geständnis zu bringen, dazu bin ich viel zu sehr Mensch. Ich betrachte auch die Negritos als meine Nächsten.«

»Ich kann es Ihnen nicht verdenken, wenn Sie sich mit den schmutzigen Geschöpfen nicht einlassen wollen,« sagte Sir Hendricks. »Gehen Sie noch heute abend zur spanischen Polizeibehörde in jenem Flecken, wo unsere Pferde stehen, und übergeben Sie der die Geschichte. Passen Sie auf, die Spanier werden Ihnen die Uhr bald wieder verschaffen, ich weiß, wie diese Leute mit solchem Gesindel umspringen.«

»Aber mein Gott,« rief der Marquis, »wie können Sie nur so hartherzig sprechen, Hendricks! Ich versichere Ihnen allen Ernstes, es ist mein Wille, daß dem Eingeborenen die Uhr bleibt. Was soll ich denn wegen eines solchen lappigen Goldgehäuses erst Grausamkeiten heraufbeschwören? Übrigens ist es nicht das erste Mal, das mir die Uhr gestohlen worden ist, und niemals habe ich sie wiederbekommen, mich aber trotzdem nie darüber gekränkt. Ehe sie aber ein englischer Gauner stiehlt, der das Geld dafür mit liederlichen Frauenzimmern durchbringt, gönne ich sie diesem naiven Kinde, das sie doch nur als ein Spielzeug betrachtet. Ich bitte Sie, meine Herren, sprechen Sie nicht mehr darüber, damit diese Geschichte nicht weiter ruchbar wird, ich von törichtem Mitleid verschont bleibe und die Negritos keine weiteren Unannehmlichkeiten haben.«

Kopfschüttelnd gaben die Herren dem Wunsche ihres Freundes nach. Sie kannten schon die seltsame Art des Marquis, aus der Mücke einen Elefanten zu machen, etwas Großes dagegen gleichgültig und von oben herab zu behandeln.

Da er nun einmal gesagt hatte, diese Eingeborenen seien unschuldige, naive Menschen, denen man das Stehlen nicht übelnehmen könne, so wollte er jetzt auch bei dieser Behauptung bleiben und sie durch sein Verhalten bekräftigen, selbst da er der Geschädigte war.

Die Herren machten sich auf den Rückweg und erreichten bald die kleine Ortschaft, von welcher aus sie den Besuch der Ureinwohner unternommen hatten. Sie waren hier teils zu Pferde, teils zu Wagen angekommen und wollten nun nach Manila zurückkehren.

Noch einmal mußte Chaushilm förmlich Spießruten laufen, so wurde er über den Erfolg seiner Nachforschung ausgefragt, besonders von den neugierigen Damen. Aber er fand kein Bedauern, wie er vorhin vermutet, im Gegenteil, an diesem Abende mußte er eine dicke Haut besitzen, um allen Spott und alle Witze ertragen zu können. Dies war um so schlimmer, als sich Chaushilm wirklich durchaus nichts aus dem Verluste machte, und dies war auch der Grund, daß so schonungslos mit ihm verfahren wurde.

Die Gesellschaft hatte sich noch für eine Stunde in dem Garten niedergelassen, welcher sich einer spanischen Weinschänke anschloß, und trank von dem schweren, roten, einheimischen Weine.

In dieser Vorstadt Manilas lag eine kleine Abteilung spanischer Soldaten und ihr Hauptmann, der Capitano, der sich gerade in jener Weinstube befunden, hatte bald Bekanntschaft mit einigen Herren gemacht und das Mißgeschick des Herzogs erfahren.

Der kleine, etwas krummbeinige Spanier mit den feurigen Augen und der Habichtsnase war außer sich.

»Carracho, bei meinem Schwert,« rief er und schlug theatralisch an seinen Degenknopf, »Diese Schufte sollen dafür büßen! Morgen unternehme ich eine Razzia und ruhe nicht eher, als bis alle Negritos dieser Gegend hinter Schloß und Riegel sind.

»Ich habe ihnen die Uhr geschenkt,« sagte Chaushilm ruhig und maß den hitzigen Spanier mit einem kalten Blick. »Haben Sie keinen anderen Grund, gegen die Eingeborenen vorzugehen, so können Sie meine Angelegenheit jedenfalls nicht als solchen gebrauchen.«

»Geschenkt?« lächelte der Spanier ungläubig. »So würden Sie also keine Ansprüche mehr auf die Uhr machen? Sie belieben wohl zu scherzen, mein Herr!«

»Durchaus nicht, selbst wenn sie ein Eingeborener mir jetzt wiederbrächte, würde ich sie nicht wieder annehmen, ebensowenig wie das Geld. Ich habe einen starren Kopf.«

»Geld war auch dabei?« rief der Spanier. »Davon habe ich ja noch gar nichts vernommen. Wieviel war es denn?«

»Eine Kleinigkeit, zehn bis zwölf Pfund Sterling,« antwortete Chaushilm gleichgültig.

Des Spaniers Augen funkelten beim Hören dieser Summe auf, es war etwas mehr, als seine Monatsgage betrug.

»Und Sie machen auf dieses Geld auch keine Ansprüche mehr?« fragte er wieder.

Chaushilm sah ihn groß an.

»Nein,« antwortete er langsam, »aber was veranlaßt Sie, diese Frage, ob ich auf die mir gestohlenen Sachen noch Anspruch mache, immer zu wiederholen? Ich erkläre Ihnen hiermit, daß ich alles den Eingeborenen überlassen habe, und bitte Sie, in dieser Angelegenheit keine weiteren Schritte zu tun; sie ist erledigt.«

Chaushilm machte eine Verbeugung und eine entlassende Handbewegung mit einem so unnachahmlichen Stolz, dem selbst der spanische Offizier nicht gewachsen war, obgleich sonst die Spanier bekanntlich auch in theatralischen Gesten Meister sind.

Aber Chaushilm fühlte sich heute als ein ganz anderer Mensch, es war ihm, als hätte er eine große Tat vollführt, über die ihn alle Welt anstaune, er fühlte sich so glücklich, großmütig und edel — weit erhaben über die kleinlichen Ansichten der anderen Menschen.


10. Ein verkannter Ehrenmann.

Der letzte Tag in Manila war gekommen.

Am Abend, bei eintretender Flut sollten die Anker gelichtet, und die mit ihren großen, eintönigen Häusern so ernst und mit ihrer lieblichen Umgegend so freundlich aussehende Stadt sollte verlassen werden, in der sie einige angenehme und interessante Tage verlebt hatten.

Am letzten Morgen war noch eine Bootspartie nach dem Baysee, von den Spaniern Laguna de Bay genannt, verabredet worden, und diejenigen, welche daran teilnehmen wollten, waren schon früh in Booten aufgebrochen, Damen sowohl, wie Herren, doch nicht alle.

Manila liegt an beiden Seiten des Flusses Pasig, welcher aus dem Baysee, einem mächtigen Südwassersee, entspringt, und die beiden Stadtteile sind durch eine hundertundzehn Meter lange Steinbrücke verbunden, welche sich in zehn gewaltigen Bogen über den Fluß schwingt.Jetzt gibt es auch eine Hängebrücke zwischen Binondo und Manila Dieser ist sehr breit, breit genug, um als geräumiger Hafen dienen zu können.

Beide Stadtteile dienen zum Aufenthalt der Europäer, meist Spanier, und haben daher auch ein solches Aussehen wie die spanischen Städte, das heißt ein ernstes und feierliches. Es stehen darin schöne Paläste, zum Beispiel der des Generalkapitäns, des spanischen Gouverneurs, das Justizgebäude, das Rathaus und andere mehr.

In den vielen Vorstädten wohnen Malayen, Chinesen, Mischlinge der Spanier mit Eingeborenen, aber hauptsächlich die chinesische Rasse ist zahlreich vertreten.

Wie schon gesagt, nicht alle der Damen und Herren hatten an der Bootspartie teilgenommen, so zum Beispiel war zum Bedauern aller Miß Petersen an Bord der ›Vesta‹ zurückgeblieben. Sie hatte in der frühesten Morgenstunde einen Brief aus Louisiana, ihrem Heimatlande erhalten. Beim Lesen desselben hatte sich ihrer eine große Traurigkeit bemächtigt, wie man selten an ihr zu sehen gewohnt war. Ihre Augen nahmen plötzlich einen sinnenden Ausdruck an, den man sonst nie an ihr fand, sie suchte Hope Staunton auf, und es war fast, als ob sie durch einige Andeutungen das junge Mädchen zu bewegen suchte, nicht an der Bootsfahrt teilzunehmen, sondern bei ihr zu bleiben, aber Hope, vor Freude über einen Ausflug auf dem Flusse strahlend, verstand die Anspielungen gar nicht, und so gab Miß Petersen den Versuch auf, die Freundin zurückzuhalten. Hope war ihr Liebling, wie der aller, und Ellen hätte es nicht übers Herz gebracht, die Freude des jungen Mädchens zu stören.

Sie selbst entschuldigte sich damit, zu sehr mit Briefeschreiben und Geschäften auf dem Hafenbureau in Anspruch genommen zu sein, denn zum Verlassen des Hafens war ein Abmelden und das Bezahlen des sogenannten Ankergeldes und so weiter nötig. Die anderen Damen, welche an der Partie nicht mit teilnahmen, gaben einfach auf die von den Herren erfolgte Einladung eine abschlägige Antwort.

Zu diesen zählte auch Johanna.

Ebenso war der ›Amor‹ nicht von allen Herren verlassen worden. Die Zurückgebliebenen beschäftigten sich an Bord teils mit Lesen und Schreiben, teils trafen sie Vorbereitungen zur Reise nach Neu-Seeland oder kauften in Manila die ihnen ausgegangenen Bedürfnisgegenstände ein.

Ellen saß in ihrem Arbeitszimmer und beschäftigte sich mit dem Aufsetzen eines langen Briefes. Sie war in letzter Zeit etwas verstimmt gewesen, selbst im Beisein ihrer Freundinnen, denen gegenüber sie ihre üble Laune möglichst zu verbergen bemüht war, in der Einsamkeit dagegen mußten traurige Gedanken sie quälen, denn sie konnte oft stundenlang auf dem Sofa sitzen, das Gesicht in den Händen vergrabend und tiefe Seufzer ausschickend.

Auch jetzt zeigten ihre Züge große Bekümmernis, aber nicht mit ihrem eigenen Schicksal mußte sie sich beschäftigen, während sie den Brief schrieb, denn oftmals entschlüpfte ihren Lippen ein leiser Ausruf wie — »das arme Mädchen,« — »wie sie mir leid tut,« und einmal sogar der Seufzer: »Die arme Hope, wie sie es aufnehmen wird. Wolle Gott, daß meine Freundin zu schwarz gesehen hat!«

»So,« murmelte sie, als sie den Brief geschlossen und adressiert hatte. »Dies Schreiben soll mir Gewißheit verschaffen, ob an dem Gerüchte etwas Wahres ist oder nicht. Beruht es auf Tatsachen, so wird ihr Bruder auch nicht lange zögern, es mir mitzuteilen. Was ich dann tue, weiß ich noch nicht, es fiele mir so furchtbar schwer, das junge Mädchen, fast noch ein Kind, mit dem schweren Schicksalsschlage bekannt zu machen, der, wenn auch nicht gerade ihr Glück, so doch eine Zeitlang ihren Frohsinn stören könnte. Oder aber,« fuhr sie in ihrem Selbstgespräche fort, »ich verheimliche es ihr überhaupt, wenigstens so lange sie bei mir ist, mit dem Bruder werde ich mich schon darüber verständigen können. Nun, ich werde sehen! Vorbereiten muß ich sie aber auf jeden Fall, damit sie der Schlag nicht gleich zu hart trifft.«

»Miß Petersen,« ließ sich in diesem Augenblick die Stimme der ebenfalls zurückgebliebenen Miß Nikkerson im Gange vernehmen, »am Deck ist eine Eingeborene, ein altes Weib, und gebärdet sich wie wahnsinnig. Bitte, kommen Sie herauf.«

Sofort verließ Ellen ihre Kabine und begab sich an Deck.

Die ›Vesta‹ lag dicht an dem steinernen Hafendamm, von dem aus sie mittels eines Laufbrettes zu betreten war, etwas entfernter von ihr, aber noch in Rufweite, der »Blitz« der ›Amor‹ dagegen war durch ungünstige Verhältnisse ziemlich weit draußen plaziert morden. Der Zugang zu ihm konnte nur im Boot erfolgen.

Über die Laufbrücke der ›Vesta‹ war ein altes Weib, in eine zerfetzte Decke gehüllt, geeilt, hatte sich ohne weiteres den in einem Gespräch befindlichen Mädchen, Miß Nikkerson und Johanna genähert und sie mit einem Wortschwall überschüttet, dabei lebhafte Gestikulationen und ein sehr ängstliches oder vielmehr verzweifeltes Gesicht machend.

Keines der Mädchen verstand die Sprache des Weibes, welches sie als eine Negrita erkannten, von denen sie gestern einige gesehen hatten. Ellen wurde gerufen, aber auch sie wußte sich den Besuch der Frau nicht zu deuten. Dieselbe weinte, jammerte, schrie, kurz, sie gebärdete sich so, daß Miß Nikkerson ganz recht hatte, als sie sagte, daß man es vielleicht mit einer Wahnsinnigen zu tun habe.

»Was will das Weib nur?« meinte Ellen. »Ihr Benehmen sieht doch nicht aus, als ob sie uns anbetteln wollte! Sie muß übrigens weit gelaufen sein, ihre Füße und die Decke sind voller Staub, und in Manila selbst halten sich keine Negritos auf.«

Sie entnahm ihrer Börse ein Geldstück und hielt es der alten Frau hin, aber diese schüttelte unwillig den Kopf, weinte und jammerte noch mehr, und schließlich, als die Mädchen sie nicht verstehen konnten, ließ sie die Decke fallen, und jetzt erst sahen die Umstehenden, daß ihr Rücken mit blutigen Striemen bedeckt war, wie Peitschenhiebe sie reißen. Kaum merkte sie, wie das Aussehen der Mädchen wechselte, so rannte sie auf dem Laufbrett zurück, drehte sich um, winkte, kam dann, als man ihrer Aufforderung, mitzukommen, nicht folgte, wieder zu den Mädchen und suchte sie an den Kleidern mit sich zu ziehen.

»Es ist kein Zweifel.« rief Ellen, der jetzt plötzlich eine Ahnung auftauchte, »die Frau ist geschlagen worden und ruft uns um Beistand an. Sie scheint uns mit fortnehmen zu wollen, vielleicht daß noch mehrere ihrer Gefährten grausam behandelt werden. Warum überkommt sie gerade auf die ›Vesta‹?«

»Es wird eine von jenen Eingeborenen sein, die wir gestern besucht haben,« meinte Johanna. »Sie hat gesehen, daß wir freundlich zu ihnen gewesen sind, und fleht uns nun wegen irgend einer Sache um Beistand an.«

»Daß sie aber unsere Freundlichkeit mit Undank vergolten haben, daran scheint dieses Weib gar nicht zu denken,« warf Miß Nikkerson ein.

»Diese Leute haben kein langes Gedächtnis,« sagte Ellen, »wir wollen uns einen Malayen oder Chinesen an Bord holen, der sowohl die englische, als ihre Sprache spricht, es gibt solche hier. Wenn wir sie oder ihre Gefährten vor einer Grausamkeit schützen können, so werden wir es tun, und kommen wir zu spät, so wollen wir die Schuldigen zur Bestrafung ziehen lassen. Dies Weib ist unbarmherzig geschlagen worden, die frischen Wunden bezeugen es, und gelten die Negritos bei den Spaniern auch weniger als Tiere, für uns sind sie Menschen, und Genugtuung soll ihnen werden.«

Auf die Bitte Ellens hin wollte sich Miß Nikkerson an Land begeben, um einen geeigneten Dolmetscher aufzuspüren, wurde aber von Johanna daran gehindert.

»Wir wollen lieber Kapitän Hoffmann rufen,« meinte sie. »Ich bin überzeugt, daß er das Weib verstehen kann, denn er ist in fremden Dialekten sehr bewandert, und spricht er diese nicht oder nicht genügend, so hat er unter seiner Besatzung sicher einen Matrosen, der von den Philippinen stammt. Sie setzt sich aus allen Nationen der Erde zusammen.«

»Auch Hannibal versteht die Sprache der Negritos,« sagte Miß Petersen, sich jetzt erst daran erinnernd.

»Aber er ist nicht aus dem ›Amor‹, ich habe ihn vorhin mit den Herren fortfahren sehen.«

»So bitten Sie Kapitän Hoffmann um seinen Besuch,« entschied Ellen.

Johanna schritt dem Hinterteil der ›Vesta‹ zu und machte nach dem »Blitz« hinüber, auf welchem Matrosen arbeiteten, Armbewegungen, daß sie den Kapitän zu sprechen wünsche, und als dieser sofort an Deck erschien, bat sie ihn durch Semaphorieren, möglichst bald nach der ›Vesta‹ zu kommen.

Eine Minute später schritt Hoffmann eiligst den Steindamm entlang und wurde von den drei Mädchen noch vor der Laufbrücke empfangen. Das Betreten der ›Vesta‹ war ja nicht erlaubt, sobald nicht zwingende Gründe vorlagen.

Auch jetzt noch ließ das alte Weib in ihren Bemühungen nicht nach, den Damen etwas verständlich zu machen, und nachdem Hoffmann von diesen das Nötigste erfahren hatte, hörte er aufmerksam ihrem jammernden Geschwätz zu.

»Sie spricht die Sprache der Negritos,« sagte Hoffmann, »leider bin ich dieser nicht derart mächtig, um sie vollkommen verstehen zu können, nur so viel höre ich aus ihren wirren Redensarten heraus, daß sie und ihre Gefährten geschlagen worden sind, und vielleicht noch andere, weil sie den von uns geschenkten Fetisch dem Spanier nicht geben wollten. Mir ist nicht klar, was sie mit dem Fetisch, das heißt, mit dem Götzen meint, doch wir werden es sofort erfahren, ich werde meinen Lehrmeister in der Sprache der Eingeborenen rufen, er stammt von den Philippinen.«

Hoffmann wandte sich um und machte nach dem »Bitz« ebenfalls Hand- und Armbewegungen, aber nicht die des Semaphors. Sie konnten von den Damen nicht verstanden werden, er hatte jedenfalls zwischen sich und seinen Leuten ein eigenes Verständigungsmittel erfunden.

Sofort kam von Bord seines Schiffes ein Mann gelaufen, jener Matrose, dessen Bekanntschaft wir schon im Arbeitszimmer des Kapitäns gemacht haben.

Brentano konnte sich mit der Frau geläufig verständigen, er hörte ihrer Auseinandersetzung aufmerksam zu.

»Dieses Weib behauptet,« erklärte er dann, »den Mitgliedern ihres Stammes wäre von Ihnen ein Fetisch geschenkt worden, den ihnen spanische Soldaten mit Gewalt abnehmen wollten, und da sie ihn nicht herausgäben, würden sie geschlagen. Die Frau selbst hat die Peitsche bekommen, weil sie das Versteck des Fetisches nicht angab, aber sie ist entronnen und hierhergelaufen, um Sie zur Hilfe gegen diese Grausamkeit anzurufen.«

»Ein Fetisch?« fragte Ellen verwundert. »Aber halt, jetzt klart es sich in mir auf! Die Frau meint die Uhr, welche dem Marquis Chaushilm von den Negritos gestohlen und ihnen schließlich geschenkt worden ist. Die Diebe haben wohl verstanden, daß er sie nicht will, und rufen nun den Gestohlenen selbst um Hilfe an, damit ihnen das geraubte Gut nicht wieder abgenommen wird. Das ist eigentlich eine große Dreistigkeit, wir wollen sie aber dem kindlichen Gemüte dieses Völkchens zuschreiben,«

»Spanier wollen ihnen die Uhr abnehmen?« fragte Kapitän Hoffmann.

Der Matrose bestätigte es.

»Ich habe noch mehr von dem Weibe erfahren. Sie ist allein von spanischen Soldaten ergriffen worden, als sie sich gerade etwas abseits von ihrem Stamme befand und sollte zum Geständnis gezwungen werden, wo die Uhr und die Geldbörse versteckt lägen. Die Soldaten haben dann die anderen gesehen, die Fliehenden verfolgt, und somit bekam das Weib Gelegenheit, sich aus dem Staube zu machen. Sie ist direkt hierhergerannt, Ihnen dies zu erzählen und Sie um Schutz zu bitten. Sie vermutet, daß die habgierigen Spanier ihre Stammesmitglieder so lange martern und peitschen, bis sie Uhr, Kette und Geld erhalten haben.«

»In jenem Flecken liegen spanische Soldaten,« sagte Ellen, »diese werden die Verfolger sein. Ich bin fest entschlossen, einer solchen gemeinen Handlungsweise entgegenzutreten.«

»Sie können es vielleicht auch nur aus Gerechtigkeit tun, um dem Marquis seine Sachen wiederzugeben und die Eingeborenen für ihren Diebstahl zu bestrafen,« meinte Miß Nikkerson.

Niemand konnte sagen, daß diese Meinung unbegründet sei, nur das Betragen des auf den Philippinen unter der spanischen Herrschaft aufgewachsenen Brentano verneinte dies.

Er lachte kurz und höhnisch auf, und auch Hoffmann sagte, daß man den spanischen Soldaten der Philippinen, angeworbenen Söldlingen, ein solches Ehrgefühl nicht zutrauen dürfe.

»Marquis Chaushilm ist an Bord des ›Amor‹ zurückgeblieben,« sagte Ellen, zu Hoffmann gewandt. »Wollen Sie sich hinbemühen und ihn zur Begleitung auffordern? Es ist nötig, daß er mitkommt, wir bedürfen seiner unbedingt, wenn wir den spanischen Soldaten, diesen Wölfen in Schafskleidern, die sich wahrscheinlich unter dem Mantel des Rechts in den Besitz jener Wertsachen bringen wollen, zu Leibe gehen; und Sie, Miß Nikkerson, bitte ich, sich nach Manila zu begeben und dort einen Wagen zu bestellen, wo wir ihn gestern genommen haben. In fünf Minuten können wir abfahren, die Frau und den Dolmetscher nehmen wir mit, wenn es Herr Hoffmann gestattet.«

Der Ingenieur gab natürlich seine Einwilligung. Er war sogar mit Freuden bereit, die Damen zu begleiten, und ließ sich sofort nach dem ›Amor‹ rudern, während die drei Damen, Ellen, Johanna und Miß Nikkerson sich bereitmachten, die kurze Reise anzutreten.

Hoffmann traf den Marquis an Deck des ›Amor‹, wo er eben von einem malayischen Händler Kokosnüsse kaufte.

»Ach, Kapitän,« rief er dem sich über die Bordwand Schwingenden entgegen, »es ist ja vorzüglich, daß Sie uns auch einmal einen Besuch abstatten! Sehen Sie hier diese Nuß, ist das nicht ein Prachtstück? Sie ist wert, in einem Museum ausgestellt zu werden.«

Dabei deutete er auf eine kolossal große Kokosnuß, welche er soeben von dem Malayen erstanden hatte.

»Sie ist noch grün,« sagte Hoffmann mit einem Blicke auf die Nuß, »sie muß erst etwas liegen, ehe sie völlig schmackhaft ist.«

»Weiß ich, will sie auch gar nicht essen, sondern mir als Andenken aufheben.«

»Wollen Sie sich die Kokosnuß einfassen lassen und an die Uhrkette hängen?« lachte sein Freund Hendricks.

»Verzeihen Sie, meine Herren, wenn ich Sie unterbreche,« begann Hoffmann, »aber die Uhrkette bringt mich auf das, was mich zu Ihnen geführt hat.«

Er erzählte schnell alles, was er von der Negrita fahren hatte, und Chaushilm, wie Hendricks waren sofort entschlossen, die Damen und Hoffmann zu begleiten.

Der Marquis war vor Zorn außer sich.

»Diese Schufte,« rief er einmal über das andere, »wollen die armen Kerle bestehlen. Aber ich werde ihnen zeigen, was es heißt, jemandem etwas wegzunehmen, was ihm von Marquis Chaushilm geschenkt worden ist, ich ziehe ihnen bei lebendigem Leibe die Haut ab.«

Plötzlich schlug er sich vor die Stirn.

»Halt,« rief er, »jetzt weiß ich, wer diese Spitzbübereien angezettelt hat. Dieser krummbeinige, spanische Kapitän ist es gewesen, oder ich will mich hängen lassen. Der Kerl fragte mich so genau aus, ob ich jenen die Uhr wirklich geschenkt habe, ob sie aus Gold, wieviel sie wert und wieviel in der Börse gewesen sei. Hole der Teufel den Halunken, ich massakriere ihn! Hendricks, sind Sie fertig?«

»Ich brauche nur meine Sporen anzuschnallen.«

»Wollen Sie reiten?« fragte Hoffmann.

»Ich fahre nie, solange ich einen Gaul bekommen kann,« war die stolze Antwort, »und wenn er auch nur drei Beine hat.«

»Stimmt!« rief Chaushilm und nahm seine riesige Kokosnuß in beide Arme, um sie in seine Kabine zu tragen. »Ohne Pferd kein Mann, ich reite auch. Wollen Sie fahren, Mister Hoffmann?«

»Dann schließe ich mich Ihnen an,« meinte dieser; »den einzigen Wagen, den wir mitnehmen, bekommen die drei Damen und das Weib.«

Die im Hofe des Pferdeverleihers stehenden Eingeborenen und Spanier staunten nicht wenig, als die Gesellschaft in Begleitung der halbnackten Frau ankam, welche als Negrita eigentlich die Stadt gar nicht betreten durfte. Aber noch mehr wunderten sie sich, daß die vornehmen Damen die Eingeborene sogar zu sich in den gemieteten Wagen setzen ließen.

Hoffmann, Chaushilm, Hendricks und auch John Davids, welcher sich ihnen unterwegs noch angeschlossen hatte, bestiegen Pferde, ebenso der mitgenommene Brentano, und bald galoppierten sie neben dem schnell fahrenden Wagen wieder der Gegend zu, in welcher sie am vergangenen Abend das Zusammentreffen mit den Negritos gehabt hatten.

Unterwegs verständigten sie sich, wie sie sich den spanischen Soldaten gegenüber verhalten sollten, und alle waren damit einverstanden, selbst der ruhige, besonnene Ingenieur und der ernste Davids, mit der größten Energie aufzutreten und sich nicht das geringste gefallen zu lassen, sollte man auch nur vermuten, daß die Spanier auf eigene Faust handelten. Doch wurde ganz besonders Chaushilm gebeten, sich nicht zu voreiligen Handlungen hinreißen zu lassen.

Das Weib bezeichnete die Richtung, welche die vor den Spaniern geflohenen Negritos genommen hatten. Diese führte in einen Orangenwald, denselben, an welchem sie gestern gelagert, und da der Wagen durch diesen nicht fahren konnte, so mußten die Damen aussteigen und zu Fuß weitergehen.

Die Herren saßen natürlich ebenfalls ab und ließen die Pferde unter der Obhut des Kutschers zurück.

Der Eingeborenen war es leicht, die Spuren zu verfolgen, welche ihre Stammesbrüder, wie die Spanier, zurückgelassen hatten. Man hoffte nur, noch rechtzeitig einzutreffen, um die Spanier an Grausamkeiten gegen die Eingeborenen zu verhindern.

»Solche lappige Dinger,« brummte Chaushilm ärgerlich, während sich die Gesellschaft durch die Büsche wand, »sie sind gar nicht wert, daß man hier durch Büsche und Sträucher kriecht, aber diesen habgierigen Spaniern ist es zuzutrauen, daß sie ihretwegen die Eingeborenen an den Füßen aufhängen, bis ihnen Blut aus und Nase fließt. Wie haben sie es denn in und Peru gemacht!« Was war das? Klang da nicht ein schreckliches Wehgeheul aus weiter Ferne durch den Wald?

Mit beflügelten Schritten eilten sie vorwärts; ihre Vermutung bestätigte sich also. Die Eingeborenen waren von den spanischen Soldaten gefangen worden, und sollten durch Anwendung von Gewalt, vielleicht sogar durch allerlei Martern zum Geständnis gezwungen werden.

Plötzlich teilten sich vor den Vorwärtsstrebenden die Büsche, und ein in die Uniform der spanischen Offiziere gekleideter Mann trat heraus.

»Siehe da, Capitano,« rief Chaushilm, der den krummbeinigen Spanier, der ihn gestern abend so merkwürdig ausgefragt, erkannt hatte, »siehe da, habe ich mir doch gedacht, daß wir uns hier treffen würden!«

Der Spanier war beim Anblick der Gesellschaft, welche er wohl kannte, erschrocken zusammengefahren, umsomehr, als er das eingeborene Weib dabei erblickte. Er wußte sehr Wohl oder ahnte wenigstens, was sie hierhergeführt hatte.

Doch schnell hatte er sich wieder gesammelt.

»Ah, freue mich sehr, Sie wiederzusehen,« sagte er in schlechtem Englisch, »doch verzeihen Sie mir meine Bündigkeit, ich befinde mich im Dienst und habe meine Leute zu exerzieren. Würde mich sehr freuen, wenn ich Sie zu Mittag in der Weinstube treffen könnte.«

Ein spanisches Kommando erscholl aus seinem Munde, von allen Seiten tauchten Soldaten auf, sammelten sich hinter ihrem Anführer und schwenkten auf Befehl zur Seite ab, in Reihen geordnet, so gut, als es die Bäume erlaubten, und noch mehr, soviel dies bei der lockeren Disziplin der Soldaten möglich war.

»Im Dienst!« ließ sich aber Chaushilm mit höhnischer Stimme vernehmen und trat dem Spanier direkt in den Weg. »Darf ich Sie fragen, ob dieser Ihnen aufträgt, den Eingeborenen die von mir geschenkten Sachen abzunehmen?«

Die Freunde des Herzogs erschraken über die Ausdrucksweise desselben; er sagte dem Spanier etwas, was dieser als Beleidigung auffassen mußte.

Dessen gelbbraunes Gesicht hatte plötzlich alle Farbe verloren, bleich wie der Tod starrte er den kühnen Sprecher an, mit Augen, von denen man nicht wußte, ob der Schrecken oder die Wut ihnen einen solch fürchterlichen Ausdruck gaben.

Sein Kommando rief die etwa zwanzig sich schon entfernenden Soldaten zurück; es war ihm nicht entgangen, daß einer von der Gesellschaft nach einem leisen Gespräch mit einem Herrn weiter in den Wald vorgedrungen war — es war Brentano gewesen.

»Herr,« brauste plötzlich der Spanier mit vor Wut erstickter Stimme auf, »wie soll ich Sie verstehen? Beim heiligen Sebastian, antworten Sie mir, oder Sie sollen Juarez kennen lernen!«

Die Herren wie die Damen waren zu ihrem Freunde geeilt und umstanden ihn schützend, doch Chaushilm ließ sich durch den drohenden Ton der Stimme nicht einschüchtern.

»Dieses Weib da,« er deutete auf die Eingeborene, »hat erzählt, daß Sie es durch Peitschenhiebe haben zwingen wollen, auszusagen, wer von den Eingeborenen im Besitze meiner Uhr, meiner Börse und so weiter sei. Habe ich Ihnen nicht gestern selbst ausdrücklich auf Ihre zweimalige Frage gesagt, daß ich den Leuten alles geschenkt habe?«

In diesem Augenblicke kam Brentano zurück und mit ihm noch einige Eingeborene, denen er freundlich zusprach. Sie alle zeigten mehr oder weniger Spuren von Mißhandlungen, Hiebe, Beulen, sogar Stiche. Einem derselben war der Rücken von Schlägen mit einem peitschenartigen Gegenstand ganz zerfleischt worden.

Daß der Spanier durch die direkte Anschuldigung Chaushilms nicht eingeschüchtert werden würde, darüber waren unsere Freunde sich schon vorher klar gewesen, schon unterwegs hatten sie davon gesprochen, auf welche Weise sich der Spanier, welchen man bei einer Erpressung ertappte, herausreden würde.

Stolz hatte sich der Spanier emporgerichtet,

»Ich halte es nicht für nötig, Ihnen über das, was ich getan habe, Rechenschaft zu geben,« sagte er, seinen Schrecken, den er erst durch Zorn zu verdecken suchte, jetzt durch einen angenommenen verächtlichen Ton bemäntelnd, »ich handle nach meinen Befehlen. Aber da es ein Mißverständnis zu sein scheint, welches Sie auf diese Weise mir in den Weg treten läßt, so teile ich Ihnen den Grund meines Vorgehens gegen die Eingeborenen mit. Ich habe von höherem Orte, wo Ihre Beraubung bekannt geworden ist, den Auftrag, den Dieben die Wertsachen wieder abzunehmen und auszuliefern. Wahrscheinlich würden Sie noch heute Ihre gestohlenen Sachen zurückerhalten haben. Dies zum Beweis.«

Ruhig griff der Spanier in die Brusttasche seiner Uniform und brachte Uhr, Kette und Börse Chaushilms zum Vorschein, sie ihm hinhaltend, aber nicht ausliefernd.

Wie schon gesagt, konnte Chaushilm durch diese Aussage des Spaniers nicht mehr verwirrt werden, dieser Fall war schon vorher als wahrscheinlich vorausgesetzt worden. Doch wußte der Marquis nicht sogleich, wie er dem Kapitän antworten sollte, ohne einfach zu neuen Beleidigungen überzugehen. Allen war klar, daß der Spanier sich selbst in den Besitz der wertvollen Gegenstände setzen wollte; die ihn begleitenden Soldaten bestach er durch eine Kleinigkeit, zu schweigen, oder hatte dies nicht einmal nötig. Schwiegen sie nicht für ein paar Flaschen Wein, so wußte ihr Kapitän jedenfalls andere Mittel, man kannte ja die Wirtschaft, welche unter dem spanischen Militär herrschte.

Daß der Kapitän, ein Offizier, einer ehrlosen Handlung fähig war, bezweifelte niemand, denn aus seinem dünkelhaften, aufgeblasenen Benehmen, seinem äußerst gemein klingenden Englisch, ja selbst aus dem Spanisch, welches er sprach — einige der Gesellschaft, wie zum Beispiel Hoffmann und Davids beherrschten diese Sprache vollkommen — hörten sie heraus, daß er nichts weiter war, als ein gewöhnlicher Soldat, ein Abenteurer, der sich zum Offiziersrange aufgeschwungen hatte. Dazu gehörte hierzulande nicht viel, ein schneidiges, oder besser gesagt, freches Auftreten, etwas Dienstkenntnis und die Hauptsache, einige Geldmittel.

Daß der Spanier jetzt also dem Marquis Uhr, Kette und Börse hinhielt, machte auf die Gesellschaft nicht den geringsten Eindruck, sie hatten Ähnliches erwartet.

Hoffmann hatte mit dem unterdes zurückgekehrten Brentano leise geflüstert. Jetzt trat er auf den Spanier zu, der mit prahlerischem Stolz die hohe Gestalt musterte, sich vollkommen seiner Unnahbarkeit bewußt.

»Kapitän,« begann Hoffmann mit ruhiger, ernster Stimme, »Sie sagen, Sie hätten den Eingeborenen die Wertsachen auf höheren Befehl abgenommen. Darf ich Sie fragen, wer diesen erließ?«

Der Spanier blieb lange Zeit eine Antwort schuldig, dann aber suchte er die Verlegenheit, die sich seiner bemächtigte, wieder durch einen mächtigen Zorn aus verletztem Ehrgefühl zu bemänteln.

»Das geht Sie nichts an!« brauste er auf. »Beim heiligen Sebastian, meinem Schutzpatron, wer sind Sie eigentlich, daß Sie solche Fragen zu stellen wagen?«

»Wir sind diejenigen, welche Sie daran hindern wollen, den Negritos die von uns geschenkten Sachen durch niederträchtige Gewalt zu rauben?« klang es kalt aus dem Munde des Ingenieurs.

Wieder verfärbte sich der Spanier, seine Augen glühten unheimlich auf, und die zitternde Rechte legte sich an den Griff des Degens.

»Was sagen Sie da?« stammelte er. »Wissen Sie, daß ich das Recht hätte, ja, daß meine Ehre als Offizier es erfordert, Sie wie einen Hund über den Haufen zu stechen?« »Was ich sage?« entgegnete Hoffmann. »Ich behaupte nochmals, daß Sie den Eingeborenen die von diesem Herrn geschenkten Sachen weggenommen haben, durch Anwendung von Gewalt. Sie haben die Leute sogar peitschen lassen und haben selbst mit geschlagen.«

»Ich habe es getan, weil ich es mußte; Rechenschaft habe ich Ihnen darüber nicht abzugeben,« antwortete der Spanier stolz, »aber ich versichere Ihnen, diese Szene wird noch ein Nachspiel haben, oder ich will nicht Juarez heißen.«

»Sie haben die Sachen genommen, um dieselben für sich zu behalten,« fuhr der Ingenieur ruhig fort. »Einen Auftrag haben Sie überhaupt nicht erhalten, sondern auf eigene Faust gehandelt, und damit ich diese meine Behauptung gleich beweise, so will ich Ihnen sagen, daß Sie nur dies Wertvolle, die Goldsachen und das Geld behalten, aber die Ihnen als wertlos erscheinenden Sachen, wie Haarbürste, Notizbuch und so weiter, welche Ihnen die Eingeborenen ebenfalls auslieferten, einfach weggeworfen haben.«

Des Spaniers Munde entfuhr ein kurzer Ton, aber er war von seinen Leuten verstanden worden. Einige liefen zurück, dahin, woher sie gekommen waren, doch ebenso schnell waren die englischen Herren, sie waren von Hoffmann schon vorher instruiert worden.

Gleichzeitig mit den Soldaten langten auch sie auf dem Platze an, wo die Eingeborenen durch Hiebe und Bajonettstiche zum Geständnis gezwungen worden waren — er lag dicht nebenan, nur zehn Schritte entfernt — und ehe die Soldaten die wirklich am Boden liegenden Gegenstände aufgehoben hatten, waren diese schon in den Händen der Engländer.

Nur einem war es gelungen, das Notizbuch zu erhaschen, schon wollte er es in die Uniform schieben, aber Davids erfaßte es und riß es ihm nach kurzem Ringen aus der Hand.

Der spanische Offizier war stehen geblieben, er konnte den Blick nicht von des Ingenieurs strahlenden Augen wenden, wie gebannt starrte er ihn an.

Die Engländer kehrten zurück, die gefundenen Sachen in der Hand tragend. Des Spaniers Blick streifte sie, er entfärbte sich, behielt aber noch seine Fassung.

»Was sagen Sie nun, Capitano?« begann Hoffmann abermals. »Wissen Sie noch eine Ausflucht?«

»Diese Sachen sind mir nicht ausgeliefert worden,« schrie der Spanier. »Ich sehe sie jetzt zum ersten Male, die Eingeborenen selbst haben sie nachträglich fortgeworfen.«

»Diese behaupten das Gegenteil, sie sagen aus, daß sie auch die Haarbürste, das Messer, das Notizbuch und so weiter, für sie ebenso wertvolle Gegenstände wie die Uhr, ja wertvoller, als das Geld, Ihnen ausgeliefert haben, daß Sie dieselben aber verächtlich fortwarfen.«

»Bah, diese Schufte,« rief der Kapitän, »sie lügen wie gedruckt, ein Negrito ist überhaupt kein Zeuge, man schenkt ihm hier nicht den geringsten Glauben.«

»Aber wir tun dies,« sagte Hoffmann mit Betonung, »ein Negrito ist bei uns ebensogut ein Mensch wie Sie. Nein, die Sache ist die, Sie haben gehört, daß dieser Herr hier,« er deutete auf Chaushilm, ohne den Spanier aus dem Auge zu lassen, »keinen Anspruch mehr auf die ihm gestohlenen Sachen machte, er erklärte ausdrücklich, die Sachen nicht mehr als gestohlene, sondern als verschenkte zu betrachten, aus Gründen, die uns nichts angehen. Sie glaubten nun, sich selbst in den Besitz der Wertsachen bringen zu können, beorderten Ihre Soldaten, fingen die Eingeborenen ein und ließen sie so lange martern, bis sie Ihnen die Gegenstände herausgaben. Uhr, Kette und Börse behielten Sie für sich, das andere warfen Sie als wertlos weg.«

»Das ist eine Verleumdung, wegen der Sie sich höheren Orts zu verantworten haben werden und außerdem bei mir noch persönlich,« schrie der Spanier, noch einmal zu erkünstelter Entrüstung seine Zuflucht nehmend.


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»Eher glaube ich fast, diese Engländer haben diese Sachen dahin geworfen, um mir eine Falle zu stellen, aber ich werde dafür Sorge tragen, daß eine solche Handlung —«

Er konnte nicht weitersprechen. Chaushilm war auf ihn zugesprungen und hatte ihm einen Schlag ins Gesicht versetzt, der den ausgemergelten Spanier wie einen Sack ins Gras warf.

»Da, du Halunke!« rief der Marquis. »Mit dem Rechte, mit dem du die armen Kerle hast peitschen lassen, verabreiche ich dir dieses!«

Einen Augenblick lag der Spanier am Boden, sein Gesicht ward plötzlich dunkelrot, die Augen hielt er geschlossen, dann aber sprang er mit einem heiseren Wutschrei empor, ein kurzes, abgerissenes Wort kam über seine Lippen, was mit Ausnahme eines einzigen keiner der spanisch sprechenden Herren oder Damen verstand, denn es war jedenfalls abgekürzt gesprochen worden, aber die Bedeutung desselben wurde sofort allen klar — es war ein Kommando an seine Leute gewesen.

Diese hatten sich hinter ihrem Anführer gesammelt, mit wütenden Blicken die Fremdlinge musternd, welche es wagten, eine jener Handlungen, wie sie bei ihnen jeden Tag vorkamen, zu hindern. Versprach doch durch deren Dazwischentreten ihnen ein reiches Trinkgeld zu entgehen, denn umsonst ließen sie sich auch nicht zu einem solchen Privatgeschäft des Kapitäns verwenden.

Schon lange hatten sie sich gewundert, wie es kam, daß ihr sonst so keck auftretender Kapitän sich von diesem verfluchten Engländer auf eine solche Weise behandeln ließ; sie hatten ja durch ihre Überzahl das Recht auf ihrer Seite, und kaum erscholl das Kommando, so flogen die Gewehre von der Erde in Anschlag, die Hähne knackten, und zwanzig gespannte und geladene Gewehrläufe sahen drohend den Engländern entgegen.

Allen der Gesellschaft war bewußt, in welch kritischer Lage sie sich befanden. Der Kapitän war aus dem Bereiche der Kugeln zurückgesprungen, sie aber standen direkt vor den Mündungen, und es bedurfte nur des Wortes »Feuer«, so bedeckten ihre durchschossenen Körper den Rasen. Wer konnte dann dem Kapitän beweisen, daß er sie ermordet habe? Diese Eingeborenen? Denen wurde kein Glauben geschenkt, sie wurden nicht einmal um ihre Aussage gefragt, und der Kapitän und die Soldaten schworen natürlich, wenn sie die Leichen nicht spurlos verschwinden lassen konnten, sie hätten die Engländer, selbst die Mädchen, in Notwehr erschießen müssen. Gegenbeweise brauchten sie nicht zu befürchten.

Aber einer war doch unter den Bedrohten, der das Kommando trotz seiner abgekürzten und schnellen Aussprache verstanden hatte und das Nachfolgende zu vereiteln wußte.

In demselben Augenblicke, da die Gewehre emporflogen und der Kapitän aus ihrem Bereiche sprang, stürzte Hoffmann vor; ein Griff und er hatte den Spanier gepackt, ihm einen Dolch auf die Brust setzend.

»Noch ein Wort,« herrschte er ihn im geläufigen Spanisch an, so daß er auch von den Soldaten verstanden wurde, »nur eine einzige Silbe, und es ist Ihre letzte gewesen. Gewehr bei Fuß, Burschen, gehorcht!«

Der Befehl war in einem Tone gesprochen, der unbedingt befolgt werden mußte. Klirrend stampften die Kolben wieder auf den Boden, die Soldaten wagten nicht, zu trotzen, sie waren völlig verblüfft.

»Kapitän Juarez,« fuhr Hoffmann fort, »Sie haben unbegründet einen Mordversuch auf unser Leben gemacht. Es wäre jetzt meine Pflicht, Sie zur Anzeige zu bringen, aber ich werde dies unterlassen, ich mag nicht Ihretwegen Unannehmlichkeiten haben. Doch so viel lassen Sie sich gesagt sein, ich werde diese Eingeborenen hier unter die Obhut eines mir befreundeten Herrn in Manila stellen, und wird ihnen von Ihrer Seite auch nur ein Haar gekrümmt, so kommt diese Geschichte zur Anzeige, und Sie sehen Ihrer Bestrafung entgegen. Verstanden?«

Der Spanier antwortete nichts, mit entsetzten Augen starrte er den hochgewachsenen Mann an, der ihn so fest an der Brust gefaßt hielt.

»Gehen Sie, bitte, zu den Pferden zurück,« sagte Hoffmann, zu seinen Gefährten gewendet, »ich werde dafür sorgen, daß Ihnen keine Kugel als Lebewohl nachgeschickt wird.«

Alle sahen ein, daß dies das beste war. Hätte Hoffmann den Spanier in Freiheit gesetzt und wären sie jetzt alle zusammen zurückgegangen, so stand sicher zu erwarten, daß der Kapitän seine Leute nochmals zum schießen kommandierte.

Chaushilm, noch immer bei seiner alten Meinung beharrend, überlieferte den Eingeborenen, zu ihrer unaussprechlichen Freude, wieder Uhr und Geld und versicherte nochmals ausdrücklich, daß es ihr Eigentum sei.

»Die Kerle haben mich so geschickt bestohlen, daß sie dafür belohnt werden müssen,« lachte er, zu seinen Gefährten gewendet, »eine jede Kunst muß überhaupt Anerkennung finden, damit sie gepflegt wird.«

Nur das Notizbuch steckte er wieder zu sich, weil es manche für ihn wichtige Bemerkungen enthielt, und schloß sich dann den anderen an, welche schon den Rückweg antraten. Ehe er ging, empfahl er sich auch dem Kapitän mit einigen höflichen, spöttisch klingenden Worten.

Als die Gesellschaft die Wagen und die Pferde bestieg, trat Hoffmann zu ihnen und trieb seine Gefährten an, sich möglichst zu beeilen.

»Schlimmer kann es nicht in der dicksten Wildnis zugehen, als hier in dem gesegneten Lande,« rief Hendricks unterwegs. »Lieber will ich unter eine Horde Indianer geraten, als unter solche spanische Soldaten.«

»Werden wir Wohl noch Unannehmlichkeiten von diesem Zusammentreffen haben?« fragte Davids den Ingenieur.

»Ich glaube kaum,« entgegnete Hoffmann. »Der Kapitän wird froh sein, wenn wir reinen Mund halten. Es ist zwar nicht recht gewesen, wie wir vorgegangen sind, aber es war der kürzeste Weg. Hätten wir den Kapitän angeklagt, so wären Tage vergangen; wir wären zurückgehalten worden, bis das spanische Gericht die Sache endlich erledigt hätte. Selbst, daß Marquis Chaushilm ihn gezüchtigt, muß er ruhig hinnehmen, er kann höchstens auf eine Privatrache denken, und diese haben wir nicht zu fürchten, wenn wir vorsichtig sind.« »Ich habe aber gehört,« meinte der vorsichtige Davids, »daß die Aussagen der Negritos hier bei den spanischen Gerichten durchaus nichts gelten, daß sie überhaupt nicht vernommen werden. Der Kapitän kann nun auf seinen Diensteid schwüren, die Sachen nur zu dem Zwecke den Eingeborenen abgenommen zu haben, sie uns auszuliefern und ebenso, die anderen Sachen von ihnen nicht bekommen zu haben. Schwören auch die Soldaten, so können wir nichts dagegen machen, denn als spanische Beamte haben sie den ersten Schwur, und wir werden unnachsichtlich bestraft, weil wir uns gegen die Macht des Gouverneurs aufgelehnt haben.«

»Ich glaube nicht, daß der Kapitän auf Befehl gehandelt hat,« unterbrach ihn Ellen.

»Er kann sich leicht herausreden,« sagte Davids, »er hat eben gehört, wir seien bestohlen worden, und er hat es für seine Pflicht gehalten, die Eingeborenen zu bestrafen und uns die Sachen wieder zukommen zu lassen.«

»Quälen wir uns nicht mit solchen Mutmaßungen,« meinte Ingenieur Hoffmann gleichmütig. »Selbst, wenn wir wegen Auflehnung gegen die Staatsgewalt angeklagt werden sollten, wird es uns ein leichtes sein, den Gegenbeweis zu liefern. Uns, als Personen, welche mit eigenen Schiffen Manila besuchen, wird man mehr trauen, als jenen spanischen Soldaten.«

»Aber es kann eine ewige Verzögerung unserer Abreise mit sich bringen,« rief Ellen unmutig.

»Auch das glaube ich nicht. Ich kenne in Manila Personen von hohem Rang, welche für uns gutsagen werden. Wollen die Damen und Herren ihre Freunde aufsuchen? Dieser Weg hier links ab führt nach dem Baysee, in einer Stunde können wir ihn erreicht haben.«

Alle waren damit einverstanden, diese Gelegenheit, ihre Freunde zu treffen, zu benutzen.

Bald sah man den Spiegel des mächtigen Baysees vor sich schimmern, auf dem zahlreiche Segel- und Ruderboote, vornehmen, spanischen Familien gehörend, auf- und abschwammen. Unter ihnen erkannten sie auch die Boote ihrer Freunde, dieselben unterschieden sich schon durch den graziösen, scharfen Bau und ihre geschickte Bedienung vorteilhaft von den anderen.

Es dauerte nicht lange, so war es unter den Besatzungen der vier Boote bekannt geworden, daß einige der Zurückgebliebenen am Ufer ihrer warteten; die männlichen, wie die weiblichen Matrosen, beide in ihren Seemannskostümen, wendeten die Segel und landeten.

Das von Lord Harrlington gesteuerte Segelboot war das erste, welches den Uferrand berührte.

Eben sah er, wie John Davids vom Pferde sprang, den Schlag öffnete, einer Dame die Hand reichte, und sie aus dem Wagen hob — es war Miß Petersen.

»Zum Teufel, Kapitän,« lachte Williams in seinem Boot, »Sie wollen wohl auf dem Lande segeln?«

Harrlington schrak zusammen, er hatte nicht darauf geachtet, daß sein Boot schon fast das Ufer berührte, aber es war zu spät, er konnte nicht mehr wenden, im nächsten Augenblick mußte der weitausgestreckte Klüverbaum an einen dicht am Ufer stehenden Baumstamm rennen und abbrechen, es schien unvermeidlich. Im Boot selbst konnte weder durch Segel, noch durch Steuer etwas dagegen gemacht werden.

In diesem Augenblick sprang Davids auf das Boot zu, faßte mit beiden Händen die äußerste Spitze des Klüverbaumes und drängte das Boot kräftig zurück, bis eine Kollision mit dem Stamme nicht mehr zu fürchten war — der Klüverbaum war verschont geblieben.

»Das wäre bald schlimm abgelaufen!« lachte Miß Nikkerson. »Hätten Sie den Klüverbaum gebrochen, so wäre Ihre Ehre als Seemann für immer dahingewesen. Bedanken Sie sich bei Mister Davids für seine energische Hilfe.«

Harrlington antwortete nichts, mit bitteren Gefühlen sah er, daß auch Ellen über sein Mißgeschick lachte. Er ließ Davids in sein Boot steigen und stieß wieder ab.


11. Der schwarze Passagier.

»Können Sie mir Auskunft geben, welchen Hafen Seiner Majestät Schiff »Viktoria«, welches vorgestern hier abgefahren ist, zunächst anlaufen wird?«

Diese Frage wurde auf dem deutschen Konsulat zu Melbourne in dem Vorzimmer an den Sekretär gestellt, welcher anfragenden, deutschen Seeleuten über nicht besonders wichtige Angelegenheiten Bescheid erteilte und in wichtigen Sachen dem Vorsprechenden die Zeit angab, wann sie von dem Konsul selbst empfangen werden könnten.

Der Sekretär blickte durch das Schiebefensterchen, welches die Verbindung seines Bureaus mit dem Flur herstellte, und sah einen großen, äußerst mageren Herrn von etwa vierzig Jahren, völlig in Schwarz, aber sehr elegant gekleidet, stehen. Sein Gesichtsausdruck war unangenehm zu nennen, es lag etwas Lauerndes darin, und um den fest zusammengepreßten, bartlosen Mund spielte beständig ein nervöses Jucken.

Der Sekretär stand bei allen, welche seine Ratschläge schon einmal in Anspruch genommen hatten, in nicht gerade gutem Rufe, weil er sich durch eine ganz besondere Grobheit auszeichnete, die er sich durch den Verkehr mit Seeleuten angeeignet hatte. Diesem Manne aber gegenüber, der in dem schwarzen Gehrock, dem hohen Zylinder und der weißen Halsbinde den Eindruck machte, als wäre er entweder ein Missionar oder ein feiner, aristokratischer Herr, setzte er ein freundliches Gesicht auf und bemühte sich einer zuvorkommenden Höflichkeit.

»Der nächste Hafen des Schulschiffes ist Wellington,« entgegnete er auf die Frage des Schwarzrockes; »heute ist Freitag, also am Montag kann ich die Depesche seiner Ankunft erwarten. Wünschen Sie Nachricht zugeschickt zu erhalten?«

»Nein, ich bleibe nicht hier. Wellington sagten Sie?«

»Wellington.«

Der schwarze Herr räusperte sich einige Male.

»Ist es das Wellington in Tasmanien?« fragte er dann wieder.

»In Tasmanien,« entgegnete der Sekretär, etwas erstaunt, »dort kenne ich gar keins. Nein, Wellington auf der Nordinsel von Neuseeland natürlich, die »Viktoria« läuft nur größere Häfen an.«

»So. Wann geht von hier ein schneller Passagierdampfer nach diesem Hafen ab?«

»Jeden Montag früh vier Uhr.«

»Teufel, also könnte ich erst am nächsten Montag fahren!« rief der Fremde ungeduldig. »Gibt es denn keine anderen Fahrverbindungen?«

»Gewiß, es gibt noch viele Dampfer, Frachtschiffe, welche diesen Weg nehmen; täglich fahren welche von hier nach Wellington ab,« entgegnete der Sekretär und schüttelte wie spielend die blecherne Büchse, auf welcher mit großen, weißen Buchstaben geschrieben stand: »Für hilfsbedürftige, deutsche Seeleute« »und ich rate Ihnen, auf einem solchen zu fahren, sie sind alle mit Kabinen für gelegentliche Passagiere ausgestattet. Das Passagierschiff fährt auch nicht schneller als diese Dampfer; in vier Tagen erreichen sie alle Wellington. Liegt Ihnen daran, bald hinzukommen, so nehmen Sie ein solches.«

»Das werde ich auch tun. Wie lange bleibt die »Viktoria« in Wellington liegen?«

»So genau kann ich Ihnen dies nicht angeben, aber mindestens so lange, daß Sie das Schiff noch dort treffen, wenn Sie etwas darauf zu tun haben. Unter sechs Tagen wird es den Hafen nicht wieder verlassen.«

»Können Sie mir ein Schiff nennen, welches nach Wellington fährt?«

»Gewiß, wenigstens deutsche Schiffe. Morgen früh um acht Uhr zum Beispiel fährt der »Mozart« ab, es ist ein gutes Schiff, Kapitän Häuseler.«

»Fährt nicht noch heute abend ein Schiff ab? Es kann auch ein anderes als ein deutsches sein.«

Der Sekretär blinzelte den hartnäckigen Frager erstaunt von der Seite an. Dieser Mann muhte es ja ungeheuer eilig haben. Es war fast schon fünf Uhr, das Bureau sollte bald geschlossen werden, und trotzdem wollte der Mann noch heute abreisen.

»Auch darüber kann ich Ihnen Auskunft geben,« antwortete er und spielte wieder mit der Sammelbüchse; »allerdings geht um sieben Uhr ein deutsches Schiff, der »Albatroß« nach Wellington, aber erstens sind es bis dahin nur noch zwei Stunden Zeit, und dann hat der Dampfer viel Schafwolle an Bord geladen.«

»Was sollte mich diese hindern?«

Der Sekretär unterdrückte ein Lächeln.

»Die Schafwolle hat einen sehr üblen Geruch an sich,« entgegnete er dann, »oder auf gut deutsch gesagt, sie stinkt ganz bestialisch. Wer einmal an Bord eines solchen Käsetrogs war, geht nicht zum zweiten Male darauf.

»Wie heißt der Kapitän?«

»Kapitän Roller.«

»Danke.«

Vergebens rasselte der Sekretär jetzt ganz energisch mit der Sammelbüchse und hielt sie sogar zum Fenster hinaus. — Ohne sich aufhalten zu lassen oder von der Anspielung auf einen Beitrag Notiz zu nehmen, drehte sich der Schwarzrock um und rannte förmlich mit langen Schritten zum Flur hinaus.

Der Sekretär war wütend.

»So ein geiziger Lump,« murmelte er, feuerrot am Kopfe, und warf die Aktenstücke mit einer Heftigkeit in die Regale, als waren sie schuld an seinem Zorn. »Fragt mich der aus, halt mich eine halbe Stunde über meine Bureauzeit hin und läuft dann von der Sammelbüchse weg, als wollte ich ihn mit Schwefelsäure begießen! Und ich habe sie ihm doch wahrhaftig lange genug vor die Nase gehalten! Herrgott, was laufen doch für Kerle in der Welt herum, und dieser will nun gar ein Deutscher sein, ein Rheinländer war's wahrscheinlich.«

Der unwillige Sekretär warf einen Blick nach der Uhr, deren Zeiger zwar noch keine halbe Stunde, aber doch schon fünf Minuten über die Arbeitszeit zeigten — ein für jeden Bureauschreiber unverzeihliches Vergehen — und verließ dann eiligst die dumpfe Aktenstube.

Der Schwarzrock hatte unterdessen den Weg zurückgelegt, der ihn nach einem dicht in der Nähe des Hafens gelegenen Hotel brachte, wo er erst heute morgen abgestiegen war.

Dort ließ er einen Kofferträger holen, bezahlte seine kleine Rechnung, ohne dabei das finstere Gesicht des Kellners zu beachten, der von dem vornehmen Herrn ein reiches Trinkgeld erhofft hatte und nun gar keins empfing, und machte sich mit seinem wenigen Gepäck auf den Weg nach dem Quai, wo nach Angabe des Kellners der »Albatroß« lag.

Er traf den Kapitän Roller, wie er seine Leute die letzten Ballen Schafswolle an Bord nehmen und im Zwischendeck verstauen ließ.

Der Kapitän war sehr erstaunt, noch in der letzten Minute einen Passagier zu bekommen, aber auch wiederum sehr erfreut. Denn einmal floß das für die Überfahrt bezahlte Geld, mit Ausnahme dessen für die Verpflegung, in seine Tasche, und dann war der Kapitän auch ein Gesellschaftsmensch, der bei einem guten Glase Wein eine interessante Unterhaltung mit einem feinen gebildeten Manne liebte, und dazu war ihm hier eine Gelegenheit geboten. Bald waren beide um das Fahrgeld einig, der Kapitän machte es vor Freude noch sehr billig, und der Fremde ward als Passagier aufgenommen.

Er hatte sich als Moritz Weißbach vorgestellt, worüber das Wohlwollen des Kapitäns wuchs, denn so hatte er nicht nur einen deutschsprechenden Ausländer, sondern einen wirklichen Deutschen vor sich, ja, er hätte den in Schwarz gekleideten Weißen umarmen mögen, als dieser die erste Vermutung des Kapitäns, Missionar zu sein, Lügen strafte, indem er sich als einen ehemaligen deutschen Offizier ausgab, der jetzt zu seinem Vergnügen in der Welt herumreise.

Pünktlich sieben Uhr lichtete der »Albatroß« die Anker und verließ den freundlichen Hafen von Melbourne, nächst Sydney der wichtigste Hafenplatz Australiens. Während der Abfahrt hatte der gemütliche Kapitän natürlich auf der Kommandobrücke zu tun, also keine Zeit, sich um seinen Passagier zu kümmern, als aber erst der Lotse von Bord gesetzt worden war und die für die Nachtfahrt geeigneten Verhaltungsmaßregeln gegeben waren, da schickte er sich an, mit Herrn Weißbach noch ein Stündchen zu plaudern.

Aber es war vergebens gewesen, daß er den Steward, den Schiffskellner, der für die Bequemlichkeit der Offiziere zu sorgen hat, mit Kaltstellen einer guten Flasche Rheinweins beauftragt hatte, die Kabine des Passagiers war verschlossen, und auf ein leises Anklopfen des Kapitäns wurde ein unwilliges Gemurmel hörbar, wie im Schlafe Gestörte es auszustoßen pflegen.

»Herr Weißbach hat sich sofort wie ein Maulwurf in sein Loch zurückgezogen,« meinte der erste Steuermann, »und sich nicht wieder sehen lassen. Das scheint überhaupt ein sehr merkwürdiger Kauz zu sein. Entweder hat der ein böses Gewissen, oder eine Unruhe wühlt in ihm, das sieht man seinem Gesicht und noch mehr seinen Augen an. Eins aber ist gewiß, an übergroßer Höflichkeit leidet er eben nicht, Dank oder Entschuldigung kennt er gar nicht.«

Der Kapitän zuckte die Achseln und vertröstete sich auf den morgenden Tag. Herr Weißbach war jedenfalls durch die Anstrengungen der vorhergehenden Reise noch sehr erschöpft, und man konnte es ihm daher nicht übelnehmen, wenn er sich für heute der Gesellschaft des die Unterhaltung liebenden Kapitäns entzog.


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Kapitän Roller trank diesmal seine Flasche Rheinwein allein aus.

Aber der neue Tag kam, und der schwarze Passagier wurde nicht geselliger. Als der Steward an der Kabine desselben klopfte und ihn zur Teilnahme am Frühstück in der Kajüte aufforderte, rief er in grobem Tone, ohne die Tür zu öffnen, er wünsche alle seine Mahlzeiten in der Kabine einzunehmen, und dem Steward blieb nichts anderes übrig, als das schon aufgetragene Essen von dem Tische des mißgestimmten Kapitäns wegzunehmen und dem Passagier hineinzutragen.

Der Steward hatte aber nicht nötig, in der Kabine den kleinen Tisch zu decken — der Fremde nahm ihm alles durch die halbgeöffnete Tür ab, sich selbst breit davorstellend, als wolle er dem Steward keinen Einblick in die Kabine gönnen.

Natürlich musterte dieser nur um so schärfer das Innere des kleinen Raumes, so weit es ihm die Gestalt des Schwarzrockes erlaubte, konnte aber nichts weiter entdecken, als einen auf dem Tische liegenden, geöffneten Handkoffer, der über und über mit Briefen und sonstigen Papieren vollgepfropft war.

Das war an und für sich nichts Auffälliges, aber der Steward hielt es für seine Pflicht und Schuldigkeit, dem Kapitän alles neue, was er über seinen Passagier wußte, mitzuteilen — sonst wäre er kein richtiger Steward gewesen.

»Er ist ein Choleriker,« meinte der Kapitän, »ein Sonderling, der sich selbst das Leben verbittert, vielleicht hat er auch eine geheime Sorge. Laß ihn in Ruhe und behandle ihn gut!«

»Aber die vielen Papiere?«

»Dummkopf,« fuhr der Kapitän den mit geheimnisvoller Miene und hochemporgezogenen Augenbrauen Dastehenden an, »warum soll denn der Herr keine Briefschaften mit sich führen und diese lesen oder ordnen? Du siehst auch in jedem, der einmal in sein Notizbuch hineinschreibt, einen Spion oder Hochverräter.«

Spion! Das Wort war gefallen.

»Warum bist du nicht gleich darauf gekommen?« dachte Wilhelm, der Steward, als er allein war, und schlug sich gegen die Stirn.

In der nächsten Viertelstunde wußte die ganze Mannschaft, Heizer und Matrosen, daß der schwarze Passagier ein Spion der gefährlichsten Sorte sei.

Was ein Spion eigentlich hier in Australien oder in Neuseeland ausforschen sollte, das konnte niemand sagen, das war auch ganz gleichgültig. Das Wort Spion hat für den Seemann so eine eigentümliche, schauerliche Nebenbedeutung, sein durch ein monotones Leben eingeschärftes Gehirn sucht nach einer Anregung, und ebenso, wie er zufällig gefundene Stückchen Zeitungspapier erst von oben nach unten, dann umgekehrt auf das sorgfältigste studiert und über jeden Satz Bemerkungen macht, mit seinen Kameraden darüber debattiert, so öffnet er auch jeder Neuigkeit willig seine Ohren, und je unglaublicher die Mitteilung ist, destomehr gibt sie ihm Stoff, darüber zu spreche».

Die Vermutung, daß der Schwarzrock ein Spion sei, der ein unheimliches Gewerbe treibe, fand noch Bestätigung, als beim Mittagessen der Steward im Mannschaftslogis erschien und den neugierigen Matrosen mitteilte, der Passagier habe ihm nicht einmal den Eintritt in seine Kabine zum Aufklaren, das heißt zum Reinigen und Aufräumen gestattet.

»Nimm dich in acht, Wilhelm,« meinte Jochen Voß, der älteste der Matrosen, »der Kerl steht mit dem Gottseibeiuns im Bunde! Ein ehrlicher Mensch braucht sich nicht so von aller Welt abzuschließen. Paß nur gut auf, daß er nicht einmal in der Kabine des Kapitäns und in dessen Papieren herumschnüffelt! Spione denken an nichts weiter, als an so etwas.«

Wilhelm beteuerte, daß er auf diesen Menschen ein wachsames Auge haben würde, um, sollte er einen Anschlag auf Schiff, Kapitän und Mannschaft im Sinne haben, zur rechten Zeit einem solchen vorzubeugen. Dann teilte er noch mit, daß der Schwarzrock auch das Mittagessen in seiner Kabine eingenommen habe, ihm das leere Geschirr dann einfach vor die Tür setzend, und entfernte sich dann wieder, um den Offizieren aufzudecken.

Endlich, am Nachmittag des zweiten Tages, verließ der seltsame Passagier zum ersten Male seine Kabine, schloß die Tür von außen sorgsam ab und ging dann an Deck, nachdenkend den Kopf gesenkt, die Arme ineinander geschlungen, auf und ab, das Schiff immer von vorn bis hinten durchmessend.

Den Gruß des auf der Brücke stehenden Kapitäns beachtete er gar nicht, wie seine gesenkten Augen den Mann oben noch gar nicht bemerkt hatten, und die Bemerkung des vorbeigehenden Steuermannes, daß heute ein sehr schöner Tag sei, beantwortete er mit einem unverständlichen Brummen.

Im Brummen und Murmeln konnte der Schwarzrock überhaupt Großes leisten. Fortwährend drang ein knurrender Ton durch die festgeschlossenen Lippen, denn manchmal, wenn dieses für eine Minute aussetzte, blieb der Schwarzrock plötzlich stehen, schüttelte finster den Kopf, das nervöse Zucken um die blutlosen Lippen wurde noch stärker, und mit einem Fluche oder einer Verwünschung, dabei mit dem Fuße stampfend, wandte er sich gewöhnlich kurz um und stierte dann mit gerunzelten Brauen über Bord in das Wasser.

Weder dem Kapitän, noch den Offizieren, noch dem redefertigen und sprachgewandten Steward gelang es, mit diesem schweigsamen Menschen ein Gespräch anzufangen, er wich jedem aus oder antwortete höchstens mit nichtssagenden Redensarten, welche deutlich den Wunsch verrieten, in Ruhe gelassen zu werden. Der dritte Tag, der vorletzte der Reise, verging auf ebensolche Weise, der Fremde hielt sich den ganzen Vormittag in seiner Kabine auf, aß allein darin, und nur des Nachmittags, als er wieder seinen gestrigen Spaziergang aufnahm, geschah es, daß er den Kapitän selbst aussuchte, um sich bei ihm über etwas zu erkundigen.

Er traf denselben am Hinterteil des Schiffes, wo er seine Leute, mit Tauen, Hacken und Texten versehen, an der Bordwand verteilte, als handele es sich um ein Manöver.

»Kapitän,« wandte sich der Schwarzrock an diesen, »wann werden wir in Wellington ankommen?«

»Behalten wir das prachtvolle Wetter, wie wir es bis jetzt immer gehabt haben, so denke ich, morgen gegen Abend,« war die Antwort. »Aber, aber, sehen Sie dort den schwarzen Wolkenrand auftauchen? Der bedeutet nichts Gutes, und das Barometer zeigt auf Sturm. Doch furchten Sie nichts,« fuhr er freundlich lächelnd fort, als er bemerkte, wie das nervöse Zucken im Gesicht des Passagiers ungeheuer zunahm, welches vielleicht durch Angst hervorgerufen wurde, der »Albatroß« ist ein wackeres Schiff, er nimmt es mit jedem Sturm auf. Wäre nicht das erste Mal, daß er einen solchen überstanden. Der »Albatroß« ist eben ein »Sturmvogel«.

Der Fremde antwortete nichts, nur ein Lächeln umspielte zum ersten Male die schmalen Lippen, und dieses drückte Verachtung gegen die Mutmaßung des Kapitäns betreffs seiner Angst aus.

Schon wollte er sich wieder umwenden, um seinen einsamen Spaziergang von neuem aufzunehmen, als ihn der Kapitän daran hinderte.

»Haben Sie schon einmal einem Haifischfang beigewohnt?« fragte er. »Nicht? Das müssen Sie sehen, es ist sehr interessant. Vorhin fiel einem meiner Matrosen der Farbtopf über Bord, und schnapp, war er weg. Nun wollen wir einem jener Burschen, die unser Schiff umschwärmen, ein Stück Speck zu schlucken geben, welches er nicht verdauen kann. Passen Sie auf, jetzt wird der Köder über Bord geworfen.«

Der Schwarzrock wurde doch neugierig. Nicht jedem ist es vergönnt, einem solchen Schauspiel beizuwohnen. Er blieb in einiger Entfernung an der Bordwand stehen und schaute dem Fang eines Haifisches zu, welcher sich in der bekannten Weise vollzog.

Nach einer halben Stunde lag denn auch ein Haifisch an Deck, ein kleineres Tier, welches nach Aussage des Koches wohl noch, sauer gekocht, eine Mahlzeit für die Mannschaft abgeben könnte, das heißt, wenn von den Leuten nicht einstimmig dagegen Einwendung gemacht wurde.

Wie gewöhnlich, so war es auch das erste Geschäft des Koches, den Bauch und auch den Magen des Haifisches aufzuschneiden und ihm den Köder zu entnehmen, wobei ihm der in solchen Sachen bewanderte Jochen Voß eifrig beistand. Während der Koch den Haken aus dem Stück Speck entfernte, dieses in einem Eimer mit Salzwasser oberflächlich abwusch und dann in das Fleischfaß zurückwarf, wühlte Jochen eifrig mit beiden Händen in dem Magen des Tieres herum, um, wenn auch nicht nach verborgenen Schätzen, so doch nach Kuriositäten zu spähen.

»Wahrhaftiger Gott,« rief er plötzlich, »der Kerl hat den Farbentopf verschluckt, ich kann ihn fühlen! Gleich werde ich ihn herausholen.«

Er packte den Gegenstand mit beiden Fäusten und zog kräftig daran, bis er aus einer Unmasse von Fischen und anderen Seetieren den vermeintlichen Topf hervorgeholt hatte.

»Oho,« sagte er dann, »was ist denn das? Unser Topf ist es zwar nicht, aber ein anderer.«

Er spülte den von Gräten umgebenen und von Magensäure schon stark angegriffenen Gegenstand im Eimer ab und brachte dann eine wohlverschlossene Büchse von verzinntem Eisenblech zum Vorschein.

Der Kapitän nahm sie in die Hand und versuchte lange vergeblich, sie zu öffnen, der Deckel war stark eingerostet.

»Es ist eine Raketenbüchse,« meinte er, »ich kenne die Firma, welche diese Sorte liefert.«

»Herrgott,« grinste der Schiffsjunge mit pfiffigem Gesicht, »was müßte das lustig ausgesehen haben, wenn die Raketen im Bauche des Haifisches losgegangen wären.«

Alle mußten über diese Bemerkung des Jungen lachen.

Auch der Schwarzrock war hinzugetreten und sah zu, wie der Kapitän mit dem Messer den Deckel zu öffnen versuchte. Endlich war ihm dies gelungen, er sah und griff gleichgültig hinein. »Ein Seetestament,« sagte er ernst und brachte einen kleinen Zettel zum Vorschein. Auch die umstehenden Matrosen nahmen jetzt feierliche Gesichter an, den Seemann erfaßt immer ein wehmütiges Gefühl, kommt er zufällig in den Besitz eines solchen Papieres, welches den letzten Willen oder auch nur die Kunde, wie und wo einer seiner Kollegen oder ein Passagier auf dem Meere sein Ende gefunden hat, enthält. Der Betreffende hat seinen unvermeidlichen Tod vor Augen gesehen und ist darauf bedacht gewesen, sich seinen eigenen Leichenstein zu setzen, so, wie es die Umstände zuließen.

»Ja, was ist denn das?« rief der Kapitän verwundert und betrachtete den schmalen Streifen in seiner Hand. »Wer das geschrieben hat, muß entweder etwas verrückt oder betrunken oder ein sehr fideler Kerl gewesen sein, daß er noch kurz vor seinem Tode dichtet und Scherze macht. Hört nur!«

Und laut las er die deutsch geschriebenen Worte vor:

»Ich, Hannes Vogel, oder auch Johannes Freiherr von Schwarzburg genannt, bin tot. Dies allen meinen Freunden und Bekannten zur gefälligen Kenntnisnahme.


»Verklungen sind nun seine Lieder,
Und niemals sieht man ihn mehr wieder.
Hip, hip, Hurra!«


Trotz des Ernstes der Situation mußten alle Umstehenden laut lachen, sie hielten dieses Testament für einen Scherz, den jemand in einer etwas angeheiterten Stimmung gemacht habe.

Nur einer stimmte in dieses Lachen nicht mit ein, Jochen Voß, der Matrose.

»Was,« schrie er, »Hannes Vogel ist tot? Lacht nicht, Maate, ich kenne den Jungen, es ist so seine Art und Weise, sich auszudrücken. Er ist mit einem Scherz aus dieser Welt gefahren! Zeigt her, Kapitän, ich kenne seine Schrift, habe unten noch ein Gedicht, das er mir einst abgeschrieben hat.«

Er nahm dem Kapitän das Blatt aus der Hand, und als er die ihm wohlbekannten, starken Schriftzüge sah, stürzten dem sonst so hartherzigen Matrosen plötzlich die hellen Tränen aus den Augen. Er schämte sich ihrer nicht, galten sie doch einem alten Freunde, mit dem er so manches Leid und so manche Freude geteilt hatte.

»Hannes, armer Kerl,« schluchzte er, »so bist du also auch hinüber! Kinder, hißt die Trauerflagge, mein bester Freund, der bravste Junge, der je Erbsen und Salzfleisch geschluckt hat, ist tot. Ach Gott, was war das für eine schöne Zeit, als ich mit ihm zusammen war, er war die gutmütigste Seele! Erst vor ungefähr achtzehn Monaten, als wir in London lagen, haben wir ein ganzes Dutzend von Rotröcken breiweich geklopft, und nun ist alles aus, aber er denkt noch im Tode an mich und benachrichtigt mich und alle seine Freunde.«

Der Matrose, welcher das Papier noch immer in der Hand hielt, drehte sich um nach der Bordwand, um seinen Tränen freien Lauf zu lassen. Plötzlich aber fuhr er heftig herum und wollte den vor ihm Stehenden an die Kehle fassen — das Papier war ihm förmlich aus der Hand gerissen worden.

Der Schwarzrock hatte es getan.

Jochen machte keinen Unterschied zwischen den Menschen, es war ihm vollständig gleichgültig, ob der, der ihm das Papier aus der Hand genommen, einen Zylinder und eleganten Rock oder eine schmierige Mütze und eine blaue Bluse trug, und so wäre auch der Passagier nicht dem Schicksale entgangen, von den Fäusten des Matrosen gepackt und für seine Unverschämtheit geohrfeigt zu werden.

Aber der Ausdruck in dem bleichen Gesicht des Fremden, mit dem er auf das Blatt Papier starrte, war ein so schrecklicher, daß Jochen seine Hand nicht zum Schlage erheben konnte.

Seine Augen traten fast aus den Höhlen, so starr hefteten sie sich auf die Schriftzüge, das Gesicht hatte zu zucken aufgehört, aber es war dafür furchtbar verzerrt, wie im Krampf, doch plötzlich wechselte diese sonst an ihm nicht zu bemerkende Unruhe, das Gesicht fing mit einem Male wieder entsetzlich zu zucken an, wie noch nie vorher, nicht nur der Mund, die Augenbrauen, auch die Nase und Ohren zuckten in denselben fürchterlich anzusehenden Bewegungen, ebenso die Hände.

»Er bekommt den Krampf,« rief Kapitän Roller und sprang hilfsbereit hinzu.

Aber in demselben Augenblick verließ den Fremden die Aufregung, das Gesicht bekam wieder denselben finsteren und lauernden Ausdruck, und, die Hände in die Hosentaschen steckend, wandte er sich ab, um in seine Kabine zu gehen.

Jetzt aber war Jochens Unentschlossenheit vorüber, dieser Mann hatte das Papier, das letzte Zeichen seines Freundes, in die Tasche gesteckt, und er mußte es unbedingt wiederhaben.

»Heh, alter Freund,« rief Jochen entrüstet und vertrat dem Fortgehenden den Weg, »was ist's mit dem Papiere? Was fällt Euch überhaupt ein, so ohne weiteres einzustecken, was Euch gar nicht gehört? Heraus mit dem Zettel, sage ich, Mann!«

Der Fremde maß den mit gerötetem Gesichte vor ihm Stehenden von oben bis unten, brachte dann die Hand aus der Tasche und warf ein zusammengeballtes Stück Papier über Bord.

Das war dem Matrosen doch zu viel. Er warf dem auf den Fluten dahintanzenden, weißen Punkte doch einen Blick nach und wandte sich dann hochrot vor Zorn wieder an den Schwarzrock.

»Donner und Hagel!« schrie er wütend. »Wie kommt Ihr dazu, das Papier über Bord zu werfen? Verflucht will ich sein, wenn ich Euch ihm nicht nachschicke. Holt mir es zurück, Ihr verdammter Halunke!«

Er wollte dem Passagier mit beiden Fäusten zu Leibe gehen, aber seine Kollegen fielen ihm in die Arme und hinderten ihn an einer unbesonnenen Handlung.


Illustration

»Holt es Euch selber,« brummte der Schwarzrock noch und schritt dann ungesäumt seiner Kabine zu.

Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, ließ er sich schwer auf einen Stuhl fallen und holte dasselbe Zettelchen hervor, welches in der Büchse gefunden worden war — er hatte es also mit einem anderen vertauscht, das er vorhin über Bord warf.

Tief aufstöhnend faltete er es auseinander und las wieder und wieder mit brennenden Augen die wenigen Worte.

»Hannes Vogel, genannt Freiherr Johannes von Schwarzburg,« murmelte er leise, »er ist es, es ist kein Zweifel. Seit fast 15 Jahren nun suche ich unablässig dessen Spur, welcher bis jetzt das letzte und einzige Hindernis, aber auch das größte war, das dem Erreichen meines Zieles entgegenstand. Also ist es doch wahr gewesen; die alte Hexe hat mich nicht betrogen, als sie sagte, das Kind oder vielmehr dessen Pflegemutter sei versehentlich in den Besitz des Geburtsscheines gekommen. Verdammte Unvorsichtigkeit der Frauen! Der Zweifel, die Unruhe, welche mich infolge dieser Vermutung quälten, haben mir die Hälfte meines Lebens gekostet, sie haben mich frühzeitig zum alten Manne gemacht und meine Gesundheit ruiniert. Sonderbar, sonderbar! Seit 15 Jahren nun durchstreife ich ganz Deutschland, ganz Europa und suche unablässig nach dem Verschollenen oder doch nach denen, die ihn aufgenommen haben, und kann weder ihn; noch den Geburtsschein finden; und hier endlich muß ich Nachricht, die erste überhaupt von ihm, im Magen eines Haifisches, vorfinden. Ich fühle förmlich, wie meine Krankheit nachläßt, nachdem ich wenigstens einen Anhaltepunkt bekommen. Also Hannes Vogel nennt er sich, und tot ist er! Ist es auch wirklich wahr? Ja, er schreibt es selbst, er hat seinem unvermeidlichen Tode entgegengesehen. Aber kann es nicht leicht der Fall sein, daß er, nachdem er diesen Zettel schon geschrieben, doch noch gerettet worden ist? Oft schon habe ich von Ähnlichem gelesen und auch erzählen hören. Wehe, wehe, meine Unruhe hört noch nicht auf, noch bin ich nicht am Ende meines Zieles! So lange ich nicht seinen Tod bestimmt weiß, werde ich keine Ruhe kennen, ist mein Lebenszweck nicht erreicht. Also er weiß seinen eigentlichen Namen, hat höchstwahrscheinlich den Geburtsschein selbst in den Händen; aber wie kommt es, daß er nicht Anspruch erhebt? Das gibt zu denken!«

Lange blickte der schwarze Passagier mit dem bleichen Gesichte sinnend vor sich hin.

»Ja, so wird es sein,« fuhr er dann in seinem Selbstgespräch fort, »er glaubt, der Geburtsschein ist nicht sein eigen, sondern zufällig in seinen Besitz gekommen. Er fürchtet sich vielleicht, diese Tatsache anders als unter Freunden bekannt zu geben, aber aus Ironie wird er Freiherr von Schwarzburg genannt. Wer ist das aber, Hannes Vogel, was ist er, wo hat er gelebt? Jedenfalls schien der Matrose, jener Grobian von vorhin, ihn gut zu kennen. Schade, daß ich ihn zornig auf mich gemacht habe!«

»Doch es hilft nichts,« murmelte er nach einer Pause weiter, »ich muß den Mann versöhnen, um ihn ausforschen zu können. War dieser Hannes Vogel, der Freiherr von Schwarzburg, ein Matrose, so ist er jedenfalls auf einem Schiff untergegangen, und bestätigt sich dies auf meine Nachforschung bei den Seemannsämtern, so ist schon viel gewonnen. Dann muß ich da nachsuchen, wo er gewöhnlich an Land gewohnt hat, alle seine Effekten in meinen Besitz bringen, und finde ich den Geburtsschein nicht, so ist es gut, ich nehme an, er ist mit ihm ins Meer versunken; finde ich ihn aber, desto besser, er soll bei mir gut aufgehoben sein. Dann ist es endlich Zeit, hervorzutreten und zu beweisen, daß der Freiherr von Schwarzburg, der jetzige Majoratsherr nicht der Erbe, sondern ein untergeschobenes Kind ist, daß aber der richtige Freiherr Johannes von Schwarzburg nicht mehr existiert. Zu den Zeugen, welche ich bis jetzt schon gesammelt habe, tritt dieses Papierchen als eins der wichtigsten noch hinzu, und vielleicht auch jener Matrose, welchen ich jetzt sprechen werde. Und dann, dann ist der letzte Sprosse des hinterlistigen, erbschleichenden Bruders vernichtet, und das stolze Majorat der Freiherrn von Schwarzburg geht wieder an den zurück, dem es gebührt, an mich!«

»Steward!« rief jetzt der Mann, der sich eben als einen Freiherrn von Schwarzburg bezeichnet hatte, durch die geöffnete Türspalte.

Der Gerufene war höchlichst verwundert, diesmal sogar aufgefordert zu werden, in die Kabine einzutreten und in ihr den Schwarzrock, den Kopf in beide Hände gestützt, am Tisch sitzen zu sehen. Er machte ein Gesicht, wie der Steward es noch nie bei ihm gesehen hatte, gar nicht mehr so finster, sondern ein sehr trauriges, als wühle ein innerer Schmerz in ihm.

Mit langsamer, schleppender, sogar zitternder Stimme beschrieb Herr Weißbach dem Steward das Aussehen eines Matrosen der Mannschaft, und sofort wurde ihm gesagt, daß dieser kein anderer, als Jochen Voß sein könne.

»So bitten Sie ihn, sich zu mir zu bemühen,« bat der Mann, »sagen Sie ihm, mein voriges Betragen täte mir leid, ich wollte ihm die Gründe dazu erklären; die Nachricht von dem Tode des Hannes Vogel hätte mich so erschüttert.«

Kopfschüttelnd verließ der Steward die Kabine, um dem Auftrage nachzukommen.

Jochen Voß war sofort bereit, der Einladung zu folgen. Das war ja etwas ganz Merkwürdiges, also dieser Herr kannte auch seinen Freund und nahm sogar Anteil an dessen Schicksal. Na, dann wollte er ihm sein Betragen verzeihen; Jochen Voß trug auch ein fühlendes Herz in der Brust.

Tiefes Mitleid erfüllte den Matrosen, als er das traurige, sogar verstörte Gesicht des eben noch so stolz blickenden Mannes sah. Weißbach entschuldigte sich vielmals wegen seines vorherigen heftigen Benehmens und gab der Nachricht über den Tod von Hannes Vogel die Schuld. Dann leitete er auf diesen selbst über:

»Sie waren ein Freund von ihm?« fragte er.

»Ja, wir waren die besten Freunde und sind immer zusammengefahren, seit der Zeit, da Hannes das erste Mal das Deck eines Schiffes betrat. Ich fuhr damals schon als Matrose, als er noch Schiffsjunge war. Wir sind jahrelang unzertrennlich gewesen, bis wir vor etwa achtzehn Monaten auseinander kamen. Wir lagen in London, bekamen in einem Bierhause Streit mit englischen Soldaten, verhauten sie tüchtig, und die Folge davon war, daß die Polizei uns verfolgte. Hannes kam davon, ich wurde gefaßt und erhielt vierzehn Tage harte Arbeit. Als ich wieder frei ward, erfuhr ich, daß es Hannes Vogel geglückt war, noch an demselben Tage, da die Prügelei stattfand, also ehe die Sache weiter bekannt wurde, auf einem deutschen Schiffe anzumustern und sich somit der Polizei zu entziehen. Ich ärgerte mich zwar etwas darüber, war aber im Herzen doch froh, daß ihm die Flucht geglückt war, denn Steineklopfen ist für einen Seemann eine verdammt harte Arbeit, mir tut der Buckel noch jetzt weh, denke ich an jene vierzehn Tage.«

»Wie heißt das Schiff, auf welchem er anmusterte?«

»Die ›Kalliope‹.«

»Wissen Sie, wo er sich zuletzt befunden hat?«

»Nein, auf der ›Kalliope‹ aber jedenfalls nicht mehr, denn ich habe dorthin vor einem halben Jahre geschrieben und den Brief vom Konsul zurückerhalten.«

»Wie kommt es eigentlich, daß Hannes Vogel sich Freiherr von Schwarzburg nannte?« fragte der Schwarzrock, und sein Gesicht nahm einen gespannten Ausdruck an, der aber dem Matrosen nicht auffiel.

»Das war sein Spottname,« lächelte Jochen, »er hatte unter seinen Papieren einen Geburtsschein, der auf diesen Namen lautete. Weiß der Teufel, wie er zu diesem Wisch gekommen ist, er selbst hatte keine Ahnung davon. Nur meinte er, seine Mutter könnte ihn vielleicht in seine Kiste gepackt haben, als er zur See ging, aber versehentlich.«

»Seine Mutter, wer war das?«

»Es war gar nicht seine Mutter, wohl so eine Art von Hebamme oder so etwas, die uneheliche Kinder aufzieht. Hannes hat sich darüber nie Kopfschmerzen gemacht.«

»Wo wohnt diese Frau?«

»Das weiß ich nicht, und selbst Hannes hatte es vergessen,« lachte Jochen. »Er wollte einmal der Frau einen Brief schreiben, das heißt einen saugroben, denn sie hat ihn als Kind ganz scheußlich behandelt, aber da fiel ihm nicht mehr der Name der Straße ein, wo sie wohnte, und so hat er das Schreiben unterlassen.«

»Wie hieß die Stadt?«

»Weiß ich auch nicht. Woher kennen Sie aber Hannes, Herr Weißbach?« begann jetzt der Matrose zu fragen.

»Ich kenne ihn nicht persönlich,« antwortete der Schwarzrock, »aber ich kenne seine Eltern, welche ihr verschollenes Kind suchen. Und nun, da ich endlich auf seine Spur gekommen bin, muß ich die Nachricht von seinem Tode, von eigener Hand geschrieben, erhalten.«

Der Herr vergrub sein Gesicht in den Händen und schluchzte wie ein Kind laut auf.

In des Matrosen Herz stieg es heiß auf, auch ihm rannen die Tränen über die gebräunten Backen.

»War Hannes Ihr Sohn?« fragte er leise.

Ein leichtes Kopfnicken schien es zu bestätigen.

Plötzlich richtete Herr Weißbach den Kopf wieder empor und sagte: »Er war zwar nicht mein Sohn, aber ein naher Verwandter von mir, den ich wie meinen Sohn liebte, und den ich seit Jahren schon suchte. Doch sagen Sie mir, bitte, hat Hannes niemals erzählt oder angedeutet, wie er in den Besitz des Geburtsscheins gekommen ist? Das interessiert mich sehr.«

Der Matrose schöpfte keinen Argwohn.

»Wie ich schon sagte, hatte er selbst keine Ahnung davon. Er zeigte ihn überhaupt nur ungern, denn einmal als er dies getan, wurde er von seinen Kameraden verspottet und bekam von ihnen den Spitznamen ›Freiherr‹. Seit jener Zeit behauptete er immer, wenn einmal das Gespräch auf diesen Geburtsschein kam, er laute nur auf Johannes Schwarzburg.«

»Führte er diesen Schein immer bei sich?«

»Immer, das heißt in seiner Kleiderkiste, wir beide waren die unzertrennlichsten Freunde, was mein war, gehörte auch ihm, und umgekehrt, und so kam es, daß einer auch immer in die Kleiderkiste des anderen ging. Da habe ich denn oft das Papier liegen sehen.«

»Kommt es bei euch Matrosen nicht oft vor, daß ihr euer Zeug irgendwo am Lande zum Aufbewahren gebt?« fragte Herr Weißbach.

»Oho, höchstens schmutzige Hemden und so weiter,« lachte Jochen. »Wenn wir Geld haben, kaufen wir aber lieber neue und ersparen so das Waschen oder das Waschgeld.«

»Papiere nehmt ihr aber stets mit?«

Dem Matrosen kamen diese fortwährenden Fragen, den Geburtsschein betreffend, noch nicht sonderbar vor.

»Ja, stets,« antwortete er, »unsere Papiere haben wir immer bei uns, weil sie uns wichtiger als alles andere sind. Mit Papieren können wir Seeleute mehr anfangen, als mit der größten Summe Geld, sie sichern uns auf jedem Konsulat Unterstützung und freie Reise nach der Heimat. Gehen sie uns verloren, so können wir sie immer wieder unentgeltlich ersetzt bekommen.«

»So ist also auch anzunehmen, daß der arme Hannes alle seine Papiere bei seinem Tode bei sich getragen hat?«

»Auf jeden Fall, wir alle tragen überhaupt unsere Papiere stets bei uns, das heißt, in der Brusttasche, wenn wir an Land gehen. Aber mit Hannes ist es etwas anderes, sein Schiff ist untergegangen und er mit ihm, er ruht jetzt auf dem Meeresgrund.«

»Woraus schließen Sie das? Sein Tod braucht ja nicht gerade auf dem Meere erfolgt zu sein.«

Der Matrose lächelte überlegen.

»Wie kommt denn sonst das Papier in die Raketenbüchse hinein, die von einem Haifisch verschluckt worden ist?« fragte er. »Solche Büchsen gibt es nur an Bord der Schiffe, und Haifische laufen nicht auf dem Lande herum.«

»Sie haben recht,« entgegnete Herr Weißbach, durchaus nicht ärgerlich über den leisen Spott, vielmehr fast erfreut, »aber könnte ich nicht noch Hoffnung haben, daß Hannes, nachdem er schon seine letzten Worte geschrieben, errettet worden ist?«

»Diese Hoffnung ist eine sehr schwache, und gerade bei Hannes. Wir waren schon einmal in einer solchen Lage, daß ich vorschlug, die Nachricht von unserem Tode niederzuschreiben, es war nicht die geringste Hoffnung auf Rettung mehr vorhanden, nichts als Wasser und darin Haifische, die auf uns warteten. Ich tat's auch, aber Hannes, Papier und Bleistift in der Hand haltend, zögerte. Ich erinnere mich noch der Worte, die er damals sprach, trotz des nahen Todes noch immer fröhlich und scherzhaft: Ich schreibe nicht eher, daß ich tot bin, als bis mich ein Haifisch ins Bein beißt, und dann wird der Kerl wohl so freundlich sein und warten, bis ich fertig geschrieben und einen Punkt dahinter gesetzt habe. Wenn Hannes also schreibt, er ist tot, so lebt er auch nicht mehr, der arme Kerl.«

Der Schwarzrock schwieg eine Weile, indem er überlegend vor sich hinblickte.

»Haben Sie eine Adresse, von welcher aus ein an Sie gerichteter Brief Ihnen nachgesandt wird?«

»Allerdings: Heuerbaas Klekam, Hamburg, Große Vorsetzen, Nummer zehn. Warum denn? Wollen Sie mir schreiben?«

»Es könnte sein, daß ich Ihre Aussagen brauche, um den Tod von Hannes Vogel oder vielmehr, um seine eigenen Worte auf dem Papier, welches ich in meinem Schmerz über Bord geworfen habe, und welches seinen nahen Tod verkündete, zu bezeugen. Wären Sie dazu bereit? Es sollte Ihr Schade nicht sein.«

»Natürlich,« rief der Matrose, »jederzeit werde ich mich einfinden, wenn Sie mich brauchen.«

»Das für Ihre Mitteilungen,« sagte Herr Weißbach, griff in seine Westentasche und wollte dem Matrosen ein Geldstück in die Hand drücken.

»Was denken Sie?« rief Jochen, die Hand zurückziehend. »Glauben Sie, ich lasse mir so etwas bezahlen, und noch dazu, wenn es sich um Hannes Vogel handelt?«

Er wollte noch weitersprechen, brach aber plötzlich ab.

Draußen an Deck eilten hastige Schritte hin und her, der Kapitän erteilte laute Befehle, die Winden arbeiteten, Ketten rasselten, alles befand sich in Aufregung.

»Ich werde gebraucht,« sagte Jochen und griff nach der Türklinke, »schon vorhin schien es mir, als wolle ein heftiger Sturm heraufziehen, und während ich hier war, wird er wirklich eingesetzt haben. Hören Sie nur, wie es in der Takelage heult und kracht, da, ein Donnerschlag! Das wird eine böse Nacht für uns. Also nichts für ungut, Herr Weißbach! Was zwischen uns vorgefallen, ist vergessen, wir waren beide unschuldig, und wenn Sie den Jochen einmal brauchen, vielleicht als Zeugen, ich bin immer bereit. Schreiben Sie sich meine Adresse gut auf.«

Nachdem der Matrose die Kabine verlassen, änderten sich Herrn Weißbachs Züge plötzlich wieder, statt der geheuchelten Traurigkeit drückten sie jetzt die wahren Gefühle aus, die in ihm herrschten — Hohn, Freude und Triumph.

»Also tot,« jauchzte er auf, seine Stimme aber dämpfend, »und sein Nichtvorhandensein, sein Fehlen war mein böser Geist. Nun aber ist alles anders geworden, der Tag ist endlich gekommen, da ich hervortreten und den Irrtum aufdecken kann. Freiherr Moritz von Schwarzburg,« sagte er dann zu sich selbst und stand auf, »ich gratuliere. Das alte, reiche Majorat ist wieder dem zugefallen, dem es gebührt, die Erbschleicher sind bis auf den letzten vernichtet. Mein armer Vater, der du von der Schwelle deines eigenen Hauses durch die brüderliche Hand gestoßen worden bist, du kannst mit deinem Sohn zufrieden sein, er hat sein dir auf dem Totenbett gegebenes Versprechen gelost, deine Ehre ist wiederhergestellt — du bist gerächt.«

Die Unruhe draußen wurde immer stärker, die Kommandos und die darauffolgenden Arbeiten immer lauter. Das Schiff hatte seinen vorherigen, ruhigen Lauf verloren; es schwankte hin und her, stampfte auf und ab, und schon schlugen die schäumenden Wogen an das Kabinenfenster des schwarzen Passagiers.

Auch war es fast vollkommen dunkel geworden, dunkler, als es der Zeit nach sein sollte.

Der Schwarzrock schrak zusammen, er wußte selbst nicht warum, es wurde ihm plötzlich unheimlich in der engen Kabine, die Luft wurde ihm schwül. Er hing sich einen langen Mantel um und ging hinaus, um sich zu erkundigen, ob das zu erwartende Unwetter eine Gefahr für den ›Albatroß‹ bedeute.

Aber der Schwarzrock hatte entschieden immer Unglück. Jetzt, da er den Kapitän sprechen wollte, hatte dieser keine Zeit, unnütze Fragen zu beantworten. Er stand auf der Brücke und ließ fortgesetzt Kommandorufe erschallen, welche von seinen Leuten sogleich befolgt wurden.

Die See war aufgeregt, sie ging schon hoch, aber doch nicht so hoch, wie man es bei dem heulenden Sturm hätte erwarten sollen, und dieses eben war es, was den Kapitän seine Leute zu solch schneller Arbeit antreiben ließ. Auf den Kämmen der Wogen brodelte weißer Schaum, das sicherste Zeichen, daß sich bald ihr ruhiges Aussehen verändern, daß sie sich bald in ihrer ganzen, entfesselten Wildheit, bis zur Ungeheuerlichkeit anwachsend, zeigen würden. Da eilte Jochen Voß, in jeder Hand ein Bündel Stricke, an dem Passagier vorüber, der sich wegen der heftig schlingernden Bewegung an die Wanten anklammerte, um nicht von einer Seite des Schiffes nach der anderen geworfen zu werden.

Jochen hatte Seebeine, er ging auf dem schwankenden Deck ebenso sicher umher, wie auf dem Tanzboden.

»Das giebt eine böse Nacht, Herr Weißbach,« sagte er zu dem Passagier, einen Augenblick stehen bleibend. »Gehen Sie lieber in Ihre Kabine, und legen Sie sich in die Koje! In einigen Minuten fängt es an überzudammen, und Sie werden dann ohne Ölzeug so naß wie eine Katze. Passen Sie auf, da kommt schon ein Brecher über,« rief er plötzlich und sprang neben Weißbach, sich wie dieser mit beiden Händen an den Wanten anklammernd.

Die erste große Woge kam in der Ferne angerollt, mit Gischt bedeckt, erst ganz klein aussehend, aber mit Riesenschnelle anwachsend. Plötzlich ward das Schiff auf einer Seite gehoben, als wolle es den Kiel zu oberst kehren, und ehe es seine Lage wieder eingenommen, rollte eine mächtige Sturzsee über Deck einen Kasten mit Hühnern und ein an den Mast gebundenes Schwein mit über Bord nehmend.

Es stand zu erwarten, daß noch mehr solcher sogenannter Brecher überkamen; die See hatte sich plötzlich verändert und warf das Schiff wie eine Nußschale umher. Ehe die zweite Woge das Deck zu überschwemmen drohte, sprang Jochen davon, um den ferneren Kommandos des Kapitäns nachzukommen, nämlich alle Gegenstände an Deck und im Zwischenraum mit doppelten Stricken festzuzurren, das heißt, festzubinden, um so ein Umherschleudern oder gar Überbordspülen derselben zu verhindern.

Des schwarzgekleideten Passagiers Gesicht veränderte sich nicht, während er in die tosende See starrte; kein Zeichen von Angst war in seinen Zügen zu lesen. Er hörte nicht das entsetzliche Sausen und Heulen in dem Tauwerk der Takelage, beobachtete nicht, daß die überspritzenden Wellen ihn bis auf die Haut durchnäßten — seine Brust hob und senkte sich tief, mit Entzücken sog er die feuchte, salzige Luft ein, er fühlte sich mit einem Male als ein anderer Mensch, es war ihm so zu Mute wie einem, der nach langer, beschwerlicher Wanderung zwar todmüde, aber sicher das Ziel erreicht hat.

Ein furchtbar schmetternder Ton, fast wie der einer Trompete, traf plötzlich sein Ohr und ließ ihn aus seinen Träumen erwachen. Er kam aus dem Sprachrohr, welches der Kapitän in der Hand hielt.

»Haltet euch fest!« erklang es daraus.

Die Matrosen stoben auseinander und klammerten sich an dem ersten besten an, was sie erreichen konnten, sie kannten die Bedeutung dieses Mahnrufes.

Eine ungeheure Welle kam plötzlich mit rasender Schnelligkeit auf das Schiff zugelaufen, und ehe sie noch jemand bei sich erwartete, ergossen sich schon die Fluten über Deck, alles bis über den Kopf in Wasser einhüllend, selbst den Kapitän hoch oben auf der Brücke.

Als die Augen wieder sehen konnten, erblickten sie das Unheil, welches das wütende Element angerichtet hatte. Menschenleben waren noch nicht zu beklagen, auch die festgebundenen Fässer, Kisten und so weiter standen noch da, aber die Boote waren bis auf das letzte davongetragen worden. Die Boote sind überhaupt immer das erste, was von den Brechern über Bord gespült wird, weil sie in sogenannten Davits an Stricken hoch in der Luft hängen.

Es war jetzt keine Zeit dazu, über deren Verlust nachzudenken. Alle mußten sich krampfhaft festklammern, um durch die nachfolgenden Brecher nicht das Schicksal der Boote teilen zu müssen — an Arbeiten oder auch nur Verlassen des einmal eingenommenen Platzes war nicht zu denken.

Noch war es bis jetzt hell gewesen, man konnte wenigstens die am nächsten liegenden Gegenstände erkennen, plötzlich aber wurde alles von der schwärzesten Finsternis eingehüllt, und das in der Takelage entstehende Heulen war gar nicht mehr irdisch zu nennen; das Schiff legte sich fast ganz auf die Seite, so daß die Mastspitzen die Wellen berührten, das Hinterteil hob sich hoch heraus, daß die Schraube keinen Wasserwiderstand fand und mit furchtbarer Schnelligkeit so lange herumsauste, bis der Gang der Maschine durch den Regulator wieder gemäßigt wurde.

Das Schiff erbebte in allen Fugen, im Heizraum unten mußte es jetzt schrecklich sein, wo das Wasser durch den Schornstein sich in die Feuerung ergoß, das Feuer auszulöschen drohte und die Heizer in einen erstickenden Dampf gehüllt wurden, dabei kaum noch auf den Beinen stehen könnend, und jeden Augenblick der Gefahr ausgesetzt, an die heißen Platten geworfen zu werden und die entsetzlichsten Brandwunden davontragen zu müssen.

»Achtung, die Parthelen lösen sich,« trompetete wieder das Sprachrohr, und den vibrierenden Klängen konnte man den Schrecken anmerken, der auch die Matrosen bei Vernehmen dieses Mahnrufes befiel.

Derselbe bedeutete ein Brechen eines Mastes.

Die Parthelen sind die Taue, welche von der Spitze des Mastes, vom sogenannten Top bis an die Bordwand laufen, nicht zu verwechseln mit den Wanten, und hier befestigt sind, so daß sie mittels einer Vorrichtung gespannt und gelockert werden können, denn auf ihnen beruht allein bei einem nur einigermaßen heftigen Winde die Standhaftigkeit der Masten. Reißen die Parthelen, so stürzt der Mast unbedingt, die schlanke Stange kann sich nicht selber aufrecht halten.

Es brauchte kein weiteres Kommando, die Matrosen wußten, was sie zu tun hatten, um ihr Leben zu retten. Sie tasteten sich der Bordwand entlang nach dem hinteren Teile des Schiffes zu, wo in einem besonderen Räume die Äxte, Sägen und Entermesser aufgehoben wurden, das sogenannte Kappwerkzeug, denn stürzen die Masten, so müssen die Taue sofort gekappt werden, sonst rammen die an diesen nachschleppenden Masten das Schiff leck.

Sie kamen nicht weit, die unglücklichen Matrosen, das Verhängnis war schneller als sie.

Das Heulen in der Takelage verwandelte sich in ein durchdringendes Pfeifen, die Taue rissen, Holzsplitter und ganze Teile von Raaen stürzten herab, das Deck durchschmetternd, die Masten bogen sich, wie schwankende Rohre, ein furchtbarer Knall, und die Parthelen waren, wie zu straff gespannte Saiten, zersprungen.

Gleichzeitig stürzten die beiden Masten, in viele Teile geknickt, nieder, im Falle die hölzerne Bordwand durchschmetternd.

Es war zu spät für die Besatzung, sie hatte weder Äxte, noch Sägen zur Hand, auch war es unmöglich, jetzt noch solche zu holen.

Donnernd rannten die Masten gegen den eisernen Schiffsrumpf, wie Widderböcke bei jedem Stoß eine neue Vertiefung bohrend, bis der mächtige Stamm durch das Eisen hindurch war und das Wasser sich in den Raum ergoß.

Ingenieur, wie Heizer stürzten mit entsetzten Gesichtern an Deck und begegneten ebensolch verzweifelten; es war keine Hoffnung auf Rettung vorhanden. Was hätten die Boote, wenn sie dieselben auch noch besessen hätten, bei diesem ungeheuren Wogengang genützt — beim ersten Herunterlassen wären sie in Atome zersplittert worden!

Auch das Ruder war gebrochen — wie konnte es anders sein? Welle auf Welle stürzte über Deck, alles mit sich fortreißend. Es gab kein Deck mehr, nur ab und zu hob es sich noch aus dem Wasser hervor, und der auf ihm stehenden Menschen wurden immer weniger. Wie die Gegenstände, an die sie sich klammerten, nach und nach von den Stricken rissen und in den Fluten verschwanden, so auch die Menschen.

Nicht einmal einen letzten Händedruck konnten sie wechseln, nicht einmal das letzte Abschiedswort einander zurufen — die tobende See verhinderte und übertönte alles. Wortlos sanken sie ins bodenlose Grab. Noch hob sich ab und zu die Kommandobrücke über das Wasser, aber der Kapitän stand schon lange nicht mehr darauf, dann verschwand auch diese für immer — der Taifun hatte seinen unzähligen Opfern ein neues hinzugefügt.

Der Morgen war angebrochen. Wohl tosten die Wogen noch mit fürchterlicher Gewalt, aber es war nur ein Nachspiel der Nacht; die Sonne strahlte wieder vom blauen Firmament herab, und der Wind war schwach geworden. Einige Stunden noch, und die Wellen hatten sich beruhigt, nichts hätte verraten, daß ein fürchterlicher Taifun über das Meer gebraust. Aber bald mußten die Schiffszeitungen die Berichte bringen, wie viele Opfer von ihm gefordert waren, und bald liefen in den Häfen jeden Tag Schiffe mit zerbrochenen Raaen und Masten ein, der Reparatur bedürftig.

Eine kleine Brigg war mit einigen geknickten Federn davongekommen. Am ersten Mast fehlten zwei Raaen, der Klüverbaum war gebrochen, und so konnte sie nur langsam den Weg fortsetzen. Auch bemerkte man, daß sich vor dem Sturme in der Mitte des Schiffes ein Schornstein erhoben hatte, aber nicht mehr vorhanden war.

Die Matrosen dieser Brigg standen an der Bordwand, Fernrohre in den Händen und suchten unablässig den Horizont ab. Eine tiefe Niedergeschlagenheit drückte sich in den Gesichtern aller aus, sie schienen den Gegenstand, den sie suchten, nicht erblicken zu können.

Da lenkte der Ausruf eines Matrosen die Blicke nach einer bestimmten Stelle der aufgeregten See. Dort [???] an einem schwimmenden Stück Holz, dem Teile einer [???], ein Mensch, beide Arme um dasselbe geschlungen, den Kopf tief herabgebeugt, nur den Mund über dem Wasser.

Wieder ein Opfer des Taifuns! Die Brigg setzte ein Boot aus, und in wenigen Minuten wurde dem Unglücklichen, der nur noch mechanisch seine Glieder gebrauchen konnte, an Deck geholfen. Oben angekommen, brach er bewußtlos zusammen. Mitleidig machten sich die Matrosen mit ihm zu schaffen. Ein Matrose entkleidete ihn, und als er den Rock auszog, fiel daraus eine schwarze Ledertasche.

»Wir wollen doch sehen, wer es ist,« sagte einer und öffnete die Tasche, »jedenfalls ist er ein Passagier. Hannes, trage diese Sachen hinunter in den Heizraum und hänge sie zum Trocknen auf.«

Der an Deck Liegende schlug Plötzlich die Augen auf und blickte mit starrem Auge um sich.

»Hannes, Hannes,« murmelte es. Dann schrie er laut auf:

»Wo ist Hannes?«

»Hier,« lachte der eben Fortgeschickte und kehrte zurück. »Kennen auch Sie den Hannes Vogel?«

Der Gerettete antwortete nichts, aber er richtete sich auf, riß dem Manne die Brieftasche aus der Hand, umklammerte sie krampfhaft und fiel dann wieder bewußtlos zurück.


12. Des Schicksals Fügung.

Drei Schiffe lagen auf der Reede von Manila, zwei von ihnen zum Absegeln bereit, das dritte noch vor Anker. Erstere beiden waren die ›Vesta‹ und der›Amor‹, letzteres der »Blitz«, welcher noch hier liegen bleiben wollte.

Unter Reede versteht man das Fahrwasser, welches sich noch vor der offenen See und dem Hafen befindet, und in welchem jederzeit Schiffe ankern können, denn es gibt nur wenige Häfen, deren Tiefe auch bei Ebbe den Schiffen gestattet, in sie einzufahren, und so müssen die tiefgehenden Fahrzeuge so lange auf der Reede liegen, bis die Flut eintritt. Desgleichen bleiben diese auch während der Ausfahrt noch einige Stunden auf der Reede, um den Lotsen an Bord zu nehmen und günstigen Wind abzuwarten.

»Wohin geht diesmal die Reise, Miß Thomson?« rief Charles Williams nach der ›Vesta‹ hinüber.

»Das Verbot, den nächsten Hafen zu verraten, ist auf der ›Vesta‹ noch nicht aufgehoben worden,« war die Antwort.

»Fahren Sie nach Neu-Seeland?«

»Ich weiß es nicht.«

»Dann will ich es Ihnen sagen,« lachte Charles, »ich werde bald das Vergnügen haben, Sie in Wellington wiederzusehen.«

»Warum fragen Sie denn erst, wenn Sie es wissen?« rief Miß Thomson, sich entrüstet stellend. »Sie sind doch unverbesserlich, Sir Williams!«

Während sich Miß Thomson mit einer Person des ›Amor‹ unterhielt, wechselte die Kapitänin einige Worte mit dem Kommandanten des »Blitz«.

»Wie lange bleiben Sie noch hier liegen, Kapitän Hoffmann? Kommen Sie mit uns! Der Wind ist günstig, nur noch etwas schwach, er wächst aber von Minute zu Minute.«

»Bedaure,« antwortete Hoffmann, »ich habe noch eine Post zu erwarten. Doch hoffe ich, daß wir uns bald wiedertreffen werden, vielleicht schon morgen.«

»Good bye, auf Wiedersehen!« erscholl es auf beiden Schiffen; Tücher wurden geschwenkt, dann schickten Kommandos die Mannschaft in die Takellage, die Segel wurden entfaltet, und bald nahmen die beiden Schiffe, [???] denen der ›Amor‹ einen Lotsen an Bord hatte, [???]am die Fahrt auf.

Kapitän Hoffmann blickte ihnen nach, welche durch Last der vom günstigen Winde geschwellten Segel stark auf der Seite lagen, ab und zu wandte er aber auch die Augen nach dem Hafen zu, als erwarte er von dort ein Schiff oder Boot, und wie er den Blick abwechselnd nach den beiden sich immer mehr entfernenden Schiffen und dann wieder nach dem Hafen richtete, hätte man fast vermuten können, daß zwischen diesen beiden gewisse Beziehungen beständen.

Da plötzlich erweiterten sich die Augen des Deutschen, er brauchte kein Fernrohr in die Hand zu nehmen, um zu erkennen, wie aus der Hafeneinfahrt ein kleiner Dampfer herauskam und aus dem Schornstein dichte Rauchwolken ausstoßend, mit aller Kraft dem freien Fahrwasser zustrebte.

Am Heck des kleinen Fahrzeuges flatterte die spanische Kriegsflagge, es war ein Regierungsdampfer.

»Meine Bemühungen waren vergeblich, das Geld ist nutzlos ausgegeben,« murmelte Hoffmann, »aber nein, es kann nicht sein, es ist mir fest versprochen worden. Hält er sein Versprechen nicht, so hat er mich zu fürchten, und überdies kennt er mich. Da, der Kapitän signalisiert schon.«

Hoffmann ließ Ingenieur Anders zu sich rufen und sprach kurze Zeit mit ihm. Über des jungen Mannes Züge ging ein leichtes Lächeln.

Auf dem Dampfer ward durch Flaggen dem »Blitz« der Befehl gegeben, Name und Nationalität zu signalisieren.

Hoffmann wußte ganz genau, daß dem Kapitän der »Blitz« sehr wohl bekannt war, aber daß das Manöver nur geschah, um dem ausländischen Schiffe seine Autorität zu zeigen.

Hoffmann mußte der Aufforderung nachkommen, er ließ die deutsche Flagge und die Wimpel seines Schiffes hissen.

Jetzt war der Dampfer vom »Blitz« quer ab, der Kapitän, ein noch sehr junger Mann ließ die Maschine stoppen, grüßte hinüber und fragte: »Kapitän Hoffmann?«

»Felix Hoffmann, Kapitän des deutschen Vollschiffes »Blitz,« antwortete der Gefragte.

»Im Namen des Königs, der »Blitz« verläßt die Reede von Manila nicht, bis er die Erlaubnis dazu erhält,« klang es bestimmt aus dem Munde des jungen Mannes, der die Uniform der spanischen Seeoffiziere trug.

Die Matrosen auf dem »Blitz« sperrten vor Verwunderung Nase und Mund auf, sie glaubten ihren Ohren nicht trauen zu dürfen, brachen dann aber gleichzeitig in ein schallendes Gelächter aus. Doch der Bootsmann sorgte dafür, daß es noch im Keime erstickt wurde.

Doch auch die beiden Steuerleute waren bestürzt, begaben sich zu Hoffmann und baten um Aufklärung über diesen seltsamen Befehl von dem spanischen Kriegsschiffe, der einer Verhaftung ähnlich sah. Hoffmann war der einzige an Deck, der seine Ruhe vollkommen behalten hatte, ja, sogar ein spöttisches Lächeln schwebte um seine Lippen.

»Es handelt sich nur um eine Kleinigkeit,« antwortete er. »Kapitän Juarez ist von seinen eigenen Leuten wegen Erpressung angezeigt worden, weil er die ihnen versprochene Beute nicht herausgerückt hat. Nun sollen wir alle, das heißt, die Besatzung der ›Vesta‹ und des ›Amor‹, ebenso wie ich, Anders und Brentano als Zeugen vernommen werden. Daher der Befehl, daß der »Blitz« die Reede nicht verlassen soll.«

»Aber die Engländer und ganz besonders die Damen werden sich verdammt wenig daran kehren, wenn ihnen der junge Kerl da zuschreit, umzukehren,« meinte der erste Steuermann lachend.

»Sie haben überdies die Reede bald verlassen,« ergänzte der zweite Steuermann.

»Sind aber noch nicht auf neutralem Gebiete,« meinte Hoffmann achselzuckend, »und ehe sie dies erreicht haben, ist der Dampfer bei ihnen und wird sie mit Gewalt zur Umkehr zwingen.« »Teufel!« Klaus Uhlenhorst stampfte mit dem Fuße auf. »Daß wir uns wegen solch einer Lappalie aufhalten lassen! Sind wir schon so ärgerlich darüber, wie werden erst die dort aufgebracht sein. Ich glaube, sie fordern den Kapitän heraus, Gewalt anzuwenden, auch ich möchte es fast tun.«

»Das würde ihnen teuer zu stehen kommen, sie dürften nur den ersten besten Hafen anlaufen und wären sofort verhaftet, weniger darum, weil sie der im Namen des spanischen Königs gegebenen Aufforderung, zurückzukehren, nicht gefolgt sind, als vielmehr darum, weil sie die internationalen Seegesetze gebrochen haben. Das Seegericht versteht darin keinen Spaß; mit Geld wäre die Sache nicht abgemacht.«

»Konnte man denn die Sache nicht vorher gütlich beilegen,« fragte Adam Nagel, »so daß die übrigen nicht als Zeugen aufzutreten brauchten? Diese Verzögerung wegen dieses gelben Schuftes ist doch zu schändlich«

»Ich war der einzige, welcher von der Verhaftung des Kapitäns überhaupt etwas wußte.«

»Hätten Sie sich nicht an einen höheren Beamten wenden können, damit Sie aus dem Spiele blieben?«

»Das habe ich auch getan, und ich hoffe noch immer, daß der Gegenbefehl kommt. Diese beiden Schiffe dort will ich aber auf jeden Fall vor solch einer unangenehmen Sache bewahren. Sehen Sie, der spanische Kapitän hat mit seinen Offizieren beratschlagt, die Flagge, das Haltesignal wird gehißt, und er gibt Befehl, die Fahrt hinter den beiden Schiffen fortzusetzen. Passen Sie auf!«

Es war alles so geschehen, wie Hoffmann seinen beiden Steuerleuten eben geschildert hatte.

Der spanische Kapitän drehte den Signalapparat auf der Brücke — so nahe war das Schiff am ›Blitz‹, daß die Matrosen des letzteren das Klingeln hören konnten — dem Schlote entstieg wieder eine dunkle Rauchwolke, und der Dampfer mußte sich in Bewegung setzen.

»Carracho!« schrie der Kapitän, als nichts davon zu merken war, daß sich die Schraube umdrehte. »Hört der Schuft unten im Maschinenraum nicht?«

Er ließ den Apparat noch einmal, zweimal, dreimal das Zeichen zur Abfahrt geben, es war die höchste Zeit, die beiden Schiffe, welche zurückgebracht werden sollten, wurden immer kleiner — aber das Schiff kam keinen Zoll vorwärts. Und doch arbeitete die Maschine, das verriet einmal der aus den Ventilen strömende Dampf und dann auch die Erschütterung, die man überall spürte.

»Was ist das?« schrie der Kapitän wütend. »Beim heiligen Antonio, ist denn der Kerl da unten behext?«

Ein anderer Offizier war nach hinten gesprungen, beugte sich über die Bordwand und spähte in das Wasser, welches hier so klar war, daß man auf dem Grunde die Seegewächse erblicken konnte.

Aber wie er auch schaute, sich die Augen rieb und wieder hinuntersah, die wunderbare Tatsache ließ sich nicht wegleugnen, die Schraube war verschwunden, oder doch die vier Flügel, ohne welche die Schraube keine solche war.

Niemand wollte glauben, was der Offizier mit grenzenlosem Erstaunen feststellte, am wenigsten der Kapitän, aber es half alles nichts — sie überzeugten sich, daß seine Behauptung eine richtige war; alle vier Fügel waren gleichzeitig abgebrochen, oder vielmehr, wie sie bald inne wurden, von den Schrauben abgenommen worden, als wären Menschenhände dabei tätig gewesen.

Die Mannschaft, abergläubische Spanier, waren über das Ergebnis ihrer Untersuchung so erschrocken, daß sie an allen Gliedern zitterten, der Kapitän nicht ausgenommen.

»Hol' mich der Teufel, wenn das mit rechten Dingen zugeht!« rief derselbe endlich. »Hat jemand je so etwas gehört, daß bei schönstem Wetter die Flügel von der Schraube losgehen, und auch noch dazu alle vier auf einmal? Wenn es Wunder gibt, so ist das eins.«


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Über die Richtigkeit dieser Behauptung waren sich die anderen Spanier schon lange klar.

Bald aber verwandelte sich ihr Schrecken in den entsetzlichsten Zorn. Die Matrosen des ›Blitz‹ hatten schnell erfaßt, um was es sich handelte. Sie sahen erst auf ihren Kapitän, den Hilfsingenieur und die beiden Steuerleute, welche in ein ernstes Gespräch vertieft waren, als hätten sie überhaupt nichts bemerkt, dann brachen sie, wie auf Kommando in ein schallendes Gelächter aus, welches gar nicht enden wollte.

»Der ›Amor‹ und die ›Vesta‹ sind bald schon am Horizont untergetaucht,« sagte Hoffmann eben zu seinen Offizieren, »sie haben also nichts mehr zu fürchten, und ich werde schon unbelästigt davonkommen. Überdies erwarte ich noch jeden Augenblick, daß ein Gegenbefehl eintrifft.«

»Dort kommt wieder ein solch kleiner Dampfer,« rief der erste Steuermann, »der wird ihn bringen. Seiner Bauart nach scheint es ein Aviso zu sein.«

Der Aviso ist eine besondere Art von Kriegsschiffen, sie sind nach den Torpedobooten die schnellsten Fahrzeuge und hauptsächlich dazu bestimmt, unverzügliche Befehle oder Aufhebung von solchen den Schiffskapitänen nachzubringen, sie werden überhaupt immer da verwendet, wo es sich um die größte Schnelligkeit handelt.

»Er ist es,« sagte Hoffmann, das Schiff durch das Fernrohr musternd: »der Alkalde, mein Freund, hat den Gegenbefehl erwirkt. Wäre aber jenes Fahrzeug dort nicht unfähig, weiterzufahren, so würde er doch zu spät gekommen sein. Die ›Vesta‹ und der ›Amor‹ hätten umkehren müssen.«

»Ein Boot wird hinten nachgeschleppt.«

»Es ist das erwartete Postboot,« sagte Hoffmann, »auch wir können unsere Reise antreten.«

In einigen Minuten lag das neuangekommene Fahrzeug neben dem ›Blitz‹, und in aller Förmlichkeit wurde Hoffmann von dem Kapitän verkündet, daß der ›Blitz‹ ohne Hindernis die Reede von Manila verlassen könne, der vorige Befehl beruhe auf einem Irrtum.

Dann wandte sich der Kapitän an seinen Kollegen auf dem anderen Schiffe und erfuhr, daß der ›Amor‹ und die ›Vesta‹ keine Aufforderung zur Umkehr erhalten hatten, und zwar infolge der rätselhaften Entfernung der Schraubenflügel, was auch die Besatzung dieses Dampfers mit namenlosem Staunen erfüllte.

Nach kurzer Besprechung der beiden Kapitäne wurde die Lage des Ortes, wo das Unglück stattgefunden, genau bestimmt, um die Flügel später durch Taucher suchen zu lassen, dann wurde der beschädigte Dampfer von dem anderen ins Schlepptau genommen und zurückbugsiert.

Unterdessen war das Boot mit der Post und einem Ruderer, welches, im Staatsdienste stehend, von dem Regierungsdampfer hierhergeschleppt worden war, an den ›Blitz‹ gerudert, der Postbote hatte sich an Bord begeben und war von Georg, der Ordonnanz des ›Blitz‹, ohne Aufenthalt nach dem Arbeitszimmer des Kapitäns geführt worden.

Der Mann entnahm der Posttasche eine Anzahl Briefe und Pakete, ließ sich darüber quittieren und zog dann aus dem Rocke einen anderen Brief.

»Privat,« sagte er und händigte ihn Hoffmann aus.

»Wer gab Ihnen diesen?« fragte der Ingenieur, den Brief betrachtend, der keinen Poststempel trug, also dem Beamten von irgend einer Privatperson zur Beförderung gegen ein Trinkgeld mitgegeben worden war. Auf dem Umschlage stand mit großen Buchstaben ›Eilig‹ mehr als dick unterstrichen.

»Ich war schon im Boot,« erzählte der Postbote, »als ein anständig gekleideter Mann, anscheinend ein Spanier — wenigstens war er so gekleidet, des Weges daherkam, und, als er uns schon abstoßen sah, zu laufen anfing. Er gab mir diesen Brief mit dem eindringlichen Bemerken, Ihnen das Schreiben ja sofort einzuhändigen; um es auf die Post zu tragen, war es zu spät. Es war ein sehr anständiger Herr.«

Diese letztere Bemerkung bezog sich wahrscheinlich auf das reichliche Trinkgeld, das der Mann von dem Herrn für diesen Gefälligkeitsdienst erhalten hatte.

Hoffmann öffnete den Brief.

Plötzlich wurde sein Gesicht leichenblaß, diesmal konnte er seine Aufregung nicht verbergen.

»Beschreiben Sie mir den Herrn!« sagte er kurz zu dem Beamten.

Dieser gab ihm eine Schilderung der Persönlichkeit aber Hoffmann konnte sich nicht besinnen, wer der Fremde gewesen sei.

»Es ist gut! Verlassen Sie das Schiff, der ›Blitz‹ fährt in einer Minute ab!«

Der Telegraph klapperte unter seiner Hand, er gab den Steuerleuten, wie dem Ingenieur den Befehl, den ›Blitz‹ so schnell wie möglich zur Abfahrt bereitzumachen.

Georg half dem Postbeamten wieder ins Boot, welches diesmal durch Rudern zurückgebracht werden mußte.

»Was sagst du eigentlich zu dem allen, Georg?« fragte ein Matrose die Briefordonnanz des Kapitäns, die gewöhnlich in die Geheimnisse ihres Herrn eingeweiht war.

»Wozu?«

»Ich meine, daß die Schraubenflügel des Dampfers so plötzlich fehlten, gerade als er den beiden Schiffen auch die Nachricht bringen sollte, nicht abzufahren, sondern umzukehren.«

Georg schmunzelte und deutete mit dem Daumen über die Schulter dahin, wo das Arbeitszimmer des Kapitäns lag.

»Der Kapitän wollte eben nicht, daß der Dampfer weiterfuhr, und da hat er denn dafür gesorgt. Verstehst du?«

»Na ja, das dachte ich mir auch. Aber wie kommt es, daß dann plötzlich der erste Befehl, wir sollten die Reede nicht verlassen, wieder aufgehoben ward?«

Georg antwortete nicht, wenigstens nicht mit Worten. Er legte die Hand auf den Rücken und machte mit den Fingern die Bewegung des Geldzählens — der Matrose hatte verstanden. — — — — — — — — — — —

Der Taifun hatte sich ausgetobt, nicht nur der Wind hatte sich gelegt, nach vierundzwanzig Stunden glich auch die See wieder einem glänzenden Spiegel.

Aber was half dies dem schönen Vollschiff, welches sich so schwer von einer Seite auf die andere wälzte? Seine Takelage war fast vollständig vernichtet. Wohl streckten sich die Masten noch stolz in die Höhe, aber sie hatten das Aussehen von entlaubten Pappeln, keine Raa mehr war an ihnen zu sehen, nur noch einige Stümpfe derselben, das Fahrzeug war zum Segeln unfähig.

Weibliche Matrosen waren es, welche das Schiff während des Taifuns bedient und doch wenigstens verhindert hatten, daß es, wie so viele andere, unterging — die Vestalinnen. Aber wenn es auch noch auf dem Wasser schwamm, die Zeit war doch nicht mehr fern, da es für immer die Oberfläche mit dem Meeresgrund zu vertauschen drohte — sein Untergang schien unvermeidlich. Das bezeugte die Beschäftigung der Mädchen.

Sie hatten nur wenige Notsegel gesetzt, so viele, wie die Takelage noch erlaubte, aber sie beschäftigten sich nicht mit dieser, sondern die eine Hälfte von ihnen befand sich am mittelsten Mast, wo die Pumpe stand und setzte diese ohne Unterbrechung in Bewegung.

Die ›Vesta‹ leckte. Schon fast zwanzig Stunden bemühten sich die Mädchen, ihr Schiff, ihren Stolz vor dem Sinken zu bewahren. Sie konnten sich noch nicht entschließen, in Booten das schmucke Fahrzeug zu verlassen, in dem sie einst triumphierend wieder in den Heimatshafen hatten zurückkehren wollen.

Noch hofften sie, einem Dampfer zu begegnen, der sie ins Schlepptau nehmen und nach einem Hafen bringen würde. Sie wollten schon dafür sorgen, daß das einströmende Wasser immer wieder aus dem Kielraum entfernt würde. Bluteten auch schon infolge der schweren Arbeit ihre Hände, sie ließen nicht nach. Die eine Hälfte von ihnen pumpte immer, während sich die andere von der Anstrengung ausruhte und die blutigen Hände verbunden wurden. Selbst die befreiten Mädchen waren zu dieser harten Arbeit mit herangezogen worden, und sie hatten willig der Aufforderung Folge geleistet, galt es doch die Erhaltung des eigenen Lebens.

Der ›Amor‹ war schon vorgestern abend, gleich zu Beginn des Taifuns, außer Sicht gekommen. Möglich sogar, daß ihn schon das Schicksal erreicht, welches ihr Schiff noch erwartete, möglich auch, daß die Herren schon auf Booten in der offenen See umhertrieben, ja sogar auf dem Meeresgrund neben dem Wrack des ›Amor‹ ruhten.

»Es ist wenigstens ein Glück im Unglück, daß unser Steuerruder nicht gebrochen ist,« ermutigte Ellen ihre Freundinnen, »dadurch können wir es doch so einrichten, daß wir in eine Dampferlinie getrieben werden. Ehe wir die nächste erreichen, dauert es allerdings bei unserer äußerst langsamen Fahrt wenigstens noch fünfzehn Stunden, haben wir aber schon so lange ausgehalten, so können wir auch diese Zeit noch ertragen.«

Die Gefährtinnen antworteten nicht. Sie verbissen den Schmerz, der wie Feuer in den wunden Handflächen brannte, und drehten unablässig die Kurbel weiter.

Niemand schloß sich davon aus, und die Kapitänin ging allen mit gutem Beispiel voran.

»Was werden wir tun, wenn wir das Schiff nicht mehr halten können?« fragte eine Vestalin.

»Dann gehen wir in die Boote,« versetzte Ellen. »Gott sei Dank, daß sie uns nicht weggespült worden sind. Unsere Lage ist noch keine so schlimme; in ihnen können wir in vier Stunden die Dampfahrlinie bequem erreichen und sind dann geborgen. Schlechtes Wetter haben wir nicht zu fürchten.«

»O, das wird herrlich,« rief Hope, »wie freue ich mich, wenn wir erst die Reise in Booten beginnen! Ist das nicht gerade wie in dem Theaterstück, welches wir in Batavia aufführten? Dann wünsche ich nur, der ›Amor‹ nähme uns auf.«

Alle mußten über das junge Mädchen lachen, dessen Frohsinn ansteckend wirkte. Hopes glückliche Natur wußte selbst aus der bittersten Blume Honig zu ziehen, das heißt, sie fand in der traurigsten Lage etwas, woran sie sich erfreute.

Vier Stunden waren vorüber, die ausgeruhten Mädchen kamen wieder an Deck, um ihre Freundinnen abzulösen. Ellen maß, wieviel Wasser im Kielraume stand, und fand, daß es dank dem ununterbrochenen Pumpen nur wenig zugenommen hatte. Dann fragte sie, wie bei jeder Ablösung, welche der Vestalinnen sich nicht mehr der Arbeit des Pumpens unterziehen wolle, sondern die Zuflucht zum Boote zu nehmen wünsche.

Niemand antwortete; alle waren entschlossen, so lange wie möglich auf der ›Vesta‹ zu bleiben, um doch noch das schöne Schiff zu retten.

Es wurde Abend, und noch war kein Segel erblickt worden; nach und nach erfaßte die Herzen der Mädchen ein ungestümes Verlangen nach Befreiung von dieser harten Arbeit. Fragte Ellen bei der Ablösung, wer die ›Vesta‹ verlassen wolle, so hatte manches Mädchen schon ein ›Ich‹ auf der Zunge — und der Stimme einer einzigen mußte gefolgt werden, so war von vornherein ausgemacht worden — aber keine wollte die erste sein, welche ihre Mutlosigkeit zu erkennen gab, und so trat, als die Glocke acht Glasen schlug, immer wieder die eine Hälfte der Mädchen an die Pumpe.

Die Nacht brach an.

Auf Ellens Geheiß wurden Raketen an Deck geschafft und diese in regelmäßigen Zwischenpausen in die Luft gesendet. Vielleicht, daß die weithin sichtbaren Feuergarben von einem Schiffe bemerkt wurden, das ihnen dann Rettung brachte.

Stunde auf Stunde verrann, es kam keine Antwort. Eine tiefe Verzagtheit bemächtigte sich der Mädchen, welche vergebens nach Feuern, das heißt, nach Lichtern von Schiffen ausspähten. Oft wurden sie dabei von Sternen getäuscht; manchmal brachte der Ausruf: »Ein Feuer! Ein Licht!« die Herzen zum schnelleren Schlagen, aber immer war die Freude eine vergebliche gewesen — die Ruferin hatte einen neuen, am Horizont aufgehenden Stern für das gelbe Licht eines Dampfers gehalten, selbst der erfahrenste Seemann irrt sich oftmals auf diese Weise.

»Ein Feuer! Das Toplicht eines Dampfers!« erschallte abermals der Ruf; es war Hope, welche zum ersten Male heute nacht diesen Ruf ausstieß.

»Drei Raketen!« ordnete Ellen an und fügte hinzu: »Wolle Gott, daß es sich diesmal bewahrheite.«

»Kraft meines Namens!« entgegnete Hope freudig. »Es ist das Licht eines Dampfers.«

Zischend fuhren die Raketen in die Luft, sich oben in Leuchtkugeln zerteilend, und bald zeigte sich, daß Hope, auf deutsch die ›Hoffnung‹, wirklich ihren Namen nicht umsonst führte.

Dort, wo nach ihrer Angabe das Feuer aufgetaucht war, leuchteten ebenfalls einige helle Strahlen zum Himmel empor, sich aber nicht oben in Leuchtkugeln verteilend, sondern in einen silbernen Sprühregen, der weithin sichtbar war.

»Mein Gott,« rief Ellen, »das könnte der ›Amor‹ sein. Er führt diese Raketen an Bord, die man sonst selten auf Schiffen findet.«

Auch die anderen Vestalinnen waren der Meinung, daß dies leicht der Fall sein könnte. Der ›Amor‹ war ja mit ihnen zusammengefahren, er mußte sich in dieser Gegend aufhalten.

Aber wieder verstrichen einige Stunden, und noch konnten sie nicht erkennen, ob das Schiff der ›Amor‹ sei oder nicht, welches schon ganz dicht in der Nähe war. Wohl forderte der Dampfer — ein solcher mußte es nach dem oben am Maste hängenden, weißen Lichte sein — wiederholt die ›Vesta‹ auf, ihren Namen zu signalisieren, aber diese konnte es nicht mehr; die farbigen Raketen, durch welche eine Antwort möglich, waren alle verschossen, und leider tat das Schiff nicht selbst das, was es von dem anderen verlangte. Aber sobald die ›Vesta‹ eine Rakete in die Luft sandte, tat der nahe Dampfer das gleiche, und so konnten sich die beiden Schiffe trotz der dunklen Nacht nicht verlieren.

Daß sich der Kapitän nicht sofort zur Rettung der Hilfsbedürftigen entschloß, verdachte ihm niemand. Jenes Schiff war ja ein Dampfer, und der Kapitän konnte nicht wissen, ob nicht hinter dem Wrack Taue schleppten, in die sich die Schraube verwickeln konnte. Der erste Morgenstrahl des folgenden Tages machte aber eine Verständigung möglich, und dann würde die Bergung der Schiffbrüchigen sofort erfolgen. Außerdem besaßen die Mädchen noch ein Mittel, auch jetzt das Schiff sofort herbeizurufen. Man brauchte nur das sogenannte Blaselicht, eine Fackel von Werg, welches mit Benzin oder Petroleum getränkt worden ist, hin- und herzuschwingen, so würde der Kapitän jenes Schiffes, besaß er ein rechtschaffenes Herz, sicher sofort herbeieilen.

Der zweite Morgen auf dem lecken Schiff brach an.

Es ist eigentümlich, wie schnell auf dem Meere die Nacht mit dem Tage wechselt, und ganz besonders zeigt sich diese Eigentümlichkeit in den Tropen. Eben ist es noch ganz dunkel, da übergießt mit einem Male der erste Strahl der aufgehenden Sonne das Meer mit goldenem Licht so daß man plötzlich weit in die Ferne sehen kann.

So war es jetzt auch hier.

Kaum war dieser Moment gekommen, so konnten auch die Mädchen das wartende Schiff schon ganz deutlich erkennen, und Freude erfüllte aller Herzen — es war wirklich der ›Amor‹.

Auch dieser hatte sofort, trotz der verwüsteten Takelage, die ›Vesta‹ erkannt, ein einstimmiger Freudenschrei traf das Ohr der Vestalinnen, eine Dampfwolke wirbelte aus dem Schornstein, und schnell näherte der ›Amor‹ sich dem hilfsbedürftigen Schiffe.

»Auch sie haben Havarie erlitten, aber bei weitem nicht soviel, wie wir; ihre kleine Brigg bot dem Sturme weniger Widerstand, als unser Vollschiff. Am ersten Maste fehlen nur zwei Raaen,« sagte Ellen.

»Was haben sie denn für einen seltsamen Schornstein?« meinte ein anderes Mädchen.

Dieser war wirklich auffallend. Es war nicht mehr derselbe, wie früher, man konnte ihm beim ersten Blicke ansehen, daß er von den Händen der Heizer plump aus gerolltem Eisenblech zusammengesetzt worden war. Aber er gestattete doch, daß der Kessel gefeuert und der ›Amor‹ unter Dampf fahren konnte.

»Wollen Sie die ›Vesta‹ verlassen?« fragte Lord Harrlington hinüber.

Die Vestalinnen berieten sich schnell, was zu tun sei. Ehe sie nach dem nächsten Hafen kamen, dauerte es wenigstens noch zwei Tage, und so lange konnten sie unmöglich das Pumpwerk in Betrieb erhalten. Es mußte sein, es gab keine andere Möglichkeit, als die ›Vesta‹ ihrem Schicksale zu überlassen.

»Was liegt uns an dem Schiffe,« suchte Ellen zu trösten, »es ist ja nichts weiter, als Holz. Die uns liebgewordenen und notwendigen Gegenstände nehmen wir mit und kaufen uns einfach ein anderes, noch besseres Schiff.«

Die uns liebgewordenen Gegenstände! Ach, es war ihnen ja schon alles ans Herz gewachsen, sie liebten ja die ›Vesta‹ selbst, vom Mast bis zum Kiel.

»Ja, wir wollen die Vesta verlassen,« rief Ellen mit fester Stimme, der man aber doch einen traurigen Klang anhörte, hinüber, »und unter der Bedingung begeben wir uns auf den ›Amor‹, daß wir von hier aus sofort nach dem nächsten Hafen gebracht werden.«

»Das versprechen wir Ihnen,« war die Antwort vom ›Amor‹.

Die Mädchen eilten in ihre Kabinen, rafften alles Notwendige zusammen, die Kapitänin versah sich außerdem noch mit den Schiffspapieren, und dann bestiegen sie die Boote, welche sie nach dem ›Amor‹ bringen sollten. Das war die erste Fahrt. Das zweite Mal wurden die Boote mit dem beladen, was die Damen als Andenken mitzunehmen wünschten, und erlaubte der Wasserstand der ›Vesta‹ noch eine dritte Überfahrt, so sollten auch noch verschiedene Wertsachen, wie Instrumente, kostbare Möbel und so weiter, in Sicherheit gebracht werden.

Die Boote lagen zum zweiten Male längsseits des ›Amor‹, die Herren waren behilflich, den Mädchen die dargereichten Erinnerungsstücke abzunehmen, eben hob Williams Hopes Krokodil an Deck, von dem sich das Mädchen auf keinen Fall trennen wollte, weil sie es selbst geschossen hatte, als plötzlich auf dem ›Amor‹ ein vielstimmiger Ruf erscholl.

»Das Geisterschiff!«

Wie elektrisiert sprang alles auf. Man ließ alles stehen und liegen, das Krokodil entfiel Charles Hand und stürzte ins Wasser, wurde aber von Hope sofort wieder ins Boot gezogen, und aller Augen wandten sich der Richtung zu, von welcher das Geisterschiff kommen sollte.


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»Es ist ja der ›Blitz‹,« rief ein Mädchen.

»Nun ja,« entgegnete Harrlington, »wer zweifelte denn noch in letzter Zeit daran, daß das Geisterschiff und der ›Blitz‹ eins wären?«

Seit dem Tage, da einige der Reisenden vom Bord des ›Blitz‹ aus in die Tiefe getaucht, war es allen zum Bewußtsein gekommen, daß dieser mit dem ›Geisterschiff‹ identisch sei. Kamen ab und zu noch Zweifel an der Richtigkeit einer solchen Behauptung, so hielt es jeder für gut, mit seiner Meinung betreffs dieser Sache zurückzuhalten.

Was jetzt das Mädchen zu dem Ausrufe, daß es der ›Blitz‹ sei, veranlaßte, war das Aussehen des Schiffes. Es glich dem rätselhaften Fahrzeug allerdings vollkommen, aber das runde Deck fehlte. Die Farbe war zwar schwarz, aber es fuhr ebenso wie das Geisterschiff, ohne Segel und doch mit einer ungeheuren Schnelligkeit.

Mit dem Fernrohre konnte man Kapitän Hoffmann und seine Leute an Deck stehen sehen.

»Sollte es ihm nicht gelingen, die ›Vesta‹ zu retten?« brach Ellen das Schweigen.

Niemand hielt jetzt die Gelegenheit für passend, über die seltsame Erscheinung des ›Blitz‹, den sie als solchen zum ersten Male ohne Segel mit Hilfe der Maschine fahren sahen, zu sprechen, die Situation war eine zu ernste.

»Wie könnte dies Kapitän Hoffmann bewerkstelligen?« fragte Miß Thomson.

»Es ist anzunehmen, daß auf dem ›Blitz‹ große Pumpen vorhanden sind, wie könnte sonst die Luft in den Skaphandern zusammengepreßt werden, wozu doch eine ganz gewaltige Kraft nötig ist? Der ›Amor‹ mit seiner kleinen Pumpe kann uns nicht über Wasser halten, wenigstens nicht, wenn er zur gleichen Zeit dampfen soll, und dies würde zum Schleppen doch erforderlich sein — Lord Harrlington hat es mir vorhin bedauernd mitgeteilt.«

»All right,« rief Hope, die mit ihrem nassen Krokodil auf dem Schoße im Boote saß, »so gehen wir an Bord zurück und lassen uns von dem Zauberschiff nach Wellington bugsieren. Vielleicht zaubert Hoffmann das Leck auch zu.«

Der ›Blitz‹ war herangekommen. Aber Kapitän Hoffmann schien weder von der wracken ›Vesta‹, noch von der Ausschiffung der Damen Notiz zu nehmen. Er hatte nur Augen für den ›Amor‹, keinen Blick wendete er von diesem.

Ohne den Lauf des Schiffes zu mäßigen, ließ er ein Boot aussetzen, sprang den beiden Matrosen nach und fuhr an die Brigg. Auch hier wurde die Tatsache festgestellt, daß das Boot ohne Dampf, ja, ohne sichtbare Maschine, von einer geheimnisvollen Kraft getrieben wurde.

Im nächsten Augenblicke stand Hoffmann an Deck.

»So leben Sie noch,« rief er, und seiner Stimme merkte man an, welche Aufregung ihn beherrschte, »so brauche ich mich noch nicht zu beschuldigen, durch eigenmächtigen Eingriff in den Lauf des Schicksales Ihr Leben vernichtet zu haben? Wo ist Marquis Chaushilm? Schnell, schnell, jede Sekunde ist kostbar.«

Erstaunt betrachteten die Herren, wie auch die schon auf dem ›Amor‹ befindlichen Mädchen, den Sprecher. Der Sinn seiner Worte war allen dunkel.

»Wo ist Marquis Chaushilm?« wiederholte Hoffmann mit einer an ihm sonst nie bemerkten Heftigkeit. »Um Gottes willen, wo ist er?«

»Hier,« antwortete der Gerufene und trat hinter dem Boot hervor, das ihn verborgen hatte.

Niemand begriff, welcher Grund den sonst so kaltblütigen Ingenieur zu solchem Ungestüm bewegte.

»Haben Sie in Manila Kokosnüsse gekauft?« fragte Hoffmann.

Nicht nur Chaushilm, auch die übrigen konnten bei dieser seltsamen Frage kaum ein Lächeln unterdrücken. Wie kam der Ingenieur plötzlich auf so etwas?

»Allerdings,« antwortete der Marquis, »mehrere, darunter ein wahres Riesenexemplar. Sie selbst waren ja dabei, als ich sie kaufte. Während des Taifuns sind sie wie Kegelkugeln in meiner Kabine herumgerollt.«

»Vielleicht zu Ihrem Glück, lassen Sie die große Nuß holen, oder besser, führen Sie mich nach Ihrer Kabine!«

Aber schon hatte Hannes die erste Aufforderung befolgt, er brachte die riesige Nuß in beiden Armen geschleppt.

Alle hatten sich um den Ingenieur versammelt und schauten ihm gespannt zu, wie er die Nuß vorsichtig auf ein Faß legte und äußerlich untersuchte. Sein Benehmen min ihnen einfach unbegreiflich.

Die Kokosnuß ist mit einer Art von brauner Pflanzenfaser dicht umhüllt, und diese wies, im Verhältnis zu ihrer Größe, ganz besonders lange und eng zusammenstehende Haare auf. Der Ingenieur hob dieselben sorgfältig auf, so wie man ungefähr zu tun pflegt, wenn man auf dem Kopfe einer Person eine Wunde vermutet, und untersuchte auf das genaueste die nackte Schale.

Plötzlich entfuhr ein Ruf der Überraschung seinem Munde.

»Ich bin nicht belogen worden,« sagte er ernst, »Marquis Chaushilm, Sie haben keine einfache Kokosnuß gekauft, sondern etwas ganz anderes, wie Sie gleich sehen werden.«

Er brachte ein Taschenmesser mit Schraubenzieher zum Vorschein und begann damit die Nuß zu bearbeiten, und siehe da, eine Schraube nach der anderen löste sich aus der Schale, und als die letzte herauskam, klappte der Ingenieur die beiden Hälften der Nuß auseinander.

Ein furchtbares Entsetzen bemächtigte sich der Umstehenden, als sie die Kokosnuß jetzt geöffnet vor sich liegen sahen.

»Eine Granate,« riefen sie einstimmig.

»Ja, eine Granate,« wiederholte Hoffmann ernst, »eine mit Dynamit gefüllte Granate und hier,« er grub die Hand langsam in die pulverige, graue Masse, welche das Innere ausfüllte, und zog sie sofort mit einem kleinen, runden Gegenstande zurück, »und hier die Uhr, welche sie explodieren lassen sollte. Es ist eine Höllenmaschine, ihr Äußeres ist kunstvoll wie eine Kokosnuß ausgestattet, und sie wäre explodiert, wenn man sie mit Gewalt, etwa mit einem Hammer oder mit einer Axt zu sprengen versucht hätte, ebenso, wenn die Uhr richtig funktioniert hätte, was wahrscheinlich durch das heftige, Schlagen des Schiffes während des Sturmes verhindert worden ist.«

Er öffnete die Kapsel, und man erblickte darin ein Instrument, dessen Aussehen an eine Uhr erinnerte. Oben befand sich ein Stift, welcher durch eine kleine Öffnung, der Kapsel herausragte.

»Wann sind die Kokosnüsse umhergerollt, Marquis Chaushilm?« fragte der Ingenieur. Chaushilm berechnete ungefähr die Zeit.

»Gestern, nein, vorgestern Nacht, zwischen acht und zwölf Uhr, als ich nicht in meiner Kabine war. Ich hatte sie alle in besondere Fächer gelegt, um ihr Umherkugeln zu verhindern, mit Ausnahme dieser, welche, wegen ihrer Größe, in keiner Schublade Platz fand. Als ich nach meiner Kabine kam, rollte sie auf dem Boden hin und her, ebenso einige andere, die auch heruntergefallen waren.«

»Das hat Sie und den ›Amor‹ vor dem Untergange gerettet. Sehen Sie hier,« Hoffmann wies auf die Zeiger des Zifferblattes, »zweiunddreißig Minuten vor zwölf ist das Werk stehen geblieben, und um zwölf Uhr wäre die Explosion erfolgt, wie ich Ihnen zeigen werde.«

Er hielt die Uhr von sich entfernt — die anderen wichen scheu zurück — und drehte den Zeiger langsam weiter. Als er die Zwölf erreichte, entfuhr ein kleiner Feuerstrahl dem Stifte, der den Zünder bildete.

»Durch den Fall ist die Uhr jedenfalls stehen geblieben,« fuhr er fort, »er hätte die Granate aber ebensugut zum Explodieren bringen können. Danken Sie Gott, daß er seine Hand gnädig über Sie gehalten hat.«

Diese feierlich gesprochenen Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Noch wagte keiner ein Wort zu sprechen, starr vor Entsetzen blickten sie auf die unheimliche Granate, deren Dynamitfüllung hingereicht hätte, um das größte Gebäude in die Luft zu sprengen«. Bei den letzten Worten Hoffmanns falteten alle unwillkürlich die Hände.

»Woher aber haben Sie von diesem neuen Anschlage Kenntnis bekommen?« brachte endlich Harrlington hervor.

»Einer, der von dem verruchten Plane wußte, hat mir denselben verraten, eben als Sie Manila verlassen hatten. Ich fuhr Ihnen sofort nach, da aber brach unglücklicherweise, ich hielt es wenigstens damals für ein Unglück, der Taifun los und ließ mich weder den ›Amor‹, noch die ›Vesta‹ finden. Ich jagte mit dem ›Blitz‹ hin und her, vergebens, ich konnte kein Schiff entdecken, die Zeit kam immer näher, da die Explosion erfolgen mußte, und ich selbst fühlte mich — doch erlassen Sie mir die Beschreibung meiner damaligen Gefühle,« unterbrach sich Hoffmann und fuhr mit der Hand über die Stirn. »Es ist mir genug, daß ich Sie jetzt gerettet weiß.«

»Wer mag uns dieses Unheil haben zufügen wollen?« ließ sich einer der Herren vernehmen.

»Derjenige, welcher uns bisher verfolgt hat, der uns von der ›Vesta‹ trennen will,« sagte Harrlington finster.

Ellen senkte scheu die Augen zu Boden, sie wußte, um wessenwillen die Herren des ›Amor‹, die treuen Begleiter der Damen, dieser furchtbaren Gefahr ausgesetzt gewesen waren.

Aber sofort warf sie den Kopf wieder trotzig in den Nacken. Wer hieß auch den Herren, ihnen immer zu folgen? Sie erkannte zwar die oftmaligen Hilfeleistungen dankbar an, aber zur Begleitung hatte sie die Engländer niemals aufgefordert und am allerwenigsten in der letzten Zeit.

»Erlauben Sie mir, Lord Harrlington,« fragte Kapitän Hoffmann, »daß ich diese Granate und Uhr an mich nehme?«

Harrlington nickte nur.

»Dann zu der ›Vesta‹« fuhr Hoffmann heiterer fort, den Ernst gewaltsam abschüttelnd. »Meine Damen, gehen Sie an Bord zurück, ich verspreche Ihnen, Sie sicher nach Wellington zu bringen, und zwar brauchen Sie weder Notsegel zu setzen, noch zu pumpen, der ›Blitz‹ besorgt beides. In Wellington sind gute Docks, in vierzehn Tagen ist der Schaden repariert. Arg leckt die ›Vesta‹ nicht, sonst wäre sie schon gesunken. Also an Bord zurück, meine Damen! Lassen Sie den Mut nicht sinken, machen Sie wieder fröhliche Gesichter, wie ich sie immer bei Ihnen zu sehen gewohnt gewesen bin.«

Ein lauter Jubel entstand unter den Mädchen, als ihnen diese Hoffnung verkündet wurde. Eiligst wurden die schon ausgeladenen Sachen wieder zurückgebracht, und noch waren sie nicht alle an Bord, so lagen schon zwei Schläuche vom ›Blitz‹ aus im Kielraum der ›Vesta‹, und wie mächtig der ›Blitz‹ pumpen konnte, das sah man den Wassermengen an, die zu beiden Seiten des Schiffes herabflossen. Die ›Vesta‹ begann sich merklich zu heben.

Als sie den gewöhnlichen Wasserstand erreicht hatte, stellten die Matrosen mittels Stahltauen eine Verbindung her und warteten nur, daß ihr Kapitän wieder auf sein Schiff zurückkehre, um das Schleppen zu beginnen.

Hoffmann ließ sich noch mit kurzen Worten erzählen, auf welche Weise jener bleiche, gerettete Mann dem sicheren, nassen Grabe entrissen worden war, der sich die ganze Zeit über in tiefstem Schweigen verhalten und auf die ihm gestellten Fragen nur kärgliche Antworten gegeben hatte. Man schonte ihn, denn man glaubte, durch die überstandene Todesangst habe sein Gehirn etwas gelitten, und ließ ihm Zeit, wieder zu sich zu kommen.

Dann fuhr Kapitän Hoffmann nach seinem Schiff zurück und gab die nötigen Kommandos. Der ›Blitz‹ setzte sich mit Hilfe der Schraube in Bewegung, nicht nur die ›Vesta‹ nach sich schleppend, sondern dieselbe auch noch durch beständiges Pumpen völlig wasserfrei haltend.

Ihnen folgte der ›Amor‹.

Im Arbeitszimmer auf dem ›Blitz‹ saß Ingenieur Anders und blickte dem Kapitän besorgt ins Gesicht. Wer mit Hoffmann immer zu verkehren Gelegenheit hatte, so wie Herr Anders, der mußte finden, daß seine Züge einen leidenden Ausdruck angenommen hatten. Sie waren etwas eingefallen, und die Augenhöhlen zeigten tiefe Züge, als wenn er eine schlaflose und aufgeregte Zeit durchlebt hätte.

»Alle Ihre Furcht hat sich grundlos erwiesen,« sagte Anders und legte vertraulich seine Hand auf den Arm des vor ihm Sitzenden, »Sie haben sich umsonst mit Selbstvorwürfen gequält. Das Schicksal geht seinen Lauf, es läßt sich nicht aufhalten, und versucht man auch auf tausenderlei Weise, seine Pläne zu durchkreuzen, immer weiß es den Weg wiederzufinden, den es hat gehen wollen.«

»Es ist so,« sagte Hoffmann nachdenkend, »und doch, wie unglücklich hätte ich mich gefühlt, wenn die Katastrophe eingetreten wäre! Würde ich mich nicht mein ganzes Leben lang für schuldig an dem Tode aller dieser englischen Herren befunden haben? Ja, selbst den Tod der Damen konnte ich auf dem Gewissen haben, denn, hätte ich nicht den Alkalden bestochen, die Untersuchung niederzuschlagen, so wären die ›Vesta‹ und der ›Amor‹ in Manila geblieben, damit ihre Besatzungen als Zeugen vernommen würden, sie wären nicht in den Taifun gekommen, und ich hätte die Höllenmaschine sofort unschädlich machen können.«

»Wer bürgt Ihnen dafür,« entgegnete Anders, »daß den Schiffen in dem sonst sicheren Hafen nicht ein fürchterlicheres Unglück passiert wäre, als ihnen der Taifun schuf? Konnte nicht Marquis Chaushilm schon in Manila auf den Gedanken kommen, die vermeintliche Kokosnuß zu zerschlagen?«

Hoffmann zuckte mit den Achseln.

»Dann wäre es nicht meine Schuld gewesen,« sagte er, »ihr Tod hätte mich mit großer Trauer, aber nicht mit Verzweiflung über meine Einmischung in die Pläne des Schicksals erfüllt.«

»So will ich Sie etwas anderes fragen,« nahm der Ingenieur das Wort. »Würden Sie nicht, wenn Sie nochmals in die Lage kämen — und das steht noch oft zu erwarten — daß Sie ein Unglück oder auch nur eine Unannehmlichkeit verhindern könnten, würden Sie dann nicht wieder ebenso handeln, wie es Ihnen Ihr Verstand vorschreibt?«

»Sie haben recht.« antwortete der Kapitän und stand auf. »Was nützt uns Vernunft und Verstand, wenn wir sie nicht nach bestem Wissen anwenden? Habe ich einen falschen Weg eingeschlagen, das heißt, habe ich mich getäuscht, so kann ich mir wohl Vorwürfe machen und muß ein anderes Mal vorsichtiger sein, und wird dann mein sorgfältig angelegter und ausgeführter Plan vom Schicksal gekreuzt, so kann ich mich von allen Folgen freisprechen. Dem Schicksale gegenüber sind wir doch nur ohnmächtige Kinder.«


13. Im Innern des Vulkans.

Noch eine Stunde hatten die Damen und Herren über Berg und Tal, durch dichte Wälder, gebildet von Kaurifichten, zu marschieren, dann erblickten sie zum ersten Male ihr Ziel ganz dicht vor sich, dessen Nähe sie schon lange vorher an der zunehmenden Temperatur gespürt hatten.

Es galt den Besuch des Tongariros, eines zweitausend Meter hohen, noch tätigen Vulkans auf der Nordinsel von Neuseeland.

Gestern abend waren sie mittels Eisenbahn in Matchaneea angelangt, einem Städtchen, hatten daselbst unter den erbärmlichsten Verhältnissen übernachtet und waren früh beizeiten nach dem etwa zwanzig englische Meilen entfernten Vulkan aufgebrochen, ein Weg, den sie in etwa sechs Stunden zurücklegen konnten.

Sie waren so leicht, wie möglich, gekleidet, um während des Marsches keine Beschwerlichkeiten zu empfinden, führten selbst keine schweren Waffen bei sich und ließen sich einige Zelte und Mundvorräte von Eingeborenen nachtragen. Die Mitnahme von Gewehren hätte keinen Zweck gehabt, Neuseeland ist die an Tieren ärmste Gegend der Welt. Gibt es hier doch nur drei Arten von kleinen Säugetieren, und das einzige Tier, welches eine Jagd gestattet, ist der Kiwi, ein flügelloser, straußenähnlicher Vogel. Reich ist Neuseeland dagegen an Fledermäusen, von denen es ungeheuer große Arten dort gibt.

Der Weg nach dem Vulkan war schön zu nennen; er bot ganz eigentümliche Abwechselungen. Hauptsächlich war der Boden mit Wäldern von Kaurifichten bedeckt, jenen Nadelbäumen, aus welchen die Eingeborenen das Kauriharz, den Hauptausfuhr-Artikel Neuseelands gewinnen, und zwischen den Bäumen erhoben sich riesige Farren. Auf Lichtungen erreichten diese Pflanzen eine solche Höhe, daß die Marschierenden von ihnen vollkommen verdeckt wurden. Neuseeland ist das Land der Farren.

Je mehr man sich dem Vulkane näherte, dessen Anblick die dichten Wälder noch nicht zuließen, desto üppiger wurde die Vegetation, hauptsächlich die der Farren. Sie erreichten oft die Höhe von zwei Metern, so daß sie fast Bäumen glichen. Den Grund zu dieser Fruchtbarkeit des Bodens konnten die Reisenden selbst wahrnehmen. Die Erde fühlte sich förmlich heiß an, und dabei war die Luft mit Wasserdampf gesättigt, also herrschte hier fast jene Temperatur, unter welcher einst vor Tausenden von Jahren, in der sogenannten Urzeit, riesige Farrenwälder die ganze Erde bedeckten, welche durch ein Naturereignis vernichtet wurden, und deren unzersetzbare Bestandteile jetzt die Kohlenflötze bilden. Oft findet man noch Kohlenstücke, in denen man deutlich die Abdrücke von jetzt unbekannten Farrenkräutern von enormen Dimensionen wahrnimmt.

In der Nähe des Vulkans schien die Erde noch dieselben Eigenschaften zu besitzen, wie vor vielen tausend Jahren. Nicht nur die Vegetation erinnerte an jene Zeit, auch die Fauna, das heißt, das Tierreich brachte diesen Eindruck hervor. Die ungeheuren Fledermäuse, welche träge an den Ästen der Fichten hingen, den Kopf nach unten, mit den Fängen sich anklammernd und den ganzen Körper mit den Flügeln verhüllend, waren den einstigen drachenähnlichen Geschöpfen zu vergleichen, denn die Erde war zur Zeit der Farrenkräuter der Tummelplatz von riesigen Amphibien, wie Krokodilen, Salamandern, Fröschen, von denen wir uns nur aus aufgefundenen Knochengerippen eine Vorstellung machen können. —

Die Eidechsen, welche zwischen dem Farn umherhuschten, waren immer noch groß genug, oft über einen Meter lang, und Frösche gab es, deren Maul weit genug war, um einen Vogel verschwinden zu lassen. Schlangen dagegen fehlten völlig. Neuseeland besitzt nicht eine einzige Art dieser Reptilien.

Die Hitze in der Nahe des Vulkans ward lästig, der Schweiß drang aus allen Poren des Körpers, und da die Luft sehr feucht war, so trocknete er nicht ab, sondern rann in Strömen herunter.

»Endlich eine Quelle!« rief ein junges Mädchen. »Mich plagt schon seit einer Stunde ein fürchterlicher Durst. Sir Hendricks,« wendete sie sich an ihren Begleiter, »Sie haben doch wohl einen Becher bei sich. Bitte, leihen Sie mir denselben, damit ich Wasser schöpfen kann.«

Der Angeredete holte sofort ein Etui aus der Tasche und entnahm demselben einen zusammensetzbaren Silberbecher, übergab ihn aber natürlich nicht der Dame, sondern begab sich selbst nach der Quelle, welche zwischen Fichten und Farnkräutern lustig hervorsprudelte.

Er bückte sich und tauchte den Becher in das klare Wasser, ließ aber mit einem Schmerzensschrei das Gerät fallen und lief, die Hand schlenkernd, hin und her, als ob er heftige Schmerzen empfände.

»Was haben Sie denn?« rief das Mädchen ängstlich. »Hat ein Tier Sie gebissen?«

Auch die übrigen hatten sich sofort um Hendricks versammelt, der noch immer mit kläglicher Miene an dem Rande der Quelle auf- und abrannte.


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»Halten Sie nur einmal die Hand hinein,« jammerte er jetzt, »und ich wette, daß Sie mir Gesellschaft leisten werden!«

Es klärte sich bald auf, was dem armen Hendricks widerfahren war. Das Wasser der Quelle war sehr heiß, es kochte fast, und natürlich hatte er sich darin die Hand stark verbrannt.

»Aber es dampft ja gar nicht,« meinten einige der Damen. »Die Luft ist so mit Wasserdämpfen gesättigt, daß sie keine mehr aufnimmt,« sagte Harrlington, »anders läßt sich das nicht erklären.«

»Wenn man so gegen die Sonne sieht, kann man sie doch sehr gut bemerken,« rief Charles Williams, »nur nicht im Schatten. Das ist aber wirklich famos hier auf Neuseeland! Nur müßte hier nebenan noch eine Quelle mit Rum fließen, dann könnte man sich sofort einen Grog brauen.«

»Und Fleisch und Eier kochen,« ergänzte Hannes.

Der Matrose fischte mit einem Aste den Becher wieder heraus und füllte ihn abermals vorsichtig mit Wasser, ohne sich dabei zu verbrennen.

Nachdem das Wasser sich abgekühlt hatte, wurde es gekostet, und man fand es etwas nach Schwefel schmeckend — das Becken enthielt eine heiße Schwefelquelle.

Je weiter sie drangen, an desto mehr solcher heißen Gewässer kamen sie, und je mehr diese zunahmen, desto spärlicher wurde die Vegetation, fast nur noch Farnkräuter sah man auf dem harten und immer heißer werdenden Boden, aber diese hatten noch eine enorme Höhe. Schließlich hörten auch diese auf, und der aus den Büschen hervortretende Reisende genoß einen imposanten, schauerlich schönen Anblick, wie noch nie zuvor.

Aus einem hohen Felskegel schlug eine gelbrote Flamme zum Himmel empor, über welcher schwefelgelbe Dampfwolken schwebten, die vom Winde weithin durch die Luft getragen wurden, bis sie endlich in die Farbe des Himmels übergingen. Schon aus dieser großen Entfernung konnte man erkennen, daß der Berg nicht nur Feuer, sondern auch Lava und Steine ausspie. Die Massen fielen alle nach der den Zuschauern gegenüberliegenden Seite, nach dem mächtigen Taupa-See, im Norden vom Tongariro gelegen, teils unterwegs schon erstarrend, teils in den Fluten des Sees erkaltend.

Es waren manche unter den Damen und Herren, welche schon einmal Gelegenheit gehabt hatten, einen tätigen Vulkan zu sehen, aber das Schauspiel, welches die nächste Umgebung des Berges ihnen bot, war allen neu. Der Anblick erfüllte sie halb mit Grausen, halb mit Bewunderung.

Aus allen Spalten, Rissen und Löchern sprudelte es hervor, zischte, kochte und dampfte, denn das hier entspringende Wasser war weit über den Kochpunkt erhitzt, und erst durch die Abkühlung wurde der Dampf in solches wieder verwandelt, sammelte sich am Boden und floß in Bächen ab, aber immer erst um den Berg herumlaufend und dann wahrscheinlich den Weg direkt nach dem tiefer liegenden Taupa-See nehmend.

Nur einigen wenigen Bächen war es gelungen, sich nach Süden einen Weg zu bahnen, und ein solcher war vorhin getroffen worden.

Hier, dicht am Berge, war der Boden völlig mit einer dicken Schwefelkruste bedeckt, daher fehlte auch der Pflanzenwuchs, und die schon vorher wahrnehmbare Hitze war hier sehr stark, belästigte aber noch nicht die Atmungs- und Geruchsorgane.

Die Gesellschaft zerstreute sich etwas und besichtigte die einzelnen Quellen, welche teils seitwärts aus den Felswänden oder aus dem Boden in die Höhe sprangen. Man mußte sich aber vorsehen, nicht zu sehr in ihre Nähe zu kommen, denn leicht konnte eine Drehung des Windes die heißen Dämpfe ablenken und Brandwunden verursachen. Der Dampf umgab die Gesellschaft zwar auch jetzt, aber er war doch schon so abgekühlt, daß er ungefährlich war.

Die Eingeborenen, Maoris, zum Stamme der Polynesier gehörend, schlugen unterdes Zelte auf und richteten die mitgenommenen Vorräte zum Mittagessen her. Man hatte beschlossen, diesen Tag zur Besichtigung des Vulkans und seiner Umgebung zu benutzen, die Nacht im Walde zuzubringen und am folgenden Morgen den Rückweg nach dem Städtchen anzutreten. Die Ausbesserung der ›Vesta‹ und des ›Amor‹ im Dock zu Wellington nahm etwa drei Wochen in Anspruch, und daher konnte auf die vielen Ausflüge genügend Zeit verwendet werden.

An eine Besteigung des Vulkans war natürlich nicht zu denken. Einmal machte der steile Felskegel eine solche sehr beschwerlich, vielleicht sogar unmöglich, und dann wäre sie jedenfalls mit größter Gefahr verknüpft gewesen. Leicht konnten einmal die herabströmenden Lavamassen eine andere Richtung nehmen, und alles, was dieser glühende Strom erreichte, ging in Flammen auf, selbst Steine wurden durch ihn geschmolzen.

Das frugale Mittagessen war vorüber, man legte sich im Schatten der Zelte zur Ruhe nieder, um die heißesten Stunden des Tages zu verträumen. Am Nachmittag sollte ein Spaziergang um den Berg herum gemacht werden.

Hannes war der einzige, welcher keine Ruhe finden konnte.

Gleich nach dem Essen hatte er das Zelt wieder verlassen und war, als er eine Zeitlang vergebens auf Hope gewartet hatte, auf eigene Faust in der Umgebung herumgestreift. Erst nach einer Stunde kam er zurück, sehr aufgeregt, und begab sich sofort nach dem Zelte, in welchem er Sir Williams wußte.

Er rüttelte den Schläfer erst leise, dann stärker, bis Williams die Augen aufschlug und den Störenfried unwillig anblickte. Aber im nächsten Augenblick war er vollständig ermuntert, er erkannte Hannes, seinen Diener, und sofort hatte er seine sonstige Fröhlichkeit wiedererlangt.

»Was gibt es, Hannes?« fragte er.

»Kommen Sie mit mir,« antwortete dieser, »ich habe eine großartige Entdeckung gemacht.«

Hannes war ganz aufgeregt.

»Was denn?«

Auch Charles wurde gespannt.

»Ich habe ein Loch gefunden.« Trotzdem in dem Zelte noch andere Herren lagen, welche durch die drückende Hitze in tiefen Schlaf gefallen waren, brach Williams doch in ein lautes Lachen aus.

»Ein Loch, sagst du? Wo denn, in deinen Hosen oder wo?«

»Unsinn,« rief Hannes, »in der Felsenwand. Ich bin wohl hundert Meter weit hineingegangen. Es führt ganz steil abwärts, und erst, als ich das Tageslicht nicht mehr sehen konnte, bin ich umgekehrt. Aber ich glaube, es geht tief, tief hinein. Wollen wir beide einmal den Gang oder die Höhle näher untersuchen?«

»Das können wir,« sagte Charles und stand auf. »Aber so sehr weit wird der Gang wohl nicht führen, sonst stieße er ja auf die Höhlung des Vulkans und würde ebenfalls Feuer speien.«

»Wer weiß, wie die Zugänge zu dem Krater laufen, vielleicht ganz schräg. Wir müssen den Gang auf jeden Fall untersuchen, schließlich kommen wir auf der anderen Seite der Erde wieder an das Tageslicht.«

»Du hast wohl — Sie haben Wohl Bergbau studiert, daß Sie so genau wissen, wie die Krater des Vulkans laufen?« lachte Charles. »Na, meinetwegen, ich komme mit, viel Gescheites wird Wohl nicht daran sein, habe schon genug Höhlen gesehen.«

»Oho, aber so eine noch nicht. Es ist gerade, als ob man in ein Paradies käme, anfangs nicht, aber nach und nach stößt man auf immer mehr Pflanzen, besonders auf Farren.«

»Ist es denn hell darin?«

»So weit das Tageslicht hineinscheint, ja, später wird es dunkel, wir müssen Fackeln oder Lichter mitnehmen.«

»Kann man es denn vor Hitze darin aushalten?«

»Es geht mit der Hitze, es herrscht eine feuchte Wärme darin, aber sie ist erträglich.«

Charles hatte sich unterdes den Rock angezogen und steckte aus einem Proviantkasten Lichter und Streichhölzer zu sich.

»All right,« sagte er dann, »ich bin fertig, mm zeigen Sie mir Ihre sonderbare Höhle!«

Beide verließen das Zelt.

Eine Stunde später versammelten sich die übrigen, jetzt wohl ausgeruht, vor den Zelten, um einen gemeinschaftlichen Spaziergang rund um den feuerspeienden Berg zu machen. Sofort wurden Williams und sein Diener vermißt, aber man nahm an, daß sie schon vorausgegangen wären, und so hoffte man, bald wieder mit ihnen zusammenzutreffen.

Nach zwei Stunden beschwerlichen Marsches über mit Steinen besäte Plateaus, gelangte man an den Ort, wo die glühende Lava nach dem Norden zu abfloß. Es war ein imposantes Bild, das sich ihnen darbot; wie eine riesige Schlange wand sich die wohl zwanzig Meter breite, schwarze und rauchende Masse in einem selbst bereiteten Bett hin, aber sie konnte auch bei größeren Eruptionen austreten und sich meilenweit erstrecken, das verriet die ganze Gegend, welche wie ausgebrannt erschien. Kein Baum, kein Strauch, nicht der kleinste Grashalm war zu erblicken, nichts als eine öde, schwarze Fläche, welche mit einer Lavakruste bedeckt war.

So weit es die ausströmende Hitze erlaubte, näherte sich die Gesellschaft diesem seltsamen Flusse. Hineingeworfenes Papier, ein Stückchen Holz gingen sofort in Flammen auf, und eine Kupfermünze, welche obenauf schwamm, sah man langsam schmelzen und sich nach und nach mit der Lava vermischen.

Ebenso wäre natürlich auch ein jeder organische Körper spurlos in dem unheimlichen Elemente verschwunden.

»Wo aber mögen nur Sir Williams und Hannes stecken?«

Diese Frage warf einer der Herren auf, als sie den Rückweg antraten. Sie hatten erst vorgehabt, den Berg rings zu umgehen, aber niemandem war es eingefallen, daß der glühende Lavastrom ein unübersteigliches Hindernis bildete. Das reißendste Wasser, meilenbreit, hätten sie eher überwinden können, als diese an sich nur schmale, breiartige Masse, die ein allverzehrendes Feuer in sich barg.

Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als den Weg zurückzumachen und entweder gleich oder am nächsten Tage die andere Seite zu besuchen, aber alle waren mit dem genossenen Anblicke schon zufrieden, die Gegend bot in ihrer Öde und Trostlosigkeit keine Abwechselung, an der sich das Auge hätte ergötzen können.

Es wurde allgemein beschlossen, es mit dieser Partie genug sein zu lassen, lieber wollte man sich noch etwa zwischen den Kaurifichten und den Farrenkräutern ergehen.

»Es ist nicht anzunehmen, daß sie allein, ohne uns davon in Kenntnis gesetzt zu haben, den Lavastrom von der anderen Seite des Berges zu erreichen gesucht haben,« antwortete Harrlington auf den Ausruf des Fragers, »und wenn sie diesen Weg genommen hätten müßten wir sie unbedingt erblickt haben. Sie werden den Aufenthalt in den Zelten dieser mühseligen Reise vorgezogen haben.«

»Das sieht den beiden sonst nicht ähnlich,« meinte Miß Thomson. »Außerdem haben wir ausdrücklich noch hinterlassen, welchen Weg wir einschlagen würden.«

Der Rückmarsch ging sehr schweigsam von statten. Mißstimmung über das Fehlen der beiden hatte sich aller bemächtigt; gerade sie waren die fröhlichsten unter der Gesellschaft, und man vermißte ihre Scherze und ihr Lachen fortwährend.

Eine große Bestürzung trat ein, als man, bei den Zelten angekommen, erfuhr, daß die beiden noch nicht zurück seien.

Die mitgenommenen Maoris, von denen nur einige als Führer gebraucht worden waren, wurden verhört, aber sie konnten keine Auskunft geben. Auch sie hatten während des heißen Mittags im Schatten geschlafen.

Da teilte Hannibal, welcher als Dolmetscher fungierte, seinem Herrn mit, daß die Maoris auch schon seit längerer Zeit die Rückkehr eines der ihrigen erwarteten. Er wäre der einzige gewesen, welcher nicht geschlafen, sondern sich zwischen den Zelten herumgetrieben hätte. Aber als die Gesellschaft fort war, sei er plötzlich wieder im Lager erschienen, habe sich mit Stricken und seinen Waffen versehen und sei dann wieder fortgegangen, oder aber, habe sich davongeschlichen, als wolle er niemanden zum Begleiter haben.

»Weiß jemand, wohin sich der Maori gewendet hat?« ließ Harrlington, von einer plötzlichen Ahnung erfaßt, durch Hannibal fragen.

Lange Zeit meldete sich niemand, aber nachdem die Frage wiederholt gestellt und das Versprechen einer Geldbelohnung erfolgt war, trat ein Maori vor.

»Ich, Herr,« sagte er. »Mir fiel es auf, daß sich Maketu vor seinem zweiten Weggange mit Stricken und Waffen versah, und daß er dann ebenso ungesehen sich fortzuschleichen suchte, wie er vorher angekommen war. Aber meinen scharfen Augen entging seine Bemühung, sich unbemerkbar zu machen, nicht, ich schlich ihm nach, um ihn zu beobachten. Er nahm erst den Weg dort in jenes Kauriwäldchen, hieb sich einige Fichtenzweige ab und lief dann dem Berge zu, ich ihm nach, mich immer versteckt haltend. Vor einem niedrigen Loche in der Steinwand blieb er plötzlich stehen, und ich sah ihn darin verschwinden. Ich wartete fast eine halbe Stunde, faßte dann den Entschluß, selbst in das Loch zu gehen, weil ich neugierig war, zu wissen, was Maketu so lange darin. Aber wie ich nur den Kopf hineinsteckte, fuhr ich erschrocken zurück, eine ungeheure Eidechse, wie ich sie noch nie gesehen habe, wollte eben das Loch verlassen. Es ist nicht gut, Herr, in solche Löcher zu kriechen, und gar noch hier im Tongariro. Unsere Götter, die wir früher verehrten, wohnen einstweilen in denselben, bis sie neue Kraft gesammelt haben, um den jetzigen Gott zu besiegen. Wehe uns dann, wenn sie den Kampf gewinnen! Wir, die wir ihnen abtrünnig geworden sind, werden dann alle im Tongariro gebraten!«

Die Maoris, ein anstelliges, in allen Handwerken geschicktes und schon sehr kultiviertes Volk, sind in letzter Zeit alle zum Christentum bekehrt worden; welche unklaren Begriffe aber in ihrem Kopfe herrschen, das zeigten jetzt die letzten Worte dieses Mannes. Er hätte noch langer von seinen alten Göttern und dem neuen Gotte erzählt, wenn nicht auf Geheiß des Lords Hannibal ihn unterbrochen hätte.

»Hast du Maketu die Höhle wieder verlassen sehen?« mußte er fragen.

»Nein, obgleich ich ziemlich lange gewartet habe.«

»Was mag er darin zu suchen haben?«

»Maketu ist ein schlechter Mensch, er will wahrscheinlich seine Götter aufsuchen und zu ihnen beten.«

»Kannst du dich nach der Höhle zurückfinden?«

Der Maori versicherte es.

Jetzt wandte sich Lord Harrlington zu den übrigen, welche dieser Unterredung beigewohnt hatten.

»Es scheint fast, als ob Sir Williams und Hannes jene Höhle betreten hätten, in welche dann auch dieser Maketu gekrochen ist. Entweder hat letzterer die beiden begleitet und ist von ihnen zurückgeschickt worden, um Stricke und Fackeln zu holen, welche zum Vordringen in die Höhle nötig waren, oder aber, eine schlimmere Vermutung, Maketu ist ihnen in böser Absicht gefolgt. Ich werde mich unverzüglich auf den Weg nach jener Höhle machen, dieser Maori wird mich führen. Wer von den Herren will mich begleiten?«

Kein einziger schloß sich aus; die Herren, wie die Mädchen trafen sofort Vorbereitungen, in die Höhle einzudringen. Sie versahen sich ebenfalls mit Stricken und Zweigen der harzigen Kaurifichte, außerdem noch mit Lichtern und auf den Rat Harrlingtons noch mit einigen Hacken, Schaufeln, Meißeln und Hämmern und folgten dann dem vorausschreitenden Maori.

Schon nach einer Viertelstunde hatte dieser das Ziel, die Höhle, erreicht.

Diese Seite des Berges war nicht so eben, wie die andere; der Boden war nicht nur mit Felsblöcken bedeckt, er war auch von tiefen Rissen und Sprüngen durchzogen, so daß es den Eindruck machte, als wäre einst auch hier die vulkanische Kraft des Tongariro durchgebrochen.

Der führende Maori hielt vor einem kleinen Loch in der Felswand und deutete darauf. Es war so klein, daß es noch niemandem aufgefallen war.

»Hierhinein habe ich Maketu kriechen sehen,« sagte er.

»Wie, das soll eine Höhle sein?« rief Ellen. »Das Loch erlaubt ja kaum, daß ein starker Mensch sich hindurchzwängen kann!«

»Es ist so,« versicherte der Maori, »und ich habe gesehen, als ich den Kopf durchsteckte, daß die Höhle gleich ganz breit und hoch wird, so hoch, daß man sich aufrecht stellen kann.«

Nach kurzer Beratung beschloß man, sie zu betreten, aber da einige draußen bleiben sollten, so traten einzelne freiwillig zurück, zum Beispiel Lord Hastings, welcher bezweifelte, seine breitschultrige Gestalt durch dieses Loch schieben zu können. Gern hätten alle die Wanderung in diese Höhle unternommen, denn sie versprach, Abenteuerliches zu bieten, aber es war unbedingt notwendig, daß einige draußen warteten.

Einer nach dem anderen schlüpfte hinein, und als der letzte das Innere betreten, zählte Lord Harrlington achtzehn Herren und elf Damen. Der Maori war zurückgeblieben; alle Versprechungen hatten nicht vermocht, ihn mitzubekommen, er fürchtete sich vor den bösen Geistern, welche, seiner Meinung nach, derartige vulkanische Höhlen bewohnten. Dagegen hatte der Lord seinen Diener Hannibal mitgenommen, weil dieser bei der Verfolgung von Spuren sehr nützlich sein konnte.

Die Höhle war, wie man in dem durch das Loch einfallenden Tageslicht sehen konnte, allerdings sehr geräumig, ihre Wände waren völlig glatt, aber mit kurzem, grünen, moosähnlichen Pflanzenwuchs bedeckt, ebenso wie der Boden, auf dem eine dicke Schicht richtigen Humusbodens lag, der mit Farrenkräutern überwuchert war. Die Luft war feucht und warm, aber nicht unangenehm.

Ein Ende der Höhle konnte man nicht sehen. Undurchdringliches Dunkel hinderte bald jede Aussicht, und das kam hauptsächlich daher, daß der Boden der Höhle sich jäh senkte, aber ein Gehen noch erlaubte.

Ohne das Licht einer Fackel nötig zu haben, erkannte Hannibal sofort auf dem weichen schwarzen Boden mehrere Fußabdrücke.

»Diese Spur hier,« sagte er, auf einige Abdrücke deutend, »ist die von Hannes, diese von Sir Williams, diese von nackten Füßen herrührend, die des Maori. Letzte ist viel später eingetreten, als die beiden ersteren. Hannes hat den Eingang zur Höhle dreimal passiert, zweimal hinein und einmal heraus, die anderen sind nur hineingegangen. Alle drei befinden sich also noch darin.«

Er sprach mit der ebenfalls mitgenommenen Yamyhl, in den tiefen Gaumenlauten ihrer Heimatssprache und fuhr dann in seiner Erklärung fort:

»Williams und Hannes sind einfach geradeaus geeilt, nicht besonders schnell, aber ohne sich aufzuhalten; der Eingebogene dagegen ist vorsichtig gegangen, meist sogar auf den Zehenspitzen, und immer an den Wänden.«

»Er war nicht in Begleitung unserer beiden Freunde?« fragte Lord Harrlington.

Hannibal schüttelte energisch den grauen Kopf.

»Nein, er ist ihnen gefolgt und hat sich bemüht, möglichst unhörbar und ungesehen vorzudringen. Er ist ihnen nachgeschlichen.«

»Meine Ahnung bestätigt sich,« rief der Lord, »der, Maori hat böses gegen die beiden im Sinne, wahrscheinlich hat er einen Raubanfall vor. Auf, laßt uns eilen, um ihn daran zu hindern! Geben Sie gut acht, daß er nicht an uns vorbeischlüpft; hoffentlich hat die Höhle keine weiteren Ausgänge und teilt sich nicht, so daß wir uns trennen müssen.«

Der Zug ordnete sich; zuerst gingen Hannibal und Yamyhla, zwischen ihnen Harrlington, dem die übrigen folgten, zu zweien oder dreien, so daß die äußersten dicht an den Wänden gingen, denn es kam ihnen sehr darauf an, den Maori nicht entschlüpfen zu lassen.

Die Führer hatten Fackeln angezündet, und deren Licht genügte, um auch die Nachfolgenden den Weg erkennen zu lassen.

Es war wirklich eine sonderbare Höhle, in welcher sie sich bewegten, weniger geradeaus, als vielmehr immer tiefer steigend, als sollte es nach dem Mittelpunkt der Erde gehen.


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Die feuchte Wärme nahm immer mehr zu, ohne aber besonders beschwerlich zu fallen, und im gleichen Verhältnis wuchs auch die Dichtigkeit und Größe der Farren, wie man sie draußen unter dem Himmel noch nie gesehen hatte, solche breite, gezackte Blätter, diese fleischigen Stengel, an denen auch noch unten dicht über dem Boden Blätter hervorsproßten. Sie erreichten beinahe Manneshöhe.

Die Herren unterhielten sich darüber, und einige waren der festen Ansicht, daß es Darren wären, welche jetzt als nicht mehr vorhanden gälten, daß es Arten von jenen seien, die einst die Erde überwuchert hätten und dann samt und sonders durch ein Naturereignis vernichtet worden wären. Wer wußte, wie viele Jahrtausende die Farren hier in dieser Höhle schon wuchsen, abstarben, verwesten und dann wieder zu Erde wurden, denn der weiche Boden bestand nur aus den in ihre Urbestandteile zerfallenen Pflanzen.

Man bedauerte lebhaft, zu wenig Kenntnis von Geologie und Botanik zu haben. Welche Fundgrube hätte sonst diese Höhle abgegeben! Wenn wenigstens ein Gelehrter bei der Gesellschaft gewesen wäre, um seinen Erklärungen lauschen zu können.

Ebenso seltsam war das Tierreich vertreten.

Riesengroße Eidechsen von über einem Meter Länge huschten hin und her, man hätte sich vor ihnen fürchten können, wenn sie, statt immer sich schön zu verstecken, die Ankommenden erwartet hätten; ihre Haut schillerte in allen Farben, die Köpfe waren merkwürdig gebildet und die Schwänze so geschuppt, wie die von Krokodilen.

Außerdem schwirrten, vom Licht der Fackeln aufgescheucht, mächtige Fledermäuse durch die Luft, schlugen klatschend gegen die Wände, als wären sie völlig blind, ja, streiften sogar die Wanderer mit den Flügeln und warfen den Herren die Mützen vom Kopf.

Sonst war das Tierreich noch durch Spinnen und andere Insekten vertreten, aber alle zeichneten sich durch eine ganz besondere Größe aus, und es schien fast, als ob alle Pflanzen und Tiere immer größer würden, je weiter man vordrang, obgleich die Wärme immer dieselbe blieb und nicht zunahm.

Plötzlich blieb Hannibal stehen und leuchtete mit der Fackel auf den Boden. Die sich um ihn Sammelnden sahen eine wohl einundeinenhalben Meter lange Eidechse liegen, welche im Genick einen tiefen Stich zeigte — sie war tot.

»Der Maori hat sie getötet,« sagte einer der Herren.

»Nein,« antwortete Hannibal, dessen scharfem Auge nicht das geringste entging. »Der Stich rührt von einem Messer her, wie es die Herren bei sich tragen. Sir Williams wird das Tier getötet haben, oder auch Hannes. Der Betreffende hat dem Tiere das Maul mit dem Messer geöffnet und hineingesehen.« »Es ist Sir Williams gewesen,« rief Harrlington, »er hat eine Eidechse untersuchen wollen, wie ich es auch vorhatte.«

Er beugte sich auf das Tier herab und betrachtete es.

»Sehen Sie hier,« rief er überrascht und deutete auf den Kopf der Eidechse, »das Tier hat keine Augen, an deren Stelle sind nur knorpelige Erhöhungen zu sehen. Die Eidechsen hier sind also nicht nur von außen eingedrungen, sondern sie sind allein auf den Aufenthalt in dieser Höhle angewiesen, sie sind nicht fähig, außerhalb der Höhle zu leben.«

»Sie können auch im Laufe der Zeit erblindet sein, und so ist nach und nach eine Art entstanden, welche gar keine Augen mehr hat. Es ist nicht gesagt, daß sie eine Gattung für sich bilden,« meinte ein anderer Herr.

»Aber ihr ganzes Aussehen ist seltsamer,« stimmte Davids dem Lord bei, »als man es sonst bei Eidechsen findet. Die Zehen zum Beispiel ähneln mehr denen von Alligatoren und ebenso die kleinen Zähne im Maule, aber doch unterscheiden sie sich wieder bedeutend von diesen. Halt, ich hab's! Stellen Sie sich diese Tiere einmal zwanzigfach vergrößert vor, und Sie haben die vorsintflutlichen Rieseneidechsen vor sich, deren Knochengerüste und deren Abdrücke in Kreidefelsen man noch in Museen sehen kann.«

Der unterbrochene Marsch wurde wieder aufgenommen, und auf Harrlingtons Bitte unterhielten sich die Herren und die Mädchen nur noch in flüsterndem Tone, denn er hatte bemerkt, daß die Felswände jedes Geräusch ganz ungeheuer fortpflanzten. Die eigenen Stimmen der Wanderer klangen nicht nur wie Posaunentöne, auch sehr schwache Geräusche, wie das Anschlagen einer Fledermaus, das Rascheln einer Eidechse drangen in ihr Ohr, selbst wenn diese weit entfernt waren. Damit aber gab man dem Maori Gelegenheit, eher von der Ankunft der Fremdlinge Nachricht zu erhalten und sich zu verstecken, und seiner möglichst bald habhaft zu werden, das lag in Lord Harrlingtons Absicht.

Die drei Fußspuren waren noch immer zu sehen.

»Es ist sechs Uhr,« flüsterte Harrlington, nach seinem Chronometer sehend. »Jammerschade, daß wir außer der Uhr kein anderes Instrument mitgenommen haben, sonst könnten wir berechnen, wie tief wir schon unter der Erdoberfläche sind, denn der Weg senkt sich ja unaufhörlich. Ist den Herren und Damen aber nicht eine wunderbare Tatsache aufgefallen, an die wir bis jetzt noch gar nicht gedacht haben?«

»Gewiß,« meinte Davids, »wir müßten schon längst auf die Höhlung des Kraters gestoßen sein.«

Erst jetzt fiel es den übrigen ein, daß dies in der Tat der Fall hätte sein müssen.

»Daß wir uns ihm aber nicht nähern,« fuhr Harrlington fort, »zeigt sich schon daran, daß die Temperatur nicht zunimmt. Wohl ist die Luft noch warm und feucht genug, aber sie bleibt so, wie sie schon vor einer Stunde gewesen ist.«

Die Farren nahmen noch immer an Größe zu; sie stießen fast schon an die drei Meter hohe Decke des Ganges, und ebenso zeigten die allerdings schon spärlicher werdenden Eidechsen eine enorme Länge. Man war berechtigt, sie eher für Krokodile zu halten. Beim Nähern des Lichtes flohen sie aber immer sofort scheu in dunkle Löcher zurück.

Jetzt kam die Gesellschaft an die erste Spaltung des Weges, an zwei Gänge. Der eine, rechts abführend, war bedeutend schmäler und niedriger, als der linke, der die Fortsetzung des Weges zu sein schien.

Man brauchte nicht lange zu überlegen, welchen man einschlagen sollte, die Spuren zeigten an, daß auch die drei Männer den linken gewählt hatten, aber dieser zeigte den Nachteil, daß er sehr steil abfiel, wodurch man öfter in Gefahr kam, zu stürzen. Auch der Pflanzenwuchs hörte nach und nach auf, weil der Boden steiniger wurde, und mit diesem wurden auch die Tiere spärlicher. Zeigte sich aber ein solches, so war es von außerordentlicher Größe. Je weiter, vielmehr je tiefer man drang, destomehr näherte sich ihre Gestalt der jener Ungeheuer, welche einst die Vorwelt bevölkert hatten.

»Wie weit mögen denn nur die beiden gelaufen sein?« flüsterte eine Dame. »Es ist ein großer Leichtsinn von ihnen, so allein hier ins Innere der Erde vorzudringen, ohne an die Zeit zu denken. Ja, hätten sie wenigstens genügende Vorbereitungen getroffen und uns von ihrer Unternehmung benachrichtigt!«

»Ich kann mir ihre Gefühle erklären,« entgegnete Harrlington, »ich glaube, ich würde im gleichen Falle ebenso unbesonnen gehandelt haben. Bedenken Sie, welche Aufregung denjenigen befällt, welcher an dergleichen Untersuchungen Interesse findet, und ein solcher ist Sir Williams. Er hört sicher nicht eher auf, vorzudringen, als bis er das Ende des Ganges erreicht hat, höchstens, daß Hunger oder Durst ihn zur Umkehr zwingen. Ich kenne Sir Williams, der stärkste aller seiner Triebe ist die Wißbegierde, wenn dies auch nur wenigen bekannt ist, und bei Hannes, seinem Diener, ist die Neugierde eine gleich starke Triebfeder, wie die Lust an Abenteuern.«

Harrlington brach plötzlich ab und blieb stehen, er hatte an der Felswand ein seltsames Geräusch wahrgenommen, auf welches auch die anderen bald aufmerksam wurden. Es klang wie das schwache Rauschen eines Wasserfalles.

»Wasser,« murmelte Harrlington. »Hier in einem Gange der Felswand fließt ein unterirdischer Bach. Horch, was ist das?« rief er plötzlich fast laut. »Ist das nicht ein Klopfen, als wenn mit einem Instrument an dem Steine gemeißelt würde?«

Der Bach, welcher hier so geheimnisvoll durch bloßes Rauschen seine Gegenwart kundgab, mußte heißes Wasser enthalten, denn die Felswand war warm, gestattete aber doch, daß man das Ohr an sie legte. Deutlich vernahm man, wie an der Wand gehämmert wurde, aber wo, konnte niemand sagen; vielleicht war die Entfernung noch eine meilenweite.

Hendricks kam auf den Einfall, sein Ohr an die andere Seite der Wand zu legen, und kaum hatte er dies getan, so schrie er vor Überraschung laut auf.

»Charles und Hannes!« rief er. »Kommen Sie hierher, Sie können sie ganz deutlich sich unterhalten hören.«

Alle folgten seinem Beispiel, sie legten ihr Ohr an die andere Wand, und wirklich konnten sie die Stimmen der beiden Freunde vernehmen; kein Wort der Unterhaltung ging verloren.

Diese Steinwand hatte eine akustische Eigenschaft; sie wirkte etwa wie ein Sprachrohr, ebenso wie die andere, nur daß das Rauschen des Wassers leisere Geräusche unhörbar machte und nur das starke Klopfen durchdringen ließ.

»Hämmern Sie lieber nicht mehr,« hörten sie deutlich Williams' Stimme sagen. »Wenn die dünne Wand durchbohrt wird, so springt das Wasser heraus, und wer weiß, ob es nicht kochend oder gar über den Siedepunkt erhitzt ist. Im letzten Falle würden wir eines schrecklichen Verbrennungstodes sterben; wie aus einem geplatzten Ventil würde der Dampf hervorstürzen.«

»Ich möchte aber gar zu gern wissen, was dahinter ist,« sagte jetzt Hannes Stimme.

»Wasser, nichts als Wasser,« versicherte Charles, »aber wahrscheinlich durch einen furchtbaren Druck zusammengepreßt, so daß es in unserer Atmosphäre Dampf sein würde.«

Das Pochen hörte auf, ebenso das Gespräch, und die Horchenden vernahmen Fußtritte — die beiden entfernten sich also wieder.

Die Horcher an der Wand schrieen vergeblich direkt gegen dieselbe, ihre Stimmen wurden von jenen nicht vernommen. Diese hätten ebenfalls ihre Ohren gegen die Wand legen müssen, dann wäre eine gegenseitige Verständigung möglich gewesen, aber so lange sie dies nicht einmal aus Zufall taten, wodurch sie die Nachfolgenden gehört hätten, war daran nicht zu denken.

Die Herren lauschten ab und zu, einige Sekunden im Gehen innehaltend, an der Wand, und auf ein Zeichen Davids taten das alle — Williams und Hannes waren eben wieder in einer Unterhaltung begriffen.

»Wir müssen bald an Umkehr denken,« hörte man Williams sagen, »einmal wegen der späten Zeit, und dann wird es jetzt auch immer heißer, es ist ja hier gerade wie in einem Dampfbad. Ich wette, daß nicht weit von hier der heiße Bach in den Gang tritt und darin weiterläuft, sonst könnte ich mir diese plötzlich furchtbar heiße und nasse Luft nicht erklären.«

»Nur noch einige Schritte wollen wir weitergehen,« bat Hannes. »Sehe ich, daß ein Vordringen nicht möglich ist, so kehre ich willig mit um.«

Eine Zeitlang hörten die Lauscher nichts mehr, schon wollten sie ihren Posten aufgeben und weitergehen, als plötzlich ein Ruf von Charles sie wieder an die Wand bannte.

»Zurück!« schrie Charles plötzlich, und nach einer Weile fuhr er fort: »Wir wären beinahe alle beide in das Loch gestürzt. Der Weg wird jetzt zu gefährlich, das Licht leuchtet bei dem Dampf kaum noch drei Schritte weit, und der Weg wird immer zerrissener und zerklüfteter. Wir kehren um!«

»Nur noch über diese Spalte,« hörte man Hannes. »Können wir drüben nicht weiter, so gehen wir zurück.«

»Wie aber wollen wir über dieselbe hinweg? Sie ist so breit, daß der beste Springer nicht über sie wegsetzen kann.«

»Sehr einfach,« hörte man Hannes lachen, »der Gang ist ja hier sehr schmal, man stemmt Hände und Kniee gegen die Wände und rutscht wie ein Schornsteinfeger in der Esse hinüber. Sehen Sie, so wird es gemacht.«

»Um Gottes willen, Hannes!« hörten die Lauscher Williams angstvoll rufen. »Treibe keinen Unsinn, stürzest du hinab, so bist du verloren. Komm zurück!«

Hannes mußte schon im Begriff sein, die Schlucht, vor welcher sich die beiden wahrscheinlich befanden, auf die eben beschriebene Weise zu überschreiten. Der Erklärung ließ er die Tat folgen, er achtete nicht auf die Mahnung Williams', sein heiteres Lachen verriet es.

Noch hallte dieses in den Ohren derer, welche an der Wand lagen, als es plötzlich kurz abbrach, ein lauter Hilfeschrei pflanzte sich diese akustische Mauer entlang fort und erreichte die Lauscher, ebenso gleich darauf ein gellender Ruf aus Williams Munde.

Erschrocken waren die Horcher zusammengefahren. Einem der beiden mußte ein Unglück zugestoßen sein, und die Erklärung ließ nicht lange auf sich warten.

»Hannes, Hannes!« hörte man Williams rufen. »Lebst du noch? Hannes, wo bist du? Bist du verwundet?«

Nach einer Pause fuhr Williams' Stimme in angstvollem Tone fort:

»Mein Gott, mein Gott, keinen Strick und nichts bei mir. Was soll ich tun? Der Tollkühne ist hinabgestürzt! Wer weiß, wie tief die Spalte ist! Hätte ich wenigstens Fackeln mit, daß ich hinunterleuchten könnte! Ich muß so schnell als möglich zurückeilen und Hilfe herbeiholen.«

Noch mehrere Male rief er den Namen seines Dieners, und die Horchenden malten sich aus, wie er mit angsterfülltem Gesicht über den Rand des Abgrundes sich beugte und in die Tiefe blickte, vergebens nach der Gestalt dessen, den er liebte, spähend. Es war allen bewußt, daß der ewig heitere Matrose dem Baron mehr war, als nur ein Diener. Dann hörte man nichts mehr, als nur hastige, rennende Schritte — Williams lief zurück.

»Ein Glück, daß wir schon unterwegs sind,« sagte Harrlington, »wir werden mit ihm zusammenstoßen. Hoffentlich ist es uns möglich, Hannes mit Hilfe unserer Stricke lebendig wieder herauszuholen.«

»Nur schnell, schnell,« drängte die ebenfalls bei der Gesellschaft befindliche Hope Staunton und rannte den übrigen voran, als bedeute jede Minute Verzögerung Hannes' Tod.

Man eilte so schnell wie möglich den noch immer abschüssigen Weg hinunter, ohne jetzt viel auf die Merkwürdigkeiten der Pflanzen- und Tierwelt zu achten.

Eine Viertelstunde verging, ohne daß man auf Williams stieß.

Er war doch nicht etwa einen anderen Weg gegangen? Schon zeigten sich an den Seiten des Ganges Löcher, welche an Größe stetig zunahmen, so daß sie vielleicht in gangbare Wege ausarteten. Hatte Williams aus Versehen einen solchen eingeschlagen, so konnte man nicht mit ihm zusammentreffen.

Aber das war schließlich auch gleichgültig! Trotz des steinigen Bodens war es dem vorauseilenden Hannibal noch immer ein leichtes, die hinterlassenen Spuren aufzufinden, und diese mußten ja unbedingt nach jener Stelle führen, wo Hannes abgestürzt war.

Es war ein Glück, daß Hannibal immer auf etwas geachtet hatte, woran die anderen fast gar nicht mehr dachten, nämlich auf die Fußabdrücke des nachfolgenden Maori. Die Herren und Damen waren so mit dem Schicksale der beiden Freunde beschäftigt gewesen, daß sie des Eingeborenen, der sich denselben nachgeschlichen, ganz vergessen hatten, aber ein Ausruf Hannibals brachte ihn in ihre Erinnerung zurück.

Plötzlich blieb der Neger stehen.

»Der Maori ist zurückgekommen,« sagte er leise, »er ist sehr schnell gerannt, hier die weiteren Spuren. Aber hier hören sie auf, diese Steinplatte nahm keinen Abdruck an. Warum habe ich sie aber nicht vorher schon bemerkt?«

Niemand wußte, was der Schwarze, der sich im Scheine der Holzfackel mit pfiffigem Gesicht im Kreisel umsah, meinte. Hannibal liebte es, bei allen Gelegenheiten, wo man seiner bedurfte, sich den Anstrich der Überlegenheit zu geben.

»Was ist es, Hannibal?« fragte sein Herr. »Sprich! Wir haben keine Zeit zu verlieren.«

»Ha,« rief der Schwarze und klatschte sich auf die Schenkel, »bis hierher ist der Maori gelaufen, aber nicht weiter. Also sitzt er dort in jenem Loche versteckt.«

Dabei deutete Hannibal auf ein dicht über dem Erdboden befindliches Loch in der Steinwand, etwa nur einen halben Meter hoch und breit.

»So rufe ihn,« befahl Lord Harrlington, »und kommt er nicht, so hole ihn heraus!«

»Rufen will ich wohl,« entgegnete Hannibal mit schlauem Lächeln, »aber da hineinkriechen? Nein, dann sticht er mich mit seiner Lanze in den Kopf.«

Die Herren besprachen sich schnell. Alle nahmen an, daß der Maori kein gutes Gewissen habe, warum hätte er sich sonst vor der Gesellschaft versteckt? Was hatte er übrigens den beiden nachzuschleichen und dann plötzlich umzukehren?

Er mußte unbedingt herauskommen.

Schon raffte Yamyhla ihre Gewänder zusammen, wie immer bereit, schonungslos als erste mit ihrer Kraft und Geschicklichkeit helfend einzuspringen, aber Lord Harrlington ließ es nicht zu, daß ein Weib ein gefährliches Unternehmen beginne, so lange noch Männer vorhanden waren.

Erst ließ er durch Hannibal den Maori auffordern, die Höhle zu verlassen, als aber nach mehrmaligem Rufen des Namens Maketu dieser nicht erschien, bückte er sich kurz entschlossen und kroch selbst in das Loch. Die anderen sollten so lange auf ihn warten, bis er herauskäme. Wenn das Loch sich weit in die Wand hinein erstreckte, sagte er, so würde er sofort wieder zurückkommen, und dann müsse einstweilen jemand als Posten davor stehen bleiben, bis man auf dem Rückwege wieder vorbeikäme. Hope war über diese Verzögerung schon ganz unglücklich.

Lord Harrlington verschwand in der Öffnung.

Tief konnte sie nicht sein, denn kaum war er so weit drin, daß sein Körper nicht mehr zu sehen war, so erscholl in der Höhle ein lautes Geschrei, von dem Maori ausgestoßen, und im nächsten Augenblick erschienen auch des Lords Füße wieder.

Er kam nicht allein, er hatte den widerstrebenden Eingeborenen an einem Fuße gepackt und zog ihn einfach aus dem Loche heraus. Gegen des Lords eisernen Griff half alles Sträuben und Einstemmen gegen die Wände nichts.

Trotzdem der Maori alle seine Waffen, einen Spieß, einen Dolch, Bogen und Pfeile in seiner Hand hielt, hatte er doch nicht gewagt, von ihnen Gebrauch zu machen, denn er wußte recht gut, daß draußen Helfer standen, bereit, ihrem Gefährten beizuspringen.

»Was hast du hier in der Höhle zu suchen?« fragte Hannibal den Eingeborenen auf Lord Harrlingtons Geheiß, seiner Stimme einen drohenden Ton gebend.

Der Maori blieb die Antwort schuldig. Angstvoll wendete er seine Augen von einem Gesicht zum andern; seine Züge drückten unsagbare Furcht aus, seine Glieder zitterten, aber er öffnete den Mund nicht zu einer Antwort.

Es war gar kein Zweifel, zufällig war der Eingeborene nicht hierhergekommen, sein Besuch der Höhle stand mit dem der beiden Freunde im Zusammenhang.

»Ich gehe allein,« rief Hope, vor Ungeduld fast weinend. »So nehmen Sie den Schwarzen doch mit und vergeuden Sie die Zeit nicht mit nutzlosen Fragen! Dadurch wird Hannes auch nicht gerettet.«


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Das Mädchen hatte recht. Der Maori wurde, nachdem man ihn seiner Waffen beraubt hatte, von einigen Herren in die Mitte genommen und mußte so mitmarschieren, als er aber bei der ersten Gelegenheit einen Fluchtversuch machte, wurden ihm die Arme mit Stricken straff an die Seiten geschnürt, so daß er dadurch im Laufen sehr gehindert wurde und also leicht einzuholen gewesen wäre.

Jedenfalls hatte der Mann ein böses Gewissen. Die Maoris waren keine beschränkten Wilden mehr, die sich vor einem Europäer, wie vor einem Gespenst, fürchten.

»Williams ist noch immer nicht da,« murmelte Harrlington. »Sonderbar, wie weit man mittels dieser akustischen Wand Geräusche vernehmen kann.«

Legte man das Ohr an die Wand, was die Herren ab und zu taten, so konnte man das Geräusch der eiligen Schritte Williams hören, und zwar viel deutlicher als zuerst. Er kam ihnen also schnell näher, aber niemand wußte, wie weit er sich noch von ihnen befand.

Die Luft wurde jetzt immer wärmer, ein heißer Dunst umgab sie, der die Fackeln nur matt leuchten ließ, und das Geräusch des Baches an der Seite wurde immer stärker, ein Zeichen, daß die Wand, welche zwischen ihm und dem Gange lag, immer dünner wurde.

Schließlich kam man an eine Stelle, wo man förmlich glaubte, das Wasser müsse jeden Augenblick durchbrechen, so deutlich klang das Geräusch. Die Wand konnte höchstens einen Zentimeter stark sein. Als ein Herr dieselbe betrachtete, sah er eine Stelle, an welcher kurz vorher mit einem stählernen Instrument gemeißelt worden war, denn die Fläche, von welcher kleine Steinstückchen abgesprengt worden waren, war noch ganz glänzend.

»Hier war es, wo Hannes vorhin gemeißelt hat, was ihm Williams verbot,« sagte Harrlington, »also müssen wir ihn bald treffen.«

Er hatte noch nicht ausgesprochen, so tauchte in dem heißen Nebel, der den Gang jetzt ausfüllte, ein schwaches Lichtchen auf. Es vergrößerte sich schnell, es beleuchtete ein wohlbekanntes Gesicht, ein Freudenschrei wurde hörbar, und vor ihnen stand Williams, in der Hand ein großes Wachslicht haltend.

»Gott sei Dank, Sie erscheinen wie helfende Engel,« rief er, und für einen Augenblick wurde sein Gesicht, in welchem sich eben noch Angst und Unruhe abgespiegelt hatte, vor Freude verklärt, »und Sie haben auch Stricke mit? So ist noch Hoffnung, Hannes zu retten. Er ist in eine Schlucht gestürzt, aber sie kann nicht tief gewesen sein, denn ich habe seinen Körper sofort aufschlagen hören.«

»Dann ist er tot,« rief Hope entsetzt.

»Wir wollen das beste hoffen, liebe Miß,« tröstete Charles. »Hannes kann einen ordentlichen Puff vertragen. Ich glaube er ist durch den Fall nur bewußtlos geworden, aber allerdings wären, ehe ich Hilfe herbeigeholt hätte, Stunden vergangen, und bei der dort herrschenden fürchterlichen Hitze, ist wohl anzunehmen, daß wir ihn nicht mehr lebend angetroffen hätten.«

»Dann fort!« rief Hope und war schon den anderen um einige Schritte weit voraus. »Wie weit ist es denn noch von hier, Sir Williams?«

»In einer Viertelstunde sind wir dort,« entgegnete der Gefragte, dem Mädchen nacheilend.

»Aber Sie sind schon viel länger unterwegs, wie wir gehört haben.«

»Der Abstieg geht auch viel schneller. Was sagten Sie da? Sie hätten uns gehört?«

Dem aufhorchenden Williams wurde mitgeteilt, wie man seine Gespräche mit Hannes an der Wand belauscht hatte, und der Baronet wunderte sich natürlich höchlichst über diese akustische Eigenschaft der Felswände. Schade, daß jetzt keine Zeit war, genauere Untersuchungen darüber anzustellen.

Wirklich war noch keine Viertelstunde vergangen, als sie, nachdem sie schon mehrere Male kleine Risse übersprungen hatten, an eine breite Schlucht kamen. Die Wände traten hier sehr eng zusammen, und die Temperatur darin war schier unerträglich. Man wähnte, sich in einem Dampfbad zu befinden, so war die Luft mit heißem Wasserdampf gefüllt. Noch ehe sie den Rand dieser Schlucht erreicht hatten, blieb Hannibal stehen und sagte, die Fackel tief auf den Boden senkend:

»Hier hören die Spuren des Eingeborenen auf, er ist hinter diesen Felsblock gekrochen und hat dort auf den Knieen gelegen.

»Warum? Kannst du dies auch erkennen?« fragte Lord Harrlington, das Benehmen des Maori dabei beobachtend.

»Das muß der Maori selbst sagen,« entgegnete Hannibal, »ich kann hier nichts weiter sehen, als daß er hinter diesem Felsblock auf den Knieen gelegen und sich mit einem Fuß gegen die Wand gestemmt hat.«

Harrlington unterließ es vorläufig, den Eingeborenen darüber auszuforschen, der große Unruhe, ja Angst zeigte, als er sah, wie Hannibal den Ort untersuchte, wo er vorhin gelegen hatte. Auch er war ja im Aufsuchen von Fährten nicht unerfahren, aber, da die Maoris kein Jägervolk sind, nicht so geübt, wie Hannibal, der darin Meister war, er wußte vielleicht nicht einmal, daß seine Handlung aus den Spuren bestimmt werden konnte.

Die Gesellschaft stand dicht vor dem Rande der Schlucht.

Als Williams mehrmals Hannes' Namen hinabrief, erklang unten ein dumpfes Röcheln — Hannes lebte also, er war zum Bewußtsein zurückgekehrt, wahrscheinlich aber stark verletzt.

Die über den Abgrund gehaltene Fackel genügte nicht, die Tiefe zu erleuchten, als man aber eine neue an ein Seil band und schnell hinunterließ, da erblickte man in einer Tiefe von sechs Metern einen Felsenvorsprung, und auf diesem lag Hannes, lang ausgestreckt, das Gesicht auf der Erde.

Dieser Fels war der einzige Vorsprung, welcher über dem Abgrund zu sehen war; wäre Hannes nicht zufällig auf ihn gefallen, so wäre er ins Bodenlose gestürzt. So vorsichtig die Fackel auch angebunden worden war, das Feuer erreichte das Seil doch, sie löste sich ab, und minutenlang konnte man sehen, wie sie tiefer und tiefer sank, bis die Flamme nur noch einem glühenden Punkte glich und endlich ganz erlosch.

Harrlington ließ sich ein Seil unter die Arme binden, nahm ein anderes in die Hand und wurde so nach dem Felsvorsprung hinuntergelassen. Nach kurzer Zeit lag Hannes oben.

Noch war Harrlington nicht wieder hinausbefördert worden, als Charles, welcher den bei Bewußtsein befindlichen, röchelnden Matrosen mit der Fackel beleuchtete, einen lauten Schrei der Überraschung ausstieß.

Sprachlos deutete er auf den Hals des Unglücklichen, der auf dem Gesicht lag — hinten aus dessen Halse ragte das befiederte Ende eines langen Pfeiles heraus, das andere war, wie man sah, als man den Röchelnden, umdrehte, abgebrochen.

Aller Blicke wandten sich nach dem Maori. Wer anders konnte den Pfeil abgesandt haben, als dieser Eingeborene! Er machte auch keine Bemühungen, sich unschuldig zu stellen. Er war auf die Kniee gesunken, legte das Gesicht auf die Erde und murmelte unverständliche Worte, wahrscheinlich um Schonung seines Lebens bittend.

Charles selbst hatte keine Ahnung, daß der Sturz von Hannes, der dies lebensgefährliche Klettern über die Schlucht als eine Kleinigkeit aufgefaßt hatte, durch diesen Pfeil herbeigeführt worden war. Er hatte niemanden hinter sich vermutet, den Pfeil weder fliegen sehen, noch ihn durch die Luft zischen hören.

Weinend warf sich Hope über den, den sie liebte, aber sie wurde von einer kräftigen, aber doch rücksichtsvollen Hand beiseite gedrängt. John Davids war es, der sich jetzt über den Verwundeten beugte und sich erst mit der Halswunde beschäftigte.

»Es ist nichts,« sagte er, nachdem er den Pfeil behutsam herausgezogen hatte, wobei Hannes schmerzlich zusammenzuckte, »die Luftröhre ist unverletzt, desgleichen auch die Speiseröhre, der Pfeil hat wahrscheinlich nicht einmal eine Sehne durchschnitten, denn es scheint nicht zu schmerzen, wie ich den Kopf auch hin- und herbewege. Die Wunde wird kaum eine Narbe hinterlassen.

Jetzt untersuchte er den Körper des Matrosen.

»Es ist nichts gebrochen,« fuhr er fort, »soweit ich bis jetzt erkennen kann; das Nähere werden wir erfahren, sobald er aufsteht, was bald zu erwarten ist. Sehen Sie, nur der Pfeil hat ihm Schmerzen verursacht, daher das Röcheln, jetzt, da er entfernt ist, läßt der Schmerz nach; er schlägt sogar die Augen auf und blickt um sich. Die durch den harten Fall herbeigeführte Bewußtlosigkeit hatte ihn unfähig gemacht, sich selbst von dem Pfeilschaft zu befreien.«

Wer war glücklicher als Hope! Sie beachtete nicht die Umstehenden, sie merkte nicht, mit welchem Erstaunen, in welches sich sogar Entrüstung mischte, die Damen das Mädchen betrachteten, welches sich auf den Verwundeten neigte und wieder und wieder die bleichen Lippen küßte, die schon so oft die ihren berührt hatten.

Als der unterdes ebenfalls heraufgezogene Harrlington von dem seltsamen Falle erfahren hatte, nahm er sofort den zitternden Maori ins Gebet, erhielt aber auf alle seine Anfragen, warum er den Pfeil auf Hannes abgeschossen habe, warum gerade, als derselbe über den Abgrund schwebte, da doch durch den Sturz des Opfers in die Tiefe ihm die Beute, auf die es jedenfalls abgesehen war, verloren ging, nur ein um Gnade jammerndes Winseln zur Antwort.

»Du willst nicht antworten, Bursche!« fuhr Harrlington jetzt heftig auf. »Warte, mit dir feigem Meuchelmörder will ich kurzen Prozeß machen.«

Ehe es sich der Eingeborene versah, fühlte er sich von zwei nervigen Händen in die Hüften gepackt, und er schwebte frei in der Luft über dem Abgrund.

Jetzt stieß er ein lautes Geschrei aus, vermischt mit vielen Worten, deren Bedeutung Hannibal wohl verstand.

»Er will alles erzählen,« sagte der Diener des Lords, »er ist von jemandem zu der Tat gedungen worden.«

Jetzt war der Maori geständig, er wollte lieber alles verraten und der Strafe entgegensehen, als hier dem unmittelbaren Tode ins Auge blicken.

Mit Hilfe von Hannibal erfuhr man von ihm, daß er in Wellington von einem Chinesen aufgefordert worden sei, sich an der Expedition der Gesellschaft zu beteiligen und bei einer sich ihm bietenden Gelegenheit den ihm genau bezeichneten Hannes Vogel zu töten; ein Goldstück habe er schon dafür erhalten, das zweite sollte er bekommen, wenn der Tod des Matrosen durch die Aussagen der Zurückkehrenden bestätigt würde. Mekatu hatte sich nach Matchaneea begeben, und es war ihm dort wirklich gelungen, sich von der Gesellschaft anwerben zu lassen.

Er war dem Matrosen immer nachgeschlichen, ohne eine günstige Gelegenheit zu erspähen, ihn aus der Welt zu schaffen, als dieser aber erst allein, dann noch einmal mit Sir Williams die Höhle betrat, hielt der Schurke die Zeit für gekommen, sich das andere Goldstück zu verdienen.

Maketu verschob den Pfeilschuß immer wieder; das Geschoß erschien doch nicht wirkungsvoll genug, den kräftigen Mann auf der Stelle zu töten, und außerdem konnte ihm der Begleiter, der mit einem Revolver bewaffnet war, sehr gefährlich werden.

Als Hannes über der Spalte schwebte, schoß der Maori den Pfeil gegen ihn ab und durchbohrte ihm den Hals, ohne daß dies von Williams gemerkt wurde. Der Mörder sah den Matrosen stürzen und eilte dann selbst zurück, um sich in Sicherheit zu bringen.

Die Umstehenden hatten gespannt den Worten des verdolmetschenden Hannibal gelauscht. Ein von tiefem Seufzen begleiteter Ausruf des Verwundeten ließ plötzlich aller Köpfe nach ihm wenden.

»Also zwei Goldstücke bin ich doch noch wert,« stöhnte Hannes, »das macht mir wenigstens Freude.«

»Na, mit dem steht es nicht schlimm,« meinte Harrlington trocken, und es bewahrheitete sich bald.

Unter John Davids' geschickter Hand wurde dem Matrosen ein Verband um den Hals gelegt, und als sich die Herren eben berieten, wie man den zum Gehen anscheinend Unfähigen transportieren sollte, richtete sich dieser mit Hilfe Hopes plötzlich auf und erklärte, den Weg ganz gut allein zurücklegen zu können, wenn einer der Herren etwas Whisky bei sich führe.

Es stand also nicht so schlimm mit ihm, wie man fürchtete. Auf beiden Seiten unterstützt, marschierte Hannes mit der Gesellschaft den aufsteigenden und beschwerlichen Weg allein zurück.

Der Maori wurde sorgsam gebunden mitgenommen. Er hatte schon ausgesagt, wer ihn zu der Tat geworben, beschrieb das Aussehen des Mannes, so gut man dies bei einem Chinesen kann, welche sich, wie es dem Europäer wenigstens dünkt, wie eine Katze der anderen ähneln, und behauptete auch, ihn wiederfinden zu können.

Gelang es ihnen, den betreffenden Chinesen mit Hilfe des Maori aufzufinden, so sollte dieser frei sein, beruhte aber des Eingeborenen Aussage auf Lüge, so war ihm angedroht worden, ihm eine ordentliche Lektion in Gestalt von Peitschenhieben zu erteilen.

Jedenfalls verbarg die beabsichtigte Ermordung des Matrosen ein Rätsel.


14. Neue Beschlüsse.

Nur noch einige Tage fehlten, dann war die ›Vesta‹ von kundigen eingeborenen Schiffszimmerleuten wieder seefähig gemacht. Die Neuseeländer sind geborene Schiffer, denn sie wagen mit kleinen Segelbooten die weitesten Fahrten auf dem Meere.

Wäre die Kultur eher zu ihnen gedrungen, so würden sie jetzt schon eine Seefahrernation sein, wie etwa früher die isländische oder norwegische; denn man muß gleichfalls staunen, wenn man davon liest, wie die Isländer und Skandinavier in ihren erbärmlichen, kleinen Segelschiffen schon Handel mit Amerika getrieben haben, lange, bevor noch Amerika von Kolumbus entdeckt worden ist. Dadurch, daß man in Amerika Steine mit Runen der alten Schrift jener nordischen Völker, entdeckt hat, ist ja erwiesen, daß Kolumbus nicht etwa der erste Europäer war, der Amerika betreten hat, daß vielmehr Isländer schon lange zuvor dieses Land kannten, ebenso zum Beispiel Chinesen, aber der kühne Genuese war der erste, welcher es wieder auffand.

Ebenso unrecht, wie Kolumbus als den Entdecker Amerikas zu bezeichnen, ist es auch, daß man das von ihm entdeckte Land, als Land für sich, nicht nach ihm benannte, sondern nach dem Namen desjenigen, welcher es eingehend beschrieb, nach Amerigo Vespucci. Erst viel später nannte man einen Staat, sowie verschiedene Städte und Flüsse nach dem spanischen Endeckungsreisenden.

Wie gesagt, sind auch die Neuseeländer ein Schifffahrtsvolk durch und durch, nur sind sie auf einer Stufe stehen geblieben, da ihr Schiffswesen im Gegensatz zu anderen Völkern sehr vollkommen war — so zum Beispiel kannten sie weit vor uns die magnetische Wirkung der Kompaßnadel und bedienten sich ihrer — da sie aber nicht weiter vorwärtsschritten, so blieben sie schnell hinter den nordischen Völkern darin zurück.

Aber noch jetzt geben die Neuseeländer, werden sie von kundiger Hand geleitet, ausgezeichnete Schiffsbauer ab, und so sahen die Vestalinnen, wie auch die Besatzung des ›Amor‹ mit Freude, wie schnell die Takelage ihrer Schiffe durch Ergänzung der fehlenden Teile und Reparatur der beschädigten in früherer Vollkommenheit wiedererstand.

Die Damen hatten unter dem Vorsitz Ellens in dein Salon der ›Vesta‹ eine Versammlung abgehalten, die wichtigste von allen bis jetzt, denn es galt den Antritt der größten Seereise, die sie je unternommen hatten.

»Noch zwei Monate trennen uns von jener Zeit,« fuhr Ellen in ihrer längeren Rede fort, »da Yamyhla nach ihrer Heimat gebracht und ihr womöglich durch uns zu ihrem Rechte verholfen werden soll. Das ist der Grund, warum wir, statt erst nach Südamerika, sofort nach der Westküste von Afrika segeln müssen. Kürzer wäre natürlich die Reise, wenn wir von hier westwärts nach Afrika führen und uns dann gleich nach Amerika begäben, woselbst wir die befreiten Mädchen in ihre Heimat schickten, dann aber würde unsere Reise keiner Weltumsegelung gleichen. Gehen wir jetzt nach Südamerika und segeln längs der Ostküste nach New-York, so ist dagegen die Weltumsegelung schon geschehen, und die Reise nach Afrika wäre nicht weiter nötig, sie ist nur eine Zugabe, aber wir müssen dieselbe unternehmen, denn wir haben es unserer Freundin Yamyhla versprochen, auch ohne das Geheimnis, welches sie von ihrer Heimat trennt, zu kennen, also sind wir es ihr schuldig. Darum nochmals, meine Damen, wer von Ihnen ist damit einverstanden, von hier aus direkt nach Afrika zu segeln? Das heißt, ostwärts, denn den westlichen Weg kennen wir bereits.«

Niemand stimmte dagegen. »Wie viele Meilen beträgt die Entfernung von hier bis nach der Westküste von Afrika?« fragte ein Mädchen.

»Etwa zehntausend englische Meilen,« entgegnete die Kapitänin, »und nehmen wir an, daß die ›Vesta‹ die Stunde, sehr niedrig gerechnet, zehn Meilen macht, so hat sie diesen Weg in sechs Wochen zurückgelegt. Haben wir aber nur einigermaßen solches Glück, wie es sich bis jetzt stets an unsere Fersen geheftet hat, so segeln wir ihn bequem in vier Wochen — die längste Fahrt bisher auf unserer Reise.«

»Laufen wir unterwegs Häfen an?« ließ sich eine andere Fragerin« vernehmen.

»Es kämen nur die Häfen an der Südspitze Amerikas in Betracht,« antwortete Ellen. »Haben wir Zeit, so können wir vor Anker gehen, denn besser ist es, wir verbringen nach der anstrengenden Seereise einige Wochen in einem kühlen Lande, als im heißen Afrika.«

»Wir könnten auch Kapstadt anlaufen.«

»Kapstadt ist zu der Zeit, da wir dort anlaufen würden, nicht besonders gesund zu nennen. Aber wir können dies noch unterwegs genügend besprechen.«

»Es wäre auch interessant, einmal den Polarkreis aufzusuchen, wie zum Beispiel die Falklandinseln, und da wir warme Ausrüstung in New-York mitgenommen haben, vielleicht sogar Viktorialand,« nahm Miß Murray das Wort.

Ellen lächelte.

»Miß Murray hat bekanntlich unter uns das heißeste Blut, obgleich sie am weitesten aus dem Norden stammt,« sagte sie. »Offen gestanden, ich bin kein Freund von zu großer Kälte; wir haben allerdings warme Ausrüstung mitgenommen, aber zum Besuche von arktischen Ländern genügt sie nicht; ohne wasserdichte Fellkleider können wir es dort nicht aushalten. Außerdem will ich den Damen gleich mitteilen, daß wir in der Nähe des Kap Horn noch oft in die Lage kommen werden, das Eis von den Raaen mit Handspeichen losklopfen zu müssen, wenn wir mit den Segeln manövrieren wollen, und da wir fast alle Kinder des Südens sind, so wird uns dies eine nicht gerade angenehme Beschäftigung sein. Je weiter südlich wir fahren, destomehr nähern wir uns dem Pole, und desto kälter wird es natürlich, doch wünschen die Damen, solche Gegenden aufzusuchen, so bin ich damit einverstanden.«

»Ich habe nichts gesagt,« rief Miß Jessy Murray, »es war nur eine Frage.«

Auch die anderen Damen wünschten nicht, sich den Unannehmlichkeiten zu großer Kälte auszusetzen, und so wurde die direkte Fahrt nach Afrika beschlossen, höchstens, daß man Kap Horn, der Südspitze Amerikas einen Besuch abstattete.

»Und wohin wenden wir uns von dort?« fragte wieder eine Vestalin.

»Unsere Weltreise wäre dann beendet; wir hätten nur noch nötig, nach New-York zurückzusegeln. Engagierten wir dann noch einige Vertrauensmänner, welche unsere Schützlinge sicher in ihre Heimat brächten, so wären wir auch dieser Verpflichtung überhoben, aber Sie werden mir beistimmen, wenn ich vorschlage, Südamerika, einen Teil unserer großen Heimat, näher kennen zu lernen.«

Damit waren alle einverstanden.

»Von Afrika nach Südamerika ist zwar ebenfalls wieder eine beträchtliche Reise,« fuhr Ellen fort, »aber im Vergleich zu der, welche wir jetzt vorhaben, ein wahrer Katzensprung. Mein Plan ist folgender: Die Gegenden, aus denen die geraubten Mädchen stammen, liegen fast alle, mit wenigen Ausnahmen an der Westküste Süd- oder Nordamerikas, und wir machen es, wie bisher, das heißt, wir bringen jedes einzelne Mädchen persönlich zu den Ihrigen. Wie Sie wissen, ist es nicht immer rohe Gewalt gewesen, welche die Mädchen als Sklavinnen in die Ferne geführt hat, vielmehr sind sie oft durch Intriguen aus der Heimat vertrieben worden. Wir könnten die Sache durch Vertrauensmänner und brieflich erledigen, statt uns dieser übrigens auch sehr großen Arbeit zu unterziehen — aber es würde ein ewiges Hin- und Herschreiben, Ausstellen von Vollmachten, Protokollen und so weiter erfordern — daher will ich mich lieber den Beschwerden der Reise unterziehen und alles persönlich erledigen.«


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Wieder waren alle Mädchen damit einverstanden.

»Wie wir es in Südamerika vorhaben,« setzte Ellen ihren Plan weiter auseinander, »so werden wir es auch in den südlichen Staaten von Nordamerika machen, das heißt, wir bringen die Schützlinge, von denen die meisten Kreolinnen sind, nach Texas, Mexiko und so weiter.

»Und wo bleibt die ›Vesta‹?« unterbrach ein Mädchen die Sprecherin.

»Dieselbe folgt uns der Küste entlang. — Ob einzelne von uns oder fremde Leute sie bedienen müssen, das zu überlegen haben wir noch genügend Zeit, Bietet die Gegend keine Abwechselung, wie zum Beispiel das öde Chile, so reisen wir auf der ›Vesta‹; ist die Gegend aber schön, waldig, prärienartig, dann reisen wir zu Fuß oder zu Pferd. Ach,« schloß Ellen, und ihre Augen begannen plötzlich wunderbar zu strahlen, »wie ich mich freue, wenn ich erst wieder auf feurigem Rosse über die Prärien, durch die Pampas meines schönen Vaterlandes jagen, durch seine endlosen Wälder streifen kann, ach, wie sehne ich mich darnach, das Brüllen des Hirsches zu hören und dem melodischen Locken des Wasserhuhnes zu lauschen!«

Erstaunt betrachteten die Vestalinnen ihre Führerin. Was war denn plötzlich mit dieser vorgegangen, daß sie eine so heftige Sehnsucht nach ihrem Heimatlande empfand, da sie doch früher immer das Meer als das Element bezeichnet hatte, auf dem sie sich wohl fühle?

»Sind Sie dieser Reise überdrüssig? Bereuen Sie die Verpflichtung, Yamyhla in ihre Heimat zu bringen, wodurch Sie noch für lauge Zeit von den Ihrigen entfernt gehalten werden?« fragte nach einer langen Pause Miß Thomson leise. »Ich glaube, niemand ist unter uns, der Sie an das Versprechen erinnert, das Sie uns gaben, als wir New-York verließen, uns stets in Freud und Leid beizustehen. Treten Sie zurück, Miß Petersen, niemand wird Ihnen deshalb einen Vorwurf machen!« Das Mädchen sprach aus der Seele aller, sie liebten ihn Kapitänin wirklich. Aber Ellen, welche während der Pause sinnend die Hand an die Stirn gelegt hatte, schüttelte unwillig den Kopf.

»Nein,« rief sie, ihre schlanke Gestalt emporrichtend, »es war nichts, eine Art Heimweh, eine vorübergehende Schwäche — denken wir nicht mehr daran! Lassen Sie uns das Verhalten besprechen, welches wir den Herren des ›Amor‹ gegenüber von jetzt ab beobachten wollen. Ist es der einstimmige Beschluß aller, daß wir den Herren auch fernerhin gestatten, uns immer zu Wasser und zu Lande zu begleiten?«

Die Damen waren eine Zeitlang über diese Frage bestürzt, mehr noch über den Ton, in welchem ihre Kapitänin dieselbe stellte. Sie sahen sich gegenseitig an, dann aber erscholl von allen Seiten zugleich ein bestimmtes Ja.

Eine Dame, Miß Thomson, erhob sich und bat um das Wort.

»Ich kann nicht einsehen, aus welchem Grunde wir den Herren des ›Amor‹ eine weitere Begleitung verbieten sollten, ja, wir haben nicht einmal die Berechtigung dazu, wir könnten sie höchstens darum bitten, uns fernerhin allein segeln zu lassen, sich aus unserer Nähe entfernt zu halten, denn laut der Wette, welche Sie selbst, Miß Petersen, mit Lord Harrlington abschlossen, haben die Herren vor der Hand noch die Befugnis, uns überall hin zu folgen. Sie sagten damals, Miß Petersen, so lange der ›Amor‹ der ›Vesta‹ nachkommen könne, sei den Herren die Begleitung erlaubt, und erst, wenn er die ›Vesta‹ innerhalb dreißig Tagen nicht wiederzusehen bekommen hätte, erlösche diese Erlaubnis, dann müßten sie als Ehrenmänner es aufgeben, uns weiter zu folgen. Außerdem wurde dann von ihnen noch verlangt, daß sie in allen Zeitungen Europas und Amerikas bekannt machten, sie wären von uns Vestalinnen auf dem Gebiet des Segelsportes geschlagen worden. Sie sollten dies noch durch ihre volle Unterschrift bekräftigen. Ich erinnere mich ganz genau an den Vertrag dieser Wette, welcher nicht schriftlich aufgesetzt worden, weil wir Personen sind, denen das Wort ebensoviel, wie ein schriftlicher Kontrakt gilt. Haben wir nun, frage ich die Damen, ein Recht, den Herren diese Erlaubnis, uns zu Wasser oder zu Lande begleiten zu dürfen, wieder zu nehmen? Nein, sage ich, wir haben es nicht, wir dürfen es nicht, ohne uns eines groben Wortbruchs schuldig zu machen; den Herren dagegen kann man es gar nicht verargen, wenn sie unsere Aufforderung gar nicht beachten, sondern uns sogar einer unverzeihlichen Handlungsweise beschuldigen. Das einzige wäre, daß wir sie bäten, auf die weitere Begleitung zu verzichten, aber nimmer dürfen wir so etwas von ihnen verlangen. Niemals werde ich wenigstens meinen Namen dazu hergeben.«

Man sah es Ellen an, wie mißgestimmt sie wurde, als Miß Thomson so unumwunden ihre Meinung aussprach, und noch mehr, als sie an den Ausrufen und Mienen der Zuhörenden merkte, wie alle Damen der Rednerin Beifall zollten.

Da stand auch noch Miß Lind auf und ergriff im Interesse der Herren das Wort:

»Ich gebe Miß Thomson vollständig recht,« begann sie, »und erlaube mir nur noch, hinzuzufügen, daß es uns nicht nur nicht zusteht, die Herren aufzufordern, uns fernerhin nicht mehr zu begleiten, wir dürfen sie nicht einmal durch unsere Bitte dazu zu bewegen suchen, wollten wir uns nicht, um es geradeherauszusagen, einer großen Ungezogenheit schuldig machen. Wer kann es leugnen, daß sich die englischen Herren uns gegenüber stets als die treuesten Freunde gezeigt haben, welche ihr eigenes Leben hintansetzten, galt es, das unsrige zu retten? Ich brauche wohl nicht erst auf Tatsachen hinzuweisen, ich kann, obwohl ich ein gutes Gedächtnis habe, nicht alle jene Fälle aus dem Kopfe herzählen, in denen uns die Herren treu zur Seite gestanden haben, ohne daß sie es nötig hatten — sie haben oftmals ihre eigene Sicherheit vernachlässigt, galt es, uns aus einer Gefahr zu helfen. Wir können nicht sagen, daß wir durch sie auf irgend eine Weise belästigt worden sind; nie sind sie unbescheiden, anmaßend geworden, nie sind sie uns hinderlich gewesen. Wie oft aber wären wir absolut verloren gewesen, hätten nicht die Herren ihr Leben in die Schanze geschlagen, um uns zu retten! Und wer weiß, wie nötig wir sie noch oftmals haben werden, wie oft wir noch ihre Hilfe herbeisehnen und wie oft wir uns Vorwürfe machen würden, hätten wir sie durch unseren Eigensinn — es ist nicht anders zu nennen — von uns entfernt. Nein, nein und abermals nein, ich werde niemals beistimmen, sie zu bitten, ihre Begleitung fernerhin aufzugeben. Nach allem, was sie schon für uns getan haben, wäre dies, wie schon gesagt, eine Ungezogenheit von uns, eine unerhörte Beleidigung, gegen welche sich mein Herz empört; und daß die Damen, meine Freundinnen, ebenso denken, wie ich, das sehe ich aus ihren Mienen.«

Jetzt ließen sich die Mädchen nicht mehr abhalten, Johanna beizustimmen, als deren beste Freundin jede gern gelten wollte — so lieb war sie allen — sie wurden von deren Worten hingerissen. Sie brachen in ein lautes Händeklatschen und Rufe der Begeisterung aus.

Ellen gab ihren Antrag für verloren, aber sie ließ den Ärger, den diese allgemeine, stürmische Ablehnung ihres Vorschlages bei ihr hervorbrachte, nicht merken. Sie lächelte.

»Nun, nun,« beschwichtigte sie, »ich muß mich förmlich beleidigt fühlen, daß Sie mich zum Gegenstand Ihres allgemeinen Unwillens machen. Ich habe diesen Antrag aus besonderen Gründen gestellt, er ist nicht angenommen worden, und so ist die Sache ja beigelegt. Sie werden mich nicht wieder darüber sprechen hören. Aber nun etwas anderes! Sind die Damen auch damit einverstanden, daß wir dennoch versuchen, uns der Begleitung des ›Amor‹ zu entledigen, indem wir uns den Herren für dreißig Tage unsichtbar machen? Ich glaube fest, nach der vorherigen Abstimmung zu schließen, daß Sie auch jetzt mit einem Nein antworten. Aber bedenken Sie, welchen Triumph wir genießen, wenn sich die Engländer von uns Damen als besiegt erklären müssen. Dies allein ist schon wert, den Versuch einmal ernstlich zu machen, eine bessere Gelegenheit, als diese lange Seereise, finden wir niemals.«

Wieder war es Miß Thomson, die für ihre Freundinnen das Wort ergriff, aber diesmal klang ihre Rede nicht so ruhig, wie vorhin, sie war etwas aufgeregt.

»Miß Petersen,« rief sie, »ich verstehe nicht, was Sie veranlaßt, auf solche Weise zu sprechen Das unwillige Gemurmel der Damen beweist, daß nicht nur ich den Sinn Ihrer Rede als eine Beleidigung aufgefaßt habe. Haben wir vielleicht jemals versucht, die Herren an uns zu fesseln? Haben wir nicht immer unser Bestes getan, Sie Ihre Wette gewinnen zu lassen? Ich betone, Ihre Wette, denn Sie haben sie veranlaßt, wenn ich ihr auch anfangs beigestimmt habe. Aber bald ist mir zum Bewußtsein gekommen, daß sie eine törichte war, und im Gespräch mit Freundinnen habe ich erfahren, daß auch diese meiner Ansicht sind. Da sie aber nun einmal gemacht und durch unser Wort bestätigt worden ist, so sind wir auch verpflichtet, sie zu halten, und wenn auch nur eine der Damen darauf besteht, oder, um es gleich offen herauszusagen, wenn auch Sie, Miß Petersen, nur darauf bestehen. Ich weiß nicht, welche Gründe Sie dazu bewegen, die Entfernung des ,Amor' immer zu provozieren, es mögen persönliche sein, die mich nichts angehen. Aber in Ihren eben gesprochenen Worten lag der Sinn, als ob wir alle wünschten, daß die Herren bei uns blieben, nicht nur darum, weil wir ihre Hilfe nötig haben, sondern es lag eine Ironie in ihnen, die ich hier nicht näher erklären will, doch haben wir alle sie herausgefunden. Miß Petersen, ich fasse dies im Namen meiner Freundinnen zugleich als eine Beleidigung auf, welche ich Ihnen nicht zugetraut hätte. Ich dächte doch, wir alle hätten uns bis jetzt als treue Freundinnen erwiesen, in Freud und Leid, in fröhlichen, sowie in gefährlichen Tagen, und deshalb dürfte zwischen uns nichts vorfallen, was auch nur einem Streite ähnlich sieht. Habe ich ihn heraufbeschworen, so will ich um Verzeihung bitten, aber vorläufig bin ich mir dessen nicht bewußt —«

Miß Thomson war sehr erregt, sie hatte sich in Hitze geredet, die Tränen standen ihr in den Augen. Plötzlich brach sie ab, drehte sich um und wollte den Salon verlassen.

Da aber war Ellen schon bei ihr und hinderte sie, durch die Tür zu gehen.

»Verzeih mir, Betty,« sagte sie innig, ihre Hand erfassend, »ich habe vielleicht etwas gesagt, was ich nicht gemeint habe. Nein, Betty, keinen Streit zwischen uns! Du hast recht, wir sind die besten Freundinnen gewesen, und leere Worte, wenn sie auch beleidigend gewesen sein sollten, können uns nicht trennen, denn ich habe sie unabsichtlich, nicht mit Überlegung gesprochen. Ich bin in der letzten Zeit etwas verbittert gewesen, du wirst es bemerkt haben, deshalb nochmals, Betty, verzeihe mir meine Worte!«

Miß Thomson war ebenso schnell wieder versöhnt, wie sie gekränkt worden war, und dasselbe galt von den anderen Mädchen.

Ellen wollte erklären, daß ihre Worte falsch verstanden worden wären, daß sie weit entfernt gewesen wäre, darauf anzuspielen, daß einige der Damen die Gegenwart der Herren aus anderen Gründen wünschten, als aus dem, Helfer in der Not zu haben, aber die Mädchen ließen sie gar nicht zum Worte kommen — die Sache war beigelegt.

Ja, die Schlichtung wollte sogar einen humoristischen Verlauf nehmen, denn als Miß Thomson es noch einmal für gut befand, zu erklären, daß sie die Anwesenheit des, ›Amor‹ gerade nun sehr nötig hätten, weil jedenfalls Kämpfe stattfinden würden, nicht aber, wie sie schalkhaft dazu bemerkte: ›weil wir mit den Herren unter Palmen promenieren wollen,‹ brach Hope plötzlich in ein lautes Husten aus, das gar nicht enden wollte.

Die Damen wußten recht gut, was den neckischen Kobold zum Husten gereizt hatte, aber sie waren viel zu diskret, um sich dies merken zu lassen. Doch Hope ließ nicht nach, der Kobold war in ihr erwacht, sie stieß ihre Nachbarinnen an, stellte komische Fragen wegen der Herren an sie und brachte alles zum Lachen.

Endlich, als der Ernst wieder hergestellt worden war, ging man zu anderen Gebieten über.

Es wurde beschlossen, die ›Vesta‹ noch länger in Wellington liegen zu lassen, als es die vorgenommenen Reparaturen erfordert hätten. Galt es doch diesmal eine große Seereise von vielen Wochen, und es war von Wichtigkeit, daß vor dieser das Schiff einer genauen Besichtigung unterworfen wurde. Man wollte verschiedene Teile, welche es eigentlich noch nicht nötig hatten, erneuern, so zum Beispiel das Steuerruder, die Häuschen an Deck, zum Beispiel das des Kompasses, des Ruders, das Kartenhaus und so weiter befestigen lassen, alle Parthelen anziehen, die Wanten stärker machen und so weiter. Trat während der Reise ein Unglück ein, so hätten die Vestalinnen derartige Reparaturen selbst machen müssen — einen Hafen gab es nicht — und waren sie in derartigen Arbeiten auch sehr geschickt, die Leistungen blieben doch nur mangelhaft im Vergleiche zu denen, welche im Hafen von geübten Schiffsbauern vorgenommen werden konnten.

Außerdem mußte die ›Vesta‹ noch mit Trinkwasser, Lebensmitteln und Kohlen versorgt werden, dann wollte die Kapitänin noch einen großen Vorrat von Segeln mitnehmen, denn es gab voraussichtlich viele Stürme zu überstehen, und so konnte der Fall eintreten, daß die ›Vesta‹ durch Verlust von Segeln manövrierunfähig wurde, und auf dem Meere gibt es keine Gelegenheit, sich neue zu verschaffen. Ein Kapitän hilft dem anderen zwar gern in derartigen Verlegenheiten aus, aber passiert es doch selbst wahrend der Reise von Deutschland nach New-York, einer sehr befahrenen Linie, daß ein Segelschiff wochen-, ja monatelang kreuzt, ohne einem anderen zu begegnen.

Derartigen Unannehmlichkeiten vorzubeugen, war die Pflicht der Kapitänin.

»Nun noch eins, meine Damen,« schloß Ellen die Beratung. »Für übermorgen haben wir also die Besteigung des Mount Cook vor. Wir fahren mit einem gemieteten Dampfer durch die Cookstraße nach der Südinsel hinüber, besichtigen in Nelson das dem Weltumsegler dort gesetzte Monument und fahren dann weiter nach Hokitika an der Westküste der Südinsel. Die Eisenbahn bringt uns nach einem Stäbchen, nur etwa fünf Meilen vom Mount Cook entfernt, von dort aus müssen wir die Besteigung des Berges zu Fuße vornehmen. Es handelt sich eigentlich nur darum, ob alle Vestalinnen damit einverstanden sind, daß uns die Herren des ›Amor‹ bei dieser Partie begleiten.«

Diese Frage war jedenfalls nötig, aber wie immer, so wurde sie auch jetzt allgemein bejahend beantwortet.

Hätten einige Damen dagegen gestimmt, so mußten diese, wenn sie in der Minderzahl waren, an Bord bleiben, fügten sie sich nicht den Stimmen der Mehrzahl. Waren aber die Verneinenden im Übergewicht, so durften die Herren nicht mitkommen, und diejenigen, welche nicht damit einverstanden waren, welche die Gegenwart der Herren wünschten, hätten zurückbleiben müssen.

Doch eine solche Spaltung trat nie ein; eine fügte sich immer dem Willen der anderen.

Aber es gab auch Fälle, wo die abschlägige Stimme einer einzigen den Entschluß hindern konnte, so zum Beispiel, wenn sie die ›Vesta‹ betrafen, wie wir gesehen haben, als es sich um das Verlassen des Schiffes handelte.

»Ich glaube, die Offiziere der in Wellington ankernden, deutschen Kreuzerkorvette, »Victoria«, würden gern an der Partie teilnehmen,« ließ sich da Hopes helle Stimme vernehmen, »sie haben etwas davon zu den Engländern verlauten lassen.«

»So sind sie uns willkommen, wenn die Damen damit einverstanden sind.« entgegnete Ellen.

Die Vestalinnen zerstreuten sich, sie gingen entweder an Deck, an Land oder in ihre Kabine.

»Miß Staunton,« sagte Ellen zu dem jungen Mädchen, »kann ich Sie einmal in meiner Kabine sprechen?« —

»Wissen Sie, woher die Offiziere erfahren haben, daß wir übermorgen eine Partie nach dem Mount Cook vorhaben?« fragte Ellen, als sie sich mit Hope in ihrer Kabine allein befand.

»Ja, von den englischen Herren.«

»Woher wissen es aber diese?«

»Von Hannes.«

»Von Hannes, dem Diener von Sir Williams? Da Sie so genau Bescheid wissen, können Sie mir vielleicht auch sagen, von wem dieser davon erfahren hat?«

»Ganz genau,« entgegnete Hope ungeniert. »Ich habe es ihm selber gesagt.«

»So,« sagte Ellen und versuchte eine strenge Miene zu ziehen, »und wissen Sie nicht, daß es uns Vestalinnen streng verboten ist, über alles, was auf der ›Vesta‹ vorfällt oder beraten wird, zu sprechen? Es soll alles wie das strengste Geheimnis verschwiegen werden.«

»Ach, liebe Ellen,« sagte Hope treuherzig und faßte der Kapitänin Hand, »machen Sie nicht gleich einen solchen Kram davon. Was ist es denn weiter, wenn ich dem Hannes erzähle, ob es heute auf der ›Vesta‹ Blutwurst oder Leberwurst gegeben hat, davon wachsen uns doch keine Haare unter der Nase.«

Ellen mußte ein Lächeln unterdrücken.

»Sie sollen aber nicht solchen intimen Umgang mit Hannes haben,« sagte sie dann ernst werdend. »Warum denn aber nicht? Da ist aber doch nichts weiter dabei!«

»Doch! Es schickt sich nicht, Sie sind kein Kind mehr und gewöhnen sich Redensarten an, die nicht für Sie passen.«

»Nun erst recht,« murmelte Hope, als sie nach ihrer Kabine ging.

»Das arme Kind!« dachte Ellen, ihr nachblickend.


15. Die Verlobung in den Wolken.

Neuseeland zerfällt in zwei Teile, in die Nordinsel und in die Südinsel, welche beide durch die Cookstraße, an der schmalen Stelle nur zehn Seemeilen breit, voneinander getrennt werden.

Die Nordinsel, von den Eingeborenen Te-Ika-a-Maui, das heißt, Schiff des Maui, genannt, ist ein mehr ebenes Land, hat aber viele Vulkane, darunter noch feuerspeiende, so zum Beispiel den Tongariro, welcher dem lieben Leser schon vorgeführt worden ist. Außerdem besitzt diese Insel viele kochende Quellen.

Die Südinsel, von den Eingeborenen mit Te-Wahi-Punamu bezeichnet, das heißt Ort des Grünsteins, ist dagegen durchweg gebirgig, viel mehr als die Nordinsel. Ein Gebirgszug ist von den Geographen Southern-Alps genannt worden, und er verdient diesen Namen, denn er wetteifert mit den Alpen Deutschlands an Schönheit und Mächtigkeit. Sein höchster Berg ist der Mount Cook, der Ahonrangio der Polynesier, 3760 Meter hoch.

In diesem Gebirge wird viel Erz gegraben, Gold findet sich häufig vor, besonders in dem Westabhange des Southern-Alps, wo sie steil nach einem Plateau abfallen, welches sich bis dicht ans Meer erstreckt. Hier liegt auch Hokitika, eine Stadt, in deren Umgebung das meiste Gold gefunden wird. Außerdem hat die Insel noch zahlreiche Fundgruben von Edelsteinen aufzuweisen, ferner den Neuseeland eigentümlichen Grünstein, welcher, wenn er geschliffen ist, ein sehr schönes Aussehen hat und zur Fabrikation von Schmucksachen, Schalen, Tellern und so weiter verwendet wird, in der die Eingeborenen großes Geschick besitzen. Nach ihm haben die Maoris diesen Teil des Landes benannt.

Von eingeborenen Führern geleitet, bewegte sich ein langer Zug von Damen und Herren auf schmalen Paßgängen dem Gipfel des Mount Cook zu. Sie hatten am frühen Morgen Hokitika mit der Eisenbahn verlassen, waren in der Nähe des Gebirges ausgestiegen und hatten nach Überschreitung des Plateaus den Aufstieg auf den Berg ungesäumt begonnen.

Ein wunderschönes Bild bot sich ihnen dar.

Zur Linken stiegen die Felswände himmelhoch an, zur Rechten, dem Westen zu, fielen sie jäh ab und gestatteten den Wanderern einen Blick in die Tiefe, die sich vor ihnen auftat.

Alles unter ihnen war grün, bedeckt mit Farren und Kaurifichten, und wendete sich der Blick nach oben, so sah er nichts als Schnee, der wie mit einem Leichentuche die ganze Landschaft bedeckte. Auf der gegenüberliegenden Seite, wo sich andere Berge erhoben, konnten sie genau erkennen, wie die Vegetation nach und nach abnahm, bis sie in einer Höhe von zweitausend Metern, der sogenannten Schneegrenze, völlig aufhörte.

Die Gesellschaft befand sich zwar noch unterhalb der Region des ewigen Schneees, aber man hätte dies nicht gemerkt, wenn nicht die mitgenommenen Barometer die Höhe über dem Wasserspiegel verraten hätten. Denn die Luft war an dem frühen Morgen sehr kühl, die Finger erstarrten, und der schmale Weg, auf dem sie sich bewegten, bot nichts Grünes. Höchstens, daß sich hier und da einmal ein winziges Farnkraut durch eine Spalte drängte und die wärmende Sonne zitternd erwartete, dem dummen Vogel oder dem unvernünftigen Winde zürnend, der den Samen in diese unfruchtbare Gegend getragen und somit die Existenz der Pflanze hervorgerufen hatte.

In der Mitte des Zuges gingen drei Männer und zwei Damen zusammen, so gut es die Enge des Felspfades gestattete, und suchten sich teils durch Betrachtung der Aussicht, teils durch Gespräche über die Beschwerlichkeit des steilen Weges hinwegzusetzen.

Einer der Männer gehörte nicht zu unseren Freunden. Er verdiente den Namen eines Mannes eigentlich noch nicht, wenn diese Bezeichnung nur an ein älteres Aussehen oder gar etwa an das Vorhandensein eines Bartes gebunden wäre, aber diesem bartlosen Gesichte, das einem Jüngling gehörte, sah man an dem festen Blicke, den energischen Zügen und den wettergebräunten Wangen an, daß sein Eigentümer doch ein Mann war, der gar manchen in den Schatten stellte, der älter aussah und war.

Es war Freiherr Johannes von Schwarzburg, der zwar noch nicht älteste, aber am weitesten gereiste Kadett Seiner Majestät Kreuzerkorvette »Victoria« — und bei Seeleuten wird das Alter nach der Seefahrtszeit gerechnet.

Er befand sich mit unter den Offizieren, welche der Aufforderung der Damen, an dem Ausflüge teilzunehmen, nachgekommen waren. Der junge Kadett hatte sofort jene Dame, die kleine Miß, wie er sie seitdem seinen Kameraden gegenüber immer nannte, wieder herausgefunden, welche ihm einst im Garten von Batavia den Angstschweiß auf die Stirn getrieben hatte, als sie ihm eine Lektion über Seemannskunst erteilte. Obgleich er nicht gerade sagen konnte, daß er damals besonders bezaubert von ihr ging, so war doch etwas, was ihn sofort wieder in die Nähe des jungen Mädchens zog.

Aber ach, der Kadett wäre am liebsten wieder umgekehrt.

Da stand auch schon ihr Kompagnon, jenen Matrose, der ihr im Erklären der Takelage noch über war. Und richtig, gerade, als er Miß Staunton begrüßen wollte, setzte ihr der Matrose ganz genau auseinander, wie man am besten die Seestiefel mit Lebertran einschmieren muß, um sie vor dem Steifwerden zu schützen und sie doch auch nicht zu geschmeidig zu machen.

»Guten Morgen, Miß Staunton,« hatte der Kadett gesagt, »darf ich mich nach ihrem Wohlbefinden erkundigen?«

»Danke sehr, fünf Unzen Lebertran, und zwei Unzen Talg sagst du, Hannes?«

Das war schon ein guter Anfang; dem Kadetten blieb nichts anderes übrig, als zu warten, bis Hannes das Rezept und seine Anwendung ganz genau beschrieben hatte.

Dann aber, Gott sei Dank, wurde nicht mehr so viel über solche seemännisch-wissenschaftliche Gegenstände debattiert, bald fand der Kadett, daß Hope, wie auch Hannes, ganz ausgezeichnete Gesellschafter waren, und wie sich gleiche Naturen immer anziehen, so dauerte es nicht lange, und Charles, sowie Miß Thomson, hatten sich zu ihnen gesellt.

Das Gespräch kam auf das jüngste Abenteuer in dem Gange des Vulkans, bei welchem Hannes eine Hauptrolle gespielt hatte.

»Merkwürdig, was Sie für eine Natur haben,« meinte der Kadett zu Hannes, diesen wirklich bewundernd, »mit einer Pfeilwunde im Halse nach acht Tagen schon wieder fähig einen Bergriesen zu besteigen.«

»Das kommt davon, wenn man statt blauen Blutes, rotes in den Adern hat, das hat mehr Widerstandsfähigkeit und heilt besser,« antwortete Hope für ihren, Hannes, mit einem Anfluge von Stolz.

Hannes selbst verstand nicht den Sinn dieser Worte, wohl aber die übrigen, und am besten der Kadett, dessen Gesicht mit einer Purpurröte übergossen wurde. Hope spielte darauf an, daß die Adligen, einer Redensart zufolge, behaupten, blaues Blut in den Adern fließen zu haben, welches viel empfindlicher sei, als das der Bürgerlichen, eigentlich weniger empfindsam für Schäden des Körpers, als vielmehr für die der Ehre.

Während Hannes verwundert aufschaute, konnten die anderen kaum ein merkliches Lachen unterdrücken.

»Oho,« entgegnete der Kadett, »Sie unterschätzen uns doch, wenn Sie glauben, unser blaues Blut, wie Sie es bezeichnen, hindere uns am Aushalten von Schmerzen. Ihnen, als Amerikanerin, kann ich so etwas nicht übelnehmen, ich kenne den Haß oder die Verachtung, welche Sie und Ihre Landsleute gegen uns Adlige alten Geschlechtes hegen, aber ich glaube, unsere Väter haben gezeigt, daß das blaue Blut nicht zu verachten ist. Kennen Sie die deutsche Geschichte, Miß Staunton?«

»Ich kenne sie,« sagte Hope. Und da es in ihrem lebhaften Charakter lag, von einem Gegenstande schnell auf einen anderen überzuspringen, fuhr sie fort: »Haben Sie auch Vorfahren, von denen Sie rühmen können, daß sie ihrem Vaterlande mit Gut und Blut gedient haben? Ich muß gestehen, mein Vaterland hat wenige solche Helden aufzuweisen, wie man ihnen beim Lesen von Deutschlands Geschichte auf Schritt und Tritt begegnet.«

»Ob ich solche Ahnen habe?« rief der junge Kadett, und seine Wangen glühten, seine Augen strahlten plötzlich vor Begeisterung; er war stehen geblieben, die Arme nach dem Osten ausbreitend, wo die Sonne sich eben purpurrot über die Berge erhob. »Fast alle meine Ahnen sind den Tod fürs Vaterland gestorben, bis ins vierte Glied hinauf läßt sich das nachweisen, mein Urgroßvater fiel im Freiheitskampfe, und mein Großvater war der erste, welcher an seinem Herde verschied, aber reich bedeckt mit Ruhm. Das Geschlecht der Freiherren von Schwarzburg ist eins der ältesten und edelsten, sein Blut hat sich rein erhalten, mein Urgroßvater hat dafür gesorgt, daß der Sprößling, welcher unseren Stammbaum schänden wollte, abgeschnitten wurde, und so stehen wir jetzt noch so da, daß kein König sich zu schämen braucht, an unserem Tische zu essen.«

Des jungen Kadetten Begeisterung bekam aber sofort eine kalte Dusche von Hope.

»Ach, gehen Sie nur mit Ahnen und Stammbaum!« sagte sie schnippisch. »Solcher Krimskrams gilt bei uns keinen Pfifferling. Sehen Sie, mein Vater hat in seiner Jugend Mist geladen, und als er starb, da wurden die Sternenbanner aller amerikanischen Kriegsschiffe halbstark gehißt, und mein Bruder, erst dreißig Jahre alt, ist Kommandant einer Korvette.«

Die Kriegsschiffe zeigen ihre Trauer nicht durch eine schwarze Flagge an, sondern sie hissen die Nationalitätsflagge ›halbstock‹, das heißt, sie wird nicht völlig emporgezogen, sondern nur bis zur Hälfte.

»Was sagten Sie vorhin von Ihrem Urgroßvater, Mister Schwarzburg?« fuhr Hope fort. »Der hat den Stammbaum beschnitten? Wie hat er denn das gemacht?«

Der Kadett lächelte.

»Es ist dies nur ein Ausdruck,« entgegnete er. »Mein Urgroßvater mußte seinen erstgeborenen Sohn, den eigentlichen Majoratsherrn von Schwarzburg, verstoßen, weil dieser ein nicht ebenbürtiges Mädchen heiratete. So kam das Erbe an den zweiten Sohn, von welchem ich abstamme.«

Hope war stehen geblieben.

»Das ist ja aber nichtswürdig!« rief sie empört. »Wie kann man seinen Sohn verstoßen, weil er ein armes Mädchen geheiratet hat? Herrgott, was herrschen in Ihrem Vaterlande für barbarische Sitten!«

»Sie dürfen nicht so vorschnell urteilen,« bat der Kadett. »Einmal müssen Sie bedenken, daß dies vor fast hundert Jahren geschah, und dann meine ich, wenn ich von unebenbürtig spreche, kein armes Mädchen damit, sondern eins, durch welches der Stammbaum geschändet wird.«

»Das ist Dummheit!« rief Hope rücksichtslos. »Warum sollen die Kinder für die Sünden ihrer Eltern büßen?«

»Das kann ich Ihnen nicht erklären, aber die Natur zeigt uns schon, daß die Kinder allerdings für die Sünden ihrer Eltern büßen müssen, durch Krankheit und so weiter. Doch bei uns war das ein anderer Fall, der Majoratsherr heiratete ein wirklich verkommenes Subjekt, welches damals in nicht geschiedener Ehe lebte, sie ließ sich erst nach der Heirat von ihrem ersten Manne, einem bekannten Schurken, scheiden. Selbst wenn mein Urgroßvater den Sohn so geliebt hätte, daß er ihm diesen Schritt verzeihen wollte, er durfte es nicht, eine Klausel in einem uralten Testament verbot es ihm. Aber dieser Sohn war es nicht wert, er war ein leichtsinniger, ungerechter Mensch, ganz aus der Art der Schwarzburgs geschlagen, der von Jugend an seinem Vater nur Kummer, Schmerz und Schande bereitete. So fiel denn das Majorat dem zweiten Sohne zu, dessen Enkel ich bin. Und wie gut daran getan war, das zeigte sich auch bald. Trotzdem es meine Verwandten sind, muß ich bekennen, daß von diesem Paare, welches die menschlichen Gesetze schändet, auch unwürdige Kinder entsprossen sind, krank an Geist und Körper.«

Der Kadett brach plötzlich ab und sah sinnend mit gerunzelter Stirn vor sich hin.

»Worüber denken Sie nach?« konnte die freimütige Hope nicht unterlassen zu fragen.

»Vor einigen Tagen hatte ich in Wellington eine seltsame Begegnung,« antwortete nach längerer Pause der Kadett. »Ich ging des Abends mit einigen Kameraden durch die Vorstadt, in welcher hauptsächlich Chinesen wohnen. Da sah ich an einem schwach erleuchteten Fenster einen Mann, einen Europäer stehen, der mit einem Chinesen eifrig sprach. Ich blieb bei seinem Anblicke erstaunt stehen, ich glaubte, meinen Onkel, den ich aber nicht mehr so nennen darf, das Kind des verstoßenen Freiherrn, vor mir zu sehen. Ich würde mir eingeredet haben, ich hätte mich getäuscht, wenn der Mann nicht, als er mich sah, erschrocken zusammengefahren und dann eiligst davongelaufen wäre.«

»Kennen Sie den Onkel? Haben Sie ihn früher schon öfters gesehen?«

»Nur ein einziges Mal wurde er mir von meinem Vater gezeigt. ›Das ist der, an den das Majorat fällt, wenn auch Du mir vom Schicksal geraubt würdest, wie alle deine Geschwister‹ sagte er damals, und er hatte recht,« der Kadett seufzte tief auf, »ich bin der letzte meines Stammes, daher kommt es auch, daß mein Vater mich so schwer die Seeoffizierskarriere einschlagen ließ. Ich entsinne mich noch sehr gut dieses Menschen, sein Gesicht kann man nie vergessen, dieses leichenblasse Antlitz, in dem es fortwährend zerrt und zuckt, als wäre der Mann von bösen Dämonen geplagt.«

»Hei, was sagen Sie da?« rief plötzlich Hannes dazwischen. »Ein käseweißes Gesicht, in dem es immer zuckt? Williams, das könnte unser schwarzer Passagier sein, der in Wellington so ohne Sang und Klang von Bord gelaufen ist, ohne seinen Namen zu nennen und ohne ein Wort des Dankes für unsere Hilfe auszusprechen.«

»Stimmt, mein Junge,« sagte Charles, »das könnte er sein. Der Kerl hatte überhaupt ein sonderbares Benehmen, und Sie, Hannes, schienen einen ganz besonderen Einfluß auf ihn auszuüben, als wären Sie magnetisch. Kamen Sie in seine Nähe, so hörte das nervöse Zucken plötzlich auf; er starrte Sie wie hypnotisiert an, und gingen Sie weg, so befiel es ihn mit doppelter Heftigkeit. Ich habe Euch beide während der ganzen Reise förmlich studiert; noch nie ist mir etwas Ähnliches begegnet.«

Sir Williams erzählte dem Kadetten von dem schwarzen Passagier, wie sie ihn sofort getauft hatten, als sie ihn aus den Wellen des Meeres als Schiffbrüchigen auffischten. Er konnte gar keinen anderen Namen erhalten, denn seinen richtigen nannte er nicht, wie er sich überhaupt völlig schweigsam verhielt, ja, auf die an ihn gerichteten Fragen nicht einmal Antwort gab. Erst glaubte man, daß er durch die überstandene Todesangst etwas irrsinnig geworden sei, und hatte daher ein scharfes Auge auf ihn, bald aber zeigte sich, daß er nur äußerst menschenscheu war. Man konnte nicht einmal von ihm erfahren, wie das Schiff hieß, welches durch den Taifun zu Grunde gegangen war. Nun, er befand sich unter gebildeten Menschen und nicht unter gewöhnlichen Matrosen, und so wurde er in Ruhe gelassen.

Kaum war der ›Amor‹ in Wellington angekommen, so verschwand der Fremde spurlos, ohne vorher seine Retter davon in Kenntnis zu setzen, ohne ihnen auch nur ein Wort des Dankes zu sagen. Niemand hatte ihn seitdem wieder gesehen.

Der Mann, den der Kadett jetzt eben beschrieb, war es unbedingt. So hielt er sich also noch in Wellington auf.

»Mit einem Chinesen hat er gesprochen?« fragte Hope. »Haben Sie etwas davon verstanden?«

»Nein, mir fiel nur auf, wie schnell die beiden auseinanderstoben,« entgegnete der Kadett, »gerade, als wären sie bei einem unsauberen Geschäfte gestört worden.«

»Du, Hannes,« sagte Hope und blickte ihrem Begleiter fragend in die Augen, »das wird doch nicht etwa der gewesen sein, der den Maori beauftragt hat, dir einen Pfeil in den Hals zu schießen?«

»Ach wo,« rief der Matrose, »was sollte er für einen Grund dazu haben? Ich habe dem Manne ja nichts getan, kenne ihn überhaupt nicht.«

»Aber, daß er so geheimnisvoll mit dem Chinesen sprach,« sagte Hope zweifelnd. »Der Maori sagte doch [???] von einem Chinesen dazu gezwungen worden zu sein, [???] aus der Welt zu schaffen.« »Wellington wimmelt von Chinesen, warum soll das gerade der Betreffende sein?«

»Ich weiß nicht« meinte Charles nachdenklich, »so unrecht hat Miß Staunton nicht. Erst jetzt fällt mir ein, daß der schwarze Passagier Ihnen gegenüber, Hannes, eigentlich doch ein recht seltsames Benehmen zur Schau getragen hat. Möglich, daß dieser Mann, auf alle Fälle krank und mit einem zerrütteten Nervensystem, gegen Sie aus irgend einem Grunde eine Abneigung gefaßt hat und nun in seinem krankhaften Zustande der Entschluß in ihm gereift ist, Sie aus der Welt zu schaffen. Wenn auch Davids das Gegenteil behauptete, für ganz geistesnormal hielt ich ihn niemals, und jetzt befestigt sich diese Ansicht noch mehr in mir.«

»Haben Sie den Chinesen, welchen der Maori als den bezeichnete, der ihn gedungen habe, auch gefunden?« fragte Schwarzburg.

»Nein, der Vogel war ausgeflogen,« entgegnetes Charles, »er hatte einen Trödlerladen und stand in dem Rufe, sich in allerlei dunkle Geschäfte einzulassen. Er ist jedenfalls gewarnt worden, denn als wir ihn aufsuchten, um uns seiner zu bemächtigen und ihn zu verhören, hatte er sich mit Hinterlassung seiner wertlosen Habseligkeiten aus dem Staube gemacht. Wir zeigten die Geschichte der Polizei an, haben aber bis jetzt nichts weiter von ihm gehört. Der Maori scheint doch nicht gelogen zu haben, als er den Chinesen als den bezeichnete, der ihn durch Geld zum Morde bestochen hatte.«

»Und der Maori?«

»Der ist in Händen der Polizei.«

Verlassen wir nun diese kleine Gesellschaft, und begeben wir uns nach der Spitze des Zuges, welche dicht hinter den Führern marschierte!

Sie setzte sich zusammen aus Lord Harrlington, Lord Hastings, Ellen, Miß Morgan, Miß Murray und anderen. Lord Hastings ging schweigend hinter Miß Murray und Ellen, während Lord Harrlington vom Zufall neben Miß Sarah Morgan placiert worden war. Der hier sehr schmale Weg gestattete, daß nur zwei Personen nebeneinander gingen.

Da wurde Ellen plötzlich von einer der Damen zurückgerufen; der hinteren Gesellschaft war eine Pflanze aufgefallen, über deren Vorkommen, hier, wo die Schneeregion schon begann, man sich wunderte, und Ellen interessierte sich für so etwas.

Sie eilte an Lord Hastings vorüber und blieb, ebenso wie die anderen, zurück. Dadurch kam Hastings neben Miß Murray. Beide folgten den weitergehenden Führern, ein Verlaufen war nun auf diesem Wege nicht mehr möglich.

»Warum so schweigsam, edler Lord?« begann Miß Murray, einen scherzhaften Ton anschlagend.

»Die Öde, welche sich hier überall unseren Blicken darbietet, ist daran schuld. Aber sie stimmt mich nicht schweigsam, wie Sie sagen, eher traurig. Ich möchte recht viel Lärm machen, singen, laut sprechen, um dieses Gefühl der Einsamkeit zu bemeistern.«

»Sie sind ein prosaischer Mensch, Lord,« scherzte das Mädchen weiter. »Gerade in dieser Einsamkeit liegt Poesie. Sehen Sie dort die Gipfel der Berge, wie sie ihr Haupt in den Wolken verbergen, so daß sie wie abgeplattet aussehen, die dampfenden Nebel, wie sie sich langsam aus den Schluchten erheben, und die Bergriesen immer mehr einhüllen! Ist das nicht schön?«

»Nein, es ist traurig.«

»Sie sind nüchtern, Sie haben keine Phantasie!«

»Und doch besitze ich solche!« entgegnete der Lord. »Jene Berge dort, die ihre Häupter zum Himmel emporstrecken, sind große Menschen. Aus den Schluchten steigen die Nebel, welche Neid, Mißgunst, Bosheit, Lug und Schmähungen repräsentieren, und umhüllen die Riesen, welche es wagen, sich über die anderen zu erheben.«

Erstaunt sah Jessy den Lord von der Seite an.

»Das hätte ich Ihnen nicht zugetraut,« rief sie, »es ist das erste Mal, daß ich an Ihnen eine poetische Ader entdecke.«

»Das erste Mal?« sagte Lord Hastings.

»Ja, das erste Mal. Offen gestanden, ich habe Sie bis jetzt immer für einen nüchternen und prosaischen Menschen gehalten, der für Poesie nicht den geringsten Sinn besitzt.«

»Dann haben Sie sich immer geirrt, Miß,« entgegnete Hastings. »Es gibt wohl keinen Menschen, der so für romantische Poesie schwärmt, wie ich.«

»Wirklich?« rief Jessy überrascht, »Nun ja, ich weiß, daß Sie Abenteuer lieben, wie alle die Herren des ›Amor‹ und wie wir Vestalinnen ja auch, aber Lust zu Abenteuern ist noch keine poetische Schwärmerei.«

»Und doch bin ich ein solcher poetischer, romantischer, schwärmerischer Mensch, wie Sie sagen,« behauptete Hastings. »Mein ganzes Sinnen und Trachten ist darauf gerichtet, diese Neigungen zu befriedigen. Aber in dieser Welt ist es nicht mehr möglich. Sie ist prosaisch, nicht ich.«

»Wieso? Noch immer gibt es Menschen, welche sich als Helden zeigen. Denken Sie an die Kriege, kommen da nicht Beispiele vor, daß Männer Taten vollführen, welche denen der alten Helden nicht nachstehen?««

»Diese sind vom Glücke begünstigt worden. Ich habe noch nie Gelegenheit gehabt, meinen sehnlichsten Wunsch befriedigen zu können. Ich bin als Offizier mit einer Expedition nach Brasilien geschickt worden, ich hoffte auf Kampf, träumte von Sieg und Ehre, aber kaum setzte ich meinen Fuß aufs Land, so wurde der Friede proklamiert. Ein Jahr war ich dort. Ich trank viel Kaffee, rauchte viel Zigaretten, spielte Karten, schlief des Mittags regelmäßig drei Stunden, und als ich nach der Heimat zurückkehrte, wurde ich von meinen Bekannten wie ein Held empfangen. In der Tat, ich hatte in Brasilien viele Moskitos und Fliegen totgeschlagen.«


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Miß Murray mußte über die Ironie des Lords lachen.

»Was für ein Leben wünschen Sie sich denn? Am Kampfe zwischen zwei Nationen beteiligt zu sein oder gegen aufrührerische Eingeborene zu kämpfen?« fragte sie dann.

»Das ist alles nichts mehr,« war die Antwort. »Im Kriege wird jetzt mehr mit der Feder gekämpft, als mit dem Schwerte, und was ist das für eine barbarische Grausamkeit, gegen nackte, mit Lanzen und Pfeilen bewaffnete Eingeborenen Maximgeschütze speien zu lassen? Nein, die Erde hat keinen Raum mehr für ein romantisches Gemüt, es wird nicht mehr befriedigt.«

»In welchen Verhältnissen wünschen Sie denn zu leben?« wiederholte Jessy ihre vorige Frage in anderer Form.

»Ich?« rief Hastings, und sein Auge strahlte plötzlich vor Begeisterung. »O, ich möchte, ich lebte in jener Zeit, da man, in stählerne Rüstungen gehüllt, das schwere Schwert in beiden Händen, Brust gegen Brust mit dem Gegner kämpfte. Da gab es noch keine Kugel, welche hinterlistig in den Rücken des Streitenden drang, Schwert klirrte gegen Schwert, die Streitaxt sauste auf das helmbedeckte Haupt, die eiserne Keule zertrümmerte des Feindes Schild, und lag er von wuchtigem Schlage zu Boden gestreckt, so hing man seine Rüstung an die Wände des Prunksaales und erzählte in alten Tagen seinen Kindern von den bestandenen Taten und lehrte sie, wie sie die Waffen zu schwingen hatten, um es einst ihren Vätern gleichzutun, und neue Trophäen zu erkämpfen.«

Immer erstaunter hatte Miß Murray dem begeisterten Lord zugehört, sie hatte ihn noch nie so gesehen.

»Wirklich, Lord,« rief sie dann, »ich habe Sie verkannt, als ich Sie für eine prosaische Natur hielt! Aber Sie haben recht, ein romantischer Hauch wehte durch das Mittelalter, in dem stolze Sitten herrschten. Jeder, der nur einigermaßen Sinn für Romantik hat, wird davon angeheimelt. Kam auch oftmals Roheit vor, im großen und ganzen waren die Männer doch von einem ritterlichen Geiste beseelt. Mit viel Vergnügen habe ich das französische Ritterleben studiert, aber auch Ihr England ist ja so reich an Gestalten, zu denen man Sympathie faßt. Was sind die Männer von heute gegen jene von damals, wenn sie die Dame ihres Herzens gefunden hatten und derselben ihre Liebe gestehen wollten! Jetzt zwängen sie sich in einen Frack, ziehen weiße Glacéhandschuhe an, setzen den Zylinder auf, fragen erst die Eltern, ob sie vielleicht gestatten, mit der Tochter in Verbindung zu treten, schicken dann ein Bouquet mit parfümduftendem Billet und so weiter. Aber damals! Da fragten sie ihre Angebetete, was sie zum Beweise ihrer Liebe verlangte, auf ihr Geheiß kämpften sie gegen Riesen, Zwerge und Drachen, der Schwache scheute nicht den Stärkeren, wenn es galt, ihn als Nebenbuhler zum Zweikampf herauszufordern, und lag er sterbend am Boden, so galt der letzte Blick seiner Geliebten; ging er aber durch seine Fechtkunst, durch die Geschicklichkeit, mit welcher er das gepanzerte Roß gezügelt hatte, als Sieger aus dem Strauße hervor, so kniete er vor seiner Dame nieder und ließ sich von ihrer zarten Hand den Ehrenkranz auf die Locken legen, und der leise Druck der Finger sagte ihm mehr als tausend Worte. Da wachte der Mann noch Tag und Nacht über seine Geliebte, er stand vor ihrem Fenster und brachte ihr seine Lieder, er trat für ihre Ehre mit seinem Leben ein und ebnete ihr den Weg, daß ihr Fuß an keinen Stein stieß.«

Ein mächtiger Felsblock versperrte den Weg, zu groß, als daß die Führer hätten darüber hinwegspringen können, sie waren langsam über ihn gestiegen, und dasselbe hätten jetzt die beiden Europäer auch tun müssen.

Da bückte sich Hastings plötzlich, faßte den wohl zwei Zentner schweren Block mit beiden Händen, hob ihn hoch empor und schleuderte ihn, wie einen Spielball durch die Lüfte in den Abgrund hinunter.

Donnernd schlug der Block an die Felswände, immer schneller prallte er von Wand zu Wand, bis er auf den Grund der Schlucht anlangte, aber noch lange hallte das Echo des Donners zwischen den Bergen nach.

Hochaufgerichtet stand Lord Hastings vor der Dame und schaute ihr fest in die Augen.

Jessy konnte den Blick nicht ertragen, eine plötzliche Purpurröte übergoß ihr Gesicht; sie senkte die Augen, von einer namenlosen Verwirrung beherrscht.

»Mein Gott,« brachte sie endlich stammelnd hervor, um wenigstens das drückende Stillschweigen zu brechen, »woher haben Sie diese übermenschliche Kraft?«

»Sie ist mir angeboren,« entgegnete der Lord stolz, seine mächtige, herkulische Gestalt noch höher emporreckend, »in meinen Adern fließt das Blut der Plantagenets.«

»Plantagenets?« wiederholte Jessy sinnend, ihre Verlegenheit bemeisternd und den Weg wieder aufnehmend. »Jenes französischen Geschlechts, welches einst auf dem Throne Englands saß?«

»Es ist so,« entgegnete Lord Hastings; »stammte ich väterlicherseits von ihm, so hätte ich Anspruch auf den Königsthron — aber die direkte männliche Nachkommenschaft ist ausgestorben. Sie kennen den berühmtesten der Plantagenets, jenen Helden, der in Vers und Lied von uns besungen wird, den König Richard Löwenherz. Er ist mein Ahne.«

»Wie?« rief Jessy, abermals stehen bleibend und den Lord mit der markigen Gestalt, den offenen Zügen, den treuen, blauen Augen und den langen, blonden Locken erstaunt betrachtend. »So sind Sie ein Nachkomme jenes Helden, der uns Schulmädchen wie ein Halbgott im Wachen und Träumen vorschwebte, als uns seine Geschichte erzählt wurde? Ja, nun verstehe ich Sie, nun begreife ich Ihre Sehnsucht nach romantischen Abenteuern. Ein Enkel dieses gewaltigen Helden kann keine anderen Gefühle besitzen. Wissen Sie auch, Lord, daß Sie von Miß Staunton immer Richard Löwenherz genannt werden, aber, meint das mutwillige Mädchen, Sie dürfen mir die Bemerkung nicht übelnehmen, Lord,« fügte Jessy lächelnd hinzu, »Sie wären nur ein zahmer. Doch ich bemerke es jetzt, daß Sie wirklich dem Richard Löwenherz vollkommen gleichen, wie ich ihn mir ausgemalt habe.

»Ich heiße auch Richard,« sagte Hastings einfach, durch die aufrichtige Bewunderung des Mädchens erfreut.

»Herrlich,« rief Jessy entzückt. »So ist Richard Löwenherz aus dem Grabe erstanden. Gott, was waren das für schöne Zeiten, als wir uns mit diesen Helden Englands beschäftigten. Wir träumten Tag und Nacht von ihnen, alle Bücher, Geschichten und Romane, die von ihm handelten, wurden mit wahrem Heißhunger verschlungen, und den ganzen Tag erklang das schöne Lied:


»Du stolzes England, freue dich,
Dein König geht und kämpft für dich.«


Mit heller Stimme ließ Jessy das alte, bekannte Lied durch die Berge hallen.

»Ich kann es noch gar nicht fassen,« sagte sie dann und blickte den jungen Hünen an. »So sind Sie wirklich ein Nachkomme von Richard Löwenherz?«

»Wirklich, er ist mein Urahn gewesen.«

»Und Sie könnten Ansprüche auf den Thron von England machen? Ich glaubte immer, die Plantagenets wären ganz ausgestorben.«

»Sie sind es auch,« entgegnete der Lord lächelnd. »Wie ich schon sagte, stamme ich mütterlicherseits von diesem Geschlechte ab. Aber könnte ich auch Ansprüche erheben, ich würde es nicht tun, es machte mir keine Freude, auf dem Throne von England zu sitzen.«

»Warum nicht?«

»Weil, weil —«

Der Lord schwieg verlegen. Jessy schaute ihn groß an.

»Warum nicht?« wiederholte sie.

»Weil ich mich nicht zum Herrscher eigne,« sagte Hastings kurz. »Doch der Führer dort wartet auf uns,« fuhr er schnell fort, »er scheint uns etwas sagen zu wollen.«

Jessy hatte nicht Zeit, darüber nachzudenken, was Lord Hastings erst hatte sagen wollen, eine Ahnung war plötzlich in ihr aufgestiegen und hatte ihr das Blut in die Wangen gejagt.

»Wie lange haben wir noch bis zum Gipfel des Mount Cook zu marschieren?« fragte Hastings den Maori, welcher hinter den übrigen Führern zurückgeblieben war und auf sie gewartet hatte.

Der Felsenweg wand sich hier in unzähligen Krümmungen hin und her, so daß man die Nachkommenden, welche aufgehalten worden waren, nicht sehen konnte.

»Noch drei Stunden,« antwortete der Maori und setzte dann mit schlauem Lächeln hinzu: »Aber ich, nur ich, weiß einen näheren Weg, er geht gleich hier ab.«

Hastings verstand, der Eingeborene wollte außer seinem Führergeld noch einen besonderen Lohn haben, wenn er diesen Weg zeigte.

Der Lord überlegte, ob er dem Burschen trauen sollte. Aber sie hatten ja nichts von ihm zu fürchten, und da nahm Miß Murray das Wort.

»Führt der Pfad auch nach derselben Spitze, wohin wir wollen?« fragte sie erst.

»Nach derselben, wohin auch dieser Weg führt. Aber er ist bedeutend kürzer, nur nicht so bequem.«

»Das ist uns gleich. So führe uns denn, aber nur uns! Lord Hastings,« wandte sie sich an diesen, »wir nehmen diesen Weg, der uns schneller hinbringt, und bereiten in dem Häuschen, das sich oben befinden soll, schon alles für die Nachkommenden vor. Wie sollen die staunen, wenn sie schon Feuer, heißes Wasser und so weiter vorfinden!«

Der Eingeborene belud sich auf Geheiß des Mädchens mit einigen Bündeln Holz, einem Kessel und Wasserschlauch — ein großes Silberstück machte ihn zu allem willig, wartete noch, bis seine Kameraden um die Ecke verschwunden waren, und bog dann schnell zur linken Hand in eine schmale Spalte ein. Die beiden folgten ihm.

»Wir haben nichts zu fürchten,« meinte Jessy, »wenn wir auch allein dem Führer folgen. Was sollte er uns beiden anhaben können? Auch macht er auf mich den Eindruck eines ehrlichen Menschen. Außerdem, was sollte mir denn zustoßen, wenn ein Richard Löwenherz bei mir ist, der mit Felsblöcken, wie mit Fangbällen wirft?«

Lord Hastings lächelte leicht zu dieser Bemerkung, er fühlte sich doch etwas geschmeichelt durch die Bewunderung, welche ihm die junge Dame entgegenbrachte.

Die Spalte erweiterte sich sofort wieder und führte dann auf einen Weg auf der anderen Seite der Felswand, der weniger Krümmungen beschrieb, aber viel steiler emporstieg und so also schneller zum Ziele, dem Gipfel des Berges, führen mußte.

Jetzt befanden sie sich schon in der Region des ewigen Schnees, die hochstehende Sonne hatte nicht mehr die Kraft, denselben zu schmelzen. Aber, obgleich das Thermometer unter dem Gefrierpunkt stand, empfanden die beiden die Kälte nicht. Das Ersteigen des steilen Weges brachte das Blut in schnelleren Umlauf, ja, es trieb ihnen sogar Schweißtropfen auf die Stirn.

Sie bereuten nicht, den beschwerlicheren Weg gewählt zu haben, der nach Aussage des führenden Eingeborenen nur sehr wenigen bekannt war. Hatte man vom vorigen die Aussicht auf eine Gebirgslandschaft genießen können, so gestattete dieser hier einen Blick auf das Meer, und der war bei weitem schöner.

Man mußte schon hoch, sehr hoch gestiegen sein. Die Häuser unten auf dem Plateau waren kaum noch zu erkennen, die auf dem Meere fahrenden großen Schiffe glichen Kinderspielzeugen, und die Fischerboote hoben sich nur wie dunkle Punkte von der glänzenden, spiegelglatten Wasserfläche ab.

Schon über eine Stunde waren sie schweigend nebeneinander den Weg emporgeklommen, ganz in den Anblick der wunderbaren Naturbilder versenkt. Endlich unterbrach Lord Hastings durch eine Frage an den Eingeborenen das Schweigen.

»Wie lange haben wir noch zu gehen?«

»Keine Stunde mehr,« war die Antwort.

Durch diese Unterbrechung der sonst willkommenen Stille wurde auch Jessy wieder zum Sprechen veranlaßt. Sie mußte sich inzwischen fort und fort mit dem beschäftigt haben, über das sie sich schon vorhin unterhalten hatten, denn sie fing wieder von den alten Rittern an, besonders von Richard Löwenherz und dessen Taten.

Lord Hastings war mit dem Leben seines Vorfahren wohl vertraut. Er wußte nicht nur alle jene Geschichten, welche über den Helden erzählt werden, er konnte dem lautlos lauschenden Mädchen noch eine Unmenge von interessanten Tatsachen aus den Fahrten und Abenteuern dieses ritterlichen Königs mit dem löwenkühnen Herzen berichten.

Er schilderte, wie Blondel, sein Sänger und Liebling, Richards unfreiwilligen Aufenthaltsort entdeckt hatte, er sang dem Mädchen mit tiefer, schöner Baßstimme jenes altfränkische Lied vor, mit welchem der Troubadour dem im Turmzimmer gefangenen Löwen seine baldige Befreiung verkündete, plötzlich aber brach er ab und schaute seine Begleiterin an.

Jessy war in Tränen ausgebrochen.

»Was fehlt Ihnen, Miß?« fragte er bestürzt.

»Nichts, nichts,« stieß Jessy hervor und wischte, unwillig über die Tränen, mit dem Taschentuch die Augen, »fahren Sie fort, bitte.«

Hastings sang das Lied zu Ende.

Da nahm Jessy plötzlich seine Hand und drückte sie leise.

»Verzeihen Sie, Lord,« flüsterte sie, noch immer unter Tränen, »o, wir alle haben Ihnen unrecht getan. Ich habe nie eine Ahnung davon gehabt, wie es in Ihrem Innern aussieht, jetzt aber weiß ich es. Wer hätte auch gedacht, daß in Ihrem Herzen ein so großer Reichtum von Phantasie und Gemüt verborgen liegt!«

»Aber Miß,« unterbrach sie Hastings scherzhaft, »Sie übertreiben! Ich weiß recht wohl, daß ich für einen griesgrämigen Menschen gehalten werde, nun, ich bin es auch, aber das kommt nur daher, weil ich nicht in diese Welt passe. Wäre ich ein paar Jahrhunderte eher geboren, ich glaube, ich wäre ein ganz tüchtiger Ritter geworden.«

»Sie machen sich selber schlecht,« sagte aber Jessy, »Ihnen fehlt nur ein Feld, wo Sie Ihre Tatkraft zeigen können. Wären Sie Offizier, da, wo der Kampf noch einen Mann erfordert, so würden Sie Gelegenheit haben, sich als ein Nachkomme des Richard Löwenherz zu beweisen.«

Hastings schüttelte den Kopf.

»Nein, ich passe nicht für den Krieg,« sagte er, »wenigstens nicht für den, wie er jetzt auf der Erde geführt wird; ich bezeichne einen solchen als Schlächterei. Einen Gegenstand aber möchte ich haben, für den ich wirken und schaffen könnte, wie sich ihn die Troubadours und Ritter früherer Zeiten erwählten, ohne den ihr Leben keinen Zweck hatte.«

»Ja, so wie Richard Löwenherz,« entgegnete Jessy, »an der Spitze einer Nation stehen und durch seine eigene Person dem ganzen Volke ein Vorbild geben. Ich möchte, Sie hätten Ansprüche auf den Thron. Sie würden dieselben gewiß geltend machen.«

»Ich würde es nicht tun.«

»Warum nicht? Sie sagten vorhin, Sie möchten nicht König sein, weil Sie nicht zum Regenten paßten. O, das ist kein Grund, es haben schon Könige ihr Volk beglückt, welche nicht mit Ihnen zu vergleichen waren.«

»Sie schmeicheln. Ich habe Ihnen aber vorhin nicht den wahren Grund gesagt, warum ich gerade kein König von England sein möchte. Er ist ein anderer.«

»Welcher?« fragte Jessy gespannt

»Weil es mir dann nicht möglich gewesen wäre, auf dem ›Amor‹ die ›Vesta‹ zu begleiten, und ich somit nicht Gelegenheit gehabt hätte, Sie kennen zu lernen, Miß Murray.«

Es war das dritte Mal, daß das junge Mädchen, seit sie mit dem Lord allein war, bis an die Haarwurzeln errötete.

Sie wandte sich von ihm ab, dem Meere zu, und spielte verlegen mit dem Taschentuche.

Da faßte er ihre Hand.

»Miß Murray,« flüsterte er mit tiefer, weicher Stimme in ihr Ohr, »zürnen Sie mir, daß ich dies gesagt habe?«

Es erfolgte keine Antwort.

»Zürnen Sie mir?«

»Nein,« flüsterte Jessy.

Der vorausgehende Maori merkte nicht, daß die beiden zurückblieben, daß der Mann den Arm um des Mädchens Taille schlang und seinen Mund dicht an ihr Ohr legte, so daß seine Lippen es berührten.

»Jessy,« flüsterte er zärtlich, »sei du die Dame, ich will dein Ritter, dein Richard Löwenherz sein. Ich will auf dein Geheiß gegen Riesen und Drachen kämpfen, ich will für deine Ehre ins Turnier gehen, ich will dir die Steine aus dem Wege schleudern, daß sich dein Fuß nicht daran stößt. Sag', Jessy, was willst du, das ich für dich tun soll?«

Sie antwortete nicht. Die Hand auf das Herz gepreßt stand sie wie eine Marmorsäule da, alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. Nur das stürmische Wogen des Busens verriet, daß noch Leben in ihr war.

»Sag', Jessy, was heißt du mich tun?« wiederholte Hastings zum zweiten Male.

Da plötzlich kehrte die Röte in die Wangen zurück, und mit ihr das Leben. Sie schlang beide Arme um den Nacken des Lords und legte das Köpfchen an seine breite Brust.

»Nichts weiter sollst du tun, als mich lieben!« flüsterte sie.

Es war das erste Mal, daß man den sonst so stillen Lord aufjauchzen hörte. Wie ein Kind nahm er das Mädchen in die Arme, preßte es an seine Brust und küßte wieder und wieder die rosigen Lippen.

»Du böser Mann!« sagte Jessy endlich, als er sie vorsichtig wieder aus den Boden gesetzt hatte und ihr der unter der heftigen Umarmung schon ausgegangene Atem zurückgekehrt war. »Du böser Mann, wie lange hast du mich denn nun schon lieb und deine Liebe mit dir im stillen herumgetragen?«

Sie schlang wieder den Arm um seinen Hals und blickte mit feuchten Augen in die seinen.

»Wie? So wußtest du schon, daß ich dich liebe?« fragte Hastings verdutzt, »Gegen niemanden habe ich mich ausgesprochen und mir nie etwas davon merken lassen!«

»Das Auge des Weibes ist in derartigen Dingen sehr scharfsichtig,« entgegnete Jessy schelmisch. »Nicht nur ich wußte es, auch andere machten allerlei Anspielungen.«

»Wer denn?«

»So zum Beispiel Miß Thomson, Miß Staunton.«

»Wie, sie wagten es, dir von meiner Liebe zu sprechen? Ist es unter euch Mädchen denn Brauch, mit solchen ernsten Sachen Scherz zu treiben?«

»Sie wußten ja, daß auch ich dich schon lange liebe, und sie sind doch meine Freundinnen.«

»Du liebst mich schon lange?« rief Hastings erfreut und zog das Mädchen wieder an seine Brust. »Ich habe aber doch niemals etwas davon gemerkt.«

»Weil ihr Männer eben blind seid.«

»Liebtest du mich da schon, als du mir von Balkuriri, dem Häuptlinge der Australneger, einen Speer durch den Hut jagen ließt?«

»Auch da schon,« lachte Jessy.

»Das war aber eine recht seltsame Art von Liebesgeständnis. Sie hätte mir unter Umständen das Leben kosten können.«

»O, pfui, Richard! Ich wußte ja, wie sicher der Häuptling, mein damaliger Vater, mit dem Speere umzugehen verstand. Ich hatte oft genug seine Geschicklichkeit im Werfen beobachtet.«


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Plötzlich machte sich Jessy aus den Armen des Lords hastig frei.

»Der Maori sieht uns zu!« flüsterte sie.

Der Eingeborene stand in einiger Entfernung, sich gemütlich auf seine Lanze stützend, und betrachtete mit pfiffigem Schmunzeln die Szene. Mit dem Packen auf dem Rücken nahm er sich wie ein buckliger Berggeist aus.

»Was schadet der?« sagte Hastings. »Für ein Geldstück schweigt er. Gib mir deinen Arm, Jessy! So willst du also, daß unsere Liebe geheim bleibe?«

»Gewiß, gewiß!« beeilte sich Jessy zu sagen, »Niemand darf davon erfahren. Um Gottes willen, wenn Ellen es wüßte! Ich schämte mich vor meinen Freundinnen und den Herren zu Tode.«

»Darin ähnelt ihr Mädchen euch alle,« lachte Hastings.

»Komm' jetzt,« drängte Jessy, »wir müssen eilen! Es war ja unsere Absicht, die Nachkommenden mit Feuer und heißem Wasser zu überraschen, so daß sie sofort den Tee bereiten können. Richard, das wird eine herrliche Nacht hier oben! Wir haben Zelte mit, wollene Tücher und Decken in Unmasse, so daß uns nicht frieren wird. Hoch oben in den Wolken, erhaben über alle da unten liegenden Kleinlichkeiten, und mit dem Gedanken an dich, meine endlich gefundene Liebe, schlafen — Richard, das wird die schönste Nacht meines Lebens werden.«

Sie eilten dem Führer nach, und nicht lange dauerte es, so hatten sie den Gipfel des Mount-Cook erreicht.

Derselbe bildete ein Plateau, auf dem bequem die dreifache Anzahl der zu erwartenden Personen Platz gefunden hätten. Zwischen zwei Felsblöcken befand sich eine roh aus Brettern zusammengezimmerte Hütte. Gott wußte, welche Reisenden sich diesen Luxus erlaubt hatten, auf den Rücken von Eingeborenen diese vielen Bretter hierheraufschleppen zu lassen, um in Bequemlichkeit eine Nacht zu verbringen.

Später erfuhr man durch einen der deutschen Seeoffiziere, daß hier einst eine zeitlang ein deutscher Gelehrter gehaust hatte, um über die Witterungs- und Temperaturverhältnisse Neuseelands genaue Forschungen anzustellen.

In der Hütte war nichts weiter vorhanden als eine Bank und ein aus Steinen zusammengesetzter Herd, aber mehr wollten die beiden auch gar nicht haben. Der Eingeborene wurde angewiesen, das Holz kleinzuspalten. Hastings und Jessy genossen erst den wundervollen Anblick, der sich ihnen von hier aus bot: auf zwei Seite die imposantesten Gebirgsgruppen, im Osten grüne, blühende Landschaften und im Westen das gewaltige Meer.

Dann begaben sie sich in die Hütte, um das Holz aufzuschichten und ein tüchtiges Feuer anzumachen, während der Maori Vorbereitungen traf, daß seine nachkommenden Genossen sogleich die Zelte aufschlagen konnten.

Der arme Kerl, nur dürftig gekleidet, fror furchtbar, als er mit einem Stück Brett das Plateau von Schnee säuberte. Oft warf er einen sehnsüchtigen Blick nach dem Dache der Hütte, hoffend, daß aus dem den Schornstein vertretenden Loche bald eine dicke Rauchwolke herausdringen möchte, aber seine Hoffnung war vergeblich — das Plateau war schon rein gefegt, und noch zeigte sich kein Rauch.

Die Sache kam dem Maori bedenklich vor. Er ging nach der Hütte, öffnete die Tür und blickte hinein.

Da lag das Holz noch ebenso da, wie er es vorher hineingeworfen hatte, und die beiden Fremden saßen umschlungen auf der Bank.

»Soll ich das Feuer anmachen?« fragte der Eingeborene.

»Nein, nein, ich wollte eben daran gehen,« erklang aus Jessys Munde die so sehr beliebte Entschuldigung.

»Frierst du?« fragte sie dann den Lord.

»Wie soll ich frieren, wenn ich dich in meinen Armen halte,« entgegnete der Lord.

Da zuckte plötzlich Jessy zusammen und wollte sich freimachen. Eine Stimme war an ihr Ohr gedrungen. Aber Hastings hielt sie fest.

»Es ist Williams,« flüsterte er. »Wie in aller Welt kann er schon hier oben sein? Bleibe nur hier, von ihm haben wir nichts zu fürchten.«

»Prachtvoll,« hörten sie Williams Stimme rufen. »Kerl, das war ein großartiger Gedanke, daß du uns auf dem näheren Wege hierhergeführt hast, so kann man doch wenigstens die Umgegend genießen, ohne von den anderen verdrängt zu werden.«

Also er war ebenfalls von einem Maori den nahen Weg geführt worden.

»Hier, Betty,« fuhr Charles fort, »12350 Fuß über dem Meeresspiegel gebe ich dir einen Kuß, in solcher Höhe hast du noch niemals einen bekommen.«

Draußen wurde ein lautes Schmatzen hörbar.

»Nun höre aber endlich auf, Charles,« hörte man Miß Thomsons lachende Stimme. »Du hast mich keine Minute unterwegs zu Atem kommen lassen.«

»Ja, natürlich, jeder Fuß höher hinauf mußte doch durch einen Kuß markiert werden. Nun nimm das Holz, Betty, und mache dort in der Hütte ein Feuer an. Ich werde mich dann überzeugen, ob du es richtig gemacht hast, denn, wenn du kein Feuer anmachen kannst, muß ich dich erst in die Pension schicken, so heirate ich dich nicht. Alle Wetter,« unterbrach sie Williams, »hier ist ja schon der ganze Schnee weggeschaufelt — da steckt wohl jemand in der Hütte?« Die Tür öffnete sich, und Williams erschien im Rahmen derselben, fuhr aber gleich wieder zurück.

»Entschuldigen Sie, meine Herrschaften,« sagte er, »ich habe nichts gesehen.«

»Betty,« rief er dann draußen, »gehe einmal mit einem recht feierlichen Gesicht in die Hütte und gratuliere. Und dann kannst du gleich fragen, ob die Bank bald frei wird.«


16. Die Wasserhose

Das Glück zürnte der ›Vesta‹. Ellen hatte gesagt, es sei ihnen bis jetzt immer günstig gewesen, und so stünde zu erwarten, daß es auch bei einer langen Reise den Vestalinnen treu bliebe. Diese Worte hatte Fortuna, die launische Göttin, übelgenommen; sie wollte den übermütigen Mädchen die alte Wahrheit beweisen, daß derjenige, der das Glück erwartet, vergebens darauf hofft. Fortuna sprach mit Äolus, dem Gott der Winde, und der war ihr willfährig.

Sein Machtgebot erscholl; gehorsam hörte der Nordwind auf zu wehen, mit dem die ›Vesta‹ unter schwellenden Segeln den Hafen von Wellington verlassen hatte; der Ostwind löste ihn ab, und die Folge davon war, daß die Mädchen fortwährend kreuzen mußten und doch nur sehr langsam von der Stelle kamen.

Am dritten Tage mußte dieser Wind seine Kraft erschöpft haben, er wurde immer schwächer und hörte schließlich ganz auf. Bewegungslos lag die ›Vesta‹ auf der spiegelglatten Wasserfläche; nicht einen Zoll kam sie von der Stelle, ebenso der ›Amor‹, in einer Entfernung von einigen hundert Metern, so daß man die Personen auf ihm mit einem guten Fernrohr erkennen konnte. Der gleichzeitig abgefahrene Blitz war außer Sicht gekommen.

Lord Harrlington hatte sich erboten, die ›Vesta‹ von dem ›Amor‹ schleppen zu lassen, aber eine abschlägige Antwort erhalten. Die Vestalinnen wollten einmal die wohltätige Ruhe einer Windstille erleben.

Es war auch wirklich schön: das Meer so glatt, der Himmel so blau und die Sonne warm, aber nicht drückend. Kein Lüftchen bewegte sich; eine Flaumfeder schwebte senkrecht auf das Deck nieder.

Vier Tage dauerte die Windstille, innerhalb einer Woche konnte die ›Vesta‹ also fast gar keine Reiseroute aufweisen, die paar tausend zurückgelegter Meter waren nicht zu rechnen.

Die Damen beschäftigten sich fast den ganzen Tag nach ihrem Belieben. Zu tun war nichts, denn die ›Vesta‹ war ja frisch gemalt und mit neuer Takelage aus dem Dock hervorgegangen. Man las, musizierte, angelte, arrangierte Spiele und unterhielt sich; Langeweile konnte unter den jungen Mädchen nicht aufkommen, und wenn die Windstille noch so lange gedauert hätte.

Die befreundeten Mädchen saßen im Schatten eines Sonnensegels an Deck und unterhielten sich über die schrecklichen Zustände, welche eine langanhaltende Windstille unter der Besatzung eines Segelschiffes bewirken kann. Miß Nikkerson hatte eben in einem Seeroman eine Windstille geschildert gefunden und erzählte ihren Freundinnen das Gelesene.

Einem Segelschiff drohte der mitgenommene Vorrat an Trinkwasser auszugehen, schon war die Mannschaft auf halbe Rationen gesetzt worden, alle Speisen, welche mit Wasser gekocht werden mußten, wurden vermieden, an Waschen in Süßwasser war nicht zu denken — in Salzwasser kann man nicht mit Seife waschen — und die Stunden und Minuten wurden ausgerechnet, nach denen man bei dem schwachen Winde den nächsten Hafen zu erreichen hoffen könnte. Da hörte auch dieser auf, eine vollkommene Windstille trat ein.

Die halben Rationen wurden in Viertel verwandelt, sie reichten schon nicht mehr aus, den Durst der von der Sonne fast gebratenen Matrosen zu stillen, sie murrten gegen den Kapitän, denn sie wußten wohl, daß die beiden Fässer am Eingange zu seiner Kajüte noch mit Trinkwasser gefüllt waren. Aber der Kapitän wollte diese noch nicht angreifen lassen, er und seine ihm treu ergebenen, wie auch vernünftigen Offiziere hüteten sie, wie einen Schatz und ließen sie Tag und Nacht nicht aus den Augen, denn schon hatte man von den Matrosen Andeutungen gehört, daß sie nicht neben einem vollen Wasserfaß verschmachten wollten.

Schließlich waren die Mannschaftsfässer leer, die Windstille währte fort, und der Kapitän mußte die beiden letzten Fässer dem Gebrauch übergeben. Er war ein gerechter Mann, aber er mußte sich den Matrosen gegenüber grausam zeigen, will er ihr Leben und das seinige retten — das Wasser wird in noch kleineren Quantitäten ausgegeben; kaum genügt es noch, den trockenen Gaumen zu erfrischen.

Mit bleiernen Gliedern, glanzlosen Augen und furchtbar aufgesprungenen Lippen liegen die Matrosen an Deck herum, nicht mehr energisch genug, den glühenden Strahlen der Sonne aus dem Wege zu gehen. Ihr einziger Blick gilt den beiden Wasserfässern dort hinten, und ihr einziger Gedanke ist, trinken, trinken und trinken! Davon träumen sie Tag und Nacht, im Schlafe vermeinen sie, sie badeten sich in frischem Wasser, und in vollen Zügen könnten sie das köstliche Naß hinunterschlürfen; erwachen sie dann, so verzehrt sie ein brennender Durst. Die Schwächeren bekamen schon Anfälle von Delirium.

Und dort hinten stehen die Fässer, genug Wasser enthaltend, um noch einmal völlig den Durst löschen zu können. Was kümmern sich die Verschmachtenden darum, was später erfolgt, jetzt, gerade jetzt wollen sie Wasser haben!

Die Matrosen bedenken nicht, daß der Kapitän und seine Offiziere ebenso leiden, wie sie selbst; sie sehen in ihnen nur Tyrannen, welche ihnen das Wasser vorenthalten, mit eiserner Entschlossenheit, unerschüttert durch eigenen Durst. Demjenigen, der mit wildem Blick an sie herantritt und mit frechen Worten mehr Wasser fordert, wird kaltblütig der Revolver entgegengehalten.

»Greif die Pumpe an, und du bist eine Leiche!«

Diese Worte erklingen stündlich aus dem Munde des Kapitäns; nur denen, welche wirklich vor Wassermangel dem Tode nahe sind, gestattet er eine größere Ration; er kann sogar freigebig damit umgehen, gilt es, ein Leben zu retten.

Unter den Matrosen entsteht ein leises Flüstern, mit geballten Fäusten und rotunterlaufenen Augen hocken sie in Gruppen zusammen.

»Wenn der Kapitän mit dem ersten Offizier in die Kajüte geht, um die Lage zu berechnen, und der zweite Steuermann die Fässer allein bewacht, dann ist es Zeit. Gebt acht auf den Pfiff,« so geht es von Mund zu Mund, und die Zunge leckt schon gierig über die Lippen, welche sich bald mit frischem Wasser benetzen sollen.

Der Kapitän nimmt mit dem ersten Steuermann die Sonne auf und geht dann in die Kajüte, um auszurechnen, ob das Schiff nicht von einem günstigen Strom erfaßt worden ist, der es dem Lande zuführt. Der zweite Steuermann, die Hand in der Tasche, in welcher der Revolver steckt, sitzt auf einem der Wasserfässer.

Da wird er plötzlich von hinten mit der Kraft der Verzweiflung umschlungen, er liegt überwältigt an Deck, und gleichzeitig springen die Meuterer nach der Kajütentreppe, um die beiden Offiziere ebenfalls unschädlich zu machen.

Aber diese haben bereits durch das heftige Laufen und Stampfen an Deck gemerkt, daß nicht alles richtig ist; ahnungsvoll eilen sie nach oben und treffen, aus der Tür kommend, mit den Meuterern zusammen.


Illustration

Sie können keinen Gebrauch mehr von Revolvern machen, wenn sie auch wollten; nach heftigem Ringen liegen sie gebunden an Deck.

Die Matrosen sind die Tyrannen los, wie eine Meute entfesselter, wilder Tiere stürzen sie jetzt nach den Fässern, ergreifen die Pumpen und wollen sich den köstlichen Inhalt gleich in den Mund fließen lassen, aber in ihrer Gier geht es ihnen so, wie den Haifischen, welche sich um eine Beute streiten.

Der Stärkere glaubt sich durch Kraft berechtigt, seinen Durst zuerst löschen zu können, schonungslos stößt er den Schwächeren von der Pumpe, aber auch er kommt nicht zum Trinken, denn zwei Schwache ziehen ihn, der schon den Mund unterhält, zurück, und das Wasser fließt nutzlos an Deck — es ist im verkleinerten Maßstabe ein Bild von der Gesellschaft, welche ohne jedes Oberhaupt leben zu können glaubt.

Über eine Stunde währt dieser Kampf um die Wasserfässer, dann sind sie leer. Aber die wenigsten haben etwas getrunken, die meisten gar nichts. Gesättigt ist niemand, und die ausgetrockneten Planken saugen begierig das ausgeflossene Wasser auf, welches die gierig lechzenden Jungen nicht mehr aufnehmen konnten.

Niemand hat darauf geachtet, daß die Sonne sich plötzlich verdunkelt hat, als zürne sie dem Treiben dieser Menschen, welche durch rohe Gewalt und nicht zu bändigende Leidenschaft die Vorsicht und Vernunft besiegt haben.

Erst ein greller Blitz, ein gewaltiger Donner und der durch die Takelage sausende Windstoß lassen die Matrosen die Augen aufheben, und jetzt erkennen die Unglücklichen, daß sie nur noch eine Stunde zu warten gehabt hätten, um nicht als Meuterer, sondern als freie und ehrliche Menschen weitersegeln zu können.

Der ganze Himmel ist mit einer schwarzen Wolke bedeckt, er öffnet seine Schleusen und sendet das ersehnte Naß in Gestalt von Regen herab — die Mannschaft ist vom Tode des Verschmachtens errettet.

Aber auch noch etwas anderes erblicken die Matrosen, was ihre Herzen mit Schrecken erfüllt. Dort segelt ein Kriegsschiff ihrer Nation heran, und dort liegen die mit Blut bedeckten Offiziere, von ihren eigenen Leuten gebunden. Sie durchschneiden die Banden der Gefesselten, werfen sich vor ihnen auf die Kniee und flehen um Gnade, bitten um Verzeihung, ja, halten selbst die Hände hin, um als Meuterer jenem Kriegsschiff dort ausgeliefert zu werden.

Der Kapitän gibt keinen Befehl, das Kriegsschiff heranzurufen, aber er ordnet an, über das ganze Deck große Segel auszuspannen und so den Regen aufzufangen, der bald alle Wasserfässer gefüllt hat.

Vergeben und Vergessen! Die Matrosen des Schiffes waren immer treue und brave Burschen gewesen, auf die sich der Kapitän in Gefahr verlassen konnte. Aber was ist jede andere Gefahr gegen das drohende Gespenst des Verschmachtungstodes? Ruhig segelt das Kriegsschiff vorbei, und mit strahlenden Augen und freudigem Herzen folgen die Matrosen den Befehlen des menschlichen Kapitäns, setzen die Segel und richten das Ruder des Schiffes, das sie bald dem nahen Hafen zuführen wird. —

»Schrecklich,« sagte Miß Thomson, als ihre Freundin die Erzählung geschlossen hatte. »Dieser Fall spielte in früheren Zeiten. Was meinen Sie, Miß Petersen, können solche Fälle auch jetzt noch vorkommen?«

»Warum nicht?« antwortete die Gefragte. »Die jetzigen Segelschiffe führen auch nicht mehr Trinkwasser mit sich als früher, und auch jetzt kann es noch vorkommen, daß ein Schiff wochen-, ja monatelang segelt, ohne einem anderen zu begegnen. Von der Größe des Meeres können wir uns eben keine Vorstellung machen. Jetzt liegen wir zum Beispiel schon drei Tage an dieser Stelle, welche noch eine ziemlich besuchte ist, und doch haben wir, außer dem ›Amor‹ noch kein einziges Schiff zu sehen bekommen.«

»Nun, bei uns kann ein solcher Fall, Gott sei Dank, nicht eintreten,« meinte ein anderes Mädchen, »die ›Vesta‹ ist ja auf ein Vierteljahr reichlich mit Trinkwasser versehen, und bis dahin würden wir doch ein Schiff erblicken, oder es würde einmal regnen.«

»Fordern Sie das Schicksal nicht heraus!« sagte Ellen ernst. »Auf dem Meere kann man keine derartigen Rechnungen mit Bestimmtheit anstellen; der Wind, das Wetter und das Meer sind unberechenbar. Auch die Segelschiffe früherer Zeit waren immer reichlich mit Trinkwasser versehen. Daß damals solcher Wassermangel öfters eintrat, lag daran, daß sämtliche Wasserfässer an Deck angebunden lagen und es oft geschah, daß sie über Bord gespült wurden. Jetzt liegen die eisernen Tanks, in denen das Wasser aufbewahrt wird, im Zwischendeck, und die Gefahr ist somit verringert worden. Aber dennoch kommt es häufig vor, daß Besatzungen von Schiffen aus Mangel an Wasser zu Grunde gehen.«

Ellen hatte recht; Meer, Wind und Wetter sind unberechenbar, es können Ereignisse eintreten, welche man nicht für möglich hält, so unglaublich klingen sie. So kam im Jahre 1889 eine deutsche Barke mit fast schon verhungerter Mannschaft in Hamburg an, und doch war sie nur von Schottland nach Deutschland gesegelt. Zu dieser an sich kleinen Fahrt hatte sie nicht weniger als zwei Monate gebraucht, sie konnte kreuzen, wie sie wollte, stets drehte sich der Wind gegen das Schiff, es begegnete keinem anderen, das den ausgegangenen Vorrat an Lebensmitteln ersetzen konnte. Und wenn so etwas in der kleinen Nordsee passiert, wie leicht dann erst auf dem unendlichen Ozean!

»So lange der ›Amor‹ bei uns liegt, haben wir derartiges nicht zu fürchten,« ließ sich ein Mädchen vernehmen, »die Herren können mittels der Kessel Salzwasser destillieren und sich somit jede Quantität Trinkwasser verschaffen.«

»Da fällt mir eine andere Geschichte ein, welche der von Miß Nikkerson erzählten ähnelt,« nahm Ellen wieder das Wort. »Ein Steuermann, welcher selbst mit dabei war, hat sie mir erzählt. Die Geschichte ist eigentlich auch entsetzlich, aber sie hat einen humoristischen Ausgang, und diesen letzteren will ich besonders schildern, den ersten Teil hingegen nur flüchtig erwähnen.

»Ein englisches Segelschiff befand sich auf der Reise nach Rio, an der Ostküste von Südamerika. Das Wasser drohte ihnen auch auszugehen, aber sie befanden sich nicht mehr weit ab von ihrem Ziele und hofften, es bald zu erreichen. Da tritt jedoch Windstille ein, und die Leiden der Mannschaft beginnen, indem sofort nur halbe Wasserrationen vom Kapitän verabreicht werden. So, wie unsere Freundin eben geschildert hat, war es auch hier. Entsetzlich, ringsum von Wasser eingeschlossen zu sein, mit starrem Auge das Spiel der Fluten verfolgen zu können und doch zu wissen, daß es nicht trinkbar ist. Die Qualen des Durstes begannen sich schon zu zeigen, als in der Ferne zur unaussprechlichen Freude aller ein Dampfer auftauchte. Er fuhr dicht an dem Segelschiff vorüber, so nahe, daß eine Verständigung auch ohne Sprachrohr möglich war.

»Die Unglücklichen baten um Wasser, und was war die Folge dieses Wunsches? Kapitän und Mannschaft des brasilianischen Dampfers brachen in ein lautes Lachen aus.

»Nur ein einziges Faß mit Wasser«, flehten die englischen Matrosen, welche jene Brasilianer für grausame Menschen hielten, die für fremdes Elend kein Erbarmen hatten.

»Schöpft einen Eimer Wasser aus dem Meere, und trinkt euch satt,« rief der brasilianische Kapitän immer noch lachend.

»Eine solche Unmenschlichkeit konnten die Engländer nicht fassen, sie glaubten, ihren Ohren nicht trauen zu dürfen.

»Tut nur so,« wiederholte der Kapitän des sich entfernenden Dampfers, »Ihr schwimmt auf süßem Wasser.«

»Ein englischer Matrose folgte endlich diesem Rate, ließ einen Eimer über Bord, füllte ihn mit Wasser und kostete — es war völlig trinkbar.

»Das Segelschiff befand sich nicht weit von der Mündung des Amazonenstromes,« schloß Ellen ihre Erzählung, »des mächtigsten Stromes der Erde. Er schickt seine Fluten meilenweit hinaus ins Meer, und so kommt es, daß, noch ehe das Land zu sehen ist, das Meerwasser nicht mehr salzig, sondern wirklich trinkbar ist. So wäre die Besatzung des Schiffes beinahe vor Durst verschmachtet, obgleich sie überall von trinkbarem Wasser umgeben war.«

Es wurden noch mehr ähnliche Fälle von Windstillen und damit verbundenen Gefahren erzählt, von denen die nicht die geringste ist, daß jeder Windstille gewöhnlich ein heftiger Sturm folgt.

»Sehen Sie dort,« rief Ellen und deutete nach Westen, »wie merkwürdig gelb sich der Himmel mit einem Male färbt! Wir bekommen einen ordentlichen Wind, vielleicht sogar Sturm; aber was schadet der, wenn er aus einer günstigen Richtung weht! Wir wollen dann die versäumte Zeit bald wieder eingeholt haben.«

»Aber dort im Osten sieht es ebenso schwefelgelb aus,« bemerkte Miß Nikkerson.

»Wirklich,« rief Ellen überrascht, »darauf hatte ich nicht geachtet.«

»Dann bekommen wir schließlich von beiden Seiten Wind,« meinte Hope Staunton.

»Der Fall kann auch einmal eintreten,« entgegnete Ellen, »aber wir wollen es nicht hoffen, denn dann treten immer heftige Wirbelwinde auf, welche den Schiffen sehr gefährlich werden können.«

»Wie ist das nur möglich, daß der Wind von zwei Seiten zugleich kommen kann?« fragte ein Mädchen.

»Sehr einfach,« entgegnete Ellen, welche in solchen Sachen bewandert war. »Wenn auf eine windstille Gegend die Sonne lange gebrannt hat, so erhebt sich die heiße Luft infolge des physikalischen Gesetzes, daß die warme Luft leichter ist, als die kältere, es entsteht also ein Raum, in welchem Luft fehlt, und von den Seiten strömt kalte Luft hinzu. Sind nun zum Beispiel alle vier Seiten — man muß hier allerdings mit Entfernungen von Tausenden von Meilen rechnen — gleich kalt, so weht der Wind eben von allen vier Seiten zugleich, sonst aber strömt die Luft nur aus den kälteren Teilen zu. Im Mittelmeer zum Beispiel kann man sogar häufig beobachten, daß auf einer Seite Westwind, auf der anderen Ostwind weht, daß also zwei Schiffe mit vollen Segeln, beide mit dem Winde, aneinander vorüberfahren, und das oft in ganz geringem Abstande voneinander. Doch wir müssen Vorbereitungen treffen,« unterbrach Ellen ihre Erklärung und erhob sich von dem bequemen, mit Segeltuch überspannten Liegestuhl, »allem Anscheine nach bekommen wir bald Wind, vielleicht sogar sehr heftigen, und den wollen wir nach besten Kräften ausnutzen. Hoffen wir, daß es ein Westwind ist!«

Noch regte sich nicht das geringste Lüftchen, und doch zogen fern am westlichen Horizont schwere Wolken auf, und zwar mit einer Schnelligkeit, welche darauf schließen ließ, daß dort schon heftiger Wind wehte.

Alle hätten diese Erscheinung mit größter Freude begrüßt, versprach sie doch günstigen Wind, wenn nicht am östlichen Himmel dasselbe auch zu sehen gewesen wäre. Auch dort erschienen Wolken, leichte, aber desto mehr, und daher kam es vielleicht auch, daß sie noch schneller herauschwebten.

Eine aufregende Stimmung bemächtigte sich der Mädchen. Es war unheimlich, sich so zwischen zwei Winden, vielleicht sogar zwischen zwei Stürmen zu wissen, gegen welche alle Segelmanöver und Ruderwendungen nichts halfen. Leicht konnte es geschehen, daß dann das Schiff wie ein Spielball hin- und hergeschleudert wurde.

Auch die Temperatur hatte sich geändert. Es herrschte nicht mehr Hitze, sondern eine drückende Schwüle.

Ein Sturm selbst wäre den Vestalinnen lieber gewesen, als hier mitten zwischen zwei Stürmen, bewegungslos zu liegen — es war ein ganz unbeschreiblich beengendes Gefühl.

»Was geschieht dann, wenn beide Winde aus verschiedenen Richtungen zu wehen beginnen?« fragte Hope die Kapitänin. »Sie können doch nicht beide gleichzeitig bestehen bleiben.«

»Nein, das können sie nicht,« entgegnete Ellen, »es ist wie überall in der Natur, selbst wie bei uns Menschen, der Schwächere muß dem Stärkeren weichen. Es wird ein förmlicher Kampf um die Herrschaft stattfinden, und wir wollen nur hoffen, daß der Kampfplatz nicht gerade hier gewählt wird, sonst kann es uns schlimm ergehen. Schön dagegen wäre es, wenn wir dem Ringen der beiden Winde um die Herrschaft aus sicherer Ferne zusehen könnten, es muß dies sehr interessant sein.«

Die Besatzung des ›Amor‹ hatte die Erscheinungen am Himmel ebenfalls bemerkt. Kapitän Harrlington ließ die Kessel heizen, und bald dampfte die Brigg an die ›Vesta‹ heran, welche noch immer bewegungslos dalag.

»Miß Petersen,« rief Harrlington hinüber, »wir bekommen Gegenwinde, welche stets von heftigen Wirbeln begleitet sind und sehr gefährlich werden können.«

»Ich weiß es,« entgegnete Ellen gelassen.

»Sollen wir in der Nähe der ›Vesta‹ bleiben?«

»Das können Sie tun, aber in gehöriger Entfernung, damit nicht eine Kollision zwischen den Schiffen erfolgt. Das wäre das Allergefährlichste.«

Harrlington dirigierte den ›Amor‹ wieder zurück und blieb in weiter Entfernung wieder still liegen; wie der dem Schornsteine entsteigende Qualm verriet, lieh er die Kessel weiterfeuern, um jeden Augenblick manöverierfähig zu sein.

Noch immer herrschte vollkommene Windstille, doch die Wolken kamen schnell näher, und jeden Augenblick war zu erwarten, daß ein heftiger Windstoß durch die Takelage pfiff, nicht allmählich, sondern plötzlich, der Vorbote des zu erwartenden Sturmes. Nun kam es darauf an, aus welcher Richtung er wehte.

Ellen ließ keine Segel setzen. Was hätten diese jetzt schon genutzt, da man nicht wußte, mit welchem Winde man es zu tun haben würde? Aber sie ließ alles vorbereiten, um die Raaen sofort zu richten und die Segel entfalten zu können.

Die Mädchen brauchten nicht mehr lange zu warten, die Entscheidung kam bald.

In der Ferne, vom Westen her, rollte mit riesiger Schnelligkeit eine Woge daher, nicht hoch, aber dafür so breit, als das Auge reichte.

»Hol' an die Backbordbrassen!« kommandierte Ellen, »Ruder hart Steuerbord, wir haben Gegenwind!«

Es war so, wie Ellen sagte. Noch ehe die Welle das Schiff hob und wieder senkte, hatte ein leichter Windstoß die von den Mädchen schnell entfalteten Segel erreicht, die ›Vesta‹ drehte gehorsam den Bug dem Norden zu und nahm die Fahrt auf. Der ersten Woge folgten unzählige andere, und mit ihnen setzte ein Windstoß nach dem anderen ein, aber sie kamen aus der Richtung, wohin die ›Vesta‹ wollte, aus Osten, und blieb der Wind so, dann hatte die ›Vesta‹ wieder unablässig zu kreuzen, kam also nur sehr langsam von der Stelle.

»Noch kann es sich ändern,« rief Ellen. »Der Ostwind trifft noch mit dem Westwind zusammen; glücklicherweise ist der Zusammenstoß nicht hier erfolgt, sonst waren wir in den Wirbel gekommen. Seien Sie auf der Hut, noch ist die Gefahr nicht vorüber!«

Da plötzlich, wunderbar, hörte der eben noch so starke Wind wieder auf; wie durch einen Zauberschlag glättete sich das Meer; aber die Ruhe war eine unnatürliche, die Mädchen fühlten, was für ein gewaltiger Druck in der Atmosphäre herrschte, er benahm ihnen völlig den Atem.

Aber diese Stille war nur um sie herum; weit, weit in der Ferne, im Westen, war sie nicht vorhanden. Mit bloßen Augen konnten die Mädchen erkennen, wie die beiden entgegengesetzten Winde, wie Giganten, um die Herrschaft rangen.

Dort war das Meer keine ruhige Fläche mehr, es schäumte, kochte und brodelte überall, wie in einem Höllenschlund, der Gischt schlug bis zum Himmel empor, für das menschliche Auge gar nicht mehr erreichbar, und in diesem Wasserschaum ließ die Nachmittagssonne Regenbogenfarben schillern.

Es war ein schönes Schauspiel für den, der die Gefahr nicht kannte, welche es in sich barg.

»Die Wirbel,« schrie Ellen, »sie nähern sich!«

Auf ihr Kommando stiegen die Mädchen wieder in die Takelage, die Brassen wurden gewendet, das Ruder gedreht und alles bereitgemacht, die entgegengesetzte Richtung einschlagen zu können, denn daraus, daß dieser Wasserstrudel sich ihnen langsam näherte, schloß Ellen, der Westwind habe die Herrschaft über seinen Nebenbuhler erhalten.

Wirklich, ein schwacher Windstoß kam schon aus Westen, und er genügte, der ›Vesta‹ die neue Richtung zu geben.

»Noch mehr solchen Wind,« rief Ellen freudig, »und die ›Vesta‹ fliegt wie eine Möwe davon. Dann mögen die Wirbel kommen, sie können uns nicht mehr erreichen.«

Ihre Freude war eine voreilige.

Wohl setzte jetzt ein gleichmäßiger, wenn auch schwacher Westwind ein, der die ›Vesta‹ vor sich hertrieb, aber der inzwischen näher gekommene Wasserbrodel zeigte sich noch immer, ein Zeichen, daß der Kampf der beiden Winde noch immer nicht ausgefochten war.

Der Ostwind setzte alle seine Kräfte daran, den Nebenbuhler zu verdrängen, aber sichtlich mußte er diesem weichen.

Da plötzlich ballte sich jener gleich Wasserdämpfen anzusehende Gischt zu einer kompakten Masse zusammen, der ganze Brodel konzentrierte sich auf einen Punkt; alles drehte und kreiste wie ein Strudel, und mit einem Male entstand eine Säule, aus Wasser zusammengesetzt, sie wuchs und wuchs immer höher und höher, bis sie in den Wolken zu verschwinden schien — die Wirbelwinde hatten eine Wasserhose erzeugt, jenes rätselhafte Gebilde, welches sich wie eine Säule über der Meeresfläche halten kann.

Aber die Wasserhose blieb nicht stehen.

Der Westwind hatte gesiegt; er behielt das Feld; der Ostwind war zurückgedrängt und hatte plötzlich aufgehört.

Mit furchtbarer Gewalt kam jetzt der Westwind einhergebraust, und vor sich her trieb er die Wasserhose, die sich mit entsetzlicher Schnelligkeit gerade auf die ›Vesta‹ zu bewegte. Wohl zehn Meter unten im Durchmesser, nach oben zu sich verjüngend, die in den Wolken befindliche Spitze weit vornübergeneigt, aber vom Druck des Windes doch noch gehalten, so durchrollte sie die 1000 Meter Entfernung, welche sie noch von der ›Vesta‹ trennte.

Wohl jagte das Schiff, wie von Furien gepeitscht mit bis zum Bersten geschwellten Segel dahin, aber es war doch unfähig, dem Ungetüme zu entgehen, das es mit dem Untergang bedrohte.

Das Meer zeigte wohl hohe Wellen, aber im Gegensatz zu der Wasserhose erschienen sie klein.

»Die Geschütze nach hinten,« schrie Ellen.

Eiligst kamen die Mädchen der Aufforderung nach; auf der schwankenden ›Vesta‹ wurden die Revolverkanonen nach hinten geschafft und schon unterwegs geladen.

Es ist ein altes Mittel, mit dem sich die Seeleute gegen eine sie bedrohende Wasserhose wehren, indem sie mit Kanonenkugeln auf die Säule schießen; es gibt nichts anderes, um sie zu zerstören. Es gelingt zwar nicht immer, sie durch die Lufterschütterung zum Zusammenstürzen in sich selbst zu bringen — aber Ellen wollte es doch versuchen, obgleich die kleinen Granaten wenig Erfolg versprachen. Höchstens, daß mit vollen Kugeln die selbe Wirkung erzielt wurde.

Noch waren die Revolverkanonen nicht aufgestellt worden, als schon von dem gleichfalls unter vollen Segeln fahrenden ›Amor‹ Schüsse fielen.

Noch zeigte sich keine Wirkung, näher und näher kam das unheimliche Wassergebilde, die ›Vesta‹ mit sicherem Untergange bedrohend, da aber knallten auf beiden Schiffen mehrere Kanonen gleichzeitig, die Spitze der Wasserhose senkte sich, sie fiel herab, und im nächsten Augenblicke stürzte die Säule zusammen.

Wohl wallte das Meer ungeheuer auf, die ›Vesta‹ wurde erst auf einen Berg von Wogen gehoben und dann wieder in ein Tal geschleudert, aber die Gefahr war vorüber.

Mit der Wasserhose zugleich war ein noch stärkerer Wind herangekommen, der die Säule vor sich hergetrieben hatte — aber er war doch kein Sturm zu nennen — der günstigste Wind, den sich die Vestalinnen hätten wünschen können, denn er gestattete, mit allen Segeln zu fahren, und kam direkt von hinten.

Ellen war außer sich vor Freude.

Jeder Lappen Leinwand wurde beigesetzt, die Masten und Raaen ächzten unter der schweren Last; das Schiff flog wie eine Seemöwe über die schäumenden Wogen, oft schien es förmlich aus dem Wasser herauszuspringen.

»Wir fahren schneller, als der ›Amor‹,« rief Ellen, »er kann uns selbst mit Hilfe der Maschine nicht folgen. Seht, wie er sich anstrengt!«

Auch der ›Amor‹ fuhr mit allen Segeln, und dem dicken Rauche sah man an, wie sehr die Heizer unten die Kessel feuern mußten, aber er war an Fahrgeschwindigkeit doch nicht diesem schlanken Vollschiff gewachsen, das in seiner ganzen Bauart nur auf Schnelligkeit berechnet war, wenigstens nicht unter diesen Verhältnissen.

Wie es manchem Kapitän ärgert, wenn er seinen Dampfer von einem Segler überholt sieht, so auch hier. Unwillig sahen die Herren, wie die ›Vesta‹ gleich einem Pfeil an ihnen vorüberflog, und sie konnten doch nichts tun, die Schnelligkeit des ›Amor‹ zu vergrößern.


17. Eine Walfischjagd.

Das Mädchen, welches die Stelle eines zweiten Steuermannes vertrat, meldete der Kapitänin: »73 Grad 14 Minuten.« Sie hatten soeben die untergehende Sonne aufgenommen und waren dabei von den anderen Vestalinnen mit gespannten Mienen beobachtet worden, war doch diesmal die Bestimmung der Lage besonders wichtig.

»Meine Damen,« wandte sich Ellen an die Umstehenden, »73 Grad westlich von Greenwich, wir haben somit die Aufgabe gelöst, um die Erde zu segeln, denn New-York liegt auf demselben Grade.«

Die Mädchen brachen in ein Hurrah aus, das Sternenbanner wurde gehißt und die Wimpel der ›Vesta‹ entfaltet. Schade, daß weder der ›Amor‹, noch ein anderes Schiff in der Nähe war, welches diesem Triumphe hätte beiwohnen können.

»Wo befinden wir uns jetzt?« fragte ein Mädchen.

»Etwa 500 Meilen von Kap Horn, mitten zwischen Süd-Amerika und den Falklands-Inseln.«

»Daher ist es auch so kalt hier,« klagte Hope und schlug die mit dicken Handschuhen bekleideten Hände zusammen. »Mitte Oktober, und alles mit Eis und Schnee bedeckt. Bei uns kann man sich um diese Jahreszeit noch im Freien baden, und hier stößt man schon auf Eisschollen.«

Die ›Vesta‹ befand sich weit im Süden, fast an der Grenze der kalten Zone, und ihr Aussehen hatte sich sehr geändert. Vor einigen Tagen hatten sie einen schweren Sturm durchzumachen gehabt, das Wasser war nicht nur fortwährend über Deck gespült, sondern war auch über die Takelage bis an den Top des Mastes gespritzt, aber nicht wieder abgelaufen, sondern bald gefroren.

Das Meerwasser friert wegen seines Salzgehaltes erst bei vier Grad Kälte, und so kann man sich denken, wie sehr die Damen, meist Südländerinnen, unter dieser Kälte zu leiden hatten.

Alle Taue, Holzteile, Raaen, die Wanten und so weiter, waren mit einer dicken Kruste von Eis bedeckt, und wenn Arbeit in der Takelage nötig war, so konnte man nicht mit Handschuhen zufassen, das wäre nicht nur hinderlich, sondern sogar gefährlich gewesen, denn mit Handschuhen kann man sich nicht ordentlich festhalten. Also mußten sie ausgezogen werden, und die Mädchen froren tüchtig an die Hände.

War es nötig, ins Wasser zu greifen, oder waren die Taue stark mit Salzwasser bespritzt worden, so war die Kälte noch unerträglicher, denn die unter dem Nullpunkt stehende Temperatur des Wassers machte dies noch kälter, als Eis. Es ist ein fürchterliches Gefühl, lange Zeit die Hände in solches Eiswasser zu stecken.

Ellen hatte recht gehabt, als sie sagte, bei Kap Horn müßten die Vestalinnen öfters das Eis von den Raaen klopfen, ehe sie die Segel bedienen könnten. Dieser Fall trat jetzt täglich ein.

Glücklicherweise war immer guter Wind gewesen, so daß ein Segelmanöver nicht oft verlangt wurde, wurde es aber doch nötig, so mußten die Mädchen erst mit hölzernen Keulen, mit Handspeichen und Malspieken, kleinen, eisernen Spitzen, die steinhart gefrorenen Segel weich klopfen, sonst konnte man sie absolut nicht bewegen.

Mancher Seufzer entschlüpfte bei solch harter Arbeiten frischen Lippen der Vestalinnen; sie waren immer froh, wenn sie wieder an Deck standen und die warmen Handschuhe überstreifen konnten. Trotzdem konnte sich keines der Mädchen verhehlen, daß sie sich noch nie so gesund gefühlt hatten, wie in diesem kalten Klima, daß ihnen noch nie das Essen so gut geschmeckt hatte — ihr Appetit entwickelte sich ganz erstaunlich.

Mehr hatten unter der Kälte, welche selten weniger als fünf Grad erreichte, die befreiten Mädchen zu leiden, jetzt nur noch aus Indianerinnen, Mestizen und Kreolinnen, meistens aus südlichen Ländern stammend, bestehend. Selbst die sonst so energische Yamylha hielt sich, so oft sie nur konnte, im wohlgeheizten Zwischendeck auf. Die Negerin wurde überhaupt immer einsilbiger und stiller, je mehr sie sich ihrer Heimat näherte, aber diese Ruhe war nur eine äußerliche, denn ihren funkelnden Augen sah man an, welche Glut in ihrem Innern wohnte. Dies trat besonders hervor, wenn sie die Anzahl der Meilen erfuhr, die sie noch von ihrer Heimat Dahomeh trennte. Je geringer diese wurde, desto mehr blitzten ihre großen, schwarzen Augen auf, desto krampfhafter ballten sich ihre wie aus Erz gegossenen Fäuste zusammen.

Ihre Geschichte hatte sie noch niemandem erzählt und sie wurde auch nicht dazu aufgefordert, seit sie erklärt hatte, sie würde von selbst ihr Schicksal enthüllen, wenn die Zeit dazu gekommen wäre. Die Vestalinnen waren damit einverstanden.

Das einzige, was man zur Bequemlichkeit der Mädchen tun konnte, war, daß man ihnen wärmere Kleidung gab und ihnen einen geheizten Raum im Zwischendeck zum Aufenthalte anwies. Auch die Vestalinnen hatten ihre Kleidung geändert, sie war dicker geworden, und es zeigte sich dieselbe Tatsache, welche bei den Matrosen der Marine konstatiert ist: je weniger der Hals gegen die Witterungseinflüsse geschont wird, je mehr er ihnen Trotz bietet, desto weniger empfänglich ist er für Krankheiten. Keine der Damen hatte darunter zu leiden.

Sonst war die Kleidung dieselbe geblieben, nur während der Nacht, wenn die Wache an Deck stehen mußte, trugen sie lange, warme Mäntel.

In der Nacht, welche dem Tage folgte, da sie die eigentliche Erdumseglung, beendet hatten, lehnten die Damen an der Bordwand, beobachteten den Sternenhimmel, das ruhige, phosphorstrahlende Meer und unterhielten sich von der Gefahr der Eisberge, von denen sie einige in weiter, weiter Ferne zu sehen bekommen hatten.

Vielleicht stießen sie auch noch auf solche und die Gefahren, von denen sie eben gesprochen, von Zusammenstößen, von Einschließungen zwischen Eisbergen, von Zerdrückungen und so weiter, standen ihnen auch noch bevor.

Die zweite Nachtwache löste die erste ab, es war also um vier Uhr. Vor Kälte schauernd, verließen die Mädchen ihre warmen Kabinen, schlugen die langen Mäntel um sich und lösten ihre Kameradinnen ab, um nun ihrerseits vier Stunden an Deck zu verbringen, bis die Schiffsglocke sie um acht Uhr zum Frühstück rief.

»Hören Sie,« sagte Miß Murray zu einer Freundin, welche neben ihr auf der Back saß und die Füße, gleich ihr, dicht unter den warmen Mantel gezogen hatte, »was mag das sein? Klingt das nicht, wie das Brausen der Brandung am Gestade?«

»Das ist nicht möglich,« entgegnete das Mädchen, »erst vorhin sagte die Kapitänin, wir wären weit ab vom Lande.«

»Und doch ist es so,« behauptete Jessy, »hören Sie nur einmal genau hin.«

Das Mädchen lauschte, und wirklich vernahm auch sie jetzt ein seltsames Zischen und Brausen, fast wie das Geräusch eines Wasserfalles klingend, wenn an einen solchen hier auf dem Meere zu denken wäre. Höchstens, daß man nahe genug an Land war, um das Herabstürzen eines Baches ins Meer vernehmen zu können oder auch das Wüten der Brandung in einer Höhle. Letzteres konnte sogar eher der Fall sein, denn oft war es den Mädchen, als bräche das Geräusch plötzlich ab.

Doch Land war nicht in der Nähe. Die Nacht war völlig klar, die Sterne, wie der Mond beschienen die Wasserfläche und gestatteten einen weiten Umblick.

»Was ist das?« rief mit einem Male Johanna, welche sich den beiden zugesellt hatte, und deutete mit der ausgestreckten Hand auf das Meer voraus.

Man konnte deutlich erkennen, wie dort von Zeit zu Zeit kleine Wasserstrahlen emporgeschleudert wurden, bald hier, bald da, stieg eine solche Wassersäule empor, fast wie eine Fontäne anzusehen. Von diesem mußte das Zischen stammen.

Noch ehe jemand eine Antwort darauf fand, kam diese schon von der Kommandobrücke. Ellen hatte das Zischen ebenfalls gehört und betrachtete jetzt die Wasserstrahlen durch ein Nachtglas.

»Walfische,« rief sie, »eine ganze Herde! Sie schwimmen in gleicher Richtung mit der ›Vesta‹, aber bedeutend langsamer. Wenn sie so weiterschwimmen, befinden wir uns in einer Stunde mitten unter ihnen.«

Der Ruf, daß eine Herde Walfische in Sicht wäre, lockte schnell alle Mädchen aus den Kojen, mit schlaftrunkenen Augen eilten sie an Deck und genossen das Schauspiel, welches sich ihnen hier zum ersten Male darbot.

In der Nähe des Südpoles trifft man noch auf ungeheure Herden von Walfischen, es gibt dort bedeutend mehr solcher Tiere, als in dem nordischen Eismeere, aus dem einfachen Grunde, weil dort der Fischfang viel mehr betrieben wird. In Skandinavien, England und Nordamerika gibt es ja ganze Häfen, welche nur als Ankerplätze für Walfischfänger dienen.

Eine solche Herde von Riesenfischen schwamm jetzt vor der ›Vesta‹.

Es mochten wohl gegen hundert Tiere sein, wenigstens der Anzahl der Strahlen nach zu schließen, welche emporgeschleudert wurden. Der Walfisch atmet bekanntlich nicht durch Kiemen, wie der Name Walfisch eigentlich ganz falsch ist, denn er ist gar kein Fisch, ebensowenig, wie der Seehund, Seelöwe und so weiter, oder eine Seeschlange etwa mit dem Namen Fisch bezeichnet werden könnte. Er besitzt nur das Aussehen eines Fisches, legt aber keine Eier, wie dieser, sondern bringt lebendige Junge zur Welt und säugt sie, ist also ein Säugetier. Sein richtiger Name ist daher auch nicht Walfisch, sondern einfach Wal, da aber der erstere schon zu sehr eingebürgert ist, so soll er auch hier ferner beibehalten werden.

Ununterbrochen spritzten die Wasserstrahlen aus den Nasenlöchern hoch in die Luft, aber die Tiere waren nicht nur mit Fütterung ihres großen Magens beschäftigt, sie hatten auch noch Zeit genug übrig zum Spielen.

Es waren bei der Herde zahllose Junge, und diese schossen hin und her, wälzten sich, wie man jetzt schon mit einem Fernrohr erkennen konnte, auf den Rücken, stießen sich gegenseitig, drängten sich an die Mütter heran und jagten sich im Wasser. Manchmal schnellte auch einer hoch aus dem Wasser heraus, so daß der unheimliche Kopf und der gespaltene Schwanz sichtbar wurden.

»Wenn sie nur nicht vor dem Tageslicht fliehen,« rief Ellen, »dann gibt es eine Walfischjagd, wie ich mir sie schon immer gewünscht habe.«

Eine lebhafte Aufregung bemächtigte sich aller Mädchen.

Sie hatten von New-York eine vollständige Ausrüstung mitgenommen, um Jagd auf diese Tiere abhalten zu können, die mächtigen Harpunen waren vorhanden, ebenso die Rollen, an denen das an der Harpune befindliche Seil abläuft, und die Bote waren stark genug. Im Rudern getrauten sich die Mädchen, es mit jedem aufnehmen zu können, und was das Schleudern der schweren Harpune betraf, so war das wieder einmal eine Gelegenheit, beweisen zu können, daß ihre ungeschwächte Kraft der eines Mannes nichts nachgab, ebensowenig, wie ihre Kaltblütigkeit. — Ach, wenn doch die Herde nicht vor Tagesanbruch scheu vor dem Schiffe flöhe!


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Ellen meinte, es sei das beste, den Lauf der ›Vesta‹ zu mäßigen, um nicht in die Herde hineinzufahren. Die Walfische sind sehr sorglose Tiere, sie lassen ein Schiff oft so nahe herankommen, daß dieses an sie stößt, dann aber fliehen sie mit rasender Schnelligkeit davon, wie wäre es sonst auch möglich, daß die Walfischjäger im Boot so dicht an den Walfisch heranfahren könnten, daß sie sogar die Harpune nach ihm schleudern, ja sogar, daß sie ihm dieselbe unter Umständen in den Leib stoßen können.

Während die ›Vesta‹ langsam hinter den Tieren herfuhr, drehte sich das Gespräch der Damen natürlich um die Walfische, um die zu erwartende Jagd und um die Art, wie eine solche stattfindet.

Der Walfischfang wird jetzt weniger so betrieben, wie vor etwa zwanzig Jahren, das Zeitalter des Dampfes hat auch diesen umgestaltet, doch gibt es noch immer sehr viele Kapitäne von Segelschiffen, welche ausschließlich mit dem Fangen der Walfische beschäftigt, noch ebenso jagen, wie früher. Beim alten Prinzip werden Boote ausgesetzt mit etwa zehn Ruderern, einem Steurer und demjenigen, welchem das Werfen der Harpune obliegt, dem eigentlichen Walfischjäger, der wichtigsten und bestbezahlten Person des ganzen Schiffes.

Die Harpune besteht aus einem langen, biegsamen Holzstiel, an dessen einem Ende die Stahlspitze mit festen oder beweglichen Widerhaken sitzt, welche letztere beim Zurückziehen der Harpune auseinandergehen. Am anderen Ende desselben ist eine Leine gebunden. Diese läuft über eine Rolle, welche sich am Boote befindet, und ist sehr lang, oft über 100 Meter, und aus bestem Hanf gefertigt. Die Rolle ist am Boote befestigt und um eine Axe drehbar.

Das schlanke, scharfgebaute Boot wird nach den still liegenden oder langsam schwimmenden Tieren gerudert — bei einer Herde wird natürlich immer das Größte ausgewählt — der Jäger stellt sich im Vorderteil aufrecht, hebt die Harpune hoch über den Kopf und schleudert sie, wenn er nahe genug herangekommen zu sein glaubt, nach dem Wal. Die Zielpunkte sind verschieden, der eine Jäger zielt nach dem Herzen, der andere nach der Leber oder der Lunge.

Von dem Augenblick an, da die Harpune in den speckigen Körper fährt, beginnen die Matrosen mit aller Kraft zu rudern, denn der Wal schießt mit Blitzesschnelle davon, nachdem er getroffen ist. Aber so schnell das Boot auch fährt, die sich ungeheuer schnell abwickelnde Leine zeigt, wie geschwind der Walfisch schwimmen kann.

Je näher das Seil seinem Ende kommt, desto schneller müssen die Riemen geführt werden, denn sofort, wenn das Seil abgelaufen ist, erhält das Boot einen furchtbaren Ruck, so daß oft genug die Insassen herausgeschleudert werden. Würde das Boot nicht in solcher Fahrt gehalten werden, so würde die Leine durch den heftigen Ruck unbedingt reißen, so wird er aber abgeschwächt — die Leine hält, und das Boot wird nachgeschleppt. Ebenso müssen auch gleichzeitig die Riemen aus dem Wasser gezogen werden, sonst brechen sie.

Es dauert nicht lange, so vermindert sich die Schnelligkeit des fliehenden Tieres, der Widerhaken der Harpune hat eine tiefe Wunde gerissen, aus welcher das Blut stromweise fließt, wie man sogar aus dem zurückgelassenen roten Streifen sehen kann, der der Spur des Wales folgt.

Viel Blut kann der Walfisch nicht verlieren, er verendet bald und kommt an die Oberfläche. Das Boot schleppt ihn an das Schiff heran, und nun beginnen die Zerleger mit der Arbeit.

Sie treten einfach auf das noch im Wasser liegende Tier und zerschneiden es, worauf die einzelnen Teile an Bord geholt werden. Dann beginnt das Loslösen des Fischbeins, der Knochen und schließlich das Auskochen des Trans.

Es sei hier erwähnt, daß das Leben auf einem Walfischfänger das schlechteste ist, was man sich nur denken kann. Durch das Auskochen des Trans verbreitet sich auf dem Schiffe ein Geruch, welcher nicht zum Aushalten ist, und die Arbeit ist die schmutzigste und ekelhafteste, wie man sie nur finden kann, wird aber infolgedessen sehr gut bezahlt. Für eine Tonne ausgekochten Speck erhält der Matrose einen gewissen Anteil am Verkauf, der direkt beim Fangen tätig gewesene die doppelte Prämie.

Aber die Unsauberkeit, der Gestank und das rohe Wesen, wie es auf einem solchen Schiffe herrscht, spotten jeder Beschreibung, und wie es mit dem Essen aussieht, kann man daraus entnehmen, daß ein Walfischfahrer gewöhnlich drei Jahre draußen bleibt, ehe er wieder einen Hafen anläuft. Wasser verschafft er sich mittels eines Destillier-Apparates.

Und warum bleibt er so lauge von aller Welt abgeschlossen? Aus dem sehr einfachen Grunde, weil der pfiffige Kapitän, der sich auf jeder Fahrt ein Vermögen erwirbt, sehr wohl weiß, daß seine ganze Mannschaft im ersten Hafen, den er anläuft, von Bord desertiert. Der Matrose muß eine sehr gefühllose und widerstandsfähige Natur besitzen oder aber sehr geldgierig sein, der eine solche Reise zum zweiten Male mitmacht.

Jeder Seemann, der einmal an Bord eines Walfischfahrers gewesen ist, verschweigt dies sorgfältig vor seinen Kameraden, denn es wird ihm zur Schande angerechnet, als ›Trankocher‹ gefahren zu sein. Erst so und so viele Jahre Seefahrtszeit auf einem Handelsschiff kann ihn von diesem Flecken reinwaschen — so niedrig denkt der Seemann von dem, welcher aus Geldgier auf einem Walfischfänger, dem schmutzigsten Schiffe der ganzen Welt, gefahren hat.

Die zweite Art des Walfischfanges ist eine viel einfachere und gefahrlosere, denn bei ersterer kann der Fall eintreten, daß durch Umschlagen oder Zertrümmern des Bootes durch den Schwanz des Walfisches Menschenleben verloren gehen, aber sie besitzt nicht mehr die Romantik, welche dennoch die Walfischjagd umgibt.

Die betreffenden Dampfer haben eine Art von Geschützen an Bord, die mit komprimierter Luft, ja, sogar mit Pulver geladen sind und die Harpune nach dem schwimmenden Tiere schleudern. Das Tau an letzterer ist stark genug, um den Ruck auszuhalten, das Schiff wird daran noch von dem riesenstarken Wale eine Strecke fortgeschleppt, aber bald hat er ausgeblutet und wird herangezogen.

Die Vestalinnen mußten sich zur Jagd natürlich der Boote bedienen, was ja auch viel interessanter und ihrer Natur würdiger war.

Der Tag brach an, und man konnte die Tiere jetzt in einer Entfernung von etwa dreihundert Metern schwimmen sehen, unbekümmert um das Schiff, das in ihrer Nähe war. Ihr munteres Spielen hatten sie eingestellt, die riesigen Kolosse lagen still da, die Rücken wie Inseln aus dem Wasser hervorstreckend, zwei Punkte davor bezeichneten die Stelle, wo die Nasenlöcher sich befanden. Nur ab und zu spritzten noch Wasserstrahlen zum Himmel empor, sonst mußten die Tiere schlafen oder der Verdauung pflegen, denn sie lagen still. Die ›Vesta‹ näherte sich ihnen schnell.

Ellen ließ zur Seite fahren und rief die Freundinnen zu einer Beratung, denn es galt festzusetzen, wer an der Jagd teilnehmen sollte. Alle konnten nicht mitfahren, einige mußten wenigstens auf der ›Vesta‹ bleiben, und so wurde beschlossen, daß nur die Hälfte ins Boot ginge, während die anderen zurückblieben. Gestatteten die Verhältnisse nach der glücklichen Erlegung eines Tieres noch eine Fahrt, so sollten letztere daran teilnehmen.

Ellen beteiligte sich auf jeden Fall an der Jagd, damit waren alle einverstanden, und unter den anderen vierundzwanzig Mädchen entschied das Los.

»So,« sagte Ellen, als zwölf Mädchen bestimmt worden waren. »Nun gilt es noch auszumachen, wer die Harpune schleudern soll. Hier sind dreizehn Zettel, jede schreibe darauf den Namen derer, die sie dazu am befähigtsten hält.«

Als Ellen darauf die Zettel las, zeigten diese alle ihren Namen, mit Ausnahme eines einzigen, auf dem Miß Murray stand, diesen hatte Ellen selbst geschrieben.

Das größte Boot, ein Kutter, wurde mit allen erforderlichen Gegenständen ausgerüstet und herabgelassen. Zehn Ruderer nahmen darin Platz, ein Mädchen setzte sich ans Steuer, Ellen begab sich mit der Harpune nach dem Vorderteil und placierte die dreizehnte neben die Rolle für das Tau, welche sich ebenfalls vorn befand.

Noch einmal instruierte Ellen ihre Gefährtinnen, wie sie sich in allen Lagen zu verhalten hätten, schärfte den Ruderern ein, die Riemen ja sofort aus dem Wasser zu heben, weil der aus der Hand gerissene Griff des Riemens, welcher durch den Ruck nicht zerbrach, den Insassen die Knochen zerschmettern konnte, und wies dann noch ganz besonders das neben der Rolle sitzende Mädchen an.

Das Boot stieß ab, direkt auf die ruhenden Walfische zuhaltend. Nicht nur die an der Jagd Beteiligten, auch die auf der ›Vesta‹ zurückgebliebenen Zuschauer wurden von einer fieberhaften Aufregung beherrscht.

Ellen ließ das Boot nach einem der größten Burschen, welcher ihnen am nächsten lag, steuern. Aber das Tier merkte das Boot und schwamm davon, jedoch ganz gemächlich. Durch seine Bewegungen wurden auch die anderen Wale aufmerksam, spritzten Strahlen empor und entzogen sich der drohenden Nähe des Bootes.

Diese Vorsicht der Walfische kam daher, weil sie viele Jungen bei sich hatten, über deren Sicherheit die Mütter wachten.

Da entdeckte Ellen etwas außerhalb der Herde ein gewaltiges Tier, das nicht an der allgemeinen Bewegung teilgenommen hatte.

Wieder näherte sich ihm das Boot, diesmal aber erst einen großen Umweg machend und dann von hinten kommend. Ellens ausgestreckte Hand gab die Richtung an.

Richtige Walfischfänger hätten über die Mädchen gelacht, weil diese sich nämlich in flüsterndem Tone unterhielten, als fürchteten sie, durch lautes Sprechen die Wale im Schlafe zu stören.

»Holt tüchtig aus!« rief Ellen jetzt, die Mädchen zum Rudern anfeuernd.

Sie stand schon hoch aufgerichtet im Vorderteil des Bootes, einen Fuß auf der Ruderbank, den anderen auf dem Schnabel und hielt die Harpune in der rechten Hand.


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Jetzt war das Boot nur noch zwanzig Meter von dem Walfisch entfernt, von dem man nur den Rücken sehen konnte, jeder Riemenschlag brachte es näher heran. Ellen hob die Harpune hoch über den Kopf, neigte den Oberkörper zurück und schnellte ihn dann wieder vor, die Harpune mit aller Kraft in den speckigen Rücken des Tieres schleudernd, in welchen sich die mit Widerhaken versehene Spitze einbohrte.

Zwei riesige Strahlen spritzten empor, dann verschwand der Wal unter Wasser, und die sich schnell abwickelnde Leine zeigte an, mit welcher Gewalt er davonschoß.

»Holt aus, holt aus!« rief Ellen, und es war nötig, daß die Mädchen die Riemen mit Aufbietung aller Kraft handhabten, denn schon drehte sich die Rolle, und zwar so schnell, daß die Achse nicht nur zu rauchen begann, sondern auch schon Funken sichtbar wurden.

Das Amt des dreizehnten Mädchens nun war es, die Rolle, wie auch das Seil mittels des Eimers fortwährend mit Wasser zu begießen, um zu verhindern, daß Feuer entstand und das Seil abgesengt wurde.

Ellen hatte den Riesen gut getroffen, die Harpune mußte eine tiefe Wunde gerissen haben, aus der viel Blut floß. Man konnte schon aus der zurückgelassenen, roten Spur sehen, wohin sich das Tier wendete, und obgleich das Seil noch lange nicht abgewickelt war, begann sich die Rolle doch langsamer zu drehen. Der Walfisch floh nordwärts.

»Noch einen guten Zug und hoch die Riemen!« kommandierte Ellen. Noch einmal legten sich die Mädchen kräftig hintenüber, dann flogen die Riemen gleichzeitig außer Wasser und ins Boot. Gleichzeitig erhielt das Fahrzeug einen heftigen Ruck — das Seil war abgelaufen. Wäre das Tier nicht schon sehr erschöpft gewesen, so wäre der Ruck ein außerordentlicher gewesen, so aber hatte er keine nachteiligen Folgen.

Das Boot wurde jetzt von dem Walfisch geschleppt und durchschnitt die Wellen noch immer schnell genug.

»Uns bleibt nun nichts anderes übrig, als ruhig zu warten, bis der Tod des Walfisches durch Blutverlust eintritt,« sagte Ellen, »lange dauert dies gewöhnlich nicht.«

»Sinkt er dann unter?« fragte ein Mädchen.

»Nein. Infolge seines Speckes schwimmt er oben,« war die Antwort.

»Was beginnen wir dann mit ihm?«

»Wir schneiden die Barten, die Walfischbeine und einige andere Körperteile als Trophäen ab und überlassen das übrige den Seevögeln als willkommene Beute.«

Die ›Vesta‹ war noch lange nicht außer Sicht. Die im Boote befindlichen Mädchen konnten sehen, wie die Raaen gewendet wurden, so daß das Schiff einen nördlichen Kurs einschlug. Es wollte dem Boote folgen.

Von den anderen Walfischen war keiner mehr zu erblicken.

»Land!« rief da plötzlich Ellen und deutete mit der Hand voraus. »Es ist die Küste des Feuerlandes.«

Am Horizont tauchte ein nebliger Streifen auf, welchen man eher für eine Wolke halten konnte, aber Ellens geübtes Auge hatte ihn sofort als Land erkannt.

Die Südspitze von Amerika wird bekanntlich von einer Insel gebildet, welche vom Festlande durch die Magellanstraße getrennt ist. Diese Insel heißt Feuerland, oder aber, wie sie von Geographen und Seeleuten bezeichnet wird, Terra del Fuego, was nur der spanische Ausdruck für Feuerland ist. Auf ihr befindet sich Kap Horn, die südlichste Spitze von ganz Amerika.

Der Südwestküste dieser Insel strebte der Walfisch zu, und bei der Schnelligkeit, mit der er die Fluten durchschnitt, konnte man vielleicht das Land in einer halben Stunde erreicht haben, doch stand zu erwarten, daß er, sobald er Land in der Nähe bemerkte, die Richtung änderte und wieder dem offenen Meere zuschwamm.

Er blieb nicht immer unter Wasser, sondern kam etwa aller fünf Minuten nach oben, steckte den Kopf etwas über die Oberfläche und verschwand dann wieder. Dies war aber kaum an der Bewegung des Wassers zu bemerken.

Schnell näherte man sich der Küste. Man konnte schon erkennen, daß sie hügelig war, aber flach ins Meer hinabfiel, auch zeigte sie viele Buchten und Halbinseln.

»Der Walfisch stirbt,« rief Ellen wieder, »er taucht schon nicht mehr unter, schwimmt aber noch immer weiter, direkt dem Lande zu. Es wäre gut, wenn wir ihn dahin bugsieren könnten.«

Der Wal hörte endlich auf in seinen Bewegungen. Matt lag er auf dem Wasser, ohne die Flossen oder den Schwanz zu bewegen, die Entfernung von ihm bis zum Lande betrug höchstens noch dreihundert Meter.

Noch wagte Ellen nicht, an ihn heranzurudern, denn der sterbende Walfisch ist gefährlich. Mit einem Schlage des Schwanzes vermag er nicht nur ein Boot zu zerschmettern, er kann dasselbe mitsamt der Besatzung hoch in die Luft schleudern.

Plötzlich stiegen aus den Nasenlöchern des Tieres zwei hohe Strahlen empor, er sprang förmlich aus dem Wasser, schlug noch ein paarmal krampfhaft mit dem Schwanze hin und her, so daß das Wasser wie bei einem Sturme Wogen warf und legte sich dann auf die Seite — er war tot.

Jetzt mußte es gewagt werden, sich dem Ungetüm zu nähern und sich von seinem Tode zu überzeugen. Ellen ließ dicht heranrudern und stach es mit einem Riemen in die Seite, bohrte ein Messer in den Körper, aber es rührte sich nicht. Mit einem Sprunge stand das mutige Mädchen auf der schwimmenden Insel, dem Körper des Walfisches, und die Gefährtinnen konnten sich den Triumph nicht versagen, ebenfalls auf dem selbsterlegten Tiere gestanden zu haben. Sie folgten Ellen nach.

Das Seil wurde von der aus der Seite herausragenden Harpune abgelöst, diese selbst sollte erst später herausgeschnitten werden, dann zog man ein Tau durch den Unterkiefer des Tieres, befestigte dieses hinten an dem Boote und schleppte die Beute dem Ufer zu. Das ging natürlich nur sehr langsam von statten, und man konnte erwarten, daß die ›Vesta‹ das Boot bald einholte.

Das Schiff befand sich schon nahe an der Küste, und die Mädchen im Boote konnten sehen, wie die stellvertretende Kapitänin fortwährend loten ließ, um nicht auf eine Sandbank zu geraten und sitzen zu bleiben.

»Es ist gerade Flut,« sagte Ellen, »aber das Wasser beginnt bereits zu fallen. Wir bringen das Tier dort in eine Bucht, welche, wie ich vermute, flach ist, ziehen es so weit als möglich ans Land, und tritt dann das Wasser zurück, so liegt der Wal auf dem Trockenen, und wir können ihn gemächlich zerlegen.«

Während der Fahrt hatte niemand das Land selbst beobachtet, jetzt aber bemerkten alle, daß die ›Vesta‹ nicht das einzige Schiff in dieser Gegend war. In einem geräumigen, natürlichen Hafen lag ein stattliches Vollschiff, welches hier angelaufen war, wahrscheinlich, wie Ellen meinte, um eine Reparatur auszuführen.

Flaggen zeigte es nicht, und durch das mitgenommene Fernrohr konnte man auch seinen Namen nicht lesen, denn die auf dem Hinterteil stehenden Buchstaben waren ganz abgewaschen, als wäre das Schiff schon lange unterwegs, ohne je einen Hafen angelaufen zu haben. Die Mannschaft stand an Deck und beobachtete das herankommende Boot mit dem Walfisch. Dasselbe fuhr in die Bucht, die Leine wurde verlängert, die Mädchen ruderten an Land und sprangen auf das felsige, mit Schnee und Eis bedeckte Gestade, welches hier eben war, weiterhin aber hügelig wurde. Zahlreiche Bäche flossen in die Bucht, aber ihre Oberfläche war gefroren, nur die reißendsten hatte die Kälte nicht zum Gefrieren gebracht.

Bald erschien ein zweites Boot mit Mädchen, welche ihren Gefährtinnen zu Hilfe kommen wollten, und brachte noch mehr Taue und Stricke mit. Der Walfisch wurde an mehreren Stellen mit Schlingen umgeben, und dann machten sich die zwanzig Mädchen daran, das Tier, dessen gewaltige Länge sie jetzt erst erkannten, ans Land zu ziehen.

Ihren vereinten Kräften gelang es, den Walfisch wenigstens so weit ans Ufer zu bringen, daß sein Körper zur Hälfte aus dem Wasser herausragte. In einer Stunde mußte jedoch der ganze Körper bloßliegen.

Ellen ordnete an, daß das zweite Boot noch einmal zu der ›Vesta‹ zurückkehrte, die in tiefem Wasser vor Anker lag, und Messer und Beile herbeihole, um das Tier zerlegen zu können.

Als das Boot wieder zurückkam, war das Wasser schon so weit zurückgetreten, daß man den Kadaver trockenen Fußes vom Ufer erreichen konnte. Eben machten sich die Mädchen eifrig daran, die Barten, welche das sogenannte Fischbein geben, mit Messern abzuschneiden, als ein lauter Ausruf in spanischer Sprache sie veranlaßte, ihre Köpfe nach dem Ufer zu wenden.

Da standen plötzlich, wie aus dem Boden gewachsen, wohl 30 Männer da, alle in Seehundsfelle gekleidet, Stiefeln von demselben Stoffe an den Füßen und auf den Köpfen Pelzmützen. In den Händen trugen einige der Männer Harpunen, andere Äxte und Messer.

»Walfischfänger,« dachten die Mädchen.

Jedenfalls war es die Besatzung eines chilenischen oder argentinischen Walfischfängers, denn der Ruf war spanisch gewesen. Das gerufene Wort hatte niemand verstanden, es mochte wohl ein Ausdruck der Überraschung gewesen sein, aber es hatte auch drohend geklungen, und beim Näherkommen der Männer konnte man erst richtig erkennen, was für schmutzige Burschen man vor sich hatte.

Die Anzüge starrten förmlich vor Schmutz und Fett, sie stanken schon aus weiter Entfernung nach Lebertran, und einen ebenso ungünstigen Eindruck, wie ihre Kleider, machten auch ihre Gesichter. Alle Männer zeigten rohe, vertierte Züge, die Gesichter waren aufgequollen, aber die Röte stammte nicht nur von Wind und Sonne, sie mußte auch die Folgen starken Trinkens sein.

Besonders der Mann, welcher den Mädchen am nächsten stand, eine kleine, untersetzte aber breitschulterige Figur, zeigte ein widerwärtiges Äußere, die kleinen Schweinsaugen in dem aufgedunsenen und von Schmutz starrenden Gesicht waren blutunterlaufen. Er stützte sich auf eine lange Harpune und betrachtete mit bösem Blick das Treiben der Mädchen.

»Was wünschen Sie?« fragte Ellen, von ihrer Beschäftigung ablassend und sich dem Manne zukehrend.

»Wie kommt Ihr Weiber dazu, den von uns getöteten Walfisch an Land zu schleppen und ihn zu zerlegen?« sagte der Mann mit branntweinheiserer Stimme.

Gleichzeitig ließen alle Mädchen die Hände sinken und wandten sich, mehr erstaunt, als entrüstet über eine solche Frage, um.

»Ihren Walfisch?« entgegnete Ellen, ebenfalls völlig erstaunt, »Das beruht wohl auf einen Irrtum. Wir haben diesen Walfisch gejagt, mit der Harpune erlegt, hierher geschleppt und sind nun dabei, ihn zu zerlegen.«

»Das ist nicht wahr,« rief der Mann, jedenfalls der Kapitän des Walfischfängers, »wir haben den Fisch gejagt, aber er ist uns entflohen und hat Harpune, Seil und Rolle mitgenommen. Überlaßt uns das Tier.«

Die Mädchen wunderten sich, daß die Männer so wenig Staunen zeigten beim Anblick der Mädchen in Männerkleidung. Es mußten ganz vertierte Menschen sein, die sich über nichts mehr wunderten. Jedenfalls glaubten sie, die Mädchen wären Passagiere jenes Schiffes dort, das sich auf den Wellen schaukelte.

»Sie sind im Irrtume,« entgegnete Ellen, ihre Ruhe noch behaltend, »Ihnen mag wohl ein getroffener Wal entgangen sein, mit diesem verhält es sich aber so, wie ich sagte, wir haben ihn getötet, er ist unser. Sie mögen ein Walfischjäger sein, der vom Fange der Tiere lebt, aber die Jagd ist frei, und so sind wir durchaus nicht bereit, Ihnen das Tier zu überlassen.«

»Es ist nicht wahr,« rief der Mann abermals, »Ihr habt das Tier tot gefunden.«

»So,« rief Ellen, jetzt zornig werdend — die Mädchen drängten sich schützend um ihre Führerin — »gehört diese Harpune vielleicht Ihnen?«

Damit hielt sie dem Manne die bereits herausgeschnittene Harpune vor die Augen.

»Gewiß, es ist die meinige,« war die freche Antwort, und seine Gefährten bestätigten es durch Zurufe.

»So,« sagte Ellen, mehr spöttisch als ärgerlich, »und die Leine, die Rolle, gehören auch Ihnen?«

»Allerdings.«

»Wie kommt es denn, daß auf dem Schaft der Harpune, wie auch auf der Rolle, der Name ›Vesta‹, der unseres Schiffes, eingebrannt ist?«

»Den mögt Ihr eingebrannt haben, als Ihr sie gefunden habt.«

Die Mädchen brachen in Rufe der Entrüstung aus über eine solche Unverschämtheit. Es war klar, dieser Mensch wollte den riesigen Walfisch, der einen außerordentlichen Gewinn versprach, als sein Eigentum reklamieren und glaubte mit den jungen Mädchen, die er für Passagiere hielt, leichtes Spiel zu haben. Das Schiff dort brauchte er nicht zu fürchten, die Walfischjagd treibenden Schiffe sind sehr gut bewaffnet.

Aber der Mann sollte sich irren, die energische Ellen war nicht willens, sich eine Barte von dem Walfisch nehmen zu lassen. Aus Neugierde, wie weit der Kerl seine Frechheit treiben würde, stellte sie noch eine Frage:

»Können Sie nicht sehen, daß diese Harpune hier ganz anders konstruiert ist, als jene, welche Sie und Ihre Leute haben? Bei diesen sind die Widerhaken fest, aber bei der unseren sind sie an der Spitze beweglich.«

Jetzt veränderte der Mann sein Benehmen, er wollte durch Brutalität die Mädchen einschüchtern.

»Unsinn!« brüllte er Ellen an. »Wir haben auch solche Harpunen, ihr habt den Namen erst eingebrannt. Nochmals, ihr habt den von uns getöteten Walfisch gefunden, und deshalb schert euch in eure Boote und fahrt zum Henker! Der Walfisch gehört mir, und wenn ihr es nicht glauben wollt, so werde ich es euch zeigen. Fort mit euch!«

Es war eine Eigentümlichkeit von Ellens Charakter, daß sie bei Kleinigkeiten aufgeregt wurde, in der Mitte der Gefahr, wenn es darauf ankam, aber die größte Kaltblütigkeit zeigte.

Mit einem Blick überflog sie die 30 Männer, sie führten nur Harpunen, Äxte und Messer bei sich, Schießwaffen waren an ihnen nicht zu sehen. Die Mädchen dagegen trugen alle unter den Blusen Lederetuis mit geladenen Revolvern darin.

»Wir werden euch zeigen, ob wir auf diesen Walfisch Anspruch machen dürfen oder nicht,« sagte sie ruhig, »wir haben ihn getötet und damit basta — mögen Sie es glauben oder nicht. Wir nehmen jetzt von dem Tiere, was uns beliebt. Was übrig bleibt, können Sie behalten.

»Schneiden Sie die Barten und die Kiefer aus.« wandte sie sich an die Mädchen, »den Speck wollen wir diesem galanten Herrn schenken, er braucht ihn, um seinen so schon fettigen Anzug noch mehr einzusalben.«

Der Kerl achtete nicht den Spott, der in diesen Worten lag, er sah nur, wie Ellen und auch ein Teil der Mädchen die Messer aus den Gürteln zogen und Miene machten, sich nach dem Walfisch zurückzubegeben, um ihn zu zerlegen.

Mit einem Ruck hielt er die Harpune über den Kopf, holte weit aus und schrie, nach Ellen zielend:

»Die erste, die den Fisch anfaßt, durchbohre ich mit der Harpune.«

Die Mädchen wußten nicht, ob dies nur eine Drohung war, oder ob der Mann Ernst mache. Ellen kehrte sich nicht daran, sie ging nach dem Walfisch zurück und sagte kalt:

»Es könnte möglich sein, daß dies der letzte Wurf wäre, den Ihr tut.«

Sie faßte eine Barte und trennte sie mit einem Schnitt des Messers vom Kiefer, aber gleichzeitig erscholl ringsum ein Schrei des Entsetzens — der Kerl machte seine Drohung war.

Zischend durchschnitt die Harpune, von seiner kräftigen Hand geschleudert, die kaum 10 Meter weite Entfernung, die ihn von Ellen trennte, die Waffe flog direkt auf das Mädchen zu, sie mußte dessen Körper durchbohren.

Aber sie erreichte ihr Ziel nicht, der Platz, wo Ellen gestanden, war leer, und die Harpune blieb mit zitterndem Schaft im Kopfe des Walfisches stecken.

So unbefangen Ellen sich auch gestellt, sie hatte den zum Wurfe ausholenden Mann nicht aus dem Auge gelassen, und als die Harpune auf sie zusauste, sprang sie blitzschnell zur Seite und war mit einigen Sätzen bei dem rohen Gesellen.

Dieser wußte nicht, wie ihm geschah. Plötzlich erhielt er einen Faustschlag unter das Kinn, der ihn kopfüber zu Boden warf, dann fühlte er einen Fuß auf seine Brust gesetzt, und als er aufsah, vor Schrecken und von dem Schlage halbbetäubt, blickte er in das drohende Gesicht des Mädchens, nach dem er die Waffe geschleudert hatte, und in die noch drohendere Mündung eines Revolverlaufes.


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Die anderen Männer hatten Lust gezeigt, sich ebenfalls zu einem Streite oder vielmehr zum Vertreiben der Mädchen bereitzumachen, die Harpunen waren erhoben, die Äxte von den Schultern genommen und die Messer aus den Gürteln gezogen, aber schnell unterließen sie ihr Beginnen, denn zwanzig Revolver blitzten ihnen entgegen.

»Ich sollte dich wie einen räudigen Hund totschießen, denn zwischen dem und dir ist gar kein Unterschied,« sagte Ellen mit vor Erregung zitternder Stimme, »aber du bist gar keinen Schuß Pulver wert, du Raubtier ohne Herz und Gewissen. Gern möchte ich dir noch eine tüchtige Züchtigung angedeihen lassen, aber es ekelt mich schon, daß ich dich einmal mit der Hand berührt habe.«

Der Mann, aus dessen Nase das Blut zu fließen begann, hatte bis jetzt mit weit ausgestreckten Armen und Beinen, wie ein geprellter Frosch dagelegen, nun versuchte er sich aufzurichten, wurde aber durch Ellens Fuß zurückgestoßen.

»Wage nicht, etwas gegen uns zu unternehmen!« fuhr das Mädchen fort. »Du hast gesehen, wir sind keine Weiber, die mit sich spielen lassen. Stehe jetzt auf,« sie zog den Fuß zurück, »und entferne dich mit deinen Leuten von hier! Das aber laß dir gesagt sein: ebensowenig wie du unser Leben zu schonen gewillt warst, werden wir das deinige schonen, das heißt, derjenige, der nur Miene macht, eine Waffe gegen uns zu erheben, hat eine Kugel im Kopf. Fort jetzt mit dir und deinen Gefährten!«

Der Mann gehorchte der in drohendem Tone gegebenen Aufforderung. Noch halb betäubt erhob er sich, griff an seinen Kopf, in dem es wahrscheinlich surrte und brummte, und murmelte etwas, was fast wie eine Entschuldigung klang. Die Lektion war ihm jedenfalls sehr gut bekommen, er hätte schon längst einmal eine haben müssen, er war mit einem Male um vieles manierlicher geworden.

Die auf der ›Vesta‹ zurückgebliebenen Mädchen hatten bemerkt, daß zwischen ihren Gefährten und den dazugekommenen Walfischjägern ein Konflikt stattfand, und kurz entschlossen hatten sie die Revolverkanonen an die Bordwand gerollt, um nötigenfalls den Freunden aus der Ferne beistehen zu können.

Sie wußten aus der Erzählung Ellens, daß zwischen den Walfischfängern eines elenden Fisches wegen oft die blutigsten Kämpfe stattfinden, so geldgierig sind diese Leute. Dies hatten die Mädchen am Lande gesehen, gleichzeitig aber auch, daß sich der ›Vesta‹ eine Unmenge von kleinen Kähnen näherte, in denen dunkle Gestalten saßen; doch war jetzt keine Zeit dazu sich mit ihnen zu beschäftigen, diese ernste Situation nahm vorläufig ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch.

»Seht ihr dort die Kanonen?« fuhr Ellen fort, zu den übrigen Leuten sich wendend, »Sie sind auf euch gerichtet, und es bedarf nur eines Winkes von mir, so fliegen die Granaten zwischen euch, und eure Leiber liegen in Stücken umher. Laßt uns allein und geht an Bord eures Schiffes!«

Willig gehorchten die Männer. Sie waren ordentlich froh, mit heiler Haut aus dem Bereiche dieser seltsamen Mädchen zu kommen, die ihren Kapitän, der einen Ochsen mit einem Schlage seiner Faust fällen konnte, wie ein Kind über den Haufen warfen, und die alle Revolver bei sich trugen. Machten dort die Kanonen Ernst, so war es um ihrer aller Leben geschehen, und sie hätten die Fässer umsonst im Laufe zweier Jahre mit stinkigem, aber wertvollen Trane gefüllt.

Der Kapitän kratzte sich hinter den Ohren, als er seine Leute eiligst zurückführte; das hätte er doch eigentlich wissen sollen, daß Mädchen, welche Hosen anhatten und einen Walfisch fingen, mit dem Satan im Bunde sein mußten. Begegnete er noch einmal solchen Ausgeburten der Hölle, so wollte er sich schön hüten, mit ihnen Streit anzufangen — das nahm er sich fest vor.

Einmal wandten die Fortgehenden noch scheu die Köpfe und blickten zurück, denn ein lautes Gelächter erscholl hinter ihnen, weil eine helle Mädchenstimme ihnen einige Worte nachgesandt hatte, deren Sinn sie gar nicht verstanden.

»Wenn Ihr durchaus Tran haben wollt, ohne einen Walfisch zu fangen,« hatte Hope ihnen nachgerufen, »so legt euch selber in den Topf und kocht euch ordentlich«. aus. Ein Faß Lebertran kommt doch noch aus euren Kleidern.«

»Schnell, meine Damen!« rief Ellen, als die Jäger hinter einem Hügel verschwunden waren. »Wir schneiden nur einige Barten und Flossen ab, um wenigstens ein Andenken an diese Jagd zu haben. Dann aber schleunigst nach der ›Vesta‹ zurück, denn, wie ich sehe, hat sie Besuch von Feuerländern bekommen, und die fünf zurückgebliebenen Vestalinnen können die braunen Burschen nicht abhalten. Sie sind schon aus den Booten gestiegen und haben das Deck erklettert. Da, sehen Sie, Miß Sargent hat eben einen der Kerle ins Wasser geworfen. Aber sie überfluten wie Ameisen das Deck.«

»Sind die Feuerländer friedlicher Natur?« fragte eines der Mädchen.

»Ja, wir haben nichts von ihnen zu befürchten, nur stehlen sie, wie die Raben, alles, was glänzt und was sie essen können, und wenn es Schmierseife wäre.«

Die Mädchen stiegen eiligst in die Boote und ließen den Walfisch liegen, nachdem sie einige Jagdtrophäen als Andenken abgeschnitten hatten — er würde schon noch Liebhaber finden, entweder vier- oder zweibeinige, erstere in Gestalt von Schakalen und anderem Raubgesindel, letztere in Gestalt von Eingeborenen oder vielleicht auch jener Walfischjäger.

Als sie die ›Vesta‹ erreichten, sahen sie wohl schon gegen vierzig Boote, einfach ausgehöhlte Baumstämme, um das Schiff her liegen, und fortwährend kletterten an überhängenden Tauen, schwarze, halbnackte Gestalten auf und ab, schwangen sich über Bord und wurden von den fünf Mädchen wieder heruntergejagt, oft sogar mit Anwendung von nicht gerade zart zu nennenden Mitteln.

»Helfen Sie mir!« rief das die Kapitänin vertretende Mädchen in halb verzweifeltem Tone. »Eine halbe Stunde kämpfe ich nun schon mit diesen Schwarzen, und ich kann sie doch nicht totschießen, sie lachen ja fortwährend und benehmen sich wie Kinder.« »Was wollen sie denn?« fragte Ellen, nachdem sie nebst ihren Gefährten das Deck betreten hatte.

»Betteln wollen sie, aber ich kann sie nicht verstehen, was sie haben möchten. Der eine Kerl dort erwischte eine Flasche mit Schmieröl und schwubb, war sie in die Kehle gegossen,« klagte Miß Sargent.

»Und der da hat schon ein Paket Talglichte gestohlen und ehe wir es verhindern konnten, hatten er und seine Kameraden sie schon verschluckt.«

Ellen machte kurzen Prozeß, mit Hilfe aller Vestalinnen ging sie energisch gegen die Eingeborenen vor, und als diese merkten, daß es den Mädchen gleich war, wohin die mit Stöcken geführten Hiebe fielen, flohen sie eiligst in die Boote zurück, diese blieben aber alle an der ›Vesta‹ liegen, während die Leute in einer unbekannten Sprache fortwährend zu den Mädchen hinaufschrieen.

Ehe die Mädchen einen weiteren Entschluß faßten, betrachteten sie genau die Boote und deren Insassen.

Erstere waren sehr lang, aber schmal und äußerst primitiv gearbeitet. Sie bestanden aus Buchenrinden, die mittels Bastes miteinander verbunden waren, aber das Wasser durchließen, so daß dasselbe fortwährend ausgeschöpft werden mußte. In ihnen lagen die einfachen Schaufelruder. Das Merkwürdigste aber war, daß sich fast in jedem Boote Tonherde befand, auf denen ein kleines Feuer brannte; zur Nahrung desselben waren daneben trockene Zweige aufgehäuft. Durch diese Eigentümlichkeit, immer Feuer bei sich zu führen, sogar im Boote, haben die Eingeborenen von dem Entdecker ihres Landes, Magallan, den Namen Feuerländer bekommen.

Trotz der kalten Temperatur waren sie nur spärlich bekleidet, Männer, wie Frauen. Nur ein Fell bedeckte notdürftig ihre mageren Körper, aber in den Booten lagen noch warme Felle.

Das Feuerland liegt in einer schrecklichen Gegend. Herrscht dort nicht eine bittere Kälte, welche alles gefrieren läßt und mit Schnee bedeckt, so fällt ununterbrochen Regen, und daher erklärt sich die Angewohnheit der übrigens sehr abgehärteten Eingeborenen, stets Feuer mit sich zu führen, um durch Wärme die Glieder geschmeidig erhalten zu können.

Waffen waren durch Pfeil und Bogen und eine Art von Steinhammer mit hölzernem Stiel vertreten, den die Feuerländer mit großer Geschicklichkeit zu werfen verstehen.

»Ich weiß, was sie wollen,« sagte Ellen, »ich habe schon oft von Kapitänen über die Feuerländer erzählen hören. Von jedem Schiff, das in die Nähe ihrer Küste kommt, und das sie mit ihren Booten erreichen können, fordern sie eine Art von Tribut, bestehend aus Schiffszwieback und Öl, ihrem Lieblingsgetränk. Nun, sie sollen nicht sagen, daß die ›Vesta‹ eine Ausnahme machte.«

Sie ließ einige der Eingeborenen an Deck kommen, ohne den übrigen dies zu gestatten, und übergab ihnen aus dem reichen Proviantvorrat der ›Vesta‹ drei Säcke mit Hartbrot, und als diesem noch ein Faß mit Öl, zum Schmieren der Winde bestimmt, beigefügt ward, brach unter den braunen Gesellen ein allgemeiner Jubel aus.

Es war nicht zu erkennen, daß einer von ihnen, ein großer, kräftiger Mann, wahrscheinlich der Häuptling, entschieden Anspielungen machte, ob die Mädchen nicht auch einige Flaschen Branntwein übrig hätten, aber Ellen wollte den Naturkindern dieses Gift nicht verabreichen. Als sie dagegen merkte, wie ein Wilder mit begehrlichen Blicken die Talglichter betrachtete, die einer von ihnen schon vorher sich angeeignet hatte, und jetzt ungeniert in der Hand trug, fügte sie auch noch eine große Quantität solcher dem Geschenk hinzu.

Teils lachend, teils mit Widerwillen sahen die Mädchen, mit welcher Gier die Eingeborenen mit den weißen, prachtvollen Zähnen in die talgige Masse bissen, den Docht durchrissen und schmatzend die Delikatesse verzehrten.


Illustration

Als ihre Versuche, noch mehr Geschenke zu erlangen, scheiterten, waren sie bescheiden genug, das Schiff sofort zu verlassen. Wie aber waren die Mädchen erstaunt, als der Häuptling, ehe er sich am Tau in sein Boot herunterließ, ihnen mit freundlichem Lächeln eine ganze Hand von erbsengroßer Goldstücke anbot und nicht eher nachließ, als bis man sie ihm abgenommen hatte.

Jetzt war Ellen geneigt, den Eingeborenen noch mehr zu schenken, denn der Wert des Goldes betrug wenigstens zehnmal soviel, wie der der Geschenke, aber es war zu spät — der Häuptling saß schon im Boote, und dieses stieß ab.

Die Bäche und Flüsse des Feuerlandes enthalten viel Goldsand, aber nicht genug, um Goldsucher heranzuziehen. Die Eingeborenen sammeln die Körner, fertigen sich daraus Schmuck, halten aber im allgemeinen das Edelmetall für wertlos. Sie verschenken es für jede Kleinigkeit, aber so viel haben sie nie, daß sich ein regelrechter Tauschhandel mit ihnen lohnte.

Während die Vestalinnen die Anker lichteten, sahen sie, daß sich die Walfischjäger an Land zu dem getöteten Tiere begeben hatten und die Zerkleinerung des Wales begannen.

Sie mochten die Mädchen für rechte Dummköpfe halten, daß sie das Tier, dessen Tran ein kleines Vermögen repräsentierte, im Stiche ließen.

Zwischen den Hügeln bemerkten die Vestalinnen ferner die Eingeborenen, welche sich an Hartbrot und Talglichtern delektierten und dazu aus hölzernen Schalen Schmieröl tranken. Waren die Walfischfänger mit dem Zerlegen und dem Transport fertig, so versprachen die Überreste noch eine reiche Mahlzeit für die Feuerländer.

Die Ankunft der ›Vesta‹ hatte diesen armen Menschen zu einem Festtage verholfen.

Aber die Vestalinnen sollten doch noch Grund finden, sich über diese so harmlos scheinenden Eingeborenen zu beklagen.

Die Mädchen, deren Kabine dem Eingange zur Kajüte am nächsten lag, suchten, als sie ihre Tür öffnen wollten, vergebens nach der Klinke — der messingene Griff war abgeschraubt, und bald vermißte man noch zwei andere Klinken, einige Schlüssel und so weiter, und ebenso auch an den Maschinenteilen Schrauben und Stifte. Die wie die Raben stehlenden Feuerländer hatten alles mitgehen heißen, was in den Bereich ihrer Finger gekommen war.

Anfangs war der Ärger über diese Entdeckung ein sehr großer, bald aber beruhigte man sich. Die Eingeborenen hatten ja sozusagen ihren Diebstahl durch das Gold bezahlt.

Der Schaden war übrigens kein so schlimmer.

Jedes Schiff ist meist so ausgerüstet, daß ein Gegenstand, welcher verloren geht, ersetzt werden kann, alles ist in doppelter Anzahl vorhanden, Segel, Raaen und Taue sowohl, als auch kleinere, unbedeutendere Gegenstände, an welche ein Uneingeweihter gar nicht denken würde, wie zum Beispiel Fenster, das heißt Glimmerglasscheiben für die sogenannten Bullaugen, Teller, Messer, Gabeln, Gläser, sämtliches Kücheninventar, aber auch Klinken, Schlüssel und so weiter, und die ›Vesta‹ war in dieser Hinsicht doppelt vorsichtig ausgerüstet worden.

»Hol' an die Backbordbrassen, Ruder hart Backbord,« rief Ellen. »Kap Horn ist umsegelt, die Fahrt geht wieder den wärmeren Gegenden zu. Morgen werden wir schon nicht so zu frieren haben, jede Stunde bringt uns der Wärme näher.«

Gehorsam drehte das Schiff, der Wind schwellte die seitwärts gerichteten Segel, es legte sich stark nach Steuerbord über, dahin, wohin der Wind wehte, oder wie der Seemann sagt, nach der Luvseite, und flog wie ein Seevogel leicht über das mäßig bewegte Wasser.


18. Der Medizinmann.

Unter den sechzehn Schiffen — englischen, amerikanischen, deutschen und französischen Dampfern und Seglern — welche im Hafen von Mgwanna ankerten, befanden sich auch die ›Vesta‹ und der ›Amor‹.

Es war Ellen doch nicht gelungen, so oft es auch den Anschein hatte, für dreißig Tage die ›Vesta‹ den Augen der Engländer zu entziehen. Immer wußte der Kapitän der kleinen Brigg das befreundete Schiff wieder aufzufinden, weder Wind, noch Sturm, noch Finsternis hatten vermocht, ihn von der Spur abzubringen.

Mgwanna ist der größte Hafen des Negerreiches Dahomeh, von den Europäern Mungana genannt.

Dahomeh, ein etwa fünfzigtausend englische Quadratmeilen umfassendes Gebiet, (vier englische oder Seemeilen machen eine deutsche aus) liegt im Norden der Sklavenküste von Oberguinea, nicht weit vom Äquator entfernt, mit der Hauptstadt Abome.

Dahomeh ist wenig gebirgig, aber reich an Wäldern und Feldern. Die Eingeborenen verstehen es, den äußerst fruchtbaren Boden zu bebauen und ziehen hauptsächlich Reis, Durra, eine arabische Getreideart, Zuckerrohr, Indigo, Tabak, Melonen und Jams. Jam ist eine der Kartoffel ähnlich schmeckende, weiße Wurzel.

Ferner gedeihen noch wilde Orangen, Melonen und die Kokospalmen in Unzahl. Die ungeheuren Urwälder wimmeln von Tieren aller Art, nicht nur von Affen, Vögeln, Wildschweinen, Rehen und Hirschen, sondern auch von Panthern und anderen Raubtieren, und in dem östlichen Gebiete kommt der Löwe noch häufig vor.

Wo der Wald durch Steppe unterbrochen wird, findet man zahlreiche Gazellen, Antilopen, Gnus, Zebras und Giraffen, und von der Jagd auf das Rhinozeros, Flußpferd und den Elefanten leben viele Eingeborene. Die Ausfuhr von Elfenbein bildet sogar einen wichtigen Teil des Handels.

Die Dahomehneger haben sich der Religion der Araber, dem Islam und noch mehr dem Christentum gegenüber immer feindlich gezeigt und sind noch dasselbe, was sie vor Jahren waren, Fetischdiener, das heißt, Götzenanbeter. Der mächtigste ihrer zahlreichen Götter ist Priope, welchem Menschenopfer dargebracht werden.

Im Jahre 1858 schaffte König Gheso, ein Herrscher, welcher sein Volk gern der Zivilisation zuführen wollte, was ihm aber nicht gelang, die Menschenopfer ab. Schon bei seinem Tode jedoch ließ sein Sohn Bahadung zur Erhöhung der Begräbnisfeierlichkeiten des Vaters nicht weniger als 8000 Kriegsgefangene hinschlachten, die Engländer machten gewaltige Anstrengungen, dies zu verhindern, aber sie konnten es nicht, und werden die Menschenopfer seitdem auch nicht mehr so öffentlich betrieben, so kommen sie doch noch häufig genug vor.

Die Dahomehneger sind ein großer, kräftiger, kühner und überaus kriegerischer Menschenschlag. Zwar treiben sie Feldbau und fertigen Metallarbeiten, aber mit Freuden vernehmen sie den Kriegsruf im Land. Sie lassen den Hammer und den Pflug liegen und marschieren, mit Bogen, Pfeilen, Lanzen, Wurfspießen, Schwertern und dem fast zwei Meter hohen, mit Büffelhaut überspannten Schild ausgerüstet, unter Führung der Ortshäuptlinge dem Feinde entgegen. Im Kampfe sind sie bemüht, möglichst viele Gefangene zu machen, welche verkauft werden. Dahomeh war früher das Land, welches die meisten Sklaven lieferte, seitdem aber im Jahre 1843 der Sklavenhandel abgeschafft wurde, werden diese nicht mehr öffentlich von den Häfen aus verschickt. Doch finden sich in den Arabern noch immer willige Abnehmer für die lebendige Ware, für das schwarze Ebenholz, denn es gibt eben Länder, deren Bewohner nicht ohne Sklaven leben können, so zum Beispiel der ganze Orient und viele Teile Afrikas und Asiens.

Die Weiber nehmen in Dahomeh eine sehr untergeordnete Stelle ein, sie werden wie die Lasttiere behandelt, wie aber überall Gegensätze gern bestehen, so auch hier. Der König von Dahomeh hält sich stets eine Leibgarde von 5000 Frauen und Mädchen, welche einzig und allein zum Schutze ihres Gebieters da sind und einen Rang einnehmen, wie etwa die Ritter in unseren früheren Zeiten, sie sind immer unter Waffen, ihre einzige Beschäftigung im Frieden ist das Waffenspiel, im Kriege der Kampf, und ihre Kinder, deren Väter die edelsten Dahomehneger sind, werden von der Jugend auf einzig und allein für die Waffen erzogen, das heißt, nur wenn sie nach einer genauen Musterung dafür tauglich befunden werden.

Haben sie aber nur den kleinsten Fehler an sich, oder scheinen sie schwächlichen Körperbaues zu sein, so werden sie aus der Truppe dieser Amazonen entfernt und treten zu der anderen, verachteten Weiberklasse über.

Die kriegerische Erziehung der Kinder dieser Weiber ähnelt fast jener, wie sie im alten Sparta eingeführt war, wo bekanntlich alle Kinder, wenn sie nicht schön und stark gebaut waren, in eine Schlucht geschleudert wurden und wo die gesunden und starken ausschließlich zu Kampf und Waffenspiel erzogen wurden.

Im Jahre 1864 wurde diese Amazonentruppe einmal völlig vernichtet.

Bahadung hatte Abbeokuta, den König des östlich Dahomeh gelegenen Reiches Jorubi, mit Krieg überzogen, aber es war ein unglücklicher Krieg gewesen. Die Angreifer wurden in der Entscheidungsschlacht geschlagen, und als schließlich Bahadung selbst in Gefahr kam, gefangen zu werden, ließ er seine Amazonen schwören, zu siegen oder zu sterben, und die Weiber hielten den Schwur.

Unter ihrer Führerin Yamyhla stürzten sie sich in die dichtesten Reihen der Feinde und hielten nicht eher ein, als bis die letzte von ihnen unter dem Schwerte der Feinde gefallen war. Der König von Dahomeh hatte zwar dadurch seine Leibgarde verloren, wenigstens bis die Kinder herangewachsen waren, um die Waffen der Mütter schwingen zu können, aber der König selbst war befreit worden.

Die Würde der Anführerin ist unter diesen Amazonen erblich, das erstgeborene Mädchen folgt stets der Mutter, wenn nicht ein Fehler überhaupt ihren Tod nötig macht, und nicht lange sollte es dauern, so erfuhren die Vestalinnen endlich von der sonst zurückhaltenden Yamyhla, warum sie, anstatt die wieder vollzählig gewordene Amazonentruppe zu beherrschen, sich auf dem Sklavenmarkte befunden hatte.

Daß der ›Amor‹ und die ›Vesta‹ in Mgwanna zusammentrafen, war natürlich kein Zufall. Hannibal befand sich mit Yamyhla im geheimen Einverständnis, jede Stunde, die es ermöglichte, fand sie beide in eifrigem Gespräche, denn bei dem Racheakt oder zur Ausübung des Gerichtes, welches Yamyhla vorhatte, sollte Hannibal eine wichtige Rolle spielen.

Hannibal war ein Aschantineger aus dem im Westen an Dahomeh angrenzenden Gebiet.

Die Vestalinnen wunderten sich nicht, daß der ›Amor‹ schon vor ihnen in Mgwauna angekommen war. Yamyhla hatte die Damen gebeten, diesen Hafen ihres Heimatlandes anzulaufen, und es war zu erwarten, daß sie auch Hannibal davon benachrichtigte. Dieser hatte es natürlich den englischen Herren erzählt, und der ›Amor‹ war von Lord Harrlington so gesteuert worden, daß er noch eher, als die ›Vesta‹ Mgwanna erreichte, ohne aber dabei das Vollschiff zu verlieren. —

Es war Abend.

Die englischen, amerikanischen, deutschen und französischen Kontors — die Reihenfolge zeigt, in welchen Händen der Handel in Dahomeh liegt — waren geschlossen. Die Angestellten, welche den ganzen Tag mit Arabern und Negerhäuptlingen um Elfenbein, Kokosöl, Tierhäute und so weiter gefeilscht hatten, wobei sie hundert- und aberhundertmal mit der Klugheit des Verstandes dem dummdreisten Betrug der Händler zu begegnen gewußt, eilten in ihre am gesunden Hafen liegenden, aus Steinen ausgeführten Wohnungen, während die Eingeborenen sich mit langsamen, phlegmatischen Schritten, aber mit destomehr bewegter Zunge, das heißt schwatzend, ihre Lagerstätten im Viertel der Neger aufsuchten.

Hier waren die Hütten aus Lehm aufgeführt.

Wer etwas zu verkaufen hatte, der saß vor der Türe und pries dem Vorübergehenden unter Beteuerungen seiner Ehrlichkeit die Waren an, welche draußen ausgebreitet lagen, Eßwaren, Tuch oder einheimische Tauschartikel, und wer von der Hände Arbeit lebte, der hockte zwar ebenfalls vor der Tür seiner Hütte, begnügte sich aber, mit Gelassenheit eine Pfeife zu rauchen und höchstens einmal mit einem seiner Nachbarn ein Wort zu wechseln, ob nach der langen, trockenen Zeit nicht bald wieder ein Regen das Land erfrischen würde.

Natürlich, wie sollte es anders sein! Nur die fremden Eindringlinge waren daran schuld, daß so lange kein Regen mehr gefallen war, denn den Göttern wurde ja nicht mehr geopfert.

Ja, wenn Bahadung die Zügel der Regierung geführt hätte, dann wäre solch eine trockene Zeit nicht eingetreten. Er sorgte dafür, daß immer genügend Menschen geopfert wurden. Dieser König hätte sich nichts daraus gemacht, ob die weißen Fremdlinge die Menschenopfer verboten oder nicht.

Die letzte Hütte des Dorfes, von den übrigen Häusern noch etwas entfernt, zeichnete sich durch ihre Größe und bessere Beschaffenheit von den anderen vorteilhaft aus, sie glich fast der des Manyara, des Ortshäuptlings, aber der in ihr Wohnende konnte sich auch mit dem Häuptlinge an Macht messen, das heißt nur, wenn ihm Mulungu, der Gott, unter welchem alle anderen Götter stehen, gnädig gesinnt war.


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Es war die Hütte des Myanga, des Medizinmannes und Zauberers des Dorfes, ohne dem ein Negerdorf überhaupt nicht existieren kann.

Zu ihm kommt man, wenn unter dem Vieh Seuchen ausbrechen, wenn man von Krankheit geplagt wird, der Neger bittet ihn, daß sein Weib keine Fehlgeburt mache, und er ist sogar dafür verantwortlich, wenn das Getreide nicht gerät, wenn es zu viel regnet, so daß die Felder in Sümpfe verwandelt werden, oder wenn es gar nicht mehr regnet.

Gelingt es ihm, durch Zauberformeln, Beschwörungen und Darbringungen von Opfern das Ohr der Götter sich geneigt zu machen, das heißt, treten die eben aufgezählten Mißstände und andere nicht mehr auf, so steht er bei dem Volke in hoher Gunst, selbst der Häuptling bezeugt ihm seine Ehrfurcht. Sollte es ihm aber nie gelingen, die Seuchen zu vertreiben, Krankheiten zu mildern und den Regen vom Himmel herabzurufen, so könnte es auch passieren, daß er schließlich mit Schimpf und Schande aus dem Dorfe gejagt würde, ja, daß er zur Strafe seiner Ohnmacht sein Leben lassen müßte.

Doch Nghwhalah Ngaraiso — diesen schönen Namen führte der Medizinmann von Mgwana — brauchte eine solche Absetzung nicht zu fürchten. Er war nur dem Namen nach der Zauberer dieses Dorfes, eigentlich war er der von ganz Dahomeh, stand er doch bei dem Könige Mizanga im höchsten Ansehen und beherrschte alle anderen Medizinmänner.

Das kam daher, weil ihm nie eine Zauberkur mißglückte, geschah dies aber doch einmal, so war Ngaraiso unschuldig, ein anderer Zauberer war schuld daran, denn Ngaraiso war schlau, so schlau, wie alle seine Landsleute zusammengenommen. Das Schönste aber war, daß er an seinen Hokuspokus selbst nicht glaubte, sondern, wenn er seine Zauberformeln hermurmelte, innerlich über die Dummheit seiner Genossen lachte, welche meinten, er könne durch Begraben eines Vogels eine Krankheit bannen, durch Fällen eines morschen Baumstammes den bösen Geist aus einer Kuh treiben, und wenn er sich, um den Himmel zum Regen zu nötigen, mit dem Messer in Arme und Beine stechen mußte, so ließ er aus einem kleinen Lederbeutel bereitgehaltenes Blut über die anscheinend gestochenen Stellen fließen, aber er ritzte sich in Wirklichkeit dabei nicht einmal die Haut.

Dennoch wußte Nghwhalah Ngaraiso mehr, als alle anderen Medizinmänner, er schien wirklich im Besitze übernatürlicher Kräfte zu sein, und das kam daher, daß er in früheren Jahren einmal längere Reisen mit einem Afrikaforscher gemacht hatte, welcher an dem aufgeweckten Neger Gefallen fand und ihn über Naturkräfte und die Verwendung derselben aufklärte. Von diesem hatte er auch verschiedene Kunstkniffe gelernt, mit welchen er seine abergläubischen Brüder in Staunen setzte, und welche ihm erlaubten, daß er sich seine Taschen mit Silber, Gold und wertvollen Steinen füllen konnte.

Der Medizinmann von Mgwana war eben das, was man einen aufgeklärten Kopf nennt, wenigstens seinen Landsleuten gegenüber.

Seine Hütte war in zwei Gemächer geteilt — schon dadurch verriet er seinen besser entwickelten Geschmack.

Der erste Raum, in den man trat, sah sonderbar genug aus, so recht, wie die Hütte eines Zauberers aussehen soll, mit irdenen Töpfen und Urnen vollgepfropft, in denen sich die Asche verbrannter Tiere, vielleicht sogar von Menschen, befand, grinsende Totenschädel lagen herum, weiße Stäbchen waren in rätselhafte Arabesken geschlungen, und das Ganze wurde von einer Nachteule und einem uralten, flügellahmen Geier bewacht, welche beide auf je einer Urne hockten und den Eintretenden aus den halbgeöffneten Augen anblinzelten.

Zu diesem Raume hatten diejenigen Eintritt, welche den mächtigen Zauberer um Rat fragen wollten, selbst die mit vollen Händen kommenden Häuptlinge wurden nur hier empfangen und wenn sie auch noch so viel Reis, Durra, Gold, Perlen und Zeug als Geschenk mitbrachten, damit der böse Geist sie nicht mehr mit Rheumatismus plage, oder damit eine ihrer Frauen glücklich gebäre.

Wie es in dem zweiten Raume aussah, das konnte niemand sagen, denn niemand erhielt Zutritt zu ihm, aber so viel war sicher, daß in diesem die eigentliche Zauberkraft von Ngaraiso lag, denn der schon bejahrte, weißköpfige und freundlich, aber schlau blickende Mann hielt sich fast immer darin auf, natürlich, um mit den Göttern Zwiegespräche zu halten.

Die Nacht war angebrochen, Dunkelheit hatte sich auf die Gassen des Negerdorfes herabgesenkt, und die schwatzenden und rauchenden Bewohner hatten sich in die Hütten zurückgezogen, um die Nacht auf ihren weichen, mit Bast überzogenen Kitundas, das heißt Bettstellen, zu verschlafen.

Vor der Hütte des Medizinmannes hielten zwei Gestalten, die eine klein, die andere groß und schlank, und klopften Einlaß bittend an die Tür.

Es mußten zwei reiche Eingeborene sein, welche den Zauberer um Rat fragen wollten, denn sie waren über und über, selbst die Köpfe, in Marikani, das heißt in amerikanischen Wollstoff gehüllt, und von diesem kostete doch der Meter fast einen Dollar.

Der Geier drinnen krächzte heiser auf, die Eule ließ ein knarrendes Schnarchen hören — besser als diese beiden Vögel konnte kein Wachhund anschlagen.

Die Tür öffnete sich auch sofort, und der weißwollige Kopf des alten Zauberers wurde in der Spalte sichtbar.

»Was wollt ihr noch so spät in der Nacht?« fragte er in unfreundlichem Tone. »Ihr stört mich jetzt im Gebet, kommt morgen wieder.«

»Wir haben einen weiten, weiten Weg zurückgelegt, um dich aufzusuchen,« sagte der kleinere der Fremden in den schnalzenden Lauten der Dahomehneger, »gewähre uns eine Stunde, um mit dir zu sprechen.«

»Woher kommt ihr denn? Seit Tagen ist keine Karawane hier eingetroffen.«

»Wir kamen mit keiner Karawane.«

»Wie denn? Habt ihr eine Uganga (Medizin), daß ihr durch die Luft fliegen könnt?« klang es spöttisch zurück.

»Wir kamen mit dem Schiff.«

»Mit einem Schiff? Seit wann fahren denn die Dahomehs auf Schiffen? Doch sprecht und haltet mich nicht auf! Woher kommt ihr?«

»Von da, wo die Sonne aufgeht,« sagte der Kleine, »wir wollen dich, Nghwhala Ngaraiso, fragen, ob du dich noch des Kababo erinnern kannst.«

Die letzten Worte, und ganz besonders der Name, waren in flüsterndem Tone gesprochen, und wunderbar war die Wirkung, welche sie hervorriefen.

Erschrocken war der alte Zauberer zusammengefahren, im nächsten Augenblick aber öffnete er die Tür etwas weiter und flüsterte, noch einen mißtrauischen Blick auf den großen Begleiter werfend:

»Kommt schnell herein, ich bin begierig, von euch Kunde zu vernehmen.«

Die beiden traten in das zuerst erwähnte Gemach, welches von einem Talglicht notdürftig erhellt wurde.

Ngaraiso suchte vergebens die Züge der Besucher und besonders die des Sprechers zu erkennen. Auch die Gesichter der Fremden waren vollständig in dem Tuche verborgen.

»Setzt euch,« sagte Ngaraiso und deutete auf zwei Schemel. »Wer bist du, Fremder, und wer ist dein Begleiter? Habt ihr den Kababu gesehen? Kennt ihr sein Schicksal? Lebt der Unglückliche noch? Ach, daß sich ein Mensch so weit vergehen konnte! Doch sagt, habt ihr den Kababo gesehen? Sprecht ohne Scheu!«

Die beiden vermummten Gestalten waren ruhig stehen geblieben, ohne der Aufforderung, sich zu setzen, Folge geleistet zu haben.

»Nicht hier,« sagte kopfschüttelnd der Kleinere, »führe uns in jenen Raum, dort wollen wir dir sagen, was uns hergeführt hat, und was wir von Kababo über dich erfahren haben.« »Über mich?« wiederholte der Schwarze ganz bestürzt. »So kommt denn!«

Damit öffnete er schnell die Tür und ließ die beiden in das Gemach eintreten, in welches sonst kein anderer Zutritt erhielt.

Aber alle würden sehr enttäuscht gewesen sein, die hier etwas Geheimnisvolles anzutreffen erwartet hätten. Es zeigte sich wieder, daß Ngaraifo ein Fuchs war, der die Gerüchte über diese geheimnisvolle Kammer nur aufrecht erhielt, um in seiner Bequemlichkeit nicht gestört zu werden.

Die Kammer machte den Eindruck eines recht gemütlich eingerichteten Wohnzimmers, sie war mit Teppichen, ja selbst mit Möbeln, ganz nach europäischem Geschmack ausgestattet, und nichts fehlte, was man zur Bequemlichkeit vermißt hätte.

Ngaraiso hatte eben viel mit Europäern verkehrt und herausgefunden, daß die Fremdlinge in ihrer Weise bequem lebten, und da es ihm an Geld nie mangelte, so hatte er sich nach und nach auch die Vorteile der Zivilisation angeeignet.

Nur einige herumstehende Kisten verrieten, daß der Zauberer auch noch andere Gegenstände hier aufbewahrte, so zum Beispiel enthielt ein Schränkchen eine ganze Apotheke, wie sie Afrikareisende bei sich führen.

Jetzt nahmen die beiden Fremden in Lehnstühlen Platz, ohne aber ihre Gesichter zu zeigen.

»Nun sprecht, was habt ihr mir über Kababo zu berichten?« begann wieder der Medizinmann, welcher seine sonst so imposante Ruhe, die er anderen gegenüber zeigte, ganz verloren hatte. Er schien sehr aufgeregt, sogar furchtsam zu sein. Vergebens strengte er sich an, beim Schein der Öllampe die Züge der Fremden zu erkennen.

»Wir haben allerdings Kababo getroffen,« begann der Kleine wieder nach einer kurzen Pause, »es geht ihm gut, und er hat uns versichert, daß er dir nicht zürnt, weil er für dich die Strafe erlitten, welche ihn aus der Heimat vertrieb. Er war dein Freund, ihr habt beide zusammen Blut getrunken, und so bereut er auch nicht, dir den Freundschaftsdienst geleistet zu haben, allerdings einen Dienst, den du mit Undank vergolten hast.«

Der Zauberer war, je weiter der Unbekannte sprach, immer mehr zusammengebrochen.

»Ich sehe,« sagte er endlich in ganz zerknirschtem Tone, »daß dir Kababo alles erzählt hat. Aber wer bist du, daß er dich zum Mitwisser eines Geheimnisses gemacht hat, das mir doch alles, ja, das Leben kosten kann? So sprich doch, spanne mich nicht länger auf die Folter! Wer bist du?«

Langsam enthüllte der Unbekannte seinen Kopf — das Gesicht Hannibals zeigte sich.

Mit einem lauten Aufschrei war der Zauberer in die Kniee gesunken, die Arme weit vorgestreckt, so starrte er den alten Mann wie ein aus der Erde gestiegenes Gespenst mit hervorquellenden Augen an.

»Kababo, du selbst?« stöhnte er.

»Ich bin es,« sagte Lord Harrlingtons Diener ruhig, »doch sei unbesorgt, ich komme nicht, um Vergeltung zu üben! Was du auch getan haben magst, wie schlecht du auch meine Freundschaft vergolten hast, es soll dir alles verziehen sein. Stehe auf, setze dich und gib Antwort auf die Fragen, welche ich an dich richten werde!«

Der Medizinmann richtete sich langsam auf, er schien in dieser kurzen Minute plötzlich um Jahre gealtert zu sein. Sein eben noch so volles, wohlgenährtes Gesicht war eingefallen, und die glänzenden Augen waren erloschen.

Bevor er sich aber setzte, deutete er noch auf Hannibals Begleiter, welcher noch immer dicht verhüllt und bewegungslos dasaß, und sagte:

»Wer aber ist das? Wohl will ich dir Antwort auf alle Fragen geben. Dürfen die Ohren dieses Mannes aber auch das erfahren, was mich unglücklich machen würde?«

»Sie dürfen es,« antwortete Hannibal oder, wie er, früher hieß, Kababo, »sie müssen es sogar hören.«

»Wer ist es?«

»Ein mächtiger Mann, unter dessen Schutz ich stehe. Fürchte nichts, so sicher, wie ich mich in seiner Gegenwart fühle, kannst auch du sein! Sonst würde ich wohl nicht wagen, wieder hierherzukommen.«

Der Medizinmann war beruhigt, er forschte nicht weiter über die Person des Unbekannten.

»Noch eins,« sagte er dann. »Warum stellst du Fragen, welche du doch selbst beantworten kannst?«

»Weil ich die Wahrheit aus deinem Munde bestätigt hören will,« antwortete Hannibal. »Dieser da,« er wies auf den Unbekannten an seiner Seite, »hat mir nicht geglaubt, er zweifelt an meiner Unschuld, wird sie aber glauben, wenn du gestehst.«

»So frage!« sagte Ngaraiso ganz zerknirscht.

»Bin ich es gewesen, welcher den Kriegern Dahomehs, ehe sie in den Entscheidungskampf gegen Abbeukuta zogen, den höllischen Branntwein zu trinken gab, welcher ihre Sinne umnachtete, so daß die sonst so starken Arme die Streitkeule nicht mehr zu heben vermochten, und daß ihre sonst unfehlbaren Pfeile das Ziel nicht erreichten?«

»Nein, du warst es nicht.«

»Wer war es sonst?«

»Es geschah auf Geheiß des feindlichen Anführers.«

»Und wer brachte ihnen heimlich bei Nacht das vermaledeite Getränk?«

»Bestochene Händler von Joriba.«

»Du versuchst die Wahrheit zu umgehen,« sagte Hannibal ernst, »das aber kann mir nichts nützen. Sprich dich offen aus, und sei versichert, daß dir nichts geschieht. Niemand, weder ich, noch dieser mein Begleiter werden dich verraten. Wer war es also, der alles anordnete, um die Krieger zu betäuben?« Der Medizinmann stöhnte tief auf.

»Ich selbst,« flüsterte er dann endlich, das Gesicht in die Hände vergrabend.

Fast schien es, als wäre der Begleiter Hannibals geneigt, sich auf den Mann zu stürzen. Seine rechte Hand fuhr unter das weite Gewand, als suche sie einen Dolch, er duckte sich wie ein Raubtier zusammen, aber er blieb, sich beherrschend, sitzen.

»Warum tatest du das?« forschte Hannibal weiter.

»Ich war vom Gold verblendet.«

»Und warum bezeichnetest du mich als denjenigen, welcher es getan hätte?«

»Weil du Yamyhla liebtest und von ihr wieder geliebt wurdest und ich dich, seitdem dies mir zum Bewußtsein kam, darum haßte.«

»So liebtest du Yamyhla?«

Der Medizinmann nickte.

»Und wurdest du wieder geliebt?«

»Nein,« sagte Ngaraiso dumpf, »wie konnte ich, da sie dich liebte? Es ist nicht wahr, was ich vorhin sagte, daß mich das Gold verblendet hätte. Ich war unglücklich, verzweifelt, eine mir sonst nie bekannte Wut hatte mein Herz erfaßt, als ich erfuhr, daß du von Yamyhla mir vorgezogen wurdest, und dieser Haß war so groß, daß er meine Freundschaft zu dir — einst eine wirkliche, heilige Freundschaft — ganz verdrängte. Aber nicht nur dich haßte ich, auch Yamyhla begann ich zu hassen, und schließlich alles, was mich an den Namen Dahomeh erinnerte. Alles mußte sterben, dieser Gedanke beherrschte mich vollkommen; in meiner Wut war ich blind, und so war ich es, welcher den Kriegern vor dem Kampfe den Branntwein verschaffte und ihn noch mit Äter vermischte, welcher ihre Augen umnachtete. Ach,« fuhr der Medizinmann seufzend fort, sein Gesicht drückte wirklich unsagbare Verzweiflung aus, »wie habe ich es bereut! Aber was nutzte die Reue? Zu spät, zu spät, ich kann es nicht wieder gutmachen!« »Vielleicht doch,« sagte Hannibal freundlich. »Aber sag', Ngaraifo, hatten wir nicht Blut getrunken? Galt dir dieses Zeichen der Freundschaft nichts, ist eine solche Freundschaft nicht weit mächtiger, als die Liebe zu einem Weibe?«

Unter den meisten Stämmen Afrikas herrscht die Sitte, daß zwei Männer, welche sich Freundschaft auf Leben und Tod schwören, sich eine Ader am Oberarm öffnen und gegenseitig das Blut aufsaugen. Wer des anderen Blut getrunken, ist verpflichtet, sich für denselben aufzuopfern, und wirklich hört man oft von solchen Beispielen. Das Bluttrinken ist eine heilige und schöne Sitte.

Der Medizinmann schüttelte traurig den Kopf.

»Ich glaubte schon damals, als ich mit dir Blut trank, nicht an eine Heiligkeit dieser Handlung,« sagte er dumpf, »ich hielt sie für eine abergläubische, törichte Zeremonie, welche man ausrotten sollte, aber ich mußte mir den Anschein geben, als achte auch ich sie. Sie legte mir keine Verpflichtungen auf, der Freund war ein Freund von mir, auch ohne daß ich Blut mit ihm getrunken hatte, und haßte ich ihn, so war dies kein Grund, mich von meiner Rache abzuhalten. Fluch mir,« stöhnte der alte Mann auf und schlug die Hand vors Gesicht, »daß ich so viel mit den weißen Fremdlingen verkehrte und auf ihre Lehren hörte! Ich habe zwar viel von ihnen gelernt, aber ich habe auch das Gift eingesogen. Ich glaubte schon damals, als wir uns kennen lernten, weder an unsere Götter, noch überhaupt an einen Gott; ich lachte über sie, wie der Fremdling, dem ich diente, das Gold ward mein Gott, und meine Gefühle gaben mir die Richtung an, welche ich zu gehen hatte. Jetzt denke ich anders, ich sehe ein, wie sehr ich mich geirrt habe und wie sehr ich frevelte. Aber was nutzt das jetzt. Das Geschehene kann nicht geändert werden.«

»Ich wiederhole dir, du kannst dein Unrecht in etwas wieder gutmachen,« versicherte Hannibal zum zweiten Male. »Nun aber, Ngaraiso, erzähle mir, was unterdes in Dahomeh vorgefallen ist. Ich bin lange Zeit von hier abwesend gewesen. Wer ist jetzt die Anführerin der Leibgarde des Königs?«

»Simbawenni.«

»Wie kommt es, daß die Anführerin nicht mehr den Namen Yamyhla trägt?« fragte Hannibal erstaunt. »Diese Würde ist doch erblich.«

»Die Tochter der Yamyhla, welche du liebtest, gebar ein Zwillingspaar, einen Knaben und ein Mädchen, und wie du weißt, kann hierdurch ein Wechsel in der Herrnschaft eintreten, um es zu ermöglichen, daß, wenn eine Würdigere unter den Weibern existiert, diese Anführerin wird.«

»Ich weiß es,« entgegnete Hannibal, »der Sohn kann sich unter den Amazonen ein Weib wählen, dieses muß, wenn die Anführerin in ihrem zwanzigsten Jahre die Herrschaft über die Weiber antreten soll, sich mit ihr im Kampfe, den der König selbst bestimmt, messen, und die Siegerin wird Anführerin, während die Besiegte sich unwiderruflich aus Dayomeh entfernen muß. Ist dies der Fall gewesen?«

»Allerdings,« bestätigte Ngaraiso, »Simbawenni ist Anführerin geworden.«

»Wie alt war Yamyhla, als sie von Simbawenni besiegt wurde?«

»Noch keine zwanzig Jahre, aber die Mutter der Yamyhla war gestorben, im Kampfe gefallen, und so mußte schon vorher der Streit um die Herrschaft geschlichtet werden.«

»So, so,« brummte Hannibal, »wann war das?«

»Etwa vor zwei Jahren.«

»Was mußten die beiden Mädchen tun?«

»Es galt, den Kopf eines Häuptlings zu holen, mit dem Matamonnbo, der jetzige König von Dayomey, in Krieg lebte. Dieser Häuptling war als ein ausgezeichneter, kriegsgewandter Mann sehr gefürchtet. Simbawenni war es, welche seinen Kopf brachte.«

»So, so,« ließ sich wieder Hannibal vernehmen, »und Yamyhla? Sollte die Enkelin jenes tapferen Geschlechtes diese Aufgabe nicht erfüllt haben? Das wundert mich sehr, daß sie so aus der Art geschlagen sein soll.«

Der Medizinmann wurde wieder unruhig.

»Ich habe dir noch etwas verschwiegen, aber ich kann es dir ja erzählen,« sagte er etwas zögernd, dann aber fuhr er offener fort: »Allerdings brachte Yamyhla auch einen Kopf mit und behauptete, es wäre der des Häuptlings, sie habe ihn im Einzelkampf getötet, als sie aber das Tuch auseinanderfaltete, da lag ein anderer darin, der Kopf eines fremden Mannes, Simbawenni dagegen hatte den richtigen.«

»Wie verhielt sich Yamyhla dabei?«

»Sie schrak zusammen und behauptete dann, sie hätte den Häuptling getötet und ihm den Kopf abgeschlagen, aber Simbawenni schalt sie eine Lügnerin und sagte dasselbe. Sie hatte ja auch den richtigen Kopf mitgebracht, der Häuptling konnte nichts mehr aussagen, bei dem Kampfe im Walde waren keine Zeugen zugegen gewesen, und so lautete der Rechtsspruch des Königs, daß Simbawenni Anführerin der Amazonen würde, vorläufig nur stellvertretende, bis die Zeit gekommen wäre, da Yamyhla zwanzig Jahre alt würde. Diese aber mußte sich in die freiwillige Sklaverei begeben.«

»In die Sklaverei?« fragte Hannibal

»Ja, so war es ausgemacht worden,« entgegnete Ngaraiso, »die Besiegte sollte sich freiwillig von der Siegerin als Sklavin verkaufen lassen, damit sich ihre Wege niemals wieder kreuzten.«

»Was sagte Yamyhla dazu?«

»Sie war außer sich, sie behauptete immer, der Kopf sei ihr gestohlen worden, sie habe den Häuptling besiegt und ihm den Kopf abgeschlagen, aber das half ihr nichts, sie mußte sich dem Rechtsspruch des Königs fügen. Das Recht war auf der Seite Simbawennis.«

»Und was sagst du dazu?«

Ngaraiso zuckte die Achseln.


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»Was soll ich dazu sagen?« meinte er gleichgültig. »Was geht das mich an?«

»Wessen Tochter ist Simbawenni?«

»Die Tochter Mtambus.«

»Was für einen Zunamen führt dieser Mtambu?« forschte Hannibal beharrlich weiter.

Der Medizinmann zögerte mit der Antwort, er wurde sichtlich verlegen.

Hannibal mußte die Frage wiederholen.

»Sein Zuname ist Nghwhalay,« brachte endlich Ngaraiso hervor.

»Wie,« rief Hannibal erstaunt, »so ist Simbawenni aus deinem Geschlecht?«

»Ja,« gestand jetzt der Medizinmann, »sie ist meine Enkelin.«

Eine große Pause entstand. Niemand sprach ein Wort. Hannibal blickte gedankenvoll vor sich hin. Der Medizinmann wußte nicht, wohin er seine Augen richten sollte; unruhig rollten sie hin und her, bald das ernste Gesicht Hannibals streifend, bald scheu die verhüllte Gestalt an dessen Seite musternd, welche bewegungslos dasaß. Sie hatte bis jetzt noch kein Wort gesprochen.

Endlich unterbrach Hannibal die Stille. Seine Stimme klang ernst.

»Ngaraiso,« sagte er leise, »warum sagst du mir nicht die Wahrheit?«'

»Ich habe nur die Wahrheit gesagt,« beeilte sich der Medizinmann zu versichern.

»Sei still! Du verheimlichst uns die Wahrheit! So gewiß, wie du einst, weil dir Yamyhla keine Liebe schenkte, mich, den Begünstigten, und alle Amazonen und Dahomehneger ins Unglück stürzen, vernichten wolltest, so gewiß hast du auch die Rache an Yamyhlas Kindern fortgesetzt, und um zugleich Vorteil dabei zu gewinnen, hast du deine eigene Enkelin zur Anführerin der Amazonen gemacht.«

»Das ist nicht wahr,« seufzte Ngaraiso, aber die Angst, welche sich in seinen Zügen widerspiegelte, verriet, daß Hannibal das Richtige getroffen hatte.

»Leugne nicht, es ist so,« fuhr Hannibal ruhig fort. »Hast du deine Hand selbst im Spiele gehabt, als Yamyhla der Kopf des Besiegten gestohlen wurde?«

»Ich weiß nichts davon.«

»Ngaraiso,« sagte Hannibal ruhig, »gestehe es, und dir soll nichts widerfahren. Die Reue, welche du vorhin an den Tag legen wolltest, scheint nur erheuchelt gewesen zu sein. Wisse aber, daß, wenn du nicht gestehen willst, ich Mittel und Wege finden werde, dich zum Geständnis zu zwingen.«

Da versuchte Ngaraiso hochmütig aufzufahren.

»Was könntest du mir schaden? Du weißt doch recht gut, wie sehr ich bei den Dahomehnegern und besonders beim Könige Mizanza in Ansehen stehe. Es genügte nur ein Wort, und dein Leben wäre verwirkt.«

Aber Ngaraiso war seiner Sache doch nicht so sicher, scheu wich bei diesen Worten sein Auge dem festen Blicke Hannibals aus und streifte furchtsam die stumme, verhüllte Gestalt an dessen Seite.

»Du kannst mich nicht täuschen,« sagte Hannibal kalt, »ich habe Erkundigungen über dich eingezogen und bin anderer Meinung. Überdies stehe ich unter einem Schutze, ebenso wie mein Gefährte hier, unter welchem mir alle Macht deines Königs nichts anhaben könnte. Aber nimm Vernunft an, Ngaraiso,« fuhr Hannibal fort, seiner Stimme einen freundlicheren Klang gebend, »ich weiß sehr wohl, wie sehr du dich jetzt darüber ärgerst, deine Enkelin zur Anführerin der Amazonen gemacht zu haben. Du hofftest, sie würde dich unterstützen, dein Ansehen aufrecht zu erhalten, denn als Beherrscherin der Amazonen ist ihr leicht, dich zum mächtigsten Manne in Dahomeh zu machen, aber du hast dich in ihr getäuscht. Sie glaubt nicht an deine Zaubereien, ebensowenig wie du selbst, aber sie fürchtet dich, weil du um das Geheimnis weißt, durch welches sie Yamyhla gestürzt hat, und statt dich nun beim Könige in Schutz zu nehmen, sucht sie dir bei jeder Gelegenheit zu schaden, und sei versichert, Ngaraiso, sie wird nicht eher ruhen, als bis sie es fertig gebracht hat, dich beim Könige als einen Schwindler anzuschwärzen und zu stürzen.

»Du selbst darfst ihr nicht entgegentreten,« fuhr Hannibal fort, »denn die Preisgabe des Geheimnisses, welches Simbawenni stürzt, kostet deinen eigenen Kopf, und sie gilt beim Könige doch etwas mehr, als du. Deshalb also, Ngaraiso, hassest du jetzt Simbawenni, du bereust, sie zur Anführerin der Amazonen gemacht zu haben und möchtest sie gern wieder entfernt sehen. Ist es nicht so, Ngaraiso? Gestehe es! Vielleicht, daß wir, ich und mein Gefährte hier, dein Schicksal ändern können. Es liegt wenigstens in unserer Macht. Ist es so?«

»Es ist so,« stöhnte der Medizinmann. »Was könntet ihr aber tun? Simbawennis Macht ist unumschränkt, ihr Spruch gilt mehr, als der des Königs.«

»Beantworte noch eine Frage!« sagte Hannibal. »Ist es wahr, daß Simbawenni den Häuptling getötet und ihm den Kopf abgeschlagen hat?«

»Nein,« entgegnete Ngaraiso zögernd, »Yamyhla hat dies getan.«

»Wie kam es, daß Yamybla den Kopf in der Versammlung nicht hatte, sondern einen anderen, Simbawenni dagegen den richtigen?«

»Kurz, ehe Yamyhla aufgefordert wurde, vor dem Könige zu erscheinen, ist ihr das Tuch, worin der Kopf gewickelt war, mit einem anderen vertauscht worden.«

»Und wer hat das getan?«

Der Medizinmann schwieg erst, dann aber sagte er: »Ich habe fast alles gestanden, es hilft mir nichts, noch etwas zu verheimlichen — ich bin doch jetzt auf deine Gnade angewiesen. Ich selbst bin es gewesen, ich habe meiner Enkelin den echten Kopf gebracht, der Yamyhla aber einen anderen untergeschoben. Doch sage jetzt, Kababo,« fuhr er in flehendem Tone fort, »wer ist dieser Mann, der so stumm dasitzt? Sein Schweigen ist mir entsetzlich.«

»Du sollst ihn nachher sehen,« vertröstete Hannibal, »auch ihn wirst du vielleicht kennen. Wann soll Simbawenni öffentlich als Anführerin der Amazonen anerkannt werden?«

»In vierzehn Tagen, beim Wechsel des Mondes.«

»So ist sie also noch nicht die erwählte Anführerin?« sagte Hannibal und atmete sichtlich auf.

»Nein, sie hat zwar oft versucht, schon früher, gleich nachdem Yamyhla verschwand, als Führerin proklamiert zu werden, aber der König konnte ihr nicht nachgeben, so gern er wollte, die Dahomehneger verlangten die Einhaltung der Frist.«

»Gut, so kommen wir noch nicht zu spät.«

»Wozu zu spät?« fragte der Medizinmann gespannt. Er wußte nicht, was Hannibal eigentlich wollte.

»Du wirst es noch von uns erfahren,« entgegnete Hannibal mit Würde und stand auf; man erkannte in ihm jetzt nicht mehr den Diener Lord Harrlingtons. »Halte dich immer zu Hause, wenigstens für die nächsten paar Tage, und wenn du gebraucht wirst, so hoffe ich, daß du uns zu Willen bist, sonst müßten wir dich dazu zwingen.«

»Ich werde dir dienen, so gut ich kann,« versicherte Ngaraiso lebhaft, die Hand aufs Herz legend, »ich wünsche nichts sehnlicher, als meine Enkelin gestürzt zu sehen. Nur,« fügte er ängstlich hinzu, »mußt du mir versprechen, mich selbst zu schützen, denn meine Geständnisse können mir das Leben kosten.«

»Du sollst gesichert sein! Doch noch eine Frage, wie heißt der Sohn der verstorbenen Yamyhla, welcher Simbawenni zur Frau wählte und ihr somit ein Recht gab, sich zur Anführerin der Amazonen aufzuschwingen.«

»Kursuri.«

»Es ist richtig,« sagte Hannibal, somit andeutend, daß er wohl in den Verhältnissen Bescheid wußte und nur ausforschen wollte, ob der Medizinmann die Wahrheit sprach.

»War es Zufall, daß Kursuri für Simbawenni Liebe empfand?«

»Nein,« gestand Ngaraiso aufrichtig; »im Einverständnis mit meiner Enkelin gelang es mir, bei ihm Liebe für das Mädchen zu erwecken.«

»Ich weiß, als Medizinmann verstehst du dich auf Liebestränke und dergleichen mehr. Was für eine Rolle spielt Kursuri am Hofe des Königs?«

»Gar keine.«

Der verhüllte Begleiter Hannibals hatte sich erhoben und wollte mit diesem die Hütte verlassen. Ngaraiso hielt Hannibal am Gewande zurück und rief in flehendem Tone:

»Laß mich nicht in Angst und Zweifel zurück! Wer ist es, der unser Gespräch mit angehört hat. Durfte er es, oder soll er nur als Zeuge gegen mich auftreten?«

Die Person hatte sich dem Medizinmann zugekehrt und löste langsam das Tuch vom Kopfe — Ngaraiso blickte in ein bronzefarbenes Mädchengesicht, aus dem die Augen wie ein paar glühende Kohlen den Neger anfunkelten.

Mit einem Schreckensschrei war Nagaraiso vor der hohen Gestalt bis in die entfernteste Ecke der Hütte zurückgewichen und dort in die Kniee gesunken, die erhobenen Arme, wie abwehrend, ausstreckend.

»Yamyhla,« kam es bebend über seine Lippen — er wagte nicht, die Augen zu erheben.

»Ich bin es,« klang es dumpf aus dem Munde des Mädchens, »doch fürchte dich nicht! Ich bin nicht gekommen, um dich für deine Verbrechen zur Verantwortung zu ziehen. Gern möchte ich zwar den Dolch in dein ruchloses Herz stoßen, aber mein Wort, dich zu schonen, hindert mich daran. Ich werde dich nur gebrauchen, um jene zu vernichten, welche mit List und durch deine Hilfe mir den Platz geraubt hat, der mir gebührt, dann kannst du gehen, wohin du willst, nur hüte dich, daß mir dein verfluchtes Gesicht je wieder unter die Augen kommt.«


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»Ich bin verloren,« hauchte der zitternde Neger.

»Du bist es nicht,« sagte Hannibal, »wie ich dir schon sagte, es steht jetzt in deiner Macht, das Geschehene wieder gutzumachen. Gestehe die Wahrheit, erzähle, wie alles gekommen ist, und ich bürge dafür, daß du dann in Sicherheit gelassen werden sollst. Magst du auch die Bande der Blutsfreundschaft nicht achten, ich halte noch an dem Glauben meiner Väter fest, mir ist sie heilig.«

»Hütet Euch!« flüsterte der Medizinmann, noch immer auf den Knieen liegend. »Simbawenni ist mächtig und listig. Erfährt sie, daß Yamyhla zurückgekehrt ist, so setzt sie alles in Bewegung, um die Gehaßte wieder verschwinden zu lassen.«

»Wir stehen unter mächtigem Schutze,« wollte Hannibal sagen, doch eine Handbewegung Yamyhlas brachte ihn zum Schweigen.

»Wie steht Simbawenni zu dem Könige?« fragte sie den Medizinmann.

»Der König liebt Simbawenni,« entgegnete er, »er hat sie, trotzdem sie verheiratet ist, zu seiner Frau gemacht. Aber nicht er ist der Gebieter, sie beherrscht ihn vollkommen, er gehorcht ihrem Wink.«

»Ich dachte es mir,« antwortete Yamyhla kurz und verließ mit Hannibal die Hütte des Medizinmannes. —

Während diese Unterredung stattfand, enthüllte Ellen im Salon der ›Vesta‹ ihren Freundinnen das Schicksal Yamyhlas, welche an demselben Tage ihrer Befreierin alles erzählt hatte, was wir soeben erfahren haben, mit der Bitte, es auch den anderen Damen mitzuteilen.

Yamyhla hatte im Sinne, an dem Tage, da sie ihr zwanzigstes Jahr erreichte, an welchem zugleich die öffentliche Proklamation der neuen Anführerin der weiblichen Leibgarde des Königs in Dahomeh erfolgte, dieser die Würde streitig zu machen. Sie hatte schon oft in ihrer Jugend erzählen hören, daß Kababo der Geliebte ihrer Großmutter gewesen wäre — unter den afrikanischen Stämmen herrscht kein strenges Ehegesetz, am allerwenigsten unter den Amazonen Dahomehs, welche zwar ebenfalls einen Mann haben, aber im Grunde genommen doch alle dem Könige mit Leib und Seele angehören, der die schönsten unter ihnen zu Weibern wählt — aber es wurde ihr auch gesagt, daß Kababo des Hochverrates überwiesen worden wäre, indem er den Kriegern von Dahomeh vor einem Entscheidungskampfe Branntwein gegeben hätte, infolgedessen nicht nur die Schlacht verloren war, sondern auch die sämtliche Mannschaft aufgerieben wurde und die Weiber ohne Ausnahme in den Tod getrieben worden seien.

Die Anklage wegen Hochverrats war von Ngaraiso ausgegangen, welcher damals zwar noch kein Medizinmann, aber doch schon wegen seiner Kenntnisse geschätzt war. Das über Kababo gefällte Urteil lautete auf Todesstrafe, aber diese sollte nicht durch Erhängen oder auf ähnliche Weise ausgeführt werden, wodurch der Tod sofort eintrat, sondern er sollte so lange gepeitscht werden, bis er ohnmächtig wurde, dann, wenn er erwachte, wieder, u.s.w., bis der Tod ihn endlich von seinen Qualen erlöste.

Kababo beteuerte vergebens seine Unschuld. Es traten Zeugen gegen ihn auf, welche ihn als den bezeichneten, der ihnen den Auftrag gegeben hätte, den Kriegern Branntwein zuzuführen.

Nur einmal wurde an dem Unglücklichen die barbarische Exekution vollzogen. Als man ihn nach einigen Stunden aus seinem Gefängnis herausschleppen wollte, um ihn zum zweiten Male zu peitschen, fand man die wohlbewachte Hütte leer. Kababo war daraus verschwunden, und man sah nie wieder etwas von ihm.

An Bord der ›Vesta‹ traf Kababo oder Hannibal, welcher durch unbekannte Freunde befreit worden war, mit der Dahomeh zusammen, und aus der Ähnlichkeit erkannte er Yamyhla, die Enkelin der Amazone, welche er einst liebte. Als er seinen Namen nannte, wollte die heißblütige Amazone ihm, dem entsprungenen Hochverräter, den Dolch ins Herz stoßen, aber sie vernahm erst seine Verteidigungsrede und gelangte nach und nach zu der Überzeugung, daß Kababo unschuldig war.

Als Hannibal die Geschichte Yamyhlas erfuhr, als er hörte, daß Simbawenni die Rivalin sei, da wurde ihm klar, daß es nicht nur Argwohn sei, was schon lange seine Gedanken beschäftigt hatte.

Ngaraiso und kein anderer war es, der ihn vernichtet hatte, weil er den Geliebten der Yamyhla haßte, und der seine Enkelin Simbawenni an Yamyhlas Stelle, welche er ebenfalls haßte, bringen wollte.

Die Amazone glaubte ihm, und beide beschlossen, gemeinschaftlich nach der Heimat zurückzukehren, womöglich gerade dann, wenn Simbawenni ihre Würde antrat, und sie zu entlarven.

Ngaraiso brauchte man als Zeugen, und dieser war jetzt gewonnen. Der schlaue, aber schwachherzige, nur für seine Ruhe und Bequemlichkeit sorgende Schwarze wagte nicht, zu widersprechen.

Wären sie allein auf sich angewiesen, so hätte die Ausführung des Planes sehr viele Schwierigkeiten geboten, ja, wäre vielleicht gar nicht möglich geworden; durch das Anerbieten der Damen aber, ihnen ihre Kräfte bei dem Unternehmen zu leihen, schienen alle Hemmnisse beseitigt zu werden. Die Vestalinnen betrachteten Yamyhla als eine der ihrigen, und daß sie sich auf ihre Freundinnen verlassen konnte, das hatte sie schon oft genug gesehen.

Dazu kam, daß Ellen auch die Herren hatte auffordern lassen, an einer Expedition ins Innere teilzunehmen, so daß auch diese der ihr Recht suchenden Amazone schützend zur Seite standen.

»In spätestens vierzehn Tagen müssen wir in Abomeh eintreffen,« sagte Ellen im Salon der ›Vesta‹ zu den versammelten Mädchen. »Die Erhebung der Simbawenni zur Anführerin der Amazonen wird durch Festlichkeiten aller Art, durch Waffentänze, Kampfspiele u.s.w. gefeiert, und wir werden diesen hoffentlich beiwohnen können. Zwar müssen wir wahrscheinlich störend eintreten, aber ich hoffe, daß uns der Anblick dieser Schauspiele nicht entgehen wird, nur, daß sie dann zur Ehre einer anderen Person als Simbawenni stattfinden, zu Ehren unserer Yamyhla. Nachdem, was wir bis jetzt erfahren haben, halte ich es nicht für schwer, Yamyhla zu ihrem Rechte zu verhelfen und die Nebenbuhlerin zu entlarven.

»Wie steht diese Simbawenni zu ihren Kampfesgenossinnen?« fragte ein Mädchen.

»Sie soll sich keiner großen Beliebtheit erfreuen. Allen wäre es damals lieber gewesen, wenn Yamyhla den richtigen Kopf gebracht hätte, und alle waren geneigt, deren Worten mehr zu glauben, als denen der Nebenbuhlerin. Aber es fehlte eben an Zeugen. Es wird nur eines energischen Auftretens bedürfen; und sicher werden die Amazonen der wiederkehrenden, rechtmäßigen Führerin zujubeln.«

»Wie weit ist es von hier nach Abomeh?«

»Etwa sieben Tagereisen,« entgegnete Ellen. »Wir können uns nicht anders dahin begeben, als zu Fuß, Wagen, Esel oder Pferd, und soweit wir letztere hier auftreiben können, werden wir sie als Mittel zur Reise wählen. Eine Eisenbahn existiert nicht. Wir werden überhaupt ein noch recht wildes Land antreffen.«

»Können wir auf gute Jagd hoffen?« fragte ein Mädchen.

»Zwischen hier und Abome nicht,« antwortete Ellen, »auch haben wir auf diesem Wege gar nicht viel Zeit, denn wer weiß, was für Hindernisse uns entgegentreten können. Dagegen wimmelt es östlich und nördlich von Abome von Wild, und daher, meine Damen, wollen wir, wenn Yamyhlas Angelegenheit erledigt ist, einen großen Jagdausflug ins Innere des Landes unternehmen. Eine günstigere Jahreszeit dazu, als die jetzige, hätten wir nicht treffen können.«

Unter den Mädchen brach ein allgemeiner Jubel aus, sie wurden plötzlich alle vom Jagdfieber ergriffen.

»Ein Jagdausflug in Afrika ist nicht zu vergleichen mit einem solchen etwa in Amerika,« fuhr Ellen fort, als die Zurufe verstummt waren. »Die Wege sind keine Fahrstraßen, sondern oft kaum gangbar und führen mitten durch Wälder, Dschungeln und Steppen, wir brauchen also Führer, und da wir nirgends hoffen dürfen, auf solche Bequemlichkeiten zu stoßen, wie wir sie zum Beispiel während der Nacht gern haben möchten, so müssen wir alles mit uns führen. Also brauchen wir auch Träger, Gepäckesel und so weiter für unser eigenes Gepäck und ferner für die Waren, mit welchen wir den Häuptlingen, durch deren Gebiet wir ziehen, den üblichen Tribut zahlen.

»Kurz und gut, wir müssen eine vollständige Karawane ausrüsten, wollen wir einen Jagdausflug ins Innere unternehmen. Die Herren des ›Amor‹ kommen ebenfalls mit, und da Mister Davids längere Zeit als Offizier in der Kapkolonie gestanden hat, so weiß er am besten in derartigen Sachen Bescheid und auch mit Negern umzugehen, er wird unter Beihilfe seiner Freunde die Karawane, Träger und so weiter zusammenbringen. Mgwana ist der beste Ort, von wo man aufbrechen kann, denn von hier aus gehen viele Karawanen nach dem Innern ab, und es gibt hier Kontors, welche sich nur mit dem Ausrüsten solcher Karawanen befassen.«


19. Die Ausrüstung der Karawane.

Nicht weit von Mgwana lag eine Faktorei, bestehend aus mehreren großen Warenschuppen, einem großen Kontor und mehreren kleinen Häusern, in denen der Direktor und seine Leute wohnten.

Vor dem Kontor flatterte das Sternenbanner der Vereinigten Staaten, denn die Faktorei gehörte einer amerikanischen Gesellschaft, welche die nach dem Inneren reisenden Karawanen mit amerikanischen Produkten ausrüstete, wofür dann von den Negern Elfenbein und andere wertvolle Erzeugnisse eingehandelt wurden.

Die Araber, denen die Karawanen gehörten — der Handel in ganz Afrika liegt fast nur in den Händen von Arabern — erhandeln gegen bares Geld Wollstoffe, Baumwollenzeug, farbige Perlen, Feuersteingewehre, Pistolen, Äxte, Messer, Pulver, Blei und andere Tauschartikel, welche das Herz eines Negers mit Entzücken erfüllen, und der Araber erhält dafür von ihnen Elfenbein und, wenn er sie unbemerkt verkaufen kann, auch Ebenholz dafür, das heißt Sklaven, Kriegsgefangene der Häuptlinge.

Die Angestellten solcher Faktoreien, welche Karawanen ausrüsten, müssen eine endlose Geduld haben, denn es gibt kein erbärmlicheres Schachervolk, als die Araber.

Wenn man etwa glaubt, ein polnischer Jude kann in der Kunst des Schacherns und Feilschens nicht übertroffen werden, so irrt man sich sehr, denn er ist dem Araber gegenüber ein unschuldiges Kind. Man muß nur sehen, wie so ein ehrwürdiger Scheich mit weißem Bart, weißem Turban und weißer Toga es versteht, die armen Leute zur Verzweiflung zu bringen. Mit unendlichen »Inschallahs«, »beim Barte des Propheten« und anderen Ausrufen schwört er, er kann nicht mehr als soundsoviel für einen Doti, (ein Doti = 4 Meter) Zeug zahlen, sonst wäre er ein ruinierter Mann, ja, es kommt ihm auch gar nicht darauf an, sich auf den Boden zu werfen, zu jammern, zu weinen und sich die Haare auszuraufen, er fängt an, auf den hartherzigen Faringi zu schimpfen, und ist sein Vorrat an Schmähworten erschöpft, so beginnt wieder das Feilschen.

Der Kommis muß dabei immer die kaltblütigstes Ruhe behalten, er darf nicht mehr vom Preise abhandeln lassen, als ihm vom Direktor vorgeschrieben ist, er weiß auch ganz genau, daß der Araber schließlich doch bezahlt, aber zu einem Geschäft, das eine halbe Stunde in Anspruch nimmt, braucht dieser nun eben einmal einen Tag — unter dem tut er es nicht.

Ist das Geschäft endlich in Ordnung, so geht er ans bezahlen, und abermals versucht der Araber zu handeln, Prozente abzuziehen, auf die gemeinste Art und Weise zu betrügen, er wiegt die Ware umständlich und zeigt, daß sie nicht das richtige Gewicht habe, daß er das Fehlende aber selbst gestohlen hat, sagt er natürlich nicht.

Erleichtert atmet die ganze Faktorei auf, wenn der Handel mit dem Araber fertig ist. Der Spektakel dauert aber noch einige Tage fort, denn jetzt beginnt jener die Pagazis (Lastträger) und Kirangozis (Führer) anzuwerben, und da wird dem Araber nicht kalte Ruhe entgegengesetzt, sondern er trifft auf gleiches Redner- und Schauspieltalent. Doch das geht den Kommis nichts an, sie zahlen ihr Geld und tragen die Posten in die Bücher ein.

Eines Tages aber geriet das ganze Kontor in Aufregung; so etwas war noch nie dagewesen, seitdem von Mgwana Karawanen abgingen. Mister Selby, der Direktor und seine Kommis kamen aus dem Erstaunen gar nicht heraus, diesmal waren sie es, welche die Ruhe fast verloren, während die Käufer das Geschäft mit einer Gleichgültigkeit betrieben, als handele es sich um den Ankauf einer Schachtel Spielzeug und nicht um die Ausrüstung einer ganzen Karawane.

Im Kontor erschienen einige Herren in weißen Tropenanzügen, weiße Korkhelme auf den Köpfen, sehr elegant in ihrer Erscheinung, aber mit fast schwarz gebrannten Gesichtern, als wären sie schon zehnmal quer durch Afrika marschiert, und fragten mit der größten Gelassenheit, was die Ausrüstung einer Karawane koste, aus etwa fünfzig Europäern, ebensovielen Reittieren und Trägern nebst allen Waren bestehend, welche man ungefähr für ein Vierteljahr braucht, um überall Tribut bezahlen und Nahrungsmittel im Überfluß kaufen zu können.

Der Kommis starrte erst die Frager verblüfft an, dann überschlug er die Rechnung ungefähr und nannte eine Summe, so groß, daß ein Araber unfehlbar und auf der Stelle vom Schlage gerührt worden wäre.

»All right,« war die kurze Antwort, »in wievielen Tagen kann die Karawane marschfähig dastehen?«

Da aber kam Mister Selby mit gesträubtem Haar hinter seinem Pulte hervorgestürzt und bat die unterhandelnden Herren um Verzeihung, er sähe, er habe es mit keiner Handelskarawane zu tun, sondern mit einem Privatunternehmen, wahrscheinlich mit einer Jagdexpedition. Der immer mit Arabern beschäftigte Kommis habe wie gewöhnlich die doppelte Summe gefordert, aber das Geschäftsprinzip des amerikanischen Hauses dulde es nicht, daß seine Kunden übervorteilt würden, hauptsächlich wenn es Gentlemen wären.

Die Überschlagssumme wurde also um die Hälfte reduziert.

Jetzt begann ein Leben und Treiben auf dem großen, eingehegten Hofe der Faktorei, wie es bisher noch nie zu sehen gewesen, und die Hauptsache war, der Direktor und seine Kommis wähnten im Himmel zu sein und mit Engeln zu handeln, mit solcher Ruhe und sogar Liebenswürdigkeit ging alles von statten. Da gab es kein Schimpfen, kein Schelten, höchstens einmal, daß einer der Herren aus Spaß einem Schwarzen mit der Eselspeitsche, einem sehr probaten Mittel gegen die Widerspenstigkeit und Faulheit der Neger, ein paar Schläge über den Rücken zog, sonst war alles Frohsinn und Heiterkeit.

Das Geschäft ging, wie man sagt, am Schnürchen von statten.

Ohne zu feilschen, wurden die Preise der Stoffe, der Perlen, des Messingdrahtes, der Nägel, Gewehre, Messer, Äxte und so weiter vereinbart, es wurde gemessen, gewogen und aufgestapelt, ohne daß je eine Beschuldigung des Betruges gefallen wäre, und noch war kein Tag vergangen, so lagen schon die Ballen, je sechzig Pfund schwer, gepackt, fix und fertig im Hofe, bereit, auf die Rücken der Träger geschnallt zu werden.

Die Kommis waren ganz außer dem Häuschen, und Direktor Selby lachte innerlich vor Entzücken. Was bar bezahlt werden mußte, bekam er in englischen Goldstücken aufgezählt, ohne Abzug von Prozenten, und für andere größere Summen erhielt er Anweisungen auf die Bank von England. Hier brauchten nicht, wie man in Afrika mit Vorliebe tut, für Anweisungen und Wertpapier fünfzehn, zwanzig, ja sogar fünfundzwanzig Prozent abgezogen zu werden, denn die ausgestellten Schecks waren so gut wie bares Geld, ja, besser als dieses, denn sie machten der amerikanischen Firma Reklame.

Die Herren, deren Namen darunter standen, Lord Harrlington, Lord Hastings, Marquis Chaushilm und so weiter hätten vermocht, ganz Mgwana und noch hundert andere solche Städte mit allem, was darin war, auf Kredit zu kaufen.

Die ganze Bevölkerung von Mgwana befand sich auf den Beinen, stand um die Fenz herum und staunte. Die Schwarzen riefen ununterbrochen ihr ›Hi-leh‹ und die Araber ihren ›Inschallah‹, und die Weißen in allen Sprachen Europas ebenfalls Ausdrücke der Verwunderung.

Wohlverpackt lagen die Stoffe je nach Qualität voneinander getrennt, umher, Merikani (amerikanisches Baumwollenzeug) Kaniki (blauer Stoff) Kitambi und wie sie alle heißen; in oben noch offenen Säcken konnte man die Bubus (schwarze Perlen), die Lunghios (blaue), Lakhios (rosafarbene) und so weiter sehen, ja, es waren sogar Säcke vorhanden, welche nur Sami enthielten, rote Perlen, welche im Innern mit Gold aufgewogen werden. Die Faktorei schien ihren ganzen Vorrat an besten Tauschartikeln hergegeben zu haben, um diese Expedition auszurüsten.

Der liebe Leser muß nämlich wissen, daß man, wenn man sich nur einige Meilen von der Küste ins Innere Afrikas begibt, für Geld absolut nichts bekommt, alle Werte werden nur nach Dotizeug, nach Perlen, nach Halsketten aus solchen (Khete genannt) und nach Stahlwaren, und besonders nach Messingdraht berechnet.

Nichts fehlte, was jede andere Karawane, die auf Elfenbein und Sklavenhandel ausgeht, mitnimmt, wozu diese aber Wochen, ja Monate brauchten, das hatten die Engländer innerhalb eines Tages ausgerichtet.

»Time is money,« — Zeit ist Geld — diesen Wahlspruch hatten die Engländer hier wieder einmal angewandt.

Das Wunderbarste aber war die Gesellschaft, die sich zwischen den aufgestapelten Herrlichkeiten bewegte.

Nicht nur Herren waren es, in leichte, leinene Jagdanzüge gekleidet, sondern auch ebensoviele Damen schienen gewillt, an der Expedition teilzunehmen.

Mit vor Staunen offenem Munde betrachteten die Eingeborenen die jugendlichen, graziösen Gestalten, die so gemütlich plaudernd auf- und abgingen, Arm in Arm, als gälte es einen Spaziergang, und nicht einen Marsch in die fast undurchdringlichen Wälder des Hinterlandes.

Die Damen waren in kurze, enganschließende Reitkleider gehüllt, trugen hohe Gamaschen und gelbe, wasserdichte Stiefel an den Füßen, und wie die Herren Tropenhelme, also Anzüge, die sehr gut auf der Jagd verwendet werden konnten.

Nichts war an ihnen, das nicht gediegen und völlig geeignet zu einer Reise ins Innere gewesen wäre.

Um Schulter und Taille schlang sich je ein Gürtel, der mit Patronen gespickt war, an der Seite hingen das starke, acht Zoll lange Bowiemesser und die Revolver in Etuis, und solche Gewehre, welche man im Lederriemen um die Schulter hängen konnte, waren hier noch nie gesehen worden. Es waren repetierende Winchestergewehre, welche sechzehn Schuß, ohne von neuem laden zu müssen, erlaubten.

Aber zwischen den Ballen lehnte noch ein ganzes Waffenarsenal von Flinten und Büchsen, deren ausgezeichnete Konstruktion verriet, daß sie nicht zur Bewaffnung der Führer und Askaris (Begleitsoldaten) dienen sollten — letztere sollten überhaupt nicht mitgenommen werden — sondern zum Gebrauch der Unternehmer selbst bestimmt waren, leichte Vogelflinten, schwere Jagdbüchsen, ja sogar eine stattliche Anzahl von Elefantenbüchsen, welche Sprengkugeln schießen.

Das Gerücht, daß diese Herrschaften auf eigenen Schiffen angekommen waren, hatte sich schnell verbreitet, daß sie aber die Segel selbst, wie Matrosen, bedient hatten, das wollte niemand glauben; bis sich zeigte, daß diese Leute, Herren, wie Damen doch mehr konnten, als jene Kaufleute, welche nur ihre Diener und Lastträger anzustellen wissen.


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Die Herren hatten in der Faktorei noch ein zusammenlegbares Boot gekauft, um Flüsse übersetzen zu können, nach einer kurzen Beratung waren aber die Holzwände entfernt wurden, so daß nur das Gerippe stehen blieb. Einige im Segelmachen bewanderte Neger waren angestellt worden, für dieses Gerippe einen Segelbezug zusammenzusetzen, welcher, nachdem er mit Teer bestrichen, wasserdicht war.

Eine halbe Stunde sahen die Herren und Damen der Arbeit der Neger zu, als diese aber gar nicht vorwärtsschreiten wollte, schickten sie die Schwarzen fort, nahmen selbst Nadeln und Segelleinwand zur Hand, und ehe eine Stunde verstrichen war, lag der Segelbezug fix und fertig da, und als er über das Gerippe gezogen wurde, paßte er wie angegossen.

Das war geradezu unglaublich. Daß die Männer so geschickt in derartigen Handarbeiten waren, ging schon noch an, aber die Damen!

Der beste Zimmermann hätte nicht so kräftig die Axt schwingen können, wie diese schlanken Gestalten in den kurzen Reitkleidern und in den zierlichen Stiefelchen; wie spielend fügte sich wieder Rippe an Rippe des auseinandergelegten Bootes zusammen, und zauberhaft schnell entstand unter den zarten, aber doch kräftigen Fingerchen der Segelüberzug. Jeder Segelmacher würde von diesen geschickten Arbeitern und Arbeiterinnen an Gewandtheit übertroffen worden sein.

Ein junges Mädchen, fast noch ein Kind, mit schelmischem Lächeln und roten Lippen, so daß die Zähne wie die Perlen einer Kette zwischen ihnen hervorschimmerten, tauchte munter den Pinsel in den Teertopf, und strich dann die Leinwand an, nicht achtend, daß das schwarze klebrige Pech die Händchen beschmutzte. Neben ihr stand eine Dame und zog einer Freundin den Patronengürtel zurecht, eine andere dicht in der Nähe stemmte sich mit der zarten Schulter an einen Zeugballen, aber ihr Körper schien doch nicht so zart gebaut zu sein, wie man ihrer Gestalt nach vermutete, denn der mächtige Ballen wich sofort und nahm den Platz ein, der ihm gebührte. Wieder eine andere rosige Erscheinung hatte sich eben in einem schauderhaften Arabisch mit einem Neger unterhalten, der ihr grinsend, mit breitgezogenem Munde sich fast in die Ohren beißend, Auskunft über die gestellten Fragen gab. Dann rief sie einen vorübergehenden Herrn an:

»Sir Williams« sagte sie, »haben Sie ein paar Zigarren für mich übrig?«

Mit einer graziösen Handbewegung brachte der Angerufene sein Zigarrenetui zum Vorschein und antwortete:

»Nur Importen, Miß Thomson. Rauchen Sie lieber schwer oder leicht? Dann rate ich Ihnen zu dieser auf der linken Seite, sie kostet zwar einen Vierteldollar das Stück, aber Ihnen gebe ich sie gern.«

»Danke,« lachte das junge Mädchen, griff mit der Hand in das Etui und reichte dem entzückten Neger etwa sechs Stück.

»Inschallah!« riefen die Neger, welche dieser Szene zugeschaut hatten, und machten groteske Freudensprünge, »da gehen wir als Pagazi mit, und wenn wir auch nichts dafür bekommen. Die verschenken ja mehr, als uns ein Araber bezahlt. Hi—le!«

Die Leutchen sollten nicht lange zu warten brauchen, so erging an sie der Ruf, wer der Gesellschaft als Pagazi folgen wolle.

Die Nacht machte dem unruhigen Treiben ein Ende. Am folgenden Morgen beim ersten Strahl der goldenen Sonne sollten die Herren und Damen, welche jetzt süß in ihren weichen Kojen schliefen — wer wußte, wann sie wieder einmal ein solches bequemes Lager als Schlafplatz hatten — wieder mit frischen Kräften auf dem Platze sein.

Mister Selby hatte ihnen versprochen, so viele Pferde aufzutreiben, daß alle Europäer beritten würden, ferner Packesel, und dann sollte die Auswahl der Pagazi, welche zugleich die Stelle der Dolmetscher vertreten, und der Waffenträger beginnen. Es war ausgemacht worden, daß je ein Herr und eine Dame einen Neger bekam, welcher ihnen die Flinten und Munition nachtrug, zwar eine kostspielige Art des Reisens, aber auch eine sehr bequeme und sichere. Das repetierende Winchestergewehr führte übrigens jeder bei sich.

Dieser Morgen war gekommen.

Die Herren und Damen erklärten sich mit den vorgeführten Pferden zufrieden. Dieselben wurden nicht etwa gemietet — das ließ eine Reise in Afrika nicht zu — sondern sofort gekauft unter der Bedingung des Rückkaufs, und der Betrag bar bezahlt. Jeder wählte sich das Tier aus, welches ihm gefiel, und da Mister Selby unschöne überhaupt ganz außer acht gelassen hatte, so verlief die Auswahl ohne jeden Anflug von Neid.

Dann kam das Anwerben der Führer an die Reihe.

Viel Auswahl konnte man unter ihnen nicht treffen, denn diejenigen, welche sich unter den übrigen vordrängten und ihre Tugenden anpriesen, wurden sofort von Mister Selby als tauglich bezeichnet und auch gleich in Dienst genommen. Es waren deren sechs.

Der als erster Führer Angenommene war ein riesiger Neger, dessen Schultern sich ein Herkules nicht hätte zu schämen brauchen.

Er maß fast sieben Fuß, besaß den Kopf und Nacken eines Stieres, und der Körper, der mit einem Lendentuch bekleidet war, schien nur aus Knochen und Muskeln zusammengesetzt zu sein.

»Ich empfehle Ihnen diesen Mann als Hauptführer der Expedition,« sagte Mister Selby zu Lord Harrlington, »er kennt den Weg, den Sie einzuschlagen beabsichtigen, ganz genau, jeder Baum und Strauch ist ihm bekannt.«

»Wie heißt er?« fragte Davids.

»Goliath,« antwortete der Riese mit einem selbstgefälligen Grinsen und einer so sonderbaren Aussprache dieses Namens, daß auch die Umstehenden lachen mußten, wodurch unter den Negern ein allgemeiner Jubel ausbrach. Der Mann wußte jedenfalls nicht, was der Name bedeutete, und wie gut er auf ihn paßte.

»Wir haben ihn so umgetauft,« erklärte Mister Selby, »nehmen Sie aber diesen Mann, so sind Sie auch gezwungen, David, seinen unzertrennlichen Begleiter, zu engagieren. Die beiden gehen immer zusammen, und Sie werden ihre Dienste noch schätzen lernen.«

Dabei deutete er auf eine kleine, ja zwerghafte Gestalt mit geradezu wunderbar zierlichen Gliedmaßen. Was ihr aber an Körperkraft abging, das schien seine Gewandtheit zu ersetzen; er besaß die Gelenkigkeit eines Affen, und was noch mehr für ihn sprach, das war der kluge Blick der kleinen, weit auseinanderstehenden Augen.

Goliath und David, die beiden Männer, die sich gegenseitig an Kraft, Gewandheit und Klugheit ergänzten, beide als Führer von vielen Karawanen reich an Erfahrung, wurden für einen hohen Lohn engagiert, und somit war fast die Arbeit der Europäer getan, denn sie besorgten jetzt die Auswahl der übrigen Führer, der Pagazis und der Esel.

Dieses Anmustern wäre, wenn der Unternehmer ein Araber gewesen, sehr langsam von statten gegangen, aber der kluge David brauchte gar keine Andeutung, daß den Herren die Ersparnis an Zeit lieber, als die an Geld wäre — innerhalb einiger Stunden war alles abgemacht, umsomehr, als die Pagazis förmlich ihr Leben daran setzen, um angeworben zu werden.

Der starke Goliath ließ unbarmherzig die aus Rhinozeroshaut geflochtene Peitsche auf die Rücken derjenigen sausen, welche sich zu sehr hervordrängten und mit der Anpreisung ihrer Tugenden und Vorzüge, sowie ihrer Ehrlichkeit und Treue zu viel Geschrei machten.

Bei Anbruch des dritten Tages stand die Karawane fix und fertig zum Abmarsch bereit. Schon begannen Lord Harrlington und Mister Davids, die gewählten Leiter der Expedition, den Zug zu ordnen, soweit es wenigstens die Schwarzen anbetraf, als noch eine Unterbrechung stattfand.

Ein lautes Geschrei, besonders von Kinderstimmen herrührend, veranlaßte alle, die Köpfe zu wenden, und was sie da sahen, war wirklich geeignet, den kindlichen Negern solche Verwunderungs- und Schreckensrufe zu entlocken.

Von der Richtung des Hafens her kam ein Mann gelaufen, bei dessen Anblick selbst die weiße Gesellschaft kaum ein Lachen unterdrücken konnte — nur der Umstand, daß es ein Europäer, also ein empfindsamer Mensch war, ließ sie dieses zurückhalten.

Die Gestalt, welche gerannt kam, war klein und kugelrund, das heißt nämlich, sie war fast ebenso dick, wie sie groß war. Der Besitzer dieses stattlichen Schmierbauches, der ihn aber durchaus nicht an Schnelligkeit hinderte, schien eben den Laden eines Herrenschneiders verlassen zu haben. Er war mit einem nagelneuen Jagdanzug aus gelbem Leder bekleidet, dessen Hosen, die unten zierlich ausgestanzt waren, nur bis an die Kniee gingen, und so die strammen, fleischigen Waden sichtbar ließen, welche durch lederne Gamaschen noch dicker erschienen. An den Füßen trug er hohe Stiefel, etwa wie sie die Jokeis tragen, und da ungeheure silberne Sporen daran befestigt waren, so mußte sein Pferd auch nicht weit sein, wenn man es auch noch nicht sah. Auf dem Kopfe des Mannes saß ein Strohhut mit einer riesigen Krempe.

Soweit hätte diese Gestalt nur die Lachlust der Eingeborenen erregt, daß sie aber auch Schreckensrufe ausstießen, daran war die Bewaffnung schuld, zu deren Anschaffung jedenfalls ein kleiner Büchsenschmied seinen ganzen Warenvorrat hatte hergeben müssen.

Der kleine Kerl trug in der Hand ein Gewehr, welches fast noch einmal so groß war, als er selbst, über der linken Schulter hing eine Vogelflinte, und über der rechten eine schwere Büchse, deren zollweite Bohrung an die alten Donnerbüchsen der Landsknechte erinnerte, welche beim Abschießen erst auf einen Hakenstock gelegt werden mußten. Aber diese drei Schußwaffen genügten dem Manne noch nicht, an jeder Seite des Gürtels staken noch zwei Revolver, also zusammen vier, außerdem auch eine sehr schönes doppelläufige Pistole, deren mit Steinen verzierter Kolben auf einen orientalischen Waffenschmied als Verfertiger schließen ließ; zwischen diesen Schießwaffen, waren überall, wo noch Raum vorhanden, Dolche und Jagdmesser angebracht, und schließlich baumelte noch ein Schwert in metallener Scheide an der Hüfte.

Schießmaterial für diese Anzahl von Waffen war genügend vorhanden. Zwei Patronenriemen kreuzten sich über der Brust und sie waren über und über mit Patronen angefüllt, und in zwei Beuteln, welche von dem Ledergürtel herabhingen, war jedenfalls noch mehr Munition enthalten.

So kriegerisch der kleine Mann aber auch aussah, in seinen Zügen war nichts davon zu merken, dem dicken, roten Gesicht mit den Pausbacken war die Gutmütigkeit seines Besitzers abzulesen, und die blauen, lustig zwinkernden Äugelein schienen die Leutseligkeit selbst.

Der seltsame Mensch, der von einem großen Haufen von Eingeborenen umringt wurde, hatte jetzt das Ende des sich ordnenden Zuges erreicht, sprach dort mit einigen Herren und kam dann in raschem Lauf auf Lord Harrlington zu, welcher eben seinen tänzelnden Rappen neben Ellens Pferd pariert hatte. Beide befanden sich aber in der Mitte des Zuges.

»Was für ein merkwürdiges Wesen ist das?« fragte Ellen, den Ankömmling musternd.

»Es ist der Kriegsgott Mars, der unsere Karawane besichtigen will,« lachte Hope.

Der von allen Seiten Angestaunte hatte Lord Harrlington erreicht, zog ein großes, knallrotes Taschentuch hervor, wischte sich damit das fast ebenso rote Gesicht ab, nahm dann den Hut vom Kopfe, schwenkte ihn graziös einige Male durch die Luft und sagte, vor den Damen eine Verbeugung machend, in tiefem Baß:

»Habe ich die Ehre, mit dem berühmten Lord Harrlington und der noch berühmteren Miß Ellen Petersen zu sprechen?«

Diese Frage war in so affektiertem Tone und mit so theatralischer Gebärde gestellt worden, daß sich mehrere aus der Gesellschaft schnell umwenden mußten, um ihr Lächeln nicht sehen zu lassen, und Hope faßte sich plötzlich an die Nase, ein sicheres Zeichen, daß sie auf dem besten Wege sei, in ein Gelächter auszubrechen.

»Mein Name ist Lord Harrlington, und diese Dame ist Miß Petersen, aber mich berühmt zu nennen, ist doch etwas Übertreibung,« lächelte Harrlington vom Pferde herunter, sich der französischen Sprache bedienend.

»Gott sei Dank,« rief der kleine Mann und vergaß ganz, den Schweiß abzuwischen, der ihm in unaufhaltsamen Strömen von Kinn und Nase tröpfelte, »Gott sei Dank, so komme ich nicht zu spät.«

»Mit wem haben wir das Vergnügen?«

Der Kriegsgott steckte das Taschentuch unter einen Arm — die andere Hand hielt ja die Büchse — schwenkte wieder einige Male den Hut hin und her und machte nach allen Seiten Verbeugungen.

»Adolphe Josèphe Léon Jules Pontence aus Toulon,« stellte er sich vor, »Rentier und Hauptmann der freiwilligen Bürgerwehr derselben Stadt und der benachbarten Dörfer.«


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Krachend stampfte der Kolben des zwei Meter langen Gewehres auf den Boden, Monsieur Pontence aus Toulon stützte sich darauf und blickte siegesgewiß im Kreise umher, den Eindruck seiner Worte beobachtend.

Hatte er erwartet, als Hauptmann der freiwilligen Bürgerwehr überall ehrfurchtsvollen Gesichtern zu begegnen, so hatte er sich allerdings getäuscht, denn selbst die Ernsteren konnten jetzt ein Lächeln nicht verbergen, aber es sei hiermit gesagt, daß Monsieur Pontence ein Südfranzose war und ihm als solchem manches abging, was die meisten Menschen besitzen, er aber dafür eine maßlose Eitelkeit, welche sich von Größenwahn nur wenig unterschied, an den Tag legte.

So hielt er denn auch jetzt das spöttische Lächeln seiner Zuhörer für ein erstauntes, freudiges. »Ja, ja,« fuhr er mit seiner Baßstimme fort, »vielleicht hatten auch Sie schon einmal Gelegenheit, von mir zu hören, denn mein Name wird in den Zeitungen von Toulon viel genannt, besonders nach jedem Preisschießen — Doch, meine Herrschaften, ich will mich nicht brüsten — Erlauben Sie mir, daß ich mich Ihrer Expedition anließe?« »Kommen Sie getrost mit,« erklärte Lord Harrlington.

Monsieur Pontence wurde als Mitglied der Karawane aufgenommen, ebenso sein Esel, welcher auf den schönen Namen Petrarca hörte oder vielmehr nicht hörte, was etwa soviel als die ›Steinmauer‹ bedeutet, und auch sein Negerjunge, von dem poetischen Franzosen Hektor getauft.

Kaum hatte sich Monsieur Pontence in den Zug eingereiht, so drängten sich ihm von beiden Seiten Begleiter auf. Alle waren begierig, mit diesem wunderbaren Manne Bekanntschaft zu schließen, ihn über seine Erlebnisse und über die Abenteuer, die er noch zu erleben hoffte, auszufragen. Daß er natürlich nun zur Zielscheibe des Spottes, überhaupt zum Gegenstande allgemeinen Unsinns diente, merkte der biedere Franzose nicht. Er fühlte sich als eine Person höchster Wichtigkeit.

Wer sich um Monsieur Pontence drängte, wird den lieben Leser wohl nicht interessieren, daß aber unter diesen Hope ebensowenig, wie Hannes fehlten, ist ihm sicher erklärlich, und noch hatte der Zug sich nicht in Bewegung gesetzt, so durchlief es schon die Reihe von hinten nach vorn, daß Hope den Namen Pontence in Nonsense umgewandelt hatte, welches englische Wort auf deutsch ›Unsinn‹ heißt, und mit welchem sie ihn auch immer anredete, ohne daß der des Englischen unkundige Franzose darin eine Beleidigung fand.

Monsieur Nonsense war nun so getauft worden und behielt diesen Namen während der ganzen Reise bei — einen besseren hätte man für ihn auch nicht wählen können.

Zwei Personen gesellten sich dem Zuge noch bei, die eine auf einem Maulesel sitzend, die andere zu Pferde, doch konnte man ihre Gesichter nicht sehen, denn während die übrigen die langen und dichten Sonnenschleier noch im Nacken hängen hatten, trugen sie dieselben bereits vor dem Gesicht.

Plötzlich erschütterte eine donnernde Salve die Luft, aus den fünfzig Gewehren der Träger herrührend, dann noch eine zweite und eine dritte — Lord Harrlington hatte das Zeichen zum Abmarsch gegeben, und dieser mußte unbedingt mit einigen Salven gefeiert werden. Das Salutschießen spielt überhaupt bei den Karawanen eine große Rolle, und nur zu oft kommt es leider vor, daß ein Neger dabei mit seinem scharfgeladenen Gewehr Unglück anrichtet.

Ebenso wie eine Karawane in Afrika nicht ohne Waffen marschieren könnte, ebensowenig darf ihr auch die Fahne fehlen. Sie wird vorausgetragen, ohne sie fühlten sich die Pagazis nicht als Mitglieder der Karawane, sie lockt den ermattet Zurückbleibenden zum rascheren Gehen, sie deutet beim Sinken an, daß Rast gehalten wird, sie flattert im Lager vom Zelte des Führers, und sie führt die Krieger im Kampfe an.

Diese Karawane hatte sogar zwei Fahnen, eine englische und eine amerikanische, und wäre Monsieur Nonsense mit seinem Vorschlage durchgedrungen, auch die französischen Farben voraustragen zu lassen, so wären die Neger noch stolzer geworden, als sie es schon waren.

Den drei Salven folgte ein tausendstimmiges Geheul, die Zurückbleibenden schrieen Abschiedsgrüße, und die abmarschierenden Neger antworteten mit gellendem Geschrei, was ihren Stolz ausdrückte, einer solchen Karawane mit fünfzig Weißen und zwei Fahnen anzugehören. Der frische Morgenwind ließ ihre funkelnagelneuen roten Kopf- und Lendentücher flattern, ihre kräftigen Gestalten mit den schweren Ballen auf dem Nacken richteten sich noch strammer auf, und da sich das überstolze Herz Luft machen mußte, so brüllten sie in den unglaublichsten Tönen.

Auf beiden Seiten des langen Zuges der Träger ritten die Herren und Damen, und da sie, von der allgemeinen Fröhlichkeit angesteckt, mitlachten, so war dies ein Grund für die Neger, noch lauter und höher zu brüllen.

Der vorausschreitende Goliath war sich seiner verantwortlichen Stellung als Führer wohlbewußt, er suchte möglichst seine Freudenausbrüche zurückzuhalten, aber dies hatte nur zur Folge, daß alle angesammelte Freudenwut mit einem Male ausbrach.

Plötzlich stürzte der Riese auf den Fahnenträger zu, riß ihm das Sternenbanner aus der Hand, schwang es hoch in die Luft, blickte stolz links und rechts seine schwarzen Kameraden an und begann ein Lied, dessen Chor die gesamten Neger stets wiederholten.

Um nun dem lieben Leser ein Beispiel zu geben, in welcher Blüte die Dichtkunst unter den Bewohnern Afrikas steht, sei hier das Lied wiedergegeben, welches der Riese Goliath der Karawane vorsang:

Goliath: Hoj! Hoj!
Chorus: Hoj! Hoj!
Goliath: Hoj! Hoj!
Chorus: Hoj! Hoj!
Goliath: Hoj! Hoj!
Chorus: Hoj! Hoj!
Goliath: Wo zieht Ihr hin?
Chorus: Nach Abome.
Goliath: Hai! Hai!
Chorus: Hai! Hai!
Goliath: Wer ist Euer Herr?
Chorus: Die weißen Männer!
Goliath: Und wer noch?
Chorus: Die weißen Frauen.
Goliath: Uf! Uf!
Chorus: Uf! Uf!
Goliath: Hiah! Hiah!
Chorus: Hiah! Hiah!


Nun denke sich der liebe Leser dieses Lied immer in einem einzigen Tone, aus hundert heiseren Kehlen gesungen oder vielmehr gebrüllt, so hat er eine Idee von einem sogenannten Karawanenlied, welches den Afrikareisenden jeden Tag erwartet. Aber er hört es gern, denn so lange es erschallt, sind seine Leute marschfähig und bei guter Laune, er selbst fordert immer zum Singen auf.

Als nach sechs Stunden schnellen Marschierens mitten auf einer prachtvollen, grünen Waldlichtung das Horn des Führers zur Rast blies, erschallte dieser melodische Gesang noch immer, nur klangen die Stimmen etwas heiser, aber an Kraft hatten sie noch nicht das geringste verloren.


20. Der Regenmacher.

Ein schaudervoller Anblick bietet sich dem Reisenden, tritt er aus dem dunklen Urwalde heraus und sieht plötzlich Abome, die Residenzstadt des Königreichs von Dahomeh, vor sich liegen.

Sie wird ringsum von einem Palisadenbau eingeschlossen, der wohl sehr leicht aussieht, aber es nicht ist, denn hinter den leichten Brettern befindet sich noch ein starkes Bollwerk aus Balken und Erde; was aber selbst einem mutigen Manne das Herz mit Grausen erfüllt, das sind die Trophäen, welche überall auf den Palisaden angebracht sind — Menschenschädel, fast auf jedem Pfahl einer. Sie geben nicht nur Zeugnis davon, wie siegreich die Könige von Dahomeh immer gewesen sind, sondern auch, wie schnell in diesem Lande Justiz ausgeübt wird, denn zu diesem Zierrat mußten nicht nur die Köpfe von Feinden, sondern auch die der eigenen Landesbewohner herhalten.

»Kopf ab,« so lautet der Urteilsspruch für selbst kleine Vergehen, und kaum ist das Wort gesprochen, so rollt auch schon das blutende Haupt des Schuldigen in den Sand. Was für eine seltsame Art von Bäumen steht dort auf dem freien Platze? Es sind keine Kokospalmen, und doch haben die dicken Früchte, mit denen die Bäume über und über bedeckt sind, die größte Ähnlichkeit mit Kokosnüssen.

Es sind ebenfalls Totenköpfe; noch an verschiedenen Orten kann der Reisende solche erblicken, an Bäumen hängend, auf Stangen steckend, oder zu Haufen aufgeschichtet, und wäre im Walde dem Sonnenlicht durch das dichte Laubwerk nicht der Zutritt versperrt gewesen, so hätte er schon auf dem Wege, meilenweit von Abome, diese unheimlichen Früchte an den Bäumen hängen sehen können.

Nicht viel anders wird es, wenn man die Stadt oder das Hüttendorf selbst betritt, das heißt, wenn der Reisende durch ein anständiges Geschenk an Zeug, Perlen und Waffen sich die Erlaubnis dazu verschafft.

Auch hier wird der einzige Schmuck durch Totenköpfe gebildet, alle Hüttendächer sind mit ihnen verziert, sie hängen an langen Stangen heraus, umrahmen ein kleines Gemüsebeet vor der Hütte, wie wir es etwa mit Muschelschalen einfassen, und selbst bei den Brunnen findet man sie in großer Anzahl vertreten — Ekel vor dieser seltsamen Art von Schmuck scheinen die Leute gar nicht zu kennen.

Daher gibt es für Abome wohl keinen besseren Namen als Schädelstadt; und wenn dieser Name auch kein geographischer ist, so wird sie doch überall genannt, und dem Reisenden fließt dieser Name unwillkürlich über die Lippen, sobald er an Abome zurückdenkt.

Den wahren Reichtum an Schädeln zeigt Abome aber erst, wenn man den großen Platz betritt, der in der Mitte der Hüttenstadt liegt. Hier kann man den Ausdruck Hütte eigentlich nicht mehr anwenden, denn es gibt hier schon ganz stattliche Häuser, welche diesen Platz einschließen, so das Gebäude des Königs, welches er selbst als seinen Palast bezeichnet, das aber im Grunde genommen nichts weiter als eine niedrige Kaserne ist; ferner das Haus, in dem die Ratsversammlungen abgehalten werden; die Karawanserei, zur Aufnahme von Karawanen und Gästen bestimmt; das Warenlager, das Waffenarsnal, kurz, alle Häuser von Bedeutung und öffentlichen Gebäude. Sie strotzen alle von Schädeln, nicht nur das Dach ist über und über mit ihnen bedeckt, sondern auch die Wände sind wie mit einer Verkleidung von ihnen umgeben, weil es öffentliche Gebäude sind, zu deren Schmuck ganz Dahomeh beitragen muß. Die Schädel, welche die Wohnhütten zieren, muß jeder Hausvater im Kampfe erwerben, je mehr eine Hütte also aufzuweisen hat, desto tapferer ist sein Bewohner, und in umso größerem Ansehen steht er, aber einen gewissen Tribut an Köpfen muß er auch dem Könige und dem Hofe abgeben.

Der Platz ist ringsum mit diesen Zeichen irdischer Vergänglichkeit eingezäunt, und außerdem erhebt sich in seiner Mitte noch eine Pyramide von wohl zwanzig Meter Höhe, ganz aus Schädeln kunstvoll zusammengesetzt. Man kann die Säule, wie einen Turm, schon aus weiter Ferne über den Palisaden sich erheben sehen, aber nur, wenn man von der freien Seite kommt.

Da, wo der Platz von keinem Gebäude umgeben ist, steht ein Haus, welches sich weniger durch die Anzahl der Schädel — wenn diese auch noch groß ist — als vielmehr durch die eigentümliche Ausstaffierung derselben auszeichnet. Man glaubt fast, man stehe vor einem Geschäftshaus, welches Masken verkauft.

Die Schädel sind mit natürlichen oder künstlichen Haaren — letztere aus den Fasern der Kokosnuß hergestellt — bedeckt, haben ferner Schnurrbärte, ja, sogar lange Backenbärte und sind bunt angemalt, aber es sind auch Köpfe darunter, an denen noch Fleisch und Haare sitzen. Ferner gibt es da auch Masken aus Holz und falschen Haaren zusammengesetzt, und diese zeigen ein wahrhaft erschreckendes Aussehen, Fratzen mit solchen Nasen, Augen und grinsenden Mäulern, daß sich die lebhafteste Phantasie ihre Gräßlichkeit nicht ausmalen kann.

Es ist das Medizinhaus, das größte Heiligtum von ganz Dahomeh, und derjenige, dem dieses Haus immer offen steht, hat selbst das Recht, dem König den Eintritt zu ihm zu verwehren. Zu gewissen Zeiten ist der erste Medizinmann von Dahomeh wirklich mächtiger, als der König selbst, das heißt, nur so lange, als es diesem gefällt; denn fügt sich schließlich der Medizinmann nicht seinen Wünschen, benutzt er nicht seine Macht über das abergläubische Volk, um dem König damit zu nutzen, so wird er einfach abgesetzt — ein Grund dazu läßt sich immer finden, und ein anderer Medizinmann wird als erster gewählt.

Nghwhalah Ngaraiso war jetzt der Mganga, der erste Medizinmann von Dahomeh, und war seine Gunst auch bis jetzt beim König noch nicht erschüttert worden, so war die Zeit nicht mehr fern, da er in Ungnade fiel, und daran war nichts anderes schuld, als der blaue Himmel, der seit einem Monat schon von keinem Wölkchen getrübt worden war.

Mit versengender Glut hatte die Sonne Woche nach Woche vom Firmament auf Dahomeh heruntergeblickt, hatte die Flüsse, Bäche und Quellen vertrocknen lassen, das reifende Getreide verdorrte, wenn nicht bald Regen fiel, und unter Menschen und Tieren mußten aus Wassermangel bald Seuchen ausbrechen. Der König hatte fast gar keine Einnahmen mehr, denn die Eingeborenen hatten nichts mehr zu geben, und bei dieser trockenen Jahreszeit wagten die Karawanen nicht, von Mgwana aufzubrechen, und diejenigen, welche von Osten her unterwegs waren, blieben ebenda liegen, wo sie Wasser gefunden hatten, und zwar so lange, bis sich des Himmels segensreiche Schleusen wieder öffneten.

Was Wunder, wenn Mizanza, der jetzige König, da mißmutig gestimmt wurde? Der Zauberer von Abome war den Göttern gegenüber ohnmächtig, er konnte sich so lange in seine Hütte einsperren, wie er wollte, er konnte zum Opfer einen fetten Hammel nach dem anderen schlachten, es fiel kein Regen, und Ngaraiso, dem er verschiedene Male nach Mgwana Boten sandte, damit dieser mächtige Medizinmann den Himmel zum Regen nötige, hatte immer auf die nächste Woche vertröstet.

Was Wunder also, wenn Mizanza dem Ngaraiso den Befehl zukommen ließ, sofort ohne Zögern nach Abome zu kommen und womöglich gleich Regen mitzubringen, denn in zehn Tagen würde die neue Anführerin der Amazonen zu ihrer Würde erhoben; und käme er nicht gleich unter einem Regenschauer an, so sollte er unbedingt bis zu dieser Zeit Regen anschaffen, sonst —

Ngaraiso brauchte die Drohung nicht erst aus dem Munde der beiden schnellfüßigen Boten zu vernehmen, er kannte die Bedeutung dieses 'sonst', sonst war nämlich sein Kopf verloren, dafür würde schon Simbawenni, seine Enkelin und Feindin zugleich, Sorge tragen.

Unverzüglich gab sich Ngaraiso auf den Weg. Innerhalb sechs Tagen hatte er Abome erreicht, aber der Himmel strahlte noch immer in unverändeter Bläue.

Er fand Abome in großer Aufregung.

Auf dem Schädelplatz wurden große Gerüste aufgeschlagen, auf denen der König und sein Gefolge, sowie die eingeladenen Gäste den Festlichkeiten beiwohnen sollten, welche gelegentlich der Erhebung Simbawennis zur Führerin veranstaltet werden sollten, die Eingeborenen setzten vor den Türen ihrer Hütten die Waffen in stand, und schon wurden aus der Umgegend die Schlachttiere zusammengetrieben, während die Weiber Pembe und Busah, das afrikanische Bier, aus Durra und Milch brauten.

Mit Unruhe sah Ngaraiso diese Vorbereitungen treffen. Nur noch drei Tage trennten ihn von dem Feste, und hatte es bis dahin geregnet, so war er einer der Mächtigsten bei diesem Feste, er mußte Simbawenni die Würde zuteilen; waren ihm aber die Götter noch immer ungünstig gesinnt, so konnte sein Kopf von einem der noch leeren Pfähle den Waffenspielen zusehen, und ein anderer bat Gott um Segen für die neue Führerin.

Noch aber war Ngaraiso der erste Medizinmann, noch begrüßten ihn die Einwohner Abomes mit Jubelrufen und brachten ihn in Triumph nach der Medizinhütte, in deren heiligem Inneren er verblieb, bis der König ihn zu sich zu rufen geruhte.

Dieser Befehl ließ auch nicht lange auf sich warten.

In einen weiten Mantel gehüllt verließ Ngaraiso durch eine Hintertür die Zaubererhütte und betrat ebenfalls wieder durch eine Seitentür den Palast des Königs.

Mizanza war ein noch junger Mann, zwar kräftig gebaut, aber seine Züge zeigten nicht den kriegerischen Ausdruck, den man einst in den Gesichtern seiner Vorfahren sehen konnte, sie verrieten mehr Sinnlichkeit und Lust am Wohlleben, was man auch seinem Körper anmerken konnte, denn er zeigte Fettleibigkeit.


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Der König empfing den Zauberer ganz gegen seine Gewohnheit allein, ohne jeden Minister und ohne seine Frauen, nur ein kleiner Diener war bei ihm, welcher dem bequemen Könige die notwendigsten Handreichungen machen mußte.

Er saß in dem kühlen Räume, dessen Wände mit Lehm beworfen waren, auf einem Teppich und ließ sich von dem schwarzen Jungen ab und zu die Pfeife reichen, oder auch einen Becher mit Pembe aus einer danebenstehenden Kruke füllen.

Ngaraiso warf sich mehrere Male zu Boden, kroch schließlich auf Händen und Knieen zu den Füßen des Königs und küßte ehrfurchtsvoll dieselben, dabei den Segen der Götter für ihn erbittend.

Endlich waren die vorgeschriebenen Begrüßungen und die noch hinzuzufügenden Segenswünsche erschöpft, auf einen Wink Mizanzas durfte er sich erheben und vor dem Könige aufrecht stehen bleiben, denn als erster Medizinmann Abomes stand er im Range eines Mangagara, das heißt eines Unterhäuptlings, wäre er ein Diwan, das heißt, ein Ortshäuptling, so hätte er sitzen bleiben dürfen, und als gewöhnlicher Eingeborener hätte er das Haupt gar nicht vom Boden erheben dürfen.

Der König war nicht so ungnädig gesinnt, wie Ngaraiso erwartet hatte, und das machte hauptsächlich das Pembe, ein berauschendes Getränk, von dem der König mehr getrunken hatte, als er vertragen konnte.

Wohlwollend blickte er aber den demütig vor ihm stehenden Zauberer eben auch nicht an.

»So hast du keinen Regen mitgebracht?« fragte er Ngaraiso.

»Die Götter haben mein Gebet nicht erhört,« antwortete dieser, »aber der Regen ist unterwegs.«

»Wie oft hast du mir dies nun schon sagen lassen?«

»Die Götter sagen, nicht eher wird es regnen, als bis Mizanza, der mächtige König von Dahomeh ihn nötig hat.«

»So, habe ich ihn etwa nicht nötig, verschmachtet nicht mein Volk? Das Getreide vertrocknet, die Karawanen bleiben aus, weil die Bäche meines Landes versiegt sind, und das Vieh stirbt aus Mangel an Wasser.«

»Noch ehe die Festlichkeit beginnt, wird es regnen.«

Des Königs Auge leuchtete auf.

»So weißt du das bestimmt?«

»Ganz bestimmt.«

»Gut denn,« antwortete Mizanza finster, »so hast du dir selbst dein Urteil gesprochen. Regnet es, so bleibst du erster Medizinmann, hast du mich abermals belogen, so bleicht bei dem Feste dein Kopf in der Sonne.«

»Es wird regnen,« beharrte der Zauberer auf seiner Behauptung.

»Warum wohnst du eigentlich in Mgwana und nicht in Abome, du Hund?« fragte der König zornig, welcher den Zauberer durchaus nicht als geheiligte Person betrachtete, sondern vielmehr als sein Werkzeug oder etwa als seine Wünschelrute.

»Die Götter wollen es so.«

Dagegen konnte der König nichts machen.

»Wann soll es regnen?«

»Morgen.«

»Und regnet es nicht, so hängt morgen dein Kopf am Pfahl.«

»Wie die Götter wollen.«

»Nein, du Hund,« brauste der König auf, »wie ich will.«

Mizanza schien die Götter nur soweit anzuerkennen, als sie auf Befehl des Zauberers seine Wünsche befriedigten.

Ngaraiso stand demütig da, aber im Innern verwünschte er diesen Mann. Er würde lieber gesehen haben, daß er weniger stolz und dünkelhaft, als vielmehr abergläubisch gewesen sei. Bei dem Vater hatte er leichteres Spiel gehabt.

»Simbawenni sagt, du taugtest nicht mehr zum Medizinmann,« fuhr der König fort.

»Simbawenni haßt mich, und ich weiß nicht warum.«

»Sie sagte, du würdest zu alt, und ich glaube, sie hat recht. Aber sag, Ngaraiso, was für eine Karawane ist das, welche von Mgwana aufgebrochen ist? Sollte sie sich weigern, mir den Tribut zu bezahlen?«

»Sie ist unterwegs, es sind viele, viele mächtige, reiche Männer und Frauen, die, so mächtig sie auch sind, nie sich weigern werden, dem Mächtigsten der Mächtigen den Tribut zu zahlen.«

Der König fühlte sich geschmeichelt.

»Sie sind reich, sagtest du. Sind es viele?«

»Wohl fünfzig Weiße und ebensoviel Pagazis und Esel, deren Rücken voller Geschenke sind, welche sie dir bringen wollen. Du weißt, o Herr, daß ich gut mit den Musungus (Europäern) stehe, und viel habe ich dir bei Ihnen genutzt. So habe ich auch mit diesen gesprochen, und durch mich, o Herr, lassen sie fragen, ob du es ihnen erlaubst, daß sie den in drei Tagen stattfindenden Festlichkeiten beiwohnen.«

»Sie dürfen es,« sagte der König, fügte dann aber eiligst hinzu, »wenn sie mir genügend Geschenke bringen.«

»Das werden sie tun, denn sie sind sehr reich. Sie müssen in ihrer Heimat mächtige Diwans sein, vielleicht sogar Könige. Sie reiten alle wunderschöne Pferde, und sie sind so freigebig, wie nur du sein kannst. Alle Pagazis haben neue Tücher erhalten und sehr gute Gewehre, welche sie nicht abzuliefern brauchen — sie sind ihnen geschenkt.«

Wieder leuchtete des Königs Auge auf, diesmal aber begehrlich.

»So haben sie viele Waffen bei sich?« fragte er.

»Sehr viele.«

»Auch gute?«

»Sehr gute und so wunderbare, wie ich sie noch niemals gesehen habe. Sie können sechzehnmal damit schießen, ohne wieder laden zu müssen.

»Hast du sie selbst gesehen?«

»Ja, ein Musungu schoß auf eine Entfernung von hundert Metern nach einem Brett, und wie das Brett dann geholt wurde, zeigte sich, daß eine Kugel über der anderen eingeschlagen war.«

»Hi — lah,« rief Mizanza verwundert.

Dann versank er in tiefes Nachdenken und beachtete den ruhig dastehenden Zauberer nicht mehr. Seine Gedanken waren mit etwas anderem beschäftigt, und zwar mußte dies etwas sehr Angenehmes sein, denn ein Lächeln überflog ab und zu seine schwarzen Züge.

Endlich blickte er auf und sah Ngaraiso noch vor sich stehen.

»Was willst du noch hier?« herrschte er ihn an. »Doch halt,« rief er dem schon Hinausgehenden zu, »wann willst du den Himmel zum Regen zwingen?«

»Morgen.« »Und wo?«

»Zwei Stunden von hier, am großen Ziwa (See), der noch nicht ausgetrocknet ist.«

»Warum nicht hier?«

»Gott will es.«

»Gut, ich werde mit meinem Gefolge dorthin kommen und du mußt mich begleiten, Ngaraiso,« sagte der König in drohendem Tone, »wage nicht zu entfliehen! Du wirst streng bewacht, und beim ersten Versuch, dich der Regenprobe zu entziehen, fällt dein Kopf.«

Ngaraiso wußte schon längst, daß er streng bewacht wurde. Demütig, wie er gekommen, entfernte er sich wieder, und Mizanza ließ Simbawenni, seine Lieblingsfrau rufen, um sich mit ihr zu beraten — —

In der Nähe von Abome dehnt sich eine mächtige Grassteppe aus, meilenweit im Geviert, und in der Mitte dieses von Wald eingerahmten Platzes liegt ein kleiner See, der aber in Dahomeh, welches nicht reich an Seen ist, der größte ist, so heißt er der große Ziwa, der große See.

Er war das einzige Gewässer, welches noch nie ausgetrocknet war, so lange man sich entsinnen konnte, wahrscheinlich weil er tiefe, unterirdische Quellen besaß.

Von hier versorgten sich die in der Umgegend wohnenden Eingeborenen am Tage mit Wasser, auch die von Abome scheuten den zwei Stunden weiten Weg nicht, denn ohne Wasser konnten sie nicht bestehen, und daß in seinen lauwarmen Fluten während der Nacht unzählige Tiere ihren Durst stillten, das zeigten die Fährten, welche jeden Morgen neu in den Schlamm eingedrückt zu sehen waren.

Noch ehe der König nach dort aufbrach, um der Prozedur, welche Ngaraiso zum Herunterrufen des Regens vom Himmel vornehmen wollte, beizuwohnen, erfuhr er schon durch Boten, daß sich an diesem See eine große Karawane gelagert habe. Aus der Beschreibung merkte er sofort, daß es jene war, welche vor einigen Tagen aus Mgwana aufgebrochen.

Die Musungus, meldeten die Boten, befänden sich auf dem Wege nach Abome, um dort dem Könige ihren Tribut dafür zu bringen, daß sie sein Gebiet durchzogen, an diesem See aber hätten sie Rast gemacht, um während einiger Tage dem Jagdvergnügen obzuliegen.

Mizanza fand dies bestätigt.

An einer Seite des Sees, da, wo er sich am meisten dem Walde nähert, erhoben sich gegen dreißig Zelte, in denen zum Teil die Musungus, zum Teil die Eingeborenen wohnten. Rings um die Zelte waren die Felle der geschossenen Tiere aufgespannt.

Was von eßbarem Wild geschossen war, das briet zwischen den Zelten über den Feuern, an Spießen, die von Schwarzen fortwährend in drehender Bewegung erhalten wurden, damit die verwöhnten Musungus keinen Grund zur Klage hatten.

Mizanza war sehr erfreut, die reiche Karawane hier anzutreffen, denn, daß er bei einer Begegnung mit den Musungus schon jetzt Geschenke erhielt, stand sicher zu erwarten.

Aus dem Zeltlager lösten sich auch schon einige Reiter, Männer und Frauen ab und bewegten sich auf den König zu, welcher eben mit seinem Gefolge und einer kleinen Abteilung von Amazonen, seiner ständigen Begleitung, aus dem Walde heraustrat.

Von den Musungus aber kamen noch zwei Abgesandte an, von denen der eine dem Könige als Gruß eine Menge Perlen, einige Doti besten Wollenstoff und einen prächtigen Dolch brachte und bat, der König solle ja nicht zürnen, daß er in seinem Gebiet auf eine Karawane stoße.

Dies war keine Ausnahme von der Regel, so mußte stets verfahren werden, und so hatten es die Musungus auf den Rat Goliaths und Davids auch nicht unterlassen, Mizanza schon jetzt für sie günstig zu stimmen. Der König prüfte das Gewebe mit eigener Hand, besichtigte die Perlen und gab dies alles geringschätzend seinen Sklaven zum Tragen, den Dolch selbst steckte er sofort in den Gürtel und konnte dabei ein wohlgefälliges Lächeln nicht unterdrücken — vorläufig war er mit den Geschenken zufriedengestellt.

»Sage deinem Herrn,« sprach er zu Goliath, dem Überbringer der Geschenke, »Mizanza ließe danken, und er lade ihn ein, zuzusehen, wie sein Zauberer den Himmel zum Regnen zwänge. Geh — halt,« rief er plötzlich, und Goliath kehrte um, »ist bei deiner Karawane nur ein Herr?«

Goliath war von seinem Herrn gut instruiert worden, denn hätte er gesagt, daß alle 27 Herren und 25 Damen für sich wären, so hätte der König von jedem einzelnen ein Geschenk verlangt.

»Ja, o König,« erwiderte er schnell, »es ist nur ein Herr, die anderen Musungus sind seine Askaris, (Soldaten) aber die Karawane besteht aus zwei Teilen, wie du auch zwei Fahnen dort flattern sehen kannst.«

Auf seinen Wink trat schnell David hervor und überreichte Mizanza ebenfalls ein Geschenk, an Wert ebensogroß, wie das erste, und wie erstaunt war der König, als er erfuhr, daß der Herr dieser Karawane ein Mädchen und die sie begleitenden Frauen ihre Kriegerinnen wären.

Darüber war er so aufgeregt, daß er es seinem Gefolge speziell mitteilte, und hauptsächlich entstand unter den etwa zehn mitgekommenen Amazonen eine große Bewegung. So hatten die Musungus also auch Amazonen.

Auch diese Dame und ihre Kriegerinnen wurden zu der Zauberei eingeladen, und der König begab sich nach dem Platze, welcher von Ngaraiso als der bezeichnet worden war, wo er den Gott zwingen werde, Regen herabzusenden.

»Hi — loh!« rief Ngaraiso erstaunt aus, als er den betreffenden Ort erreicht hatte, und blieb stehen, vor Schrecken anfangs wie erstarrt, »seht hier, der Opferaltar ist schon erbaut.«

Nicht weit vom Ufer des Sees war auf einer großen Fläche alles sonnenverbrannte Gras abgemäht worden und in der Mitte zusammengehäuft, so daß ein Stapel von etwa zwei Meter Höhe entstanden war.

»Du hast es schon vorher getan,« fuhr ihn der König an, in der Meinung, daß der Zauberer ihm etwas vorspiegeln wollte.

»Wahrhaftig nicht,« rief Ngaraiso, »ich habe es nicht getan, es ist ganz sicher, Gott hat sich seinen Altar selbst gebaut.«

Es wurde nicht weiter erörtert, wer den Platz vom Gras gesäubert und dieses zusammengefegt hatte, denn soeben kamen langsam die Musungus angeritten. Es fand eine feierliche Begrüßung statt, wobei die Eingeborenen besonders neugierig die wohlbewaffneten Mädchen musterten und die Weißen wiederum mit der größten Spannung besonders die Amazonen betrachteten, welche sie hier zum ersten Male sahen. Nur schade, daß sie sich nicht zu Pferde befanden und auch nicht im vollen Waffenschmuck, sondern mir mit einem bloßen Schwerte an der Seite und mit Bogen und Pfeil bewaffnet waren.

Es waren alles Gestalten, welche mit Yamyhla Ähnlichkeit hatten, groß, schlank und kräftig, mit denselben feurigen Augen und herausfordernden Blicken.

Als Ellen den Führer Goliath fragte, ob Simbawenni unter ihnen wäre, schüttelte dieser den Kopf. Diese müsse sich auf die in drei Tagen zu ihrer Ehre stattfindenden Feierlichkeiten würdig vorbereiten, sonst aber begleite sie den König immer, teils als seine Lieblingsfrau, teils um über seine Sicherheit zu wachen.

Dem scharfen Auge des Lord Harrlington entging es nicht, wie begehrlich der König die Waffen der Fremdlinge musterte, und der gefragte David teilte mit, daß Mizanza großes Interesse an Waffen hege, wie er, trotzdem er gar nicht darnach aussähe, überhaupt ein vorzüglicher Krieger und Jäger sei, und jetzt wäre sein Interesse an Schießwaffen um so größer, als er beabsichtigte, nächstens einen großen Raubzug nach dem Osten zu unternehmen; er hätte schon vielfach versucht, sich in den Besitz besserer Gewehre zu setzen, aber die Händler wollten sie ihm nicht liefern.

Für die Händler in Afrika bestehen nämlich gewisse Gesetze, und eins davon ist, daß den Negern nur Feuersteingewehre geliefert werden. Sind sie im Besitze anderer, besserer, so haben sie sich diese auf unrechtmäßige Art und Weise angeeignet.

Während sich der König mit Lord Harrlington und Ellen unterhielt und sie nochmals persönlich aufforderte, an den Festlichkeiten teilzunehmen — die Tore Abomes stünden ihnen und ihrer Karawane offen — wobei er nicht unterließ, auf ein außer dem Tribut zu erwartendes Geschenk anzuspielen, wurde von Ngaraiso ein kleines Zelt hergerichtet, in welchem er sich für die vorzunehmende Zauberprozedur umkleidete.

Das Regenmachen findet sich nicht nur in Afrika, sondern auch ebenso in Amerika unter den wilden Stämmen verbreitet und beruht meist darauf, daß auf einem großen, freien Platze ein Feuer angebrannt und in diesem auch ein Tier geopfert wird, die Götter zu ehren, die dabei unter allerhand zeremoniösen Tänzen und Sprüngen um Regen angefleht werden. Es ist ganz merkwürdig, daß hier oft der Gott auch ganz plötzlich Wolken am Himmel entstehen läßt, nicht etwa nach und nach langsam vom Horizont heraufkommend, sondern manchmal sogar direkt über dem Platze, welche dann einen Guß herabschicken. Oft sogar ist dies der Anfang einer längeren Regenperiode. Herrscht die Trockenheit aber nur einige Tage, dann wird der Zweck gewöhnlich nicht erreicht, wohl aber, wenn lange kein Regen gefallen ist.

Diese Erscheinung beruht ebensowenig auf Zauberei, als auf Zufall, sondern auf einem Naturgesetz, welches viele wilde Völker kennen, ohne es erklären zu können. Sehr häufig wird es zum Beispiel auch auf den Pampas von Südamerika von den Gauchos, das heißt von den Pferdehütern angewandt, wenn sie kein Wasser mehr für sich und die Tiere haben, nur daß dort einfach ein großes, möglichst schnell aufflackerndes Feuer angesteckt wird, ohne jede Vornahme irgendwelcher religiösen Zeremonie.

Große Trockenheit wird dadurch hervorgerufen, daß die Sonne alles Wasser von der Erde verdampft hat, fällt nun dieser Wasserdampf in Gestalt von Regen nicht wieder zur Erde, so kommt dies meist daher, weil keine Windströmung da ist, welche den Wasserdampf nach kalten Regionen führt.

Die Luft ist also mit Wasserdampf gesättigt, und damit dieser wieder zu Wasser wird, muß er kalt werden, dazu ist aber wiederum nötig, daß er emporsteigt, denn in den oberen Regionen ist es bekanntlich kälter, als in den unteren. Das Nachobensteigen findet zwar immer statt, weil die warme Luft leichter ist, als die kältere, aber sehr langsam. Zündet man nun ein großes Feuer an, so reißen die Flammen die warme, feuchte Luft nach oben, andere strömt ihr nach, die ganze Atmosphäre kommt in Bewegung, und wenn sich der Wasserdampf oben abgekühlt hat, so ballt er sich zusammen, das heißt, es entsteht eine Wolke und stürzt als Regen wieder herab.

Gewöhnlich ist derselbe von einem heftigen Wind begleitet, der ebenfalls durch das Feuer hervorgerufen wird, welches eben durch seine Hitze das Gleichgewicht der Luft gestört hat.

Die Wilden können sich dies natürlich nicht erklären, sie wissen um die Tatsache, aber sie halten es für eine Gunst der Götter, wenn wirklich Regen fällt. Die Prozedur gelingt ihnen nicht immer, weil sie dieselbe oft vornehmen, wenn in der Luft gar kein Wasserdampf vorhanden ist.

Wie schon gesagt, Ngaraiso war ein aufgeklärter Mann und war von seinem früheren Herrn über derartige Naturerscheinungen belehrt worden. Bis jetzt hatte er die Zeit für noch nicht geeignet gehalten, die Wunderkur zu versuchen, jetzt aber war der Augenblick da, mußte da sein. Schon einmal war ihm eine großartige List geglückt, und diesmal hatte er erst Rücksprache mit den englischen Herren genommen, und diese hatten ihm Hilfsmittel gegeben, wie er sie noch nie gehabt hatte.

Von kunstgerechten Händen war der fette Hammel zerlegt, und nach vorheriger Anweisung von Ngaraiso ohne weiteres auf den Heuhaufen gelegt worden. Man hielt diesmal den Zauberer für verrückt, daß er ein paar brennenden Heuhalmen zutraute, das Opfer zu verzehren und somit die Gnade der Götter herbeizurufen, oder aber, er mußte seiner Sache sehr sicher sein.

Der König, sein Gefolge und die Musungus waren schon lange nicht mehr allein auf dem Platze, das ganze Zeltlager war verlassen worden, alle Eingeborenen bis auf die Wache scharten sich um den Opferaltar, und Scharen auf Scharen von Negern kamen aus den Wäldern heraus, denn schnell hatte sich das Gerücht verbreitet, daß Ngaraiso Regen machen wollte, und dieses Schauspiel durfte sich niemand entgehen lassen.

Die Männer lehnten sich auf ihre Spieße, die Frauen, nur von den Hüften bis zu den Knieen mit Röcken bekleidet, hielten mit einer Hand die großen Kinder fest und mit der anderen den auf der Schulter sitzenden Säugling; alle harrten der kommenden Dinge. Etwas gab es sicherlich zu sehen, entweder antwortete der Gott mit Regen, oder jene Amazonen dort schlugen dem Ngaraiso den pfeffergrauen Wollkopf ab.

Die schwatzende Menge verstummte plötzlich ehrfurchtsvoll; aus dem neben dem Heuhaufen stehenden Zelte kam eine sonderbare Gestalt heraus, der verkleidete Zauberer.

Er war in das Fell einer blauen Antilope gehüllt, welches nachschleppte. Zusammengehalten wurde es durch einen breiten Silbergürtel, welcher so in der Sonne glänzte, daß die Augen der Zuschauer fast geblendet wurden. In der Hand hielt er eine Art Holzkeule, mit sonderbaren Zeichen über und über bedeckt. Schauderhaft aber sah das Gesicht dieser Gestalt aus.

Es war eine wahre Teufelsfratze, die sich Ngaraiso vorgebunden hatte, ein riesengroßes Maul mit fletschenden Zähnen, langem Bart, und oben saßen die Hörner der Antilope.

Unter hüpfenden Sprüngen näherte sich der Medizinmann dem Opferhaufen, bald vorwärts, bald rückwärts springend, die Keule schwingend, und seinen Körper dabei verdrehend. Als er den Heuhaufen erreichte, begann er sich in schnellerem Tempo um denselben herumzubewegen, dazu einen monotonen Gesang ausstoßend, und sobald er den Platz erreicht hatte, von wo er den Rundtanz begann, warf er sich auf den Boden und verbarg das Gesicht auf der Erde — er betete.

Immer schneller wurden dann seine Bewegungen, er ging nicht mehr, er rannte, jagte um den Haufen, er warf sich mit Gewalt auf sein Antlitz, sein Gesang glich einem heiseren Gebrüll, und seine Fußspuren waren mit Schweißtropfen bedeckt.

Atemlos standen die Neger da und beobachteten sein Treiben. Sie hatten schon manchmal solchen Prozeduren beigewohnt, aber da war der Opferstoß, gewöhnlich ein Scheiterhaufen aus vielem trockenen Holz, schon vorher von dem Zauberer angebrannt worden, und er tanzte während des Brandes um ihn herum. Hier schien es fast, als ob der Zauberer wartete, bis daß der Gott selbst den Haufen anstecken und sich sein Opfer braten würde.

Dieses schnelle Springen des schweißbedeckten Zauberers, das monotone Geheul jedes einzelnen, hatte etwas Bannendes für die Zuschauer. Niemand wagte, ein Wort zu sprechen. Alle hielten die Augen starr auf den Zauberer und den Heuhaufen geheftet.

Da plötzlich gellte ein tausendstimmiger Schrei durch die Luft; wer dem Opferhaufen am nächsten stand, wich erst scheu zurück, drängte dann mit aller Gewalt vorwärts, warf noch einen Blick auf das Wunder und warf sich schließlich ebenfalls zu Boden, um den schrecklichen Gott nicht in eigener Gestalt sehen zu müssen.

Noch war der Himmel völlig blau, da rollte plötzlich ein furchtbarer Donner durch die Luft, man wußte nicht, woher er kam, das Getöse schien eher in dem Heu vor ihnen zu entstehen, und da zuckte auch schon ein langer Feuerstrahl aus dem Haufen zum Himmel empor, und mit einem Male stand er in Flammen.

Der Gott selbst hatte den Feuerherd angezündet, um sich sein Opfer zu schmoren.

Selbst der König war von maßlosem Schrecken befallen worden, als der kleine Heuhaufen plötzlich in himmelhohen Flammen stand. Wie war es möglich, daß so wenig Gras diese mächtigen Flammen werfen konnte; es hätte ja schon nach wenigen Sekunden verbrannt sein müssen, und doch wuchsen seine Flammen immer höher an.

Auch der Zauberer war den heißen Flammen entwichen, hatte sich auf den Boden geworfen und stach sich fortwährend mit einem Messer in Arme und Beine, so daß das Blut hervorrann.

Die Musungus hatten ihre Kaltblütigkeit beibehalten, sie beobachteten aufmerksam den Himmel — das war ihnen interessanter, als das Gebahren des Zauberers.

Über dem Feuer bildete sich ein weißer Nebel, der sich nach und nach verdickte, immer dunkler wurde und immer höher stieg, bis er gleich einer Wolke über dem Platze hing. Dann sauste plötzlich ein Windstoß über die Fläche, und schon begannen sich am Horizont schwere, finstere Wolken zu zeigen, die mit fabelhafter Schnelligkeit aufzogen.

Ein Blitz, ein Donner, diesmal aber vom Himmel herabkommend, kündete das Gewitter an, und da wurden auch schon die Schleusen des Himmels geöffnet — ein heftiger Platzregen prasselte auf die Köpfe der Menge herab.

Lachend und schreiend flüchteten sich die Herren und Damen nach ihren wasserdichten Zelten, der Zauberer konnte sich nicht mehr in das seinige zurückziehen, denn die Opferflammen hatten es ergriffen und mit allem darin Befindlichen verzehrt, aber er wäre auch gar nicht dazu gekommen.


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Kaum hatte er die Keule aus der Hand gelegt und sich der Maske hinter einem Busche entledigt, so war er wieder ein gewöhnlicher Mensch, und triumphierend und jubelnd hoben ihn die Neger auf die Schultern und trugen ihn im strömenden Regengusse nach Abome zurück.

»Ngaraiso steht jetzt mächtiger da, als der König selbst,« sagte John Davids in dem größten Zelte zu denjenigen, welche unter der Leinwand Schutz gegen den Regen gefunden hatten, »Mizanza würde jetzt vergeblich versuchen, auf Bitte der Simbawenni den Zauberer zu vernichten. Er hat das Volk für sich, und dieses hat doch die eigentliche Macht. Die Dahomehneger sind ein sehr selbständiges Volk.«

»Ich glaube, es hätte gar nicht zu regnen brauchen,« meinte Ellen, »schon das Selbstanzünden des Opferhaufens und das anhaltende und hohe Brennen des wenigen Heues machte ja die Leute ganz unsinnig vor Schrecken. Sie sahen daraus schon, daß Ngaraiso mit höheren Kräften ausgerüstet ist oder mit seinem Gott in näherem Umgange steht.«

»Dieser Ngaraiso ist doch eigentlich ein Fuchs,« lachte ein anderes Mädchen, »er führt seine Landsleute schön an der Nase herum.«

Hannibal hatte erfahren, daß sein ehemaliger Freund Ngaraiso, der ihn schnöde ins Unglück gestürzt hatte, in Gefahr war, wenn er nicht Regen herbeischaffe, und da der Zauberer zu dem Unternehmen, welches Hannibals Herr vorhatte, unbedingt gebraucht wurde, so sprach er mit Lord Harrlington darüber, und dieser sagte seine Unterstützung zu.

Während nun Ngaraiso sich nach Abome begab, richteten die Herren heimlich bei Nacht den Heuhaufen her, den sie ordentlich mit Petroleum tränkten und in den kurz vor der Ankunft des Königs eine Rakete mit glimmender Zündschnur und ein sogenannter Kanonenschlag gesteckt wurden.

Erstere erzeugte den Blitz, letzterer den Donner, und zugleich wurde das Heu in Flammen gesetzt. Das mächtige Feuer führte dann wirklich Regen herbei. Noch zwei Tage wollte die Gesellschaft liegen bleiben und dann nach Abome aufbrechen, der König hatte sie ja noch besonders dazu aufgefordert. Daß der Regen anhalte, stand nicht zu erwarten, aber er lieferte doch genügende Wassermengen, um die Quellen wieder in Tätigkeit zu setzen, welche die Bäche und Flüsse speisten.

Während in Abome Vorbereitungen getroffen wurden, um die Erhebung Simbawennis mit möglichstem Pomp zu feiern, berieten sich die Herren und Damen, wie man dies verhindern, wie man die unrechtmäßige Anführerin, die sich zur Erlangung dieser Würde unerlaubter Mittel bedient hatte, wieder stürzen könne, ohne den König dadurch zu beleidigen.

Auf Yamyhla war dabei nicht zu zählen. Das mutige Mädchen mit dem heißen Blute wollte direkt vor die Nebenbuhlerin treten und ihr die verübte Schurkerei ins Gesicht schleudern; aber es gelang endlich den Damen mit vieler Mühe, sie davon abzubringen.

Es galt ja nicht allein, die Anführerin der Amazonen, sondern auch die Lieblingsfrau des Königs zu stürzen.


21. Chaushilms Liebesabenteuer.

»Wo zieht Ihr hin? Auf die Jagd! Uf! Uf! Uf! Uf!«

Dieses Lied sangen nicht etwa die Neger der Karawane, sondern ein weißes Kleeblatt, bestehend aus Sir Williams, Sir Hendricks und Marquis Chaushilm.

»Gewehr über — marsch,« kommandierte Williams, und die drei Männer verließen im Gänsemarsch das Lager, während gleichzeitig aus der anderen Seite drei Damen in Jagdausrüstung aus dem Zelte traten und dem Walde zuschritten.

Diese letzte Truppe setzte sich zusammen aus Miß Thomson, Miß Murray und Miß Nikkerson.

Am Abend zuvor hatten sich nämlich diese sechs Leutchen gegenseitig vorgeworfen, daß sie in dieser Gegend doch gar kein Wild schössen, obgleich immer genug davon zu sehen war. Die in der Nähe der Stadt Nbome lebenden Antilopen, auch die Waldtiere, waren aber schon sehr scheu geworden, und so kam es, daß man selten einmal eins zum Schuß bekam. Doch die Damen, welche bis jetzt nur wenig auf die Jagd gegangen waren, die Herren dagegen immer, warfen diesen vor, sie könnten bloß nicht schießen, und so war von ihnen ausgemacht worden, der morgende Tag sollte einmal entscheiden, wer von ihnen die besseren Jäger seien, die Damen oder die Herren.

Am Nachmittage des letzten Rasttages sollte die Wette zum Austrag werden. Es wurde ausgemacht, daß die beiden Gruppen gleichzeitig aufbrächen, bei Sonnenuntergang wieder im Lager wären und als Jagdterrain den zwischen den Zelten und Abome liegenden Wald benutzten, ohne sich dabei gegenseitig ins Gehege zu kommen. Wessen Truppe die meiste Jagdbeute mitbrächte, würde als Sieger anerkannt, und zwar sollte ein Unparteiischer den Wert der geschossenen Tiere taxieren, denn es ist natürlich leichter, zehn Wildtauben zu schießen, als eine Antilope.

Vor dem Abmarsch aus den Zelten stimmte der immer fidele Charles zur unendlichen Freude der Eingeborenen den Negergesang an, seine Freunde sangen den Chorus, und noch lange konnte man die fröhlichen Stimmen vernehmen, als sich schon die grünen Zweige der Büsche hinter den Abziehenden geschlossen hatten.

Der Regen hatte bald wieder aufgehört, die Sonne hatte das nasse Gras getrocknet und schien nun wieder warm herab — ein herrlicher Tag zu einer Jagdpartie.

Monsieur Pontence konnte es ebenfalls nicht mehr in seinem kleine Zelte aushalten, er mußte wieder mit seinen drei Büchsen hinaus in den grünen Wald. Hatte dieser Nimrod auch bis jetzt nur eine wilde Ente und ein Kaninchen geschossen, so war die Jagdlust bei ihm doch noch nicht geschwunden.

»Monsieur Nonsense, nehmen Sie mich mit?« hörte er hinter sich eine helle Stimme fragen, und sich umsehend erblickte er Hope Staunton, das Mädchen, welches sich möglichst viel bei dem komischen Männchen aufhielt, und mit dem er schon eine Art von Freundschaft geschlossen hatte.

»Soll mir angenehm sein,« antwortete der höfliche Franzose und duldete, daß außer Hope auch noch Hannes ihm auf seinem Jagdausflug Gesellschaft leistete.

Während sie dem Walde zuschritten, erzählte ihnen der gewaltige Jäger vor dem Herrn, wie er in seiner Heimat einmal einen Rehbock geschossen hatte, der sich aber dann als ein zahmes Reh herausstellte, für welches er fünfzig Franken Schadenersatz zahlen mußte. Letzteres erwähnte er aber nur so nebenbei, hauptsächlich betonte er, daß es ein Kernschuß gewesen sei, der das Tier sofort zur Strecke gebracht habe.

Die drei zuerst erwähnten Herren hatten unterdes ein Revier erreicht, welches, wie häufige Spuren verrieten, eine Jagd versprach.

»Wir müssen uns hier trennen,« sagte Charles und blieb stehen, »denn es hätte keinen Zweck, wenn wir alle beisammenblieben. Sie finden sich doch nach dem Lager zurück, und außerdem können wir ja durch Schüsse immer wieder melden, wo wir uns befinden. Ich gehe hier geradeaus, Sie, Chaushilm, wenden sich zur linken Hand, und Sie, Hendricks, nehmen die Pürsche von rechts auf. Wünsche Ihnen viel Glück, meine Herren! Also seien Sie bei Sonnenuntergang im Lager, und bringen Sie möglichst viel Beute mit. Adieu!«

Charles wollte gehen, wurde aber von Hendricks am Arme zurückgehalten.

»Halt, halt,« sagte er dabei, »so schnell geht das nicht. Sie denken wohl, Sie können den mitgenommenen Maiskuchen und das Fleisch allein aufessen? Nein, die Fourage muß erst geteilt werden, sonst bleibe ich bei Ihnen.«

»Ach so, ich habe ja den Proviant in meiner Jagdtasche stecken,« lächelte Charles. »Herrgott!« fügte er dann erschrocken hinzu, »und dort läuft Chaushilm mit der Whiskyflasche weg, der Spitzbube will sie allein austrinken. Chaushilm, heh, Chaushilm!«

Der Marquis schien das Rufen nicht hören zu wollen, er ging ruhig weiter, aber die beiden rannten ihm nach und nötigten ihn, stehen zu bleiben.

»Das Essen können wir uns wohl teilen,« meinte Chaushilm, »aber, wie wir es mit dem Whisky machen wollen, weiß ich nicht, die Flasche gebe ich auf keinen Fall her, warum haben Sie sich nicht ebenfalls mit welchen versehen?«

»Oho, Sie können doch nicht den ganzen Whisky allein trinken?« rief Hendricks.

»Wohin wollen Sie ihn denn gießen? In die Stiefeln vielleicht?«

»Wir müssen umkehren und uns Flaschen holen.«

»Unsinn,« rief Charles, welcher wohl wußte, daß das alles nur Spaß war, »wir werden doch dieses Whiskys wegen nicht wieder ins Lager zurückkehren! Ich schlage vor, wir setzen uns hier und verzehren die mitgenommenen Vorräte gleich, dann hat aller Streit ein Ende.«

»Und wir brauchen sie nicht zu tragen,« fügte Hendricks hinzu.

»Einverstanden!« rief Chaushilm und warf sich ins Gras. »Wenn wir dann schneller schießen, holen wir die Versäumnis wieder ein.«

Die drei ließen es sich vortrefflich schmecken; der frischgebackene Maiskuchen mit dem Wildbret mundete köstlich, und die Lederflasche machte unter heiteren Gesprächen und Witzen die Runde.

Da fielen nicht weit von ihnen zwei Schüsse, dann noch einer, und die Herren horchten auf.

»Die Damen sind schon beim Jagen,« rief Hendricks kläglich, »und wir essen bereits den Braten, den wir erst schießen sollten. Die Wette werden wir wohl verlieren und beim Heimkommen Spott und Schande ernten.«

In diesem Augenblicke knallte Chaushilms Winchesterbüchse, und von einem Baume in der Nähe fiel ein Eichhörnchen herab.

»Nummer eins,« sagte er und steckte das Tierchen in die Jagdtasche. »Auf, meine Herren, die Jagd hat begonnen. Ich habe eine Ahnung, daß ich heute furchtbares Glück habe. Passen Sie auf, ich schieße heute alles kurz und klein, was mir vor die Mündung kommt.«

Die Herren erhoben sich und schlugen die Richtungen ein, die Charles angegeben hatte. Bald verloren sie sich aus den Augen, und nur ein ab und zu fallender Schuß verriet, daß sie auch Jagdbares fanden, aber so lange sie sich nahe beieinander befanden, war natürlich an ein Anpürschen größeren Wildes nicht zu denken.

Doch die Knalle wurden immer schwächer, und schließlich vernahm der langsam zwischen den Bäumen und Büschen umherstreifende Chaushilm nichts mehr, als das Summen der Insekten, das Rascheln der Eidechsen im trockenen Laube, und ab und zu das Zwitschern und Zirpen eines Vogels in den Ästen. Im übrigen herrschte Stille, denn die Tiere des Waldes hielten ihre Mittagsruhe.

Marquis Chaushilm war kein besonderer Bewunderer von Naturschönheiten, aber dieser afrikanische Urwald in seiner Mächtigkeit und Ruhe machte doch Eindruck auf ihn und veranlaßte ihn fast, den eigenen Fuß vorsichtig aufzusetzen, um den Frieden der Natur nicht zu stören.

Der Wald war nicht so undurchdringlich, wie man dies sonst bei afrikanischen Urwäldern zu finden gewöhnt ist. Er bestand meistens aus Baobabs, jenen Riesenbäumen, welche unsere Eichen an Stammesdicke und an Blätterreichtum noch übertreffen, ferner aus Akazien und Mangobäumen. Das Unterholz war niedrig und spärlich, Schlingpflanzen fehlten ganz, so daß man wie in einem Parke einen weiten Blick durch die Stämme hatte.

Dies wäre zwar recht gut gewesen, wenn der Wald von Tieren gewimmelt hätte, aber so zeigte er durch den offenen Ausblick nur, daß eine Jagd wenig Erfolg versprach. Die Rehe, Antilopen und Gazellen waren hier schon zu viel gejagt worden und zogen sich beim Nahen eines Menschen sofort zurück.

Dem Marquis war es auch absolut gleichgültig, ob er etwas schoß oder nicht, er machte sich durchaus nichts daraus, wenn er mit leeren Händen zurückkam, überdies ist das Jagdglück ja sehr launisch, wenigstens das Auffinden von Wild betreffend, und so konnte er in den langen Stunden bis zum Abend vielleicht noch Büffel und Elefanten zum Schuß bekommen.

Das Gewehr über der Schulter, die freie Hand in der Hosentasche, die kurze Pfeife zwischen den Zähnen, schlenderte Marquis Chaushilm gemütlich durch den Urwald Afrikas, und dachte, er wäre in einem englischen Parke, um Kaninchen zu schießen.

Da plötzlich duckte er sich zusammen, nahm das Gewehr von der Schulter und kniete dann vorsichtig nieder, den Blick starr geradeaus gerichtet: vor ihm, nur zweihundert Meter entfernt, tauchte hinter einem Baobab ein stattlicher Hirsch auf, bewegte sich grasend und langsam vorwärts, dem Jäger das Hinterteil zuwendend.

So phlegmatisch der Marquis auch sonst war, in diesem Augenblick befiel ihn das Jagfieber; jeder Nerv erbebte ihm beim Anblick des edlen Tieres mit dem stattlichen Geweih.

Der Wind kam von demselben her, so hatte er nicht zu befürchten, gewittert zu werden, und konnte mit einiger Vorsicht wohl seinen Weg fortsetzen, denn, wie er gerade stand, konnte er unmöglich schießen. Das Winchestergewehr trug zwar so weit und noch viel weiter, und der Herzog war ein guter Schütze, aber der Hirsch bot ihm kein anderes Zielobjekt als das Hinterteil, und dort hätte ein Schuß nur eine Wunde bewirkt, welche den Hirsch nicht hinderte, mit Windeseile auf Nimmerwiedersehen zu fliehen.

Mit einer Gewandtheit, die einem Indianer Ehre gemacht hätte, kroch der Herzog auf Händen und Füßen nach links, jeden Busch und Baum als Deckung benutzend und dabei immer darauf bedacht, den Hirsch nicht aus den Augen zu verlieren, noch durch ein Geräusch dessen Aufmerksamkeit zu erregen. Einmal zwar knackte ein dürrer Zweig unter seinen Knieen, und trotz der großen Entfernung hatte der Hirsch den Laut gehört, er richtete den edlen Kopf hoch und sog die Luft ein, aber Chaushilm lag bewegungslos wie ein Baumstamm hinter einem Gebüsche.


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Bald senkte der Hirsch das Geweih wieder und graste, ruhig weiter. Chaushilm hätte wohl nach dem Haupte des Wildes schießen können, aber nur ein unerfahrener Jäger würde dies versucht haben. Er hatte Erfahrung genug, um zu wissen, daß er nur den Lauf seiner Büchse zu bewegen brauchte, um das Tier zu verscheuchen. Gerade auf die Stelle, wo er lag, schien nämlich die Sonne durch das Laub, und das Wild wird durch nichts so scheu gemacht, als durch ein helles Aufblitzen, wie es die Sonne auf dem Gewehrlaufe hervorbringt.

Chaushilm mußte sein anstrengendes Kriechen also fortsetzen, und er hatte dabei großes Unglück. So oft er nämlich an die Seite des Hirsches gelangt war, und schon die Büchse an die Wange hob, wandte dieser sich stets, so daß der arme Herzog immer wieder den weißen Spiegel, das heißt das Hinterteil des Tieres mit dem Stummelschwanz bewundern konnte.

Stunde auf Stunde verrann, und der Marquis setzte noch immer seine Bemühungen fort, aber er empfand weder Müdigkeit, noch Verdruß, die vergangenen Stunden däuchten ihm Minuten, so hatte ihn das Jagdfieber erfaßt. Zwar fluchte er innerlich auf eine schauderhafte Weise, wenn dem erhobenen Büchsenlaufe immer wieder der Spiegel zugekehrt wurde, aber nichtsdestoweniger setzte er die Pürsche fort; einmal mußte sie doch von Erfolg gekrönt werden.

Er merkte gar nicht, wie sich nach und nach der Wald veränderte. Die Bäume traten immer weiter auseinander. Das Unterholz verminderte sich mehr und mehr, und hätte Chaushilm einmal den Kopf zur Seite gewandt, so würde er auf einer Waldlichtung die Hütten eines kleinen Dorfes bemerkt haben.

Endlich befand sich Chaushilm seitlich vom Hirsch, er konnte dessen schöne Gestalt in vollkommener Ruhe bewundern. Der Zeitpunkt war günstig. Leise hob er die Büchse, legte den Lauf auf einen umgestürzten Baumstamm, zielte nach dem Blatt und feuerte.

Ein tausendstimmiges Echo erschütterte die Luft, es donnerte und krachte zwischen den Bäumen, als wären sie samt und sonders in die Luft gesprengt worden.

Chaushilm war über dies sonderbare Krachen erst so erschrocken, daß er fast gar nicht ans Aufstehen dachte, sondern nur seine Winchesterbüchse anstarrte, von der er noch nie ein so furchtbares Knallen bemerkt hatte.

»Was ist denn das?« dachte er. »Seit wann kracht denn das Ding so? Aber es hat doch gar nicht geschlagen?«

Jetzt fiel ihm wieder der Hirsch ein, der verschwunden, also jedenfalls gestürzt war, er stand auf und eilte nach der Stelle, wo er ihn hatte stehen sehen.

Noch hatte er die Stelle nicht erreicht, als er von der entgegengesetzten Seite einen Mann auf sich zueilen sah, eine kleine, dicke, kugelrunde Gestalt, — Monsieur Pontence, genannt Nonsense, der jetzt das zwei Meter lange Gewehr auf dem Rücken trug und dafür die zöllige Büchse mit der tulpenförmigen Mündung in der Hand hielt.

Beide begegneten sich eben da, wo der Hirsch am Boden lag.

»Das war ein Kapitalschuß, Monsieur, he?« rief der Franzose fröhlich, stützte sich auf seine noch rauchende Büchse und deutete auf den Hirsch.

Chaushilm, ahnend, daß Pontence gleichzeitig mit ihm geschossen hatte, wollte eben sagen, daß er auf das Tier ebenfalls ein Recht hätte, aber das Wort blieb ihm im Munde stecken, als er den Hirsch jetzt betrachtete.

Das Tier war förmlich in Stücke zerrissen, der Kopf war fast vom Rumpfe getrennt, ein Hinterbein lag zehn Schritte entfernt und der übrige Körper war ein Gemenge von Fleischstücken, Hautfetzen, Blut und Eingeweiden.

Erstaunt betrachtete Chaushilm bald das zerrissene Tier, bald das glücklich lächelnde Gesicht des Franzosen.

»Ja, was ist denn das?« brachte er endlich hervor, sich langsam von seinem Staunen erholend, »Hat denn der Hirsch aus Versehen eine Dynamitbombe verschluckt?«

Der Franzose verstand ihn nicht.

»War das nicht ein Kapitalschuß?« fragte er wieder stolz. »Es geht doch in Afrika nichts über ein Gewehr, welches Sprengkugeln schießt.«

»Was, Sie haben aus jenem Gewehre da mit Sprengkugeln nach dem Tische geschossen?«

»Natürlich,« nickte der Franzose, »und ist die Wirkung nicht eine ausgezeichnete?«

»Nun weiß ich,« rief Chaushilm, sich vor die Stirn schlagend, »was mir vorhin so um den Kopf sauste und pfiff. Das waren also Ihre Sprengkugeln. Wieviel hatten Sie denn eigentlich darin?«

»Nur fünf, aber ich glaube, drei hätten auch schon genügt, aber,« meinte der Franzose, den Herzog fragend anblickend, »wie soll ich wohl den Hirsch nach meinem Zelte schaffen?«

Also war Chaushilm vergebens auf allen Vieren stundenlang hinter dem Hirsch hergekrochen, damit derselbe ihm vor der Nase mittels Sprengkugeln weggeschossen würde. Daß ein anderer mit ihm zugleich geschossen, das war weiter nichts, er hätte seine Beute gern geteilt, vielleicht auch ganz auf dieselbe verzichtet, aber einen edlen Hirsch mit Sprengkugeln zu schießen, nein, ein solcher Frevel empörte sein Weidmannsherz, nicht eine Sehne sollte der Franzose haben.

»Nur gemach, Monsieur Pontence,« sagte er ruhig, »ich habe ein ebenso großes Anrecht auf den Hirsch, wie Sie, und wem er gehört, das wird sich noch entscheiden,««

»So,« rief der Franzose erstaunt, »habe ich das Tier nicht in Stücke geschossen?«

»Das scheint allerdings so, aber von wo haben Sie geschossen, von hinten?«

»Ja, von hinten.«

»Sehen Sie, ich habe mich über drei Stunden bemüht, es von der Seite zu bekommen, und habe es auch wirklich im Blatt getroffen.«

»So,« sagte der Franzose etwas pikiert, »beweisen Sie mir das doch einmal!«

»Beweisen kann ich das allerdings nicht,« entgegnete Chaushilm kalt, »denn es wäre wohl vergeblich, in diesem zerrissenen Kadaver nach meiner Kugel zu suchen, und außerdem schießt das Winchestergewehr so scharf, daß anzunehmen ist, die Kugel ist durch und durch gegangen.«

»Ich kann aber behaupten, daß meine Kugeln ihn getötet haben,« frohlockte der Franzose. »Wie wollen die beweisen, daß Sie das Tier überhaupt getroffen haben?«

»Hiermit,« sagte der Marquis kaltblütig und zog aus dem Lederfutteral einen Revolver heraus.

»Haben Sie keine Angst, daß ich wegen dieses Hirsches einen Mordversuch mache,« fuhr er fort, als der Franzose erschrocken zurückgesprungen war, »aber natürlich muß es sich entscheiden, wem der Hirsch gehört, und da ist es das einfachste Mittel, wir machen es so wie in Amerika, wir schreiten zum Duell. Bitte, Monsieur Pontence, gehen Sie fünf Schritte zurück, ich ebenfalls, und bei drei schießen wir zu gleicher Zeit. Revolver haben Sie ja genügend bei sich.«

Es war dem Herzog natürlich kein Ernst mit diesem Vorschlag, er wollte den Franzosen nur einmal in Verlegenheit bringen und erreichte dies auch wirklich.

Derselbe verlor mit einem Male seine rote Gesichtsfarbe, wurde bleich und begann nervös mit dem roten Taschentuch im Gesicht zu wischen.

»Das ist gegen die Gesetze,« brachte er stammelnd hervor.

»In Afrika gibt es keine Gesetze, welche das Duell verbieten,« lächelte Chaushilm.

»Wir haben keine Sekundanten.«

»Ich brauche auch keine.«

»Aber ich.«

»Ich nicht,« beharrte Chaushilm, »und wenn Sie sich nicht mit mir duellieren wollen, so sehe ich mich genötigt, Sie über den Haufen zu schießen, denn ich behaupte, daß ich den Hirsch tödlich getroffen habe, daß er mir ebensogut wie Ihnen gehört.«

»Ich trete Ihnen die Hälfte ab,« stöhnte der Franzose.

»Damit ist mir nicht gedient, einer von uns beiden muß ihn ganz haben.«

»Ich schenke Ihnen denselben ganz.« »Ich nehme nichts geschenkt an, ziehen Sie den Revolver und nehmen Sie Stellung!«

»Ich gebe jeden Anspruch an den Hirsch auf,« jammerte der zur Verzweiflung gebrachte Franzose. Er konnte den kalten Blick des jungen Mannes nicht mehr ertragen.

»Gut,« sagte Chaushilm und steckte den Revolver wieder ein, »damit Sie aber später nicht sagen können,' ich hätte Sie durch Einjagung von Furcht gezwungen, mir den Hirsch zu überlassen, so gebe ich Ihnen noch einmal Gelegenheit, sich in den Besitz des Hirsches zu bringen. Sehen Sie dort die drei Früchte nebeneinander an dem Baume hängen?«

Der Franzose folgte mit den Blicken der angedeuteten Richtung und bejahte, dabei erleichtert aufatmend.

Nicht weit von ihnen, dicht au der Waldlichtung, auf welcher die wenigen Hütten standen, befand sich ein Baum, an welchem nebeneinander drei Gegenstände hingen, etwa wie Kokosnüsse aussehend, obgleich der Baum keine Kokospalme war.

Die beiden kannten die afrikanische Flora nur wenig, und so zerbrachen sie sich auch jetzt nicht die Köpfe, was das für Früchte seien.

»Jeder von uns hat drei Kugeln,« fuhr Chaushilm fort, »Sprengkugeln sind jedoch ausgeschlossen, und wer die meisten von den Früchten zerschießt, dem gehört der Hirsch. Ich will Ihnen den ersten Schuß lassen. Sind Sie damit einverstanden?«

Der Franzose war es, er nahm das zwei Meters lange Gewehr vom Rücken, legte den Lauf gegen einen Baumstamm, zielte lange und schoß.

Keine Frucht bewegte sich auch nur.

Sofort riß Chaushilm das Gewehr an die Wange, schoß dreimal schnell hintereinander und alle drei Früchte waren vom Baume verschwunden, sie waren in Atomen zersplittert.

Die drei peitschenähnlichen Knalle des vorzüglichen Gewehrs erzeugten diesmal zwar kein solches Echo wie vorhin, dafür aber erschallte eben von da, wo der Baum mit den Früchten stand, ein entsetzliches Geheul, plötzlich sahen die beiden aus dem Grase unter dem Baume wohl zwanzig schwarze Gestalten aufspringen und mit Brüllen und Heulen auf sie zustürzen.

Der Franzose war gescheiter, als der kaltblütige Engländer, denn während dieser erstaunt die ankommenden Schwarzen betrachtete, rannte er in voller Karriere in den Wald zurück, seinen Kameraden im Stich lassend.

Es war ein Fehler von Chaushilm, daß er zu phlegmatisch war; sein Phlegma wurde für Kaltblütigkeit genommen, er machte sich aus einer Gefahr gar nichts und tat auch gewöhnlich nicht viel, um sie abzuwenden, wenigstens so lange nur sein eigenes Leben in Betracht kam.

So erwartete er auch jetzt erstaunt die brüllenden Schwarzen und grübelte darüber nach, was die Ursache dieses Schreiens wohl sein möchte. Daß sie feindliches gegen ihn im Sinne hatten, daran dachte er noch gar nicht, denn bis jetzt hatte er die Neger in Dahomeh immer als friedliche Menschen kennen gelernt.

Zu spät hub er die Büchse, zu spät griff er nach dem Revolver, ehe er nur zur Besinnung kam, daß ihm diese Neger wirklich ans Leben wollten, lag er schon am Boden, bekam einige Fußtritte und außerdem wurden ihm trotz heftiger Gegenwehr die Waffen entrissen und ihm mit seinem eigenen Gürtel die Hände gebunden.

Chaushilm war unfähig, ein Glied zu rühren; wie ein Alp kniete ein riesiger Neger auf seiner Brust und hinderte ihn am Aufstehen, aber nicht am Sprechen,

»Verfluchte Halunken,« brüllte der Marquis, »wollt ihr mich loslassen! Ihr Banditen, Straßenräuber, Buschneger, Hottentotten.«

Die Neger kümmerten sich nicht um die Flüche und Schimpfworte des Herzogs, sie rissen den Gebundenen empor und schleppten ihn mit roher Gewalt nach dem Baume, auf dem die abgeschossenen Früchte gehangen hatten, und der mit den Zähnen knirschende Marquis mußte es sich ruhig gefallen lassen, daß er ab und zu einen Fußtritt erhielt. Gern hätte er ihn wieder zurückgegeben, aber er hatte seine Füße nicht frei, er wurde getragen.

Ehe er nur richtig zur Besinnung kam, stand er schon unter jenem Baume auf seinen Füßen, aber mit gebunden Händen, vor ihm stand der große Neger und fuchtelte mit beiden Fäusten unter Chaushilms Nase herum und brüllte ihm mit wutverzerrten Mienen etwas zu, was der Engländer natürlich nicht verstand.

Aber er erriet, daß es nichts Gutes war, auch die Umstehenden, jetzt wohl schon dreißig Männer, zeigten grimmige Gesichter, und die aus den Hütten kommenden Eingeborenen, Frauen und Kinder nahmen, jedesmal, wenn die ersten in die Äste des Baumes und dann auf den Gefangenen gedeutet hatten, denselben Ausdruck des Entsetzens und Abscheues an.

Aus dem entrüsteten Geschrei vernahm Chaushilm nur zwei Worte deutlich, das eine lautete Musungu, das andere Nganga, und so viel wußte Chaushilm schon, daß Musungu Europäer, Fremde bedeutete, Uganga aber Medizin.

»Medizin,« dachte er, »was habe ich mit Medizin zu schaffen?«

Der Neger vor ihm wollte eine Antwort aus ihm herausbringen, so viel war klar, nur schade, daß er die Frage nicht verstand. Dann aber, als der ungestüme Sprecher wiederholt nach den Zweigen deutete, an denen vorhin die Früchte gehangen hatten, und dabei immer das Wort Uganga aussprach, wurde es Chaushilm plötzlich klar, was für eines Vergehens er sich schuldig gemacht hatte.

An dem neben ihm stehenden Baume sah er noch ebensolche Früchte hängen, von hier aus aber konnte er erkennen, daß die vermeintlichen Kokosnüsse Menschenschädel waren, und die drei, welche er abgeschossen hatte, waren wahrscheinlich den Negern etwas Heiliges gewesen, denn alles Heilige bezeichnen diese Eingeborenen mit Medizin, mit Dowa oder Uganga.

Die Sache ließ sich nicht mehr ändern; Chaushilm zuckte mit den Achseln, als aber der Neger nicht nachließ, ihn anzuschreien, da brüllte er ihn ebenfalls recht vernehmlich an.

Die Folge davon war, daß der Neger sofort den Arm zum Schlage ausholte, um dem Musungu eins auf den Kopf zu geben. Ehe aber noch die Faust dessen Gesicht berührte, erhielt er von Chaushilm einen Fußtritt, der ihn der Länge nach ins Gras warf.

Ein furchtbarer Tumult entstand. Alle stürzten auf den Unglücklichen zu, und ehe er wußte, was man mit ihm eigentlich vorhatte, fühlte er plötzlich ein Hanfseil sich um seinen Nacken legen, und während der wieder aufgestandene Neger mit fürchterlichem Schimpfen und Schreien auf ihn zutrat, sich aber sorgfältig außer dem Bereiche der Füße hielt, kletterte schon ein Negerjunge mit dem Ende des Strickes auf den Baum.

Chaushilm hatte noch immer Hoffnung auf seine Freunde gesetzt, welche von dem Franzosen sein Schicksal erfahren mußten, jetzt aber sah er diese Hoffnung schwinden, die Strafe für das Verbrechen, eine Medizin vernichtet zu haben, sollte nicht aufgeschoben, sondern die Exekution sofort an ihm vollzogen werden.

Schon kletterte der Negerjunge auf einen Ast, schlang das Seil um denselben und warf das Ende den Untenstehenden zu, die es sofort ergriffen und daran zu ziehen begannen.

Hilfesuchend ließ der Marquis die stieren Augen im Kreise herumwandern, er blickte überall nur in schadenfrohe oder unwillige Gesichter. Doch nein, dort stand eine Gestalt, die Arme übereinander geschlagen, welche den Unglücklichen mit einem ganz seltsamen Ausdruck betrachtete. Es war ein Weib, die Brust unbedeckt und den Unterkörper nur bis zu den Knien verhüllt. So konnte mau die Arme und die Schultern sehen, welche wie aus Erz gegossen waren, wunderbar ausgebildet, wie zum Körper eines Athleten gehörend, und doch harmonisch schön. In dem bronzefarbenen Gesicht lag ein seltsamer, unerklärlicher Ausdruck, halb Trotz, halb Verlangen, und die wie Kohlen funkelnden Augen waren unverwandt auf die hübschen, etwas weichen Züge des Engländers gerichtet, welche jetzt mit Todesblässe bedeckt waren, wodurch das sonst schon interessante Gesicht noch anziehender gemacht wurde.

Auch Chaushilm hatte dieses Weib gesehen, er erkannte in ihr sofort eine jener Amazonen, und plötzlich glaubte er in jenem Mädchen Yamyhla zu erkennen.

Schon fühlte er, wie die Schlinge seinen Hals würgte, seine Füße verloren den Halt — er wurde von den Negern am Aste emporgezogen.

»Yamyhla,« schrie er mit heiserer Stimme jener Gestalt zu.

Es wäre beinahe sein letztes Wort gewesen, denn schon hing er in der Luft, aber schneller als ein Gedanke sprang da plötzlich die Amazone auf ihn zu, ein Hieb mit einem blitzenden Stahl, und Chaushilm fiel wie ein Kind in des Mädchens kräftigen Arm.

Der Gerettete ward nicht ohnmächtig, er fühlte sich fest an den nackten Busen des Weibes gedrückt, als wolle es ihn schützen; er hörte, wie unter den Umstehenden erst ein unwilliges Murmeln entstand, welches dann in laute Entrüstung überging, und er sah, wie der Neger, der ihn hatte schlagen wollen, mit lebhaften Gestikulationen und Schreien auf das Mädchen zutrat, als wolle er ihm die Beute entreißen.

Da stellte die Amazone plötzlich ihren Schützling auf die Füße, ein kleines Schwert blitzte in ihrer Hand, und mit dem Satze eines Panthers stand sie mit einem Male vor dem Neger, ihn an die Kehle fassend und die Waffe zum Stoße erhebend.


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Doch sie stieß nicht zu, sie ließ den Neger entsetzt zurückweichen, dann steckte sie das Schwert in den Gürtel, richtete sich hoch auf, deutete erst stolz auf sich, dann auf den Gefangenen und sprach dazu einige Worte.

Dem unwilligen Geschrei war eine tiefe Stille gefolgt, Chaushilm sah, was für verwunderte Gesichter die Umstehenden zogen, aber plötzlich verklärten sie sich wie vor Freude, und ein vielstimmiges Jubelrufen brach los.

Einige Neger rannten nach dem Dorfe und kamen mit zwei irdenen Krügen mit langen Hälsen zurück, wovon der eine Chaushilm in die Hand gedrückt wurde, während die Amazone den anderen Krug nahm. Sie trat auf Chaushilm zu, welcher, den Krug in der ausgestreckten Hand haltend, ganz fassungslos dastand, sie hob den ihrigen, ein Schlag — und beide Krüge lagen als Scherben im Grase.

Noch einmal gellte ein unendliches Jubelgeschrei dem Herzog in die Ohren, dann hob ihn das Mädchen wie ein Kind auf den Armen in die Höhe, legte ihn so zärtlich, als wäre er wirklich ihr Kind, an ihre Brust, und eilte dann mit hastigen Schritten den Hütten zu.

Chaushilm glaubte zu träumen, jedenfalls hatte er keine Ahnung, was das alles bedeuten sollte.

Das erste, was er tat, als er einigermaßen zu sich kam, war, daß er sich aus den Armen des Mädchen zu befreien suchte, denn ein eigentümliches Schamgefühl beschlich ihn, als er wie ein Kind von dem jungen Weibe fortgetragen wurde.

Allein vergebens stemmte er sich mit beiden Händen gegen die Ebenholzschultern, das Mädchen drückte ihn nur noch fester an die Brust, und zwar mit einer solchen Kraft, daß Chaushilm nachgeben mußte, wollte er sich nicht die Rippen zerquetschen lassen. Schließlich fügte er sich in die komische Situation, stellte das Zappeln und Beinstrampeln ein und saß nun wie ein artiges Kind auf den Armen des Mädchens, welches ihn, umringt von der johlenden Menge, nach dem Dorfe trug und dann mit ihm in eine Hütte trat, sich dabei tief bückend, daß der Kopf ihres Schützlings nicht mit dem Türrahmen in Kollision geriete.

Sorgsam legte sie die Last auf ein mit Bast überflochtenes Bett, und Chaushilm, von der überstandenen Todesangst und den vielfachen Abenteuern erschöpft, blieb ruhig liegen, nur flüchtig das Innere der Hütte musternd.

Sie unterschied sich auch nicht viel von denen, welche er bis jetzt in Augenschein genommen, nur daß an den Wänden mehr Waffen, und alle in sehr gutem Zustande, hingen, und daß die Lanzen, Schwerter, Bogen und Schilde alle mit Verzierungen und Stickereien geschmückt waren. Außer diesem Bett befanden sich noch einige Ochsenschädel im Gemach, vielleicht als Sitze dienend, einige Decken und einiges Küchengeschirr.

Ob hier nun dieses Weib oder auch ein Mann, vielleicht ihr Gatte, wohne, konnte er nicht unterscheiden, denn die Dahomehneger unterscheiden sich nicht durch verschiedene Kleidung im Geschlecht, ein Stück Zeug um Unterkörper oder gar nur um die Lende, ob Mann oder Weib, ist gleichgültig, das ist alles und ihnen völlig genügend.

Die Dahomeh hatte sich ebenfalls aufs Bett gesetzt und leise zu dem Engländer gesprochen, als dieser aber nicht antwortete, ergriff sie plötzlich mit der einen Hand die seinige, mit der anderen die Schulter und rüttelte ihn heftig, so daß Chaushilm veranlaßt wurde, in das Gesicht des Mädchen zu sehen.

Er blickte in ein Paar feurige Augen, die ihn wie glühende Kohlen anfunkelten und vortrefflich zu diesen wilden Zügen paßten. Chaushilm war ein Kenner von Frauenschönheit, und so sah er auch jetzt, daß dieses Mädchen wirklich schön war, aber der Ausdruck, der in dem bronzefarbenen Gesicht lag, war ihm zu leidenschaftlich, ihm graute vor dieser Wildheit.

»Teufel,« dachte er, während die Negerin fortfuhr, leise, aber hastig auf ihn einzusprechen, »was will sie von dir? Will sie dich zum Abendbrot verspeisen oder mit dir wie mit einer Puppe spielen?«

Letzteres schien ihm wahrscheinlicher, denn diesem starken Weibe gegenüber kam er sich wirklich wie eine Puppe vor, und plötzlich schlang die Schwarze ihre Arme um ihn, zog ihn empor und drückte ihn wieder an ihre Brust.

Chaushilm blickte ihr abermals ins Auge und bemerkte darin ein seltsames Funkeln.

War das Weib verrückt? Es begann ihm zu grauen. An Flucht war nicht zu denken, jeder Griff dieses Mädchens belehrte ihn davon, daß sie ihre Finger wie Schraubzangen verwenden konnte. Waffen hatte er nicht, und jene dort an den Wänden hängenden verstand er nicht zu gebrauchen, die Amazone aber war mit ihnen vertraut.

Das Mädchen sprach fortwährend zu ihm, bald flüsternd, langsam, bald hastig, dann wieder freundlich, und streichelte ihm zärtlich die Wangen, dabei seltsame Mundbewegungen machend, gerade, als wollte sie küssen.

Der Marquis schüttelte verneinend den Kopf und zuckte mit den Schultern, um auszudrücken, daß er nichts verstehen könne.

Da nahm des Mädchens Gesicht plötzlich einen sinnenden Ausdruck an, sie sprang auf und eilte hinaus, Chaushilm hörte aber noch, wie von außen etwas Schweres gegen die Tür gelegt wurde.

Sofort sprang auch er auf und versuchte die Tür zu öffnen, aber vergebens, sie spottete seiner Anstrengungen.

»Du lieber Himmel,« seufzte er auf, »jetzt hat das Weib vielleicht einen Felsblock vor die Tür gewälzt, sie scheint ja eine wahre Titanin zu sein. Was will sie nur von mir?«

Er blickte umher, eine Flucht war hier nicht möglich, denn brach er mit Gewalt durch die Lehmwände, so würde man ihn sofort bemerkt haben, und ebenso, wenn er den Ausweg durch das Loch in der Decke, den Rauchabzug, genommen hätte. Es war anzunehmen, daß Neugierige die Hütte umstanden und bewachten.

»Was will sie nur von mir?« dachte Chaushilm wieder. »Mit mir spielen? Oder will sie mich gar heiraten?« Plötzlich blieb der Herzog stehen und schlug sich vor die Stirn.

»Heiliger Gott,« rief er, »Chaushilm, du schlauer Kerl, was bist du doch für ein Esel, natürlich, so ist es, sie ist ja auch nur ein Mädchen und —«

Chaushilm mußte in seinem Selbstgespräch abbrechen, mochte es freundliche oder traurige Gedanken verraten, denn die Tür öffnete sich wieder, und die Dahomeh trat ein, eine alte Negerin an der Hand nach sich schleppend.

Um nicht abermals wie ein Kind auf das Bett gelegt zu werden, setzte sich Chaushilm sofort langsam auf das Lager, neben ihm nahm die Amazone Platz und sprach zu dem alten Weibe, dabei auf den Engländer deutend.

Die Alte nickte eifrig und sagte dann zu Chaushilm in sehr mangelhaftem, aber doch verständlichem Englisch:

»Du bist Kasegoras Mann.«

Chaushilm glaubte seinen Ohren nicht trauen zu dürfen.

»Wessen Mann?« fragte er verblüfft.

»Dieser,« antwortete das Weib, auf die Dahomeh deutend, »sie ist eine tapfere Manyara (Amazone) und hat dich vom Tode errettet. Du solltest gehängt werden, weil du die große Medizin entzwei gemacht hast, aber Kasegora hat dich geheiratet.«

Chaushilm konnte vor Schrecken erst gar nichts sagen, aber er hatte schnell seine Fassung wiedergewonnen, so viel sah er ein, sein Leben war nicht mehr in Gefahr, und sein angeborener Humor kam langsam wieder zurück.

»Ich soll diese Frau hier geheiratet haben?« rief er. »Ist mir nicht eingefallen.«

Da sagte die Alte unwillig: »Du kannst eine solche überhaupt nicht heiraten. Sie hat mit dir die Krüge zerschlagen. Ist das nicht so, Fremder?«

Und geheimnisvoll fügte sie hinzu:

»Du kannst froh sein, Kasegora ist reich und mächtig, sie kommt gleich hinter Simbawenni. Freue dich, Musungu, daß sie dich liebt, sonst wärest du schon tot, denn du hast die Medizin schwer beleidigt.«

»Ich will aber nicht ihr Mann sein.«

»Du mußt,« rief das Weib entschieden und sprach dann mit der Dahomeh, welche mit entzücktem Lächeln der Stimme des Engländers gelauscht hatte. Aber bei der Rede der Alten zog sich ihr Gesicht in finstere Falten.

Doch gleich glättete es sich wieder, sie näherte ihr Gesicht dem Manne, legte beide Hände auf dessen Schultern und sagte etwas zu ihm.

Chaushilm blickte unruhig in ihre flammenden Augen.

»Du sollst sie küssen,« rief die Alte.

Der Herzog rührte sich nicht, auch nicht, als die nahen Augen immer drohender zu funkeln begannen.

»Seltsame Situation,« dachte Chaushilm, der Ruhe, Gleichmut, Humor und sein gewöhnliches Pflegma wiedergefunden hatte, »will doch einmal sehen, wie sich so ein schwarzes Mädchen benimmt, wenn sie keine Gegenliebe findet.«

Er beachtete nicht, wie die Dahomeh den Mund wie zum Küssen spitzte. Plötzlich aber zog sie den Kopf zurück, wendete ihr Gesicht der Alten zu und sprach mit ihr.

»Kasegora fragt,« sagte die Alte zu Chaushilm, »ob du weißt, daß sie dich liebt.«

»Ja, das merke ich.«

»Ob du weißt, daß du sie küssen sollst.«

»Ja, aber sie bekommt von mir keinen Kuß.«

Wieder sprach die Alte zu Kasegora und entfernte sich auf eine gebieterische Handbewegung der Amazone aus der Hütte.

Jetzt waren beide allein, und dem armen Herzog wurde es etwas beklommen.

Das Mädchen nahm wieder dieselbe Stellung ein wie vorhin, legte ihm die Hände auf die Schultern, und näherte ihren Mund dem seinen, einen Kuß erwartend,

Chaushilm blieb sitzen ohne sich zu bewegen.

Die Amazone zog sich etwas zurück, schaute den Engländer mit seltsamem Ausdruck der Augen, halb leidenschaftlich, halb zornig an, zog dann langsam einen Dolch aus dem Gürtel und setzte die Spitze dem Marquis auf die Herzgegend, sich dabei wieder zum Kusse vorbeugend.

Es lag in dem bronzenen Gesicht eine so furchtbare Entschlossenheit, daß der Herzog sofort alles Zögern aufgab — ein lauter Knall verriet, daß die Amazone ihren Zweck erreicht hatte.

Mit einem Ruck war der Dolch wieder im Gürtel, hastig schlug das Mädchen beide Arme um den Engländer, und da der Bann nun einmal gebrochen war, so duldete er nicht nur die heißen Küsse der Negerin, sondern erwiderte sie auch.

Zum zweiten Male wollte er nicht mit der Spitze des Dolches gekitzelt werden, und da er schon von Yamyhla her den heißblütigen, entschlossenen Charakter dieser Amazonen kannte, so wagte er nicht mehr, sich den Liebkosungen zu widersetzen.

Je öfter ihn das Mädchen umschlang und ihn an ihren Busen drückte, je öfter ihre vollen Lippen die seinen berührten, umsomehr mußte sich der Marquis gestehen, daß Kasegora, um in seiner Sprache zu reden, ›gar kein so unrechtes Mädel wäre‹, als Schwarze wenigstens nicht. Hätte dieselbe Figur mit den kräftigen Gliedern, den Muskeln und den wilden Zügen, den funkelnden Augen, eine weiße Haut gehabt, so hätte er einen Widerwillen gegen sie empfunden, aber so ...

Chaushilm küßte leidenschaftlich und gedachte schon mit Entzücken an spätere Zeiten, da er im Kreise seiner Kameraden, ja, sogar im Salon eleganten Ladies gegenüber von dieser süßen Schäferstunde erzählen konnte, denn wegen so etwas braucht man sich ja heutzutage nicht mehr zu schämen, man kann es ruhig bekannt geben, ohne seiner Ehre zu schaden, ja, ohne den Anstand zu verletzen.

Wie im Fluge verflossen die Stunden; Kasegora wurde nicht müde, ihren selbstgewählten Gemahl zu küssen, aber bei Chaushilm wurde das Gefühl der Liebe mit der untergehenden Sonne abgelöst — von dem des Hungers.

Leicht gelang es ihm, der Amazone verständlich zu machen, daß, nachdem das Herz gesättigt sei, auch der Magen sein Recht begehre; Kasegora nickte, pochte mit einem Lanzenschaft gegen die Lehmwand, und sofort erschien ein Negerjunge, der sich nach den Befehlen der Amazone erkundigte.

»Kasegora ist kein gewöhnliches Weib,« dachte Chaushilm mit philosophischem Humor; »sie hat Bedienung. Vielleicht nimmt sie gar etwa die Stellung einer Herzogin in Dahomeh ein, und so wäre sie mir also vollkommen ebenbürtig. Hm, hm! Da hätte ich gar keine so schlechte Partie gemacht — schade, daß wir uns vorläufig nur durch Küsse verständigen können.«

Der Junge brachte Hammelfleisch, die Keule eines Hirsches, Yams, jene in Afrika überall vorkommende Kartoffelart, und eine Schüssel mit Durra, stellte alles auf den Boden und verschwand dann wieder.

Kasegora begann sogleich mit der Zubereitung des Abendessens, und nachdem sie ein Holzfeuer angemacht, und einen Kessel darauf gestellt hatte, machte sie sich an das Schälen der Yams. Chaushilm fing einen liebevollen Blick auf, und ob er ihn richtig gedeutet hatte oder nicht, er setzte sich neben seine Gemahlin und begann ebenfalls die weißen Wurzeln abzuschälen.

Zum ersten Male fielen ihm bei dieser Beschäftigung seine Freunde wieder ein.

»Was mögen sie wohl denken, wo ich geblieben bin?« dachte er. »Sicher hat ihnen der Franzose erzählt, daß mich die Neger gefangen haben, und nicht lange wird es dauern, so werden sie hierherkommen, mich suchen, finden und abholen. Wird mich meine Frau aber auch gehen lassen?

Er warf einen Blick auf die Amazone, welche eben das Fleisch zum Braten über das Feuer hing. Es war schon dunkel, der Flammenschein das einzige Licht, und es beleuchtete die Züge Kasegoras mit wundervoller Klarheit. Alles an diesem ernsten, ja drohenden, aber doch schönen Gesicht drückte Wildheit, Leidenschaft und eine nie zu beugende Energie aus.

»Gutwillig gibt dieses Mädchen den nicht her, den es liebt,« seufzte Chaushilm.

Kasegora versuchte wieder ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen, nicht achtend, daß er sie gar nicht verstand. Er hörte nur manchmal das Wort, Yamyhla, welches sie, den anderen Lauten gegenüber, ganz besonders schmelzend und lächelnd aussprach. Das Lächeln verschönte ihr Gesicht noch mehr, es gab ihr einen sanfteren, weiblicheren Ausdruck.

Chaushilm nickte lebhaft und wiederholte den Namen Yamyhla, sprach sich aber nicht näher darüber aus, er konnte sich doch nicht verständlich machen, durfte es auch gar nicht.

Dann nannte er, um seine Kenntnis zu zeigen, auch den Namen Simbawenni, und da schleuderte sie plötzlich die Axt, mit der sie eben Holz spaltete, heftig zu Boden, riß den Dolch aus dem Gürtel und trat mit so drohender Gebärde auf den Engländer zu, daß dieser unwillkürlich einige Schritte zurückwich.

Er beeilte sich, solche Gesten zu machen, welche seinen Abscheu gegen Simbawenni ausdrücken sollten, sehr richtig ahnend, daß diese eine Feindin dieses Mädchens sei, und Kasegora änderte auch sofort ihre Miene, zeigte einige Male, wie sehr sie die zukünftige Anführerin der Amazonen, das Mädchen, welches ihre Gebieterin werden sollte, haßte, und sprach dann mehrere Male zärtlich und zugleich demütig das Wort Yamyhla aus. Auf diese Weise unterhielten sie sich, bis das Abendessen fertig war, Kasegora legte dem Geliebten auf einem Holzteller die saftigsten Stücke des Hammel- und Hirschbratens vor, füllte ihn mit Maiskuchen, Durrafladen und Yamswurzeln und nötigte den Engländer zum Zulangen.

Chaushilm war völlig bei guter Laune; kamen seine Freunde nicht schon heute, so doch morgen auf jeden Fall, denn sie wollten ja der Festlichkeit der Amazonen beiwohnen. Er freute sich ganz ungeheuer auf das Wiedersehen der Freunde, besonders, wenn er daran dachte, wie sie bei der Erzählung seines romantischen Abenteuers staunen würden. Er langte wacker mit den Fingern zu und ließ sich das Essen köstlich schmecken.

Sie waren beide noch dabei, als plötzlich die Tür aufgerissen wurde und ein anderes Mädchen eintrat, eine zweite Amazone des Königs. Sie war kleiner, schlanker und zierlicher gebaut, als Yamyhla und Kasegora, aber dennoch kräftig, und hatte ein bedeutend schöneres Gesicht als diese beiden aufzuweisen, weniger wild, aber die Züge, die Lippen und die Augen ließen auf große Sinnlichkeit schließen.

Kasegora war bei ihrem Eintritt aufgesprungen und starrte das Mädchen an, welches, die Arme über der Brust gekreuzt, die Augen finster auf den am Boden sitzenden Engländer gerichtet hatte.

Dann begegneten sich die Augen beider Mädchen; stumm standen sie sich beide eine kurze Zeitlang gegenüber, bis die neue Amazone langsam und in bestimmtem Tone etwas zu Kasegora sagte, dabei auf Chaushilm deutend, welcher ruhig an seinem Hammelknochen weiternagte.

Kasegora antwortete auf diese Frage oder den Befehl mit einem verneinenden Kopfschütteln, ihre Augen glühten dabei unheimlich auf, und als die Worte in noch schärferem Tone wiederholt wurden, gab sie eine heftige Antwort. Chaushilms Interesse wurde jetzt so groß, daß er das Benagen des Hammelkotelettes aufgab, denn die neue Dahomeh war verschiedene Male mit Simbawenni angeredet worden. Dies war also die zukünftige Anführerin der Amazonen, der zu Ehren so großartige Festlichkeiten gegeben werden sollten, für die Tausende von Hammeln, Ziegen, Kälber u.s.w, geschlachtet wurden, auf deren Gesundheit morgen abend, hunderttausend Dahomehneger sich bis zur vollkommenen Besinnungslosigkeit im Pembe berauschten. Schön war sie, aber Kasegora war ihm doch lieber.

»So sind die Mädchen alle,« dachte der philosophische Chaushilm und begann wieder am Kotelettknochen zu nagen. »Simbawenni hat gehört, daß Kasegora einen schönen, jungen Mann als Geliebten bekommen, der sogar eine weiße Haut hat, und gleich wird sie eifersüchtig und will ihn haben.«

Aber das Gespräch zwischen beiden Amazonen wurde hitziger.

Simbawenni mußte etwas gesagt haben, was Kasegora beleidigte; diese brauste auf, und als Simbawenni einen Schritt in die Hütte eintrat, da riß Kasegora plötzlich einen Speer von der Wand herab, holte wie zum Wurfe aus und wies gebieterisch nach der Tür. Ihr Blick war furchtbar, er glich dem der gereizten Löwin, welche ihre Jungen beschützt.

Noch einmal sagte Simbawenni etwas in ruhigem, aber energischen Tone, dabei wieder auf Chaushilm deutend, dann wandte sie sich und verließ die Hütte, die Tür hinter sich zuschmetternd.

Lauge stand Kasegora so da, den Speer erhoben, mit funkelnden Augen und wildwogender Brust. Dann schleuderte sie plötzlich mit furchtbarer Kraft den Speer gegen die Tür, so daß die Spitze durch das Holz fuhr und erst der Schaft den Wurf hemmte, und wandte sich zu ihrem Geliebten.

Sie sprach leise und schnell zu ihm, faßte ihn an der Hand, zog ihn empor und deutete nach der Tür, machte die Gebärde des Gehens und zog ihn mit sich fort.

Chaushilm hatte begriffen, er sollte mit ihr fortgehen. Doch er zögerte. Er mußte seine Freunde hier erwarten.

Die Amazone gab sich keine Mühe mehr, ihn zum Fortgehen zu bewegen, sie hing sich Köcher und Pfeile um, gürtete ein kleines, krummes Schwert um die schlanken Hüften und nahm in die linke Hand einen Bündel Speere und die Lanze. Nachdem sie sich noch den hohen, mit Büffelhaut überspannten Schild auf dem Rücken befestigt hatte, wandte sie sich noch einmal an den Engländer, ihn zum Verlassen der Hütte zu bewegen. Als er abermals andeutete, hierbleiben zu wollen, umschlang sie ihn plötzlich, setzte ihn mit einem Ruck auf den Arm und verließ die Hütte, in rasendem Lauf durch die Dorfgasse jagend, dem Platze zu, wo die Pferde angepflockt standen. —


22. Der nächtliche Marsch.

Ehe der fliehende Franzose auf seine Jagdgefährten, Hope und Hannes, stieß, begegnete er Williams und Hendricks, welche, mit einigen Ergebnissen der Jagd beladen, eben den Rückweg antraten.

Mit fliegenden Worten schilderte der Franzose das Erlebte, aber da er nach seiner hochtrabenden Weise erzählte, so wurde die Geduld unserer beiden Freunde auf eine harte Probe gesetzt. Charles war immer daran, den Franzosen zu ohrfeigen, wenn dadurch dessen prahlerische Rede abgekürzt worden wäre.

»Marquis Chaushilm hatte also meine Forderung abgeschlagen,« erzählte der Franzose unter lebhaften Gestikulationen, »weil er bestimmt wußte, daß ich ihn beim ersten Schusse zu Boden legte — Sie kennen ja meine Sicherheit im Schießen — und dann vielleicht auch, weil er sich seines Unrechtes bewußt war, denn ich bin es gewesen, der den Hirsch zur Strecke brachte, regelrecht nach aller Weidmannskunst. Also kurz und gut, meine Herren, um die Sache kurz zu machen, ich forderte, in meiner Ehre als Hauptmann der Bürgerwehr tief beleidigt —er hatte mir zu grobe Dinge gesagt — in meiner Ehre also tief beleidigt, forderte ich ihn verschiedene Male auf, sich mit mir zu schießen, mit Büchse, Vogelflinte oder Revolver, aber —«

»Zum Teufel noch einmal,« fuhr ihn Williams wütend an, »kommen Sie doch endlich zur Sache! Wo ist Chaushilm? Kurz und bündig!«

»Gleich, gleich, meine Herren! Wir schossen also nach den drei Kokosnüssen, welche dicht vor unserer Nase baumelten. Marquis Chaushilm hatte den ersten Schuß, zielte lange und schoß ganz unverabredeterweise dreimal, traf aber nichts, ich schoß gleich nach ihm, ohne erst zu zielen, und natürlich — wie konnte es anders sein — zerschmetterten gleich alle drei Nüsse in tausend Stücke. Kaum war die Kugel dem Lauf des Gewehres entwichen, so erscholl ein furchtbares Geheul, wohl tausend Neger tauchten plötzlich aus dem hohen Grase auf und stürzten auf uns zu, ihre Schwerter, Lanzen und Gewehre schwingend. Ich riß natürlich sofort meine geladene Elefantenbüchse von der Schulter — Sie wissen, sie schießt Sprengkugeln — nahm den Revolver zwischen die Kniee und meinen Säbel zwischen die Zähne und erwartete die Ankömmlinge, ohne vorläufig zu schießen, denn die armen Eingeborenen dauerten mich —«

»Chaushilm?« fragte Williams ungeduldig. Er kannte den Franzosen viel zu genau, als daß er ihm hätte glauben sollen.

»Der tat das dümmste, was er tun konnte, er warf seine Waffen weg und ergriff die Flucht. ›Chaushilm‹, schrie ich, ›stehen Sie, stehen Sie wie ein Mann, Rücken gegen Rücken,‹ aber vergebens, er lief, was er laufen konnte. Ich sah, wie die Eingeborenen ihn einholten, umringten und zu Boden warfen, ich schlug mir eine Bresche durch die schwarze Mauer, ich ließ die Büchsenkolben auf die Wollköpfe sausen — sehen Sie, so,« und mutig schwang der Franzose die Büchse um den Kopf, »wie die Fliegen sanken die Getroffenen zu Boden, der ganze Platz war mit den von mir Gefällten bedeckt, aber retten konnte ich jenen nicht mehr. Ich sah, wie ein riesiger Schwarzer, wenigstens seine drei Meter hoch und einen Meter breit, den vor Angst bewußtlosen Herzog auf seinen Schultern fortschleppte, dann mußte ich selbst die Defensive ergreifen, denn die Pfeile flogen schon so hageldicht von allen Seiten auf mich, daß ich meiner ganzen Gewandtheit bedurfte, um sie alle abzuwehren. Aber der Rückzug gelang mir, ein paar hundert mag ich noch zu Boden geschlagen haben, dann gaben sie die Verfolgung auf. Ich wandte mich nach dem Lager, um sofort alles zu alarmieren, obgleich es nicht viel helfen wird, denn jedenfalls ist der arme Marquis schon längst aufgefressen worden. Sehen Sie, diese Wunde rührt von einem Speere her, der mich beim Abwehren streifte,« schloß Monsieur Pontence und zeigte seine Hand, welche er sich ganz gering verletzt hatte, als er bei seiner Flucht über eine Baumwurzel gestrauchelt war.

»Finden Sie sich nach dem Dorfe zurück, wo Sie Ihren Heldenmut so glänzend bewiesen haben?« fragte ihn Charles kurz, vor Zorn über den prahlerischen Franzosen innerlich kochend, sich aber beherrschend.

»Sie wollen doch nicht etwa hingehen und Ihren Kameraden zu befreien suchen?« entgegnete der Monsieur erschrocken. »Da lassen Sie sich ja davon abraten, denn —«

»Ich frage Sie, ob Sie uns den Weg nach dem Dorfe zeigen können!« donnerte ihn jetzt Charles an.

»Nein,« sagte der eingeschüchterte Franzose kleinlaut, »es liegt ungefähr dort.«

»So gehen Sie nach dem Zeltlager und melden Sie, daß wir erst in der Nacht dort eintreffen werden. Aber wagen Sie ja nicht, irgend etwas zu erzählen, Ihren verrückten Unsinn — Halloh,« unterbrach sich Charles, »dort kommen Hannes und Miß Staunton, Gott sei Dank.«

In kurzen Worten teilte Charles den Angekommenen das Vorgefallene mit, aber so, wie er es sich auslegte, ziemlich der Wahrheit gemäß, und zwar auf englisch, damit der Franzose ihn nicht verstände. Er bat dann Hope, Monsieur Pontence ins Lager zu begleiten und dort alles so zu erzählen, wie er gesagt, den Franzosen aber nicht zu Worte kommen zu lassen, und das energische, junge Mädchen erklärte lachend, sie wolle schon seinen Mund verschließen, allenfalls bekäme er Schläge darauf.

Hannes schloß sich den beiden Freunden an, welche sich nach dem Dorfe begaben, das sie schon hatten liegen sehen, um sich dort über das Schicksal Chaushilms zu erkundigen und ihn womöglich gleich zurückzubringen. —

Hope erzählte im Lager alles so, wie ihr Charles aufgetragen hatte, aber sie konnte trotz aller Bemühungen und Drohungen den Franzosen nicht davon abhalten, die Geschichte nach seiner Weise auszuschwatzen.

Als Hope endlich die eine Hälfte des Lagers über das Schicksal des Herzogs beruhigt hatte und nach der anderen ging, um dort dasselbe zu tun, kamen ihr schon Damen und Herren entgegengestürzt und fragten, ob es wahr sei, daß Marquis Chaushilm geschlachtet und am Spieße gebraten sei, daß der Wald von bewaffneten Eingeborenen voll wäre, daß ganz Dahomeh sich gegen die Fremdlinge erhoben hätte, daß Williams und seine Freunde den König von Dahomeh einzeln zum Zweikampf herausfordern wollten und so weiter.

Wütend erklärte Hope den Franzosen für verrückt, und endlich gelang es ihr, auch hier durch ihre Erzählung Ruhe herzustellen.

Als sie aber den Monsieur wieder einer Dame sein Abenteuer erzählen sah, da ballten sich die kleinen Hände des jungen Mädchens in gerechtem Zorne zusammen, und es ging direkt auf ihn zu, um seinen Lügenmund auf eine Zeitlang zu stopfen.

Er stand gerade neben einem Loche, welches von dem kürzlich gefallenen Regen mit einem sumpfigen Brei gefüllt war. Plötzlich erhielt der Monsieur einen heftigen Stoß, er schwankte und stürzte dann kopfüber in den Sumpf, so daß nur seine gelben Schuhe heraussahen, wie, um nach dem Übelthäter auszuspähen.

Eingeborene befreiten ihn schnell aus seiner Lage, aber die Lektion hatte gewirkt, bis zur Ankunft der erwarteten drei Männer ließ sich Monsieur Pontence nicht wieder außerhalb seines Zeltes sehen.

Es war fast Mitternacht, als endlich die sehnlichst Erwarteten im Lager eintrafen, aber ohne Chaushilm, mit niedergeschlagenen Gesichtern, erschöpft, und Charles, welcher noch der Gefaßteste war, sogar ohne seine Winchesterbüchse.

Schneller und kürzer, als es hier in Buchstaben geschehen kann, gab Charles Bericht über seine fruchtlosen Bemühungen.

Man erreichte die Tore jenes Dorfes erst bei Dunkelheit, aber es schien, als ob das Hüttendorf in großer Aufregung sich befände, vielleicht wegen des morgenden Festes. Sie klopften lange gegen das Tor, sie vernahmen abweisende, ja, drohende Rufe; als sie aber mit Klopfen nicht nachließen, da öffnete sich endlich das Tor, und in Begleitung einiger Amazonen erschien ein Mädchen, welches nach Yamyhlas Beschreibung Simbawenni sein mußte.

Sie fragte kalt nach ihrem Begehr, sich dabei eines Dolmetschers bedienend, und erklärte dann kurz, von einem gefangenen Musungu nichts zu wissen. Als aber Williams nicht nachließ und sagte, jedes Lösegeld würde gezahlt werden, da änderte Simbawenni mit einem Male ihre Meinung.

»Gibst du mir die Büchse, die du auf der Schulter trägst, so will ich dir einen Rat geben,« sagte Simbawenni. »Hältst du auch dein Wort?« fragte Charles mißtrauisch.

»Meine Glieder sollen verdorren, wenn ich es nicht halte,« war die Antwort.

Ohne Zögern händigte ihr Charles die wertvolle Büchse aus, natürlich in der Meinung, einen Ratschlag in Bezug auf die Wiedererlangung Chaushilms zu hören.

»Ich halte mein Wort,« sagte das listige Weib, »so rate ich Euch denn, morgen nicht nach Abome zu kommen, denn kein Musungu wohnt meiner Einweihung bei, nicht ein einziger.«

»Und schwapp! war das Tor zu und öffnete sich nicht wieder,« schloß Charles, »und ich stand draußen ohne Büchse — das verfluchte Weib.«

»Warum mag sie nicht die Büchsen aller drei Herren gefordert haben?« fragte ein Mädchen so nebenbei.

»Weil sie dann mit den anderen Mädchen hätte teilen müssen,« grinste der ebenfalls gegenwärtige Goliath, »und Simbawenni ist stolz, sie will das beste Gewehr haben.«

»Was jetzt?« fragte Hendriks.

»Lebt der Musungu noch, so ist er in Abome,« mischte sich David ein, auf den man stets hörte, »wir ziehen morgen in aller Frühe dorthin.«

»Nein, jetzt gleich,« sagte Charles, »jede Sekunde ist unersetzbar.«

»Die Pagazis marschieren nicht während der Nacht, vor drei Stunden kann der Aufbruch nicht erfolgen,« erklärte Goliath.

»Der Teufel soll sie holen, wenn sie nicht wollen,« fuhr Charles auf, »die Peitsche wird sie schnell genug auf die Beine bringen. Harrlington, Davids, sind Sie damit einverstanden, daß zum Abbruch des Lagers geblasen wird?«

»Ja,« entgegnete Davids, »aber nichts, ohne vorher zu überlegen. So viel Zeit muß übrig bleiben.«

»Das Lager bleibt stehen, nur wir Herren, vielleicht auch die Damen gehen nach Abome und liegen noch vor Tagesanbruch vor den Toren,« schlug Harrlington vor.

»Nein,« erklärte David, der Führer, entschieden, »kein Aufsehen erregen. Wollt Ihr jetzt schon aufbrechen, gut, versucht die Pagazis dazu zu bewegen; uns Führern allein, die Euch treu sind, ist dies eine Unmöglichkeit, wir können Euch dabei nur unterstützen. Aber wir müssen auf jeden Fall als Karawane nach Abome kommen und nicht so, als ob wir etwas mit Gewalt zu erreichen suchten.«

Die Anwesenden, darunter auch die gewöhnlich das Wort führenden Damen, erklärten sich damit einverstanden.

»Aber wir wohnen der Vorstellung bei?« stellte jemand die zweifelnde Frage.

»Natürlich, schon Yamyhlas wegen,« entgegnete Ellen »Zwar weiß ich noch nicht, auf welche Weise das Mädchen sein Recht geltend machen will, es sagt, erst wenn wir vor den Toren Abomes lägen, würde es uns ihren Plan mitteilen, aber jedenfalls zählt es auf unsere Hilfe.«

»Und Chaushilm?«

»Über dessen Schicksal werden wir hoffentlich in Abome etwas erfahren; so lange mag er Gott empfohlen sein. Reiche Geschenke werden uns die Tore der Stadt öffnen.«

Da schmetterte schon die Alarmtrompete durch das Lager, die Träger zum Abbruch des Lagers und zum Abmarsch rufend. Die Pagazis lagen alle in süßem Schlummer, sie glaubten das Signal nur zu träumen, als sie sich aber davon überzeugten, daß es wirklich die Alarmtrompete war, da entstand ein unwilliges Gemurmel im Lager.

Zum zweiten Male ertönte das Signal, und schlaftrunken eilten die Pagazis aus den Zelten und sammelten sich um den Alarmbläser, um Goliath, denn es konnte ja auch sein, daß ihnen einige Krüge Pembe gespendet werden sollten, und zu solch einer Arbeit waren sie immer bereit.

Goliath setzte die Trompete ab und hielt eine Ansprache, so wie sie gewöhnlich die Pagazis bei etwas Wichtigem zu hören bekommen.

»Worte, Worte, Worte!« rief Goliath mit dröhnender Stimme. »Die Musungus wollen ziehen.

»Auf, Pagazis, auf, ihr Mutigen, auf, ihr Tapferen, auf, ihr Männer mit den steinernen Herzen, brecht die Zelte ab und nehmt die Ballen auf den Rücken, bei Abome wird wieder Rast gemacht, nur wenige Stunden sind es bis dahin; für eure löwenstarken Glieder ist das nichts. Morgen gibt es Hammel, Schweine und Kälber, viel, viel, viel, und Pembe, daß ihr alle nicht mehr stehen könnt. Geht!«

Diese versprochenen Delikatessen vermochten aber nicht die faulen Pagazis lebendig zu machen, das Gemurmel hörte nicht auf, es verwandelte sich vielmehr in Schreien.

»Ist das vielleicht die Sonne dort?« riefen sie und deuteten dabei auf den Vollmond. »Seit wann werden die müden Pagazis aus dem Schlafe gerüttelt, um zu marschieren? Wenn die Musungus gehen wollen, so mögen sie doch gehen und ihre Ballen allein tragen. Wir sind müde, wir bleiben und schlafen.«

Sie hätten vielleicht noch lange so gesprochen, aber Goliath kannte seine Leute. Mit einem Satze war er von seinem Ballen herunter, faßte den ärgsten Schreier im Genick, drückte ihn zu Boden und prügelte ihn mit der Rhinozerospeitsche, welche er plötzlich wie durch Zauberei in der Hand hielt, windelweich.

»Ist das die Sonne oder der Mond, heh?« schrie der Riese, unermüdlich seine Peitsche schwingend. »Ist das die Morgensonne, heh?«

»O, au, o, ja, ja, es ist die Sonne, die Morgensonne,« schrie der sich am Boden Windende.


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»Seht ihr, es ist gar nicht der Mond, sondern die Sonne,« wandte sich Goliath an die übrigen, fort jetzt, an die Arbeit, ihr Halunken, ihr Tagediebe, ihr Schweine, ihr Kaninchen, ihr Dominikanermönche.« Ob die Pagazis den letzten Namen für ein Schimpfwort auffaßten, weiß ich nicht, aber Goliath hielt diese aufgeschnappte Bezeichnung für ein Schimpfwort. Besser jedoch sprachen die links und rechts ausgeteilten Hiebe mit der Peitsche zu den Männern mit den eisernen Herzen und löwenstarken Gliedern, brummig, jedoch eilends machten sie sich daran, die Zelte abzubrechen.

Doch kaum aus dem Gesichtskreise Goliaths gekommen, verließ ihre löwenstarken Glieder wieder die Kraft, sie wurden so faul, daß sie kaum die Hände rührten. Die Musungus waren ja immer so gut, freundlich und zum Scherzen aufgelegt, die taten ihnen nichts, und wenn sie auch bei der Arbeit einschliefen, und Goliath und David konnten nicht überall sein. Die anderen vier Führer waren auch nicht besser als sie, die verwünschten ebenfalls aus vollem Herzen alle Arbeit zur unrechten Zeit.

Aber diesmal hatten die Leute sich bitter getäuscht.

Wenn ein Pagazi die Hände träge in den Schoß sinken ließ, dann klatschte ihm auch schon die Rhinozerospeitsche auf den Rücken, und wandte er sich heulend um, so blickte er nicht in ein schwarzes Gesicht, sondern in das eines der Herren, ja sogar in das einer Dame.

Die Musungus waren diese Nacht eben unerbittlich, überall fielen die Hiebe, überall ertönte ein lautes Schmerzgeheul, aber die Folge davon war auch, daß bereits nach einer halben Stunde die Karawane fix und fertig dastand, während dazu sonst eine Stunde gebraucht wurde.

Nun glaube der liebe Leser ja nicht, daß die hier eben geschilderte Szene in jenen Zeiten stattfand, da die Sklaverei in schönster Blüte stand. Noch heute finden tagtäglich ähnliche Szenen stand, und sie werden stattfinden, so lange Afrika von Karawanen durchkreuzt wird. Aber der liebe Leser glaube auch nicht, daß dies eine sogenannte unmenschliche Behandlungsweise der Neger sei, sie kann nicht anders sein, und der Neger selbst nimmt sie durchaus nicht übel, er ist, nachdem er gepeitscht worden ist, sofort wieder freundlich, gutmütig, scherzhaft, prahlerisch, stolz, Prügel sind ihm keine Ehrenstrafe.

Einen Neger kann man durch freundliche Worte oder Versprechungen nicht zu dem bringen, was er leisten könnte — es fehlt ihm jede Energie — ebensowenig wie man einen faulen Esel dadurch zum Vorwärtsgehen bewegen kann, daß man ihm Schmeichelnamen gibt oder ihm ein goldenes Halsband umlegt.

Die Karawane zog mitten in der Nacht durch den finsteren Wald.

Eine Stunde mochte so vergangen sein, als die Spitze des Zuges, von den Führern gebildet, plötzlich hielt. Es mußte ein Hemmnis im Wege sein. Lord Harrlington begab sich sofort dorthin und sah die Führer mit einer vermummten Gestalt in Unterredung, welche durchaus sofort mit demjenigen, dem die Karawane gehöre, sprechen wollte.

»So sprich,« sagte Harrlington, »ich bin der Leiter dieser Karawane.«

»Wo ist dein Diener Hannibal?« klang es dumpf hinter dem Tuche hervor. Der Mann, offenbar ein Neger, sprach ein ziemlich gutes Englisch.

Hannibal war bald zur Stelle und wurde von dem Unbekannten zur Seite in die Büsche gezogen, wo beide lange und leise zusammen flüsterten.

Als Hannibal wieder allein hervortrat, zeigte er eine bestürzte Miene. Harrlington, unwillig über den Verzug, den hierdurch der Marsch erlitt, fragte ihn, wer der vermummte Neger sei; statt aller Antwort aber legte Hannibal die Hände trichterförmig an den Mund und stieß das langgezogene, klagende Geheul des Schakals aus, dreimal hintereinander. Gleich darauf kam von hinten, wo sich die Damen befanden, ein Pferd angaloppiert, wurde vor den beiden pariert, und die auf ihm sitzende Person warf sich aus dem Sattel.

Es war Yamyhla.

Hastig wechselte Hannibal einige Worte mit ihr, wonach die ebenso wie die anderen Damen gekleidete Yamyhla, welche aber stets einen dichten Schleier vor dem Gesicht trug, dorthin ging, wo sich der unbekannte Neger noch im Gebüsch befand.

»Der Neger warnte mich, wir sollen nicht nach Abome ziehen,« sagte jetzt Hannibal zu seinem Herrn.

»Warum denn nicht?«

»Ich weiß es nicht, aber folgt seinem Rat, Herr! Ich glaube, morgen geschieht etwas in Abome, was keines Fremden Augen sehen dürfen.«

»Was sollte das sein?«

»Ich weiß es nicht.«

Hannibal war zu wortkarg, man konnte nichts aus ihm herausbringen. Er verschwand bald wieder im Dunkel der Bäume.

Harrlington wurde von hinten an der Schulter berührt — es war David, der Führer.

»Wollt Ihr, Herr, daß ich die beiden dort belausche?« fragte er mit schlauem Lächeln.

Das wollte Harrlington eben nicht, aber er fragte, ob er den angekommenen Neger kenne.

»Noch nicht, doch gleich werde ich es Euch sagen können.«

Und ohne den Befehl dazu zu erwarten, schlüpfte der geschmeidige Schwarze wie eine Schlange durch die Büsche jener Stelle zu, an welcher sich der Unbekannte mit Yamyhla besprach.

Nur einige Minuten war er weg, so hörte man im Gebüsch einen drohenden Ruf, dann einen gellenden Hilfeschrei, ein kurzes Ringen folgte, schon wollte Harrlington zu Hilfe eilen, als plötzlich ein dunkler Gegenstand wie ein Ball durch die Luft flog und gerade zu des Lords Füßen auf den Weg fiel.

David war es, der jammernd am Boden lag und es nur seiner Gelenkigkeit zu danken hatte, daß er nicht sämtliche Knochen gebrochen.

»Das Mädchen, das verfluchte Mädchen!« stöhnte der beim Lauschen ertappte David. »Aber ich weiß, wer der Schwarze ist, es ist Ngaraiso, der Medizinmann.« David hatte die Geistesgegenwart, letzteren Namen so leise auszusprechen, daß er nur die Ohren Harrlingtons erreichte. Dieser hatte es geahnt, er mußte jetzt über David lachen, dessen Spionage von der Dahomeh so nachdrücklich bestraft worden war, sie hatte eben ein noch feineres Gehör als der Führer.

Daß Ngaraiso die Karawane aufgesucht hatte, mußte doch eine Ursache haben, und so beschlossen Harrlington und John Davids, so lange zu warten, bis die Unterredung im Busche beendet war.

Nicht lange dauerte es, so erschien Ngaraiso wieder. Er wandte sich sofort an Harrlington,

»Ändert euren Weg,« sagte er mit gedämpfter Stimme. »Ihr dürft nicht nach Abome, es wäre euer Unglück!«

»Auf eine solche Warnung hören wir nicht, wenn sie nicht durch Gründe erläutert wird,« entgegnete der Lord.

»Ich kann keinen anderen Grund angeben, als den, daß unter den Kriegern in Abome ein Aufstand droht, welcher euch gefährlich werden kann,« flüsterte Ngaraiso fast unhörbar.

»Und Yamyhla?« fragte Ellen.

»Sie bedarf eurer Hilfe nicht.«

»Ah!«

»Noch eins,« fragte Harrlington wieder. »Ist es der König, welcher uns den Eintritt verweigert?«

»Nein, er würde ihn euch gegen ein hohes Geschenk erlauben.«

»Wer ist es sonst?«

»Jemand, der euch fürchtet.«

In diesem Augenblick raschelte es im Gebüsch, und eine dunkle Gestalt trat, nein, sprang heraus und saß mit einem Sprunge auf dem Pferde, auf welchem vorhin Yamyhla gesessen hatte.


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Es war auch wirklich Yamyhla, aber nicht mehr die in dem kurzen, hellen Reitkleide, sondern Yamyhla, die Amazone. Alles, womit die Damen sie geschmückt, hatte sie abgestreift und im Busch liegen lassen, sie war nackt bis auf ein Tuch, welches sie um die Hüften geschlungen hatte, aber ihr Gesichtsausdruck war noch finsterer als sonst, etwas furchtbar Drohendes lag darin, und ihr Auge loderte in unheimlichem Feuer.

Schnell war Ngaraiso bei ihr, sie faßte ihn an den Händen und hob ihn mit einem Ruck vor sich aufs Pferd.

»Ihr werdet von mir hören,« rief sie und gab dem Pferde die Schenkel zu fühlen, daß es jäh aufbäumte und in weiten Sätzen davonjagte. »Kommt nicht nach Abome,« klang es noch aus weiter Ferne in die Ohren der Erstaunten.


23. Im Lager des roten Löwen.

Etwa vierhundert Meilen von der Küste ab liegt am Niger, einem der bedeutendsten Ströme Afrikas, das kleine Negerstädtchen Babba, eine Zwischenstation für Karawanen und daher besonders mit reisenden Arabern Handel treibend.

Es liegt zugleich am Mussondi, welcher hier in den Niger mündet und an der Grenze von Dahomeh und Joruba entspringt.

Es war an einem sonnenklaren Morgen, als ein Boot mit sechs Ruderern und drei Passagieren diesen Fluß stromaufwärts fuhr. Die Ruderer waren Schwarze aus Babba, ebenso wie man auch der Form des Bootes ansah, daß es in dieser Stadt seinen Liegeplatz hatte, die drei Fremden aber waren Weiße, wenigstens Europäer, denn zwei von ihnen hatten eine so braungebrannte Haut, daß man den Ausdruck Weißer hier kaum noch anwenden konnte. Der dritte dagegen besaß eine hellere Haut, machte überhaupt einen eleganteren Eindruck als seine beiden Gefährten, die sich in ihrem ganzen Benehmen als Seeleute verrieten.

Es sind drei gute, alte Bekannte, nämlich der Seewolf, Ned Carpenter und Tannert.

Eine malerische Gegend war es, durch welche diese drei fuhren; meist lag zu beiden Seiten des Flusses allerdings die mit Büschen besetzte Steppe, oft aber drängten sich zur Rechten die Ausläufer eines Urwaldes so nahe ans Ufer, daß die Äste der Baumriesen weit über das Wasser ragten, und solche Stellen wären wohl der Bewunderung wert gewesen, aber die drei Männer waren in geschäftliche Gespräche vertieft, und solche hatten größeres Interesse für sie, als Naturschönheiten. Der Seewolf war, wie immer, kurz und brummig, und bei dieser Partie umsomehr, als sich in Babba ganz plötzlich und unerwartet Tannert ihnen angeschlossen hatte, den er in China oder Australien oder Amerika vermutete, nur nicht hier an der Westküste Afrikas. Derselbe hatte kurz erklärt, er habe hier Geschäfte vor, zu deren Erledigung er aber noch einige Wochen Zeit hätte, und wolle sich daher gern der Expedition des Seewolfes anschließen, welche ja nur einige Tage daure.

Letzterer konnte Tannert nicht ausstehen, weil dieser zu viel feineren, raffinierteren, sogenannten Geldschwindelgeschäften vom Meister verwendet wurde, und der Seewolf haßte alle diejenigen, welche sich damit befaßten, weil er wohl wußte, daß diese beim Meister in hohem Ansehen standen und besser bezahlt wurden, als die ›Dreinhauer‹, wie er die Sorte von Verbrechern bezeichnete, zu der er selbst gehörte.

Da war doch Ned Carpenter ein ganz anderer Kerl, mit dem konnte er immer auskommen. Dieser wußte ebensogut eine Pistole abzuschießen, einen Mann mit der Faust zu Boden zu schlagen, ein Schiff durch den Sturm zu lenken, wie auch einen Liter Rum mit einem Zuge hinunterzustürzen. Der war sein Freund, und wenn er auch manchmal etwas eifersüchtig auf ihn wurde, weil er ihn beim Meister nach und nach ausstach, mehr Briefe bekam und überhaupt von der ganzen Sache mehr wußte, als er selbst, so nahm er es ihm doch nicht übel, weil er eben ein ganz famoser Kerl war. Er stand in seiner Gunst zehnmal höher als Tannert, dieser zimperliche, bleichsüchtige Gesell mit den zarten Händen.

Tannert kehrte sich nicht im geringsten daran, daß der Seewolf ihn immer »abblitzte«.

Er hatte in Babba, wo er ganz unvermutet eintraf, als die beiden eben ein Boot und sechs schwarze Ruderer mieteten, einfach erklärt, daß er sich der Partie anschließen möchte, nur so zum Zeitvertreib, und deutlich genug zu verstehen gegeben, daß er über den Zweck dieser Reise vom Meister selbst vollständig eingeweiht worden war.

Red schien darüber sehr erfreut, daß er außer dem brummigen Seewolf noch einen Reisebegleiter bekam, und dieser konnte dem Gefährten nicht die Mitreise verweigern, er mußte seine Einwilligung geben, aber ohne Murren und Brummen ging es natürlich nicht ab.

Es war schade, daß der Seewolf in manchen Sachen so furchtbar plump war, sonst hätte er merken müssen, wie Tannert fortwährend, gleich als sie sich noch an Land befanden, versuchte, ihn allein zu sprechen, ohne Gegenwart eines dritten, aber der Seewolf, der eben eine Abneigung gegen Tannert hatte, ging niemals darauf ein. Er verstand nicht, als Tannert zu ihm sagte, er solle mit ihm erst noch einmal nach dem und dem Hause gehen, in jener Wirtsstube noch ein Glas Palmenwein auf gute Reise mit ihm trinken, sich mit ihm dort ein Boot besehen und so weiter, der Seewolf schlug die Begleitschaft entweder ab, oder er forderte Red zum Mitgehen auf, und dann drehte sich das Gespräch um ganz gleichgültige Sachen.

Tannert blieb zwar äußerlich immer kalt, innerlich kochte er aber vor Wut über diese Dummheit des Seewolfs, nur freute er sich, daß auch Red zu wenig Verstandeskraft hatte und diese immer keckeren Aufforderungen, ihn einmal allein zu lassen, nicht merkte. Er ging ruhig seinen Beschäftigungen nach, rüstete das Boot aus, fuhr die Schwarzen grob an, blieb, wo er war, und kam, wenn er gerufen wurde. Nie zeigte er mit einer Miene, daß er Argwohn geschöpft hatte.

Daß Tannert den Ned Carpenter auch während der Fahrt nicht aus dem Auge ließ, merkte weder der Seewolf, noch dieser selbst, ebensowenig, wie bei Gelegenheit Tannert immer wieder versuchte, Ned einmal zu entfernen.

»Nun zeigt einmal offene Karte,« sagte der Seewolf, während das Boot unter den Riesenbäumen dahinglitt. »Wir können ruhig miteinander sprechen, die Nigger verstehen wohl etwas Spanisch, aber kein Wort Englisch. Warum wollt Ihr eigentlich mit uns den roten Löwen aufsuchen?«

»Ich erklärte Euch schon immer, daß ich dies nur aus bloßem Zeitvertreib tue,« entgegnete Tannert gleichgültig, »ich habe eben Lust, mich von einer Arbeit zu erholen, die mich sehr angestrengt hat.«

»Was für eine Arbeit?« fragte der Seewolf neugierig.

»Ein Unternehmen, welches mir einmal mißglückt ist. Aber das kann mir höchstens einmal passieren, nicht zum zweiten Male — ich habe Snatcher von Bord des ›Amor‹ abgeholt.«

Ein Ruf des Erstaunens entfuhr den Lippen des Seewolfs, und auch Ned machte ein verwundertes Gesicht. Er ahnte nicht, wie Tannert, welcher sich gemächlich an die Bordwand lehnte und eine blaue Lorgnette zum Schutze gegen die Sonnenstrahlen vor den Augen hatte, ihn hinter den Gläsern scharf bewachte.

»Wie habt Ihr denn das gemacht?«

»Sehr einfach,« entgegnete Tannert und schlang spielend die Lorgnettenschnur um die Finger, »Snatcher war doch immer krank, er litt am Fieber und besserte sich nur langsam. In Mgwana war die Cholera ausgebrochen, und die gesamte europäische Bevölkerung hatte ausgemacht, daß jeder, der Symptome dieser Krankheit zeigte, an Land oder an Bord eines im Hafen ankernden Schiffes, sofort in die Baracken käme. Ich bestach einen Arzt, welcher die Untersuchung auf den Schiffen vornahm, und dieser ordnete an, daß Snatcher auch nach den Baracken geschafft wurde, natürlich kam er nicht dorthin, sondern befindet sich in Sicherheit.«

»Wo ist er denn jetzt?« fragte der Seewolf. »Das kann ich nicht sagen,« war die kurze Antwort.

Der Seewolf brummte mürrisch und unwillig vor sich hin, er wünschte diesen Tannert zu allen Teufeln.

»Ich weiß nur so viel,« fügte Tannert schnell hinzu, als wolle er seinen Fehler wieder gut machen, »daß er bereits auf dem Wege nach Amerika ist. Ich mußte ihn gleich an jemanden anders abgeben, der den weiteren Transport leitete.«

»Ach so,« sagte der Seewolf einigermaßen wieder versöhnt.

»Da ich Euch nun so offen in meine Geschäfte eingeweiht habe,« begann Tannert nach einer kleinen Pause wieder, »so könnt Ihr mir wohl sagen, was Euch hierherführt?«

»Ihr wißt es doch selbst,« knurrte der Seewolf.

»Ich weiß nur so viel, daß Ihr den roten Löwen aufsuchen und dazu anwerben sollt, die Engländer zu vernichten und die Damen womöglich alle lebendig auszuliefern. So viel erzählte mir ein Mann, welcher ein Vertrauter des Meisters ist. Ihr seht also, Heimlichkeiten brauchen wir voreinander nicht zu haben.«

»Was wollt Ihr denn sonst noch erfahren, wenn Ihr schon alles wißt?«

Tannert entnahm seiner Rocktasche eine Flasche, entkorkte sie und nahm einen kleinen Schluck, um sie dann dem Seewolf zu reichen.

»Mir ist nur nicht recht klar, wie Ihr gerade dazu erwählt seid, Euch diesem Unternehmen anzuschließen, denn es steht doch sicher zu erwarten, daß der rote Löwe einen von uns zur Seite haben muß, damit er nicht nach Willkür handelt, sondern uns in die Hände arbeitet, überhaupt etwas unter Aussicht steht. Offen gestanden, Seewolf, zu so etwas eignet Ihr Euch nicht, Ihr paßt mit Euren Seebeinen nicht in die Wälder und Dschungeln. Ich weiß wohl, daß Ihr auf dem Meere Euresgleichen sucht. Niemand kann ein schlechtes Schiff so schnell segeln lassen, daß es den schnellsten Segler überholt, und niemand kann Euch in Kniffen, welche sich auf der See abspielen, gleichkommen. Aber, wie gesagt, ich halte Euch nicht für geeignet, durch Steppen zu kriechen und in Morästen herumzupatschen, da seid Ihr bald wrack gelegt.«

Während dieser langen Rede hatte der Seewolf den Inhalt der Flasche ununterbrochen in seine ausgetrocknete Kehle hinunterlaufen lassen, und als Tannert jetzt schwieg, setzte er sie endlich ab und strich sich die perlenden Tropfen schmunzelnd aus dem weißen Schnurrbart.

Er war bei seiner schwachen Seite gefaßt worden.

»Da habt Ihr recht,« sagte er, die Flasche Red Carpenter hinreichend, der sie vollends leerte. »Nein, zu so etwas passe ich, wie der Bär zum Mäusefangen, und es freut mich wirklich, daß Ihr so viel Vernunft in Eurem Hirnkasten habt, um das herauszufinden. Halt ein, halt, Red,« er nahm dem Begleiter die Flasche vom Mund, »hättest mir auch noch einen Tropfen drin lassen sollen, aber greif da einmal hinter dir in die Kiste, da, rechts liegt noch eine andere Flasche. Ja, Mister Tannert, dazu würde ich mich schlecht eignen, wie ein Spürhund im Busch herumzukriechen, einmal habe ich das gemacht, aber nie wieder.«

»So soll der rote Löwe also auf eigene Faust hinter den Mädchen herjagen?« unterbrach Tannert lächelnd den plötzlich redselig gewordenen Seewolf.

»Durchaus nicht. Hier, mein Kompagnon, Red Carpenter, übernimmt diese Rolle, der versteht so etwas ausgezeichnet, besser als ein Zulukaffer kann er im Busche schnüffeln.«

»Und was habt Ihr dabei zu tun?«

»Zu zweien läßt sich so eine Geschichte besser abschließen als allein, ich bin sozusagen der Zeuge, in Wirklichkeit aber derjenige, der das Geschäft macht. Ist die Sache im klaren, das heißt, ist der rote Löwe bereit, für soundsoviel uns die Mädchen zu verschaffen und die Engländer von seinen Leuten auffressen zu lassen, so zahle ich ihm die Hälfte der Summe aus, verspreche ihm die andere nach Auslieferung der Mädchen, und dann geht Ned mit diesen ab.«

»Kann Euch der rote Löwe, der doch auch nur ein Wilder ist, nicht das Geld, das Ihr bei Euch habt, mit Gewalt abnehmen?«

»Möglich wäre es natürlich, aber es muß eben gewagt werden. Wir können doch nicht gleich mit ein paar hundert Mann zu ihm rücken, und zehn Mann kann er ebensogut morden, wie uns beide. Wir haben niemanden finden können, der den Auftrag ausrichten wollte, und so gab ich schließlich Ned nach, welcher durchaus selbst hinwollte. Übrigens ist der rote Löwe kein gewöhnlicher Nigger, sondern ein Mulatte, und hat daher schon die feineren Eigenschaften eines Weißen an sich, das heißt, nicht gerade die guten, so zum Beispiel nimmt er nicht etwa Perlen, Muscheln und so weiter als Bezahlung, sondern nur bares Geld, er führt immer einen ganzen Harem mit sich herum und weiß ganz genau, was gut schmeckt; wenn er irgendwo plündert, so guckt er stets zuerst in den Weinkeller, was der Hauswirt für Sorten führt, hahaha!«

»So lebt er nur von Raub?«

»Natürlich, nur von Raub, Plünderung und Mord. Er ist so ein kleiner König ohne Land, hat aber eine größere Waffenmacht als alle übrigen Häuptlinge mit Land.« »Aus was für Leuten setzt sich diese Truppenmacht zusammen?«

»Nun, wir könnten uns auch alle unter seine Leute anwerben lassen,« lachte der Seewolf. »Es ist nämlich nur der sogenannte Abschaum der Menschheit, hier allenfalls der Abschaum von Afrika, Schwarze, Braune, Gelbe, Weiße, Neger und Mulatten, die sich nirgends mehr sehen lassen dürfen, ohne aufgehangen zu werden,«

»Dann ist es aber gefährlich, wenn wir uns nach seinem Lager begeben.«

»O, nicht so sehr, wie Ihr denkt. Der rote Löwe besieht sich erst seinen Mann, ehe er ihn tötet. Kann er mit ihm ein gutes Geschäft machen, so tut er es.«

»Und tötet ihn dann,« fügte Tannert lachend hinzu. »Wißt Ihr auch genau, wo sich sein Lager befindet?«

»Red hier weiß es. He, mein Junge, wie weit sind wir denn noch davon ab?«

»Wo der gelbe Fels links am Ufer liegt, müssen wir auf der anderen Seite aussteigen. Dort werden wir schon auf Vorposten des roten Löwen stoßen,« sagte dieser.

Er sprach auf spanisch mit dem Schwarzen, welcher das Boot steuerte.

»Wir sind nicht mehr weit davon ab,« sagte er dann. »Nur noch zwei Biegungen des Flusses, dann sind wir da.«

Als die erste Biegung passiert war, hielten auf einen Wink des Steuermannes die Neger plötzlich mit Rudern ein und begannen, sich lebhaft untereinander zu besprechen.

»Was gibt es, ihr Nigger?« fragte der Seewolf, dessen Augen durch den übermäßigen Genuß des spirituösen Getränkes schon zu glänzen anfingen.

»Kibokos, Herr, viele, viele Kibokos,« war die Antwort.

»Was ist das, Kibokos, ihr Halunken?«

Red Carpenter hatte sich, ebenso wie Tannert, erhoben und blickte dahin, wohin die Neger spähten und deuteten. Sie sahen dort auf der Wasserfläche eine Menge dunkler Gegenstände schwimmen, fast gerade so, als wenn Pferde ihre Köpfe über das Wasser steckten.

»Es sind Flußpferde!« riefen Ned und Tannert zugleich.

»Teufel,« brummte der Seewolf, »die Bestien werden uns doch in Ruhe lassen?«

Er griff nach seiner Büchse, ebenso die anderen.

»Die Flußpferde greifen den Menschen nicht an, wenn sie nicht gereizt werden,« sagte Tannert.

Da fielen plötzlich einige Schüsse, sie sahen in einiger Entfernung am rechten Ufer Pulverdampf aufsteigen. Ein Tier mußte getroffen sein, denn es schwamm schnell stromab, von den anderen gefolgt, wobei sie das Wasser in wirbelnde Bewegung brachten.

»Verdammt!« knirschte der Seewolf. »He, Schwarzer, rudere ans Ufer!«

Der Aufforderung wurde eiligst Folge geleistet, aber die ankommenden Tiere bewegten sich so schnell vorwärts, daß sie sich in gleicher Linie mit dem Boote befanden, noch ehe dieses das Ufer erreicht hatte.

Das erste getroffene Tier schwamm unglücklicherweise gerade gegen das Boot an, es konnte nicht mehr ausweichen, und, von einer plötzlichen Wut gepackt, riß es das furchtbare Maul weit auf und wandte sich direkt gegen das Fahrzeug.

Die Neger schrieen laut auf vor Schreck, einer ließ sogar das Ruder ins Wasser fallen, die drei Weißen sprangen auf und hoben die Büchsen, eben als das weit aufgerissene Maul mit den gewaltigen Zähnen das Boot am Rande erfaßte und es wie ein Spielzeug aus dem Wasser hob. Drei Schüsse krachten zu gleicher Zeit, und das von drei Kugeln in den Schlund getroffene Tier ließ das Boot fahren und sank sofort unter, über sich einen wirbelnden, blutroten Schaum zurücklassend. Aber die Bordwand war von den Zähnen zertrümmert, das Boot nahm stark Wasser über und drohte zu sinken.

Dazu kam noch, daß die übrigen Tiere unterdes auch das Boot erreicht hatten, es nun umdrängten und zu zertrümmern suchten.


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Ehe es sich die entsetzten Insassen versahen, kippte das schwanke Fahrzeug plötzlich um, sie lagen im Wasser und suchten durch eilendes Schwimmen das bewaldete Ufer zu gewinnen, was den drei Weißen und sechs Schwarzen auch wirklich gelang.

Als sie aber das Ufer emporklommen, sahen sie sich plötzlich von einer Schar schwarzer Gestalten umringt. Diejenigen, welche die Gewehre gerettet hatten, konnten keinen Gebrauch davon machen, denn die Munition war ebenso, wie sie selbst, durchnäßt, und im nächsten Moment lagen sie alle überwältigt am Boden. — — —

In einer hügeligen Einsenkung der Steppe war ein Lager hergerichtet, so einfach, daß nur die bedürfnislosesten Neger damit zufrieden sein konnten. Es gab kein Zelt, kein Obdach, ja, nicht einmal Bäume, in deren Schatten die Lagernden Schutz gegen die heißen Strahlen der Sonne fanden, aber die Neger können eine Portion Hitze vertragen.

Und Neger und Mulatten waren es auch nur, welche hier auf Fellen lagerten und sich von der Sonne braten ließen, obwohl es mehrere unter den etwa dreihundert Männern gab, welche so viel weißes Blut in ihren Adern hatten, daß sie als Weiße hätten gelten können, wenn nicht die Sonne ihre Haut so schwarz gebrannt hätte, ihre Physiognomien und das schlichte, oft sogar helle Haar verriet ihre Abstammung. Aber sie hatten dabei die Angewohnheit der Neger schon angenommen, immer in der Sonne zu liegen, wenn dieselbe während des Mittags nicht zu heiß schien.

Der ganzen Gesellschaft war der Stempel der Rohheit und moralischen Verkommenheit aufgedrückt; ihre körperliche Beschaffenheit dagegen war eine sehr gute, ein Zeichen, daß sie sich gut nährten, um die Strapazen des Kampfes und der Reise aushalten zu können.

Unter dem einzigen Baume, welcher in diesem Tale Schatten warf, lag ein kleiner, untersetzter Mann, der durch sein Äußeres den Mulatten verriet. Er war bis auf ein Lendentuch völlig nackt, nur ein prächtiges Löwenfell hatte er in malerischer Nachlässigkeit um die Schulter geworfen, und so konnte man erkennen, daß nicht nur das wildblickende, tierische Gesicht eine sonderbare schmutzigrote Farbe hatte, sondern auch sein ganzer Körper. Er lag bequem ausgestreckt, den Kopf auf eine Hand gestützt, und bot mit seinem muskulösen und doch geschmeidigen Körper ein schönes Bild von Kraft und Ruhe.

Dies war der rote Löwe, so genannt einesteils wegen seiner Hautfarbe, anderenteils wegen des Löwenfelles, ohne welches er nie gesehen wurde. Man erzählte sich von ihm, daß er dieses Fell einem Löwen abgenommen habe, den er nur mit der Lanze getötet hatte. Er war der Häuptling der Bande von Ausgestoßenen, Verfolgten und Verbrechern, die er um sich gesammelt hatte, deren in zivilisierten Gegenden der Galgen wartete.

Mit ihnen unternahm er Raubzüge, überfiel Karawanen und schloß mit Vorliebe Bündnisse mit Häuptlingen, welche einen Nachbarstaat bekriegen wollten, um sich zu bereichern, sicherte sich aber stets den Löwenanteil, kraft seines Namens.

Er war wirklich ein mächtiger Häuptling, weil sein Volk nur aus kriegerischen, kräftigen Männern bestand, er besaß jedoch kein Land, obgleich es ihm leicht gewesen wäre, sich ein solches zu erobern.

Die Wachen, welche auf den Hügelkämmen aufgestellt worden waren, riefen einander etwas zu, und bald kam der Trupp heran, der ihre Aufmerksamkeit erregt hatte.

Der Häuptling wurde zwar verständigt, aber er nahm nicht viel Notiz davon, er blieb in seiner bequemen Stellung liegen, und erst, als ihm der Überbringer der Botschaft meldete, die gefangenen Weißen sagten aus, sie hätten eben ihn, den roten Löwen, aufsuchen wollen, um mit ihm ein Geschäft abzuschließen, da ließ er die drei Gefangenen vor sich kommen, ohne sich zu erheben. Er betrachtete mit teilnahmlosem Blicke seiner kleinen, rotunterlaufenen Augen die vor ihn Geführten. Schnell verständigte der Seewolf seine Gefährten, daß er die Unterredung führen würde.

»Seid ihr Engländer?« fragte der Löwe in ziemlich gutem Englisch. Er konnte also kein unwissender Schwarzer sein.

»Wir gehören keiner Nation an, wir sind Sklavenhändler,« entgegnete der Seewolf.

Der Häuptling blickte den Sprecher finster an und stieß dann einen langen, verächtlichen Ruf aus.

»Wem wollt ihr es weismachen, mir? Ihr seid Seeleute, Engländer.«

»Wir sind Seeleute, aber du weißt, Häuptling, daß eben die Seeleute den Sklavenhandel betreiben, denn diejenigen, welche dir deine Kriegsgefangenen abkaufen, sind nur Zwischenhändler, die sie wieder an uns verkaufen.«

Der Häuptling überlegte, wie er überhaupt nach jeder Antwort, die er erhielt, und ehe er etwas sprach, lange nachsann. Hinter der niedrigen, stark vorspringenden Stirn des Mulatten mußte überhaupt eine gewisse Denkkraft stecken, welche man ihm sonst, dem rohen Gesichte nach, nicht zugetraut hätte.

»So sollt ihr Sklaven kaufen?«

»Ja.«

»Ich habe keine.«

»Du sollst uns welche verschaffen.«

»Darum wolltet ihr zu mir?«

»Es ist so.«

»Gut, ich verstehe euch! Ihr seid mir willkommen! Was für Sklaven soll ich euch verschaffen? Arbeiter oder leichte Ware, oder Mädchen?«

Der rote Löwe richtete sich nunmehr auf und sah den Seewolf an, ohne besondere Teilnahme zu verraten. Hatten die drei Männer gehofft, nach dieser Bewillkommnung von ihren Stricken befreit zu werden, so hatten sie sich getäuscht, der Häuptling gab seinen Leuten, welche ihn umstanden, keinen Befehl dazu. »Es sind Mädchen, welche wir als Sklavinnen haben wollen,« antwortete der Seewolf.

»Gut, ich will euch welche besorgen. Wo holt ihr sie ab?«

»Nein, nein,« beeilte sich der Seewolf zu sagen, »es sind keine Negerinnen, sondern Weiße.«

»Weiße? Die gibt es hier nicht,« entgegnete der rote Löwe gleichgültig.

»Doch, sie sind bei einer Karawane.«

»Seit wann reisen Mädchen mit einer Karawane? Vielleicht einmal eins, aber was verlohnt sich dies, weite Märsche zu machen? Schwarze könnt ihr genug bekommen.

»Es sind viele, viele Mädchen, welche bei der Karawane sind, sie bilden diese selbst.«

»Geh, du lügst,« sagte der Häuptling und ließ sich wieder zurückfallen.

»Ich lüge nicht, und deshalb komme ich zu dir, Häuptling, damit du die Mädchen fängst und mir verkaufst. Ich gebe dir dafür nicht so viel, wie du von einem Sklavenhändler erhältst, sondern so viel, wie dieser von mir erhalten würde, und zwar die doppelte Summe die für ein schönes, schwarzes Mädchen gezahlt wird! Bist du damit zufrieden?«

Der Häuptling hatte sich wieder halb aufgerichtet und zog ein vergnügtes Gesicht, aber das grinsende Lächeln gab ihm ein schreckliches Aussehen.

»Das wäre einmal ein schönes Geschäft,« schmunzelte er, »aber hast du das Geld auch bei dir?«

»Nein,« war der Seewolf schlau genug zu antworten, »nur die Hälfte kannst du bald erhalten, und die andere dann, wenn du die Mädchen ablieferst.«

»Gut, ich bin damit einverstanden. Wo befindet sich die Mädchenkarawane?«

Der Seewolf nannte die Gegend, wo die Amerikanerinnen sich ungefähr aufhalten mußten, erzählte von den Engländern, in deren Gesellschaft sie sich immer befanden, und vor denen er, der Häuptling, sich ganz besonders in acht nehmen müsse.

»Du mußt diese Engländer erst alle töten, Häuptling,« sagte der Seewolf, »sonst kannst du die Mädchen niemals bekommen.«

»Das werde ich auch tun,« grinste der rote Löwe. »Sieh einmal meine Leute da, wie sie nach Blut lechzen. Haben schon lange keins mehr gehabt. Sind die Männer und Mädchen gut bewaffnet?«

»Sehr gut, sie haben die besten Waffen bei sich. Du mußt dich ihrer mit List bemächtigen.«

»Wie viele sind es?«

»Fünfundzwanzig.«

»Schön, und an wen verkaufst du sie wieder?« fragte der rote Löwe.

»Ich muß mir erst noch einen Käufer suchen.«

»Zehn große Goldstücke erhalte ich für jedes Mädchen, sagtest du vorhin?« fragte der rote Löwe nach einer langen Pause.

»Ja, zehn Goldstücke.«

»Und wieviel glaubst du für ein Mädchen zu erhalten?«

Tannert war schon lange unruhig gewesen, er hätte den Seewolf zu gern warnen mögen, nicht zu viel zu sagen. So gelassen und naiv der rote Löwe auch tat, er war jedenfalls ein ganz durchtriebener Kerl, dem nicht zu trauen war.

»Sieh dich vor, Seewolf,« zischelte Tannert seinem Gefährten zu, »er will dich aushorchen!«

So leise dies auch gesprochen war, dem Ohre des roten Häuptlings war es doch nicht entgangen, schneller als der Blitz hatte er eine neben sich liegende tönerne Wasserflasche ergriffen, eine Armbewegung — und der langhalsige Krug zerschmetterte an Tannerts Gesicht in Scherben.

»Verfluchter Hund,« schrie der rote Löwe, der sich nun wieder halb aufgerichtet hatte, »glaubst du, ich sei taub, und du, du alter dummer grauhaariger Wolf, glaubst du, ich sei ein Kind, das mit sich spielen läßt? Hahaha, ich brauche keine Zwischenhändler; das Geld, das du verdienen willst, kann ich mir auch verdienen, oder glaubst du, ich fange die Mädchen und lasse mir zehn Goldstücke geben, während ich zwanzig bekommen kann? Narr du, du bist in deiner Dummheit nicht wert, daß du lebst! Heh, Burschen!«

Die Neger umdrängten auf seinen Wink die Gefangenen, dieselben wurden zu Boden geworfen und bis aufs Hemd durchsucht. Gelassen nahm der rote Löwe den schweren Beutel mit Gold in Empfang, den der Seewolf bei sich getragen hatte, ebenso die Wertsachen der anderen und überließ das andere Wertlosere seinen Leuten.

Die Gefangenen wurden abgeführt.

»Haha,« lachte der rote Löwe ihnen nach, »was seid ihr Weißen doch für schlaue Leute! Nun, ihr sollt mir zeigen, wo die Mädchen zu haben und wo sie am besten zu verkaufen sind.«

Die Gefangenen wurden unter Stößen und Fußtritten nach einer Ecke des Tales gebracht, wo sie sich niederlegen mußten, und wo ihnen die Füße gebunden wurden. In ihrer Nähe lagerte sich eine Anzahl bewaffneter Neger, um einen Fluchtversuch zu vereiteln.

»Du Narr, du namenloser Tor, je weißer deine Haare werden, desto dümmer wirst du,« brachte endlich Tannert hervor, als er vor Wut Worte fand. »Ach, hätte mir doch meine Vernunft gesagt, daß sich solch ein Mensch mit Eselsverstand nicht in ein so gefährliches Unternehmen einlassen kann. Oder hättest du wenigstens mich den Sprecher machen lassen, oder meinetwegen auch Ned Carpenter, der ist noch hundertmal gescheiter, als du, du läßt dir ja vom kleinsten Kinde die Würmer aus der Nase ziehen.«

So ging es weiter, bis sich Tannerts Zorn etwas gelegt hatte, aber das dauerte lange. Der Seewolf antwortete erst nur mit einem Gebrumme, welches diesmal eher zerknirscht, als unwillig klang, dann aber ward er still, achtete nicht mehr auf die Vorwürfe, sondern begann sich seine Lage zu überlegen. Ned tat das Gleiche von Anfang an, und schließlich sah auch Tannert ein, daß sein Zorn ihn nicht aus dieser vermaledeiten Situation helfen könne, sondern allein kluge Überlegung und kühnes Handeln.

»Wir sind in einer verfluchten Patsche,« sagte er zu Ned. »Redet, Mister Carpenter! Was meint Ihr wohl, was der rote Löwe — roter Halunke sollte er heißen — mit uns vorhat?«

»Jedenfalls will er nur ...« begann der Seewolf.

»Sei still, verfluchter Graubart,« fuhr Tannert ihn an. »Schade, daß ich meinen Fuß nicht frei habe, sonst würde ich dir dein ungewaschenes Maul stopfen. Sagt, Mister Carpenter, was meint Ihr?«

Der Angeredete war der einzige, welcher seine Ruhe behalten hatte. Phlegmatisch schob er ein Stückchen Tabak im Munde hin und her und kaute darauf. Er hatte es sich kurz vorher in den Mund gesteckt, ehe er gefangen wurde, und sein einziger Trost war, daß es noch ziemlich frisch war.

»Was wir tun sollen? Fliehen!« meinte er trocken.

»Leicht gesagt, aber wie?«

»Kommt Zeit, kommt Rat — wird es Nacht, wird es dunkel, dann wird es schon eher gehen.«

»Ihr habt wenigstens noch guten Mut, aber ich bin vor Zorn über diesen Seewolf schon ganz krank geworden.«

»Davon werdet Ihr auch nicht gescheiter,« antwortete gleichmütig Ned, der auf dem Rücken lag und den Tabakssaft in kunstvollem Bogen in den Kreis der Neger spuckte, so daß einer aufsah und den Himmel musterte, weil er glaubte, es regne.

»Ich möchte nur wissen, warum die Neger hier in der Sonne liegen und sich braten lassen,« begann Tannert nach einer kleinen Weile wieder. Er fand wenigstens Trost darin, sich mit jemandem unterhalten zu können.

»Wird wohl seinen Grund haben.«

Dieser Grund wurde auch bald aufgeklärt, denn nach etwa einer Stunde kam ein Trupp Reiter ins Tal gesprengt, welche eine Unmenge von Pferden an Halftern mit sich führten. Sie waren längs des Waldsaumes geritten, und die Tiere mußten dabei bis an die Kniee in Sumpf geraten sein.

»Seht Ihr, der Waldboden ist ganz sumpfig! Findet man häufig in Afrika,« meinte Ned.

»Woher mögen sie nur die vielen Pferde haben, das sind doch über hundert Stück?«

»Jedenfalls gestohlen.«

Einige Sekunden lagen die Gefangenen still da; der Seewolf begann zu stöhnen und forderte fluchend Wasser. Ein Neger erhob sich auch sofort und ließ nicht nur ihn, sondern auch die beiden anderen trinken.

Verschmachten sollten sie also nicht, ebensowenig verhungern, denn bei Sonnenuntergang erhielt jeder ein großes Stück getrocknetes Fleisch, da ihnen aber die Hände nicht freigemacht wurden, die trägen Neger sie auch nicht füttern wollten, so bekamen sie die Fleischstücke einfach wie Hunde vorgeworfen.

Der Seewolf kaute an dem seinen unter Knurren und Murren, wirklich den Eindruck eines fressenden Hundes machend, Tannert verschmähte vorläufig noch auf solche Weise Nahrung zu sich zu nehmen, während Ned mit bestem Appetit die zähen Fleischstücke hinunterschluckte.

Tannert betrachtete den Hungrigen bei dieser Arbeit mit großem Interesse.

»Ihr scheint noch Lebensmut in Euch zu haben,« meinte er. »Habt Ihr Hoffnung auf Befreiung?«

»Warum denn nicht? Ich fühle, daß ich meine Stricke lockern kann, wenn auch jetzt noch nicht, sondern erst bei Nacht, weil niemand die Anstrengungen sehen darf; dann stehle ich dort ein paar Pferde und huih, fort bin ich.«

»Das Pferdestehlen ist eben keine leichte Sache,«

»Wenn's weiter nichts ist, ich habe dieses Geschäft gelernt, und da ich bis jetzt nicht gehangen wurde, sondern noch lebe, so ist das ein Beweis, daß ich ein geschickter Pferdedieb bin.«

Tannert betrachtete den kauenden Burschen mit immer mehr Wohlgefallen, er flößte ihm wieder Lebensmut ein. Tannert hatte in anderen Kreisen gelebt, ehe er Verbrecher wurde, wie wir einst hörten, war er Detektiv, später sogar ein hoher Gerichtsbeamter gewesen — er war also ein gebildeter Mann.

»Wißt Ihr, Ned, daß ich Euch großes Unrecht getan habe?« begann er nach einer Pause zögernd.

»Wie soll ich das wissen? Habe nichts bemerkt.«

»Ich war der Meinung, Ihr triebt nicht ehrliches Spiel.«

Ned ließ ein Fleischstück aus dem Munde fallen und lachte laut auf.

»Ehrlich sind wir doch gerade alle nicht!«

»Nun, ich meinte, Ihr triebt ein doppeltes Spiel, Ihr gehörtet eigentlich gar nicht zur Bande des Meisters, sondern wäret so eine Art von Spion.«

»Haha, sehr gut, wie kamt Ihr auf so eine verrückte Idee? Sehe ich wie ein Spion aus?«

»Nun, ich bekam nur so einen Argwohn wegen der Briefe.«

»Was für Briefe?« fragte Ned unschuldig, schon wieder an dem zähen Antilopenfleisch kauend.

»Na, lassen wir das! Ich hatte mir vorgenommen, Euch ein wenig zu beobachten, aber ich habe Euch bitter Unrecht getan; wie es scheint, seid Ihr ein braver Kerl, auf den man in der Not zählen kann.«

»Ihr wolltet mich beobachten? Vom Meister aus?« »Nein, nein, es ist gut so, es war mein eigener Verdacht. Doch horcht, was ist das?«


Illustration

Neue Reiter stießen zu der Bande, wieder Pferde mit sich führend, diesmal aber auch einen kleinen Wagen, auf dem sich einige Kisten, Ballen und Fässer befanden. Es mußten Proviantvorräte gewesen sein, denn bald flammten überall Feuer auf — es wurde schon dunkel — und wurde gekocht und gebraten. Dann kam das Faß an die Reihe, Kruken wurden gefüllt und machten die Runde. Auch die Wächter, welche sich ebenfalls ein Feuer angesteckt hatten, wurden mit einer Kruke bedacht, und als das Getränk ihnen zu Kopfe gestiegen war, kam sogar einer der Neger auf die Gefangenen zu und ließ sie einige Schlucke trinken, —es war nicht Pembe, sondern guter Palmwein.

Die Stimmung unter den Räubern wurde immer heiterer, sie stimmten ihre eintönigen Lieder an, dazwischen wurden andere hörbar, welche verrieten, daß unter der Bande auch solche waren, welche nicht immer in der Wildnis als Räuber gelebt hatten, und die Wächter füllten wieder ihre Kruken; sie wurden auch immer am Fasse zugelassen, wahrscheinlich, weil sie sich von der allgemeinen Fröhlichkeit ausschließen mußten, um einsam neben den Gefangenen zu hocken.

Nicht lange dauerte es, so war der Übermut gerade der Wächter aufs höchste gestiegen, und sie begannen, sich nach Gegenständen umzusehen, an denen sie ihren Witz auslassen konnten.

Ihre Wahl fiel natürlich auf die Gefangenen.

Einer von ihnen kam schwankend auf diese zu, betrachtete sie lange mit boshaftem Blick und kehrte dann wieder nach dem Feuer zurück, wo er lachend mit seinen Gefährten sprach und auf die Gefangenen deutete.

Er war ein Mann, dem man ansah, daß er ziemlich viel Blut von Weißen in den Adern hatte, vielleicht nur solches, denn er war blond und schlicht, und außerdem trug er einen Schnurrbart. Nur die aufgeworfene Lippe und die breite Nase konnten auf eine schwarze Abstammung hinweisen.

Er kehrte abermals zu den Gefangenen zurück, diesmal von seinen Begleitern umringt.

»Hoh,« rief er und gab dem Seewolf einen Fußtritt. »Seid ihr Weißen mehr als wir?«

Die Frage war auf englisch gestellt worden.

»Sprich, du Hund, seid ihr mehr?« »Weiß nicht,« knurrte der Seewolf.

»So,« fuhr der Betrunkene fort, den Seewolf wieder mit Fußtritten traktierend. »Du weißt es nicht! Warum tragt ihr bessere Kleidung als wir auf dem Leibe? Höh! Können wir die nicht auch tragen?«

»Meinetwegen.«

»Gut, meinetwegen, sehr gut! Hört ihr's, Burschen, wir dürfen auch solches Zeug anziehen. Haha!«

Auf seinen Ruf stürzten sich die Wilden lachend über die Gefangenen her, rissen ihnen die Sachen vom Leibe, und zogen diese sich selbst an, alles, Hemd, Hosen, Stiefel, Weste und Jacke, welche sie, da sie die Hände nicht lösen durften, einfach herunterschnitten.

»So, nun friert nicht, macht euch Bewegung, daß ihr warm bleibt!« grinste der Halbneger und drückte sich Tannerts Strohhut auf den Kopf, »wir wollen auch einmal Weiße sein, haben lange kein solches Zeug mehr auf den Leibern gehabt. Bekommt alles wieder!«

Die Wilden, von denen der eine die Hose, der andere eine Weste, wieder ein anderer nur Stiefeln anhatte, gruppierten sich lachend wieder um das Feuer und suchten das Benehmen von Europäern nachzuahmen.

»Diese Hunde,« knirschte Tannert durch die Zähne, »uns hier in dieser Nacht splitterfasernackt liegen zu lassen! Mein Gott, mein Gott, daß mir so etwas passieren muß.«

»Glaubt Ihr auch noch an den lieben Gott?« lachte Ned höhnisch. »Ich dachte, für Euch gebe es nur noch einen Teufel, und das Geld sei Euer Gott.«

»Ihr Glücklichen könnt wenigstens noch lachen,« stöhnte Tannert und wälzte sich auf die Seite, um den seltsamen Menschen zu betrachten und sich mit ihm zu unterhalten.

Es war Nacht, aber der Schein des Feuers reichte aus, um sich gegenseitig erkennen zu können.

Plötzlich erweiterten sich Tannerts Augen, er starrte wie entsetzt auf die nackte Brust des neben ihm Liegenden. Er sah da beim Flackern des unstäten Feuers ein seltsames Tier mit blauer Farbe eintätowiert.

»Ein Chamäleon,« stieß er hervor, dann aber schrie er laut auf:

»Nikolas Sharp!«

»Richtig, Nikolas Sharp ist mein Name, Mister Tannert,« sagte der nackte Mensch ruhig und blickte dem Erstarrten ins Auge, »oder kürzer: Nik Sharp.«

»Nik Sharp, der Detektiv,« wiederholte Tannert.

»Auch das. Wir waren einst Kollegen, Mister Tannert.«

Eine Zeit lang hörte man nichts weiter, als das Keuchen Tannerts, dann aber zischte er durch die Zähne:

»Verräter!«

»Meineidiger!« gab Sharp ruhig zurück.

»Schurke!«

»Spitzbube! Weiter!«

»Dir soll dein Lohn werden.«

»Und du wirst bald am Galgen hängen, wenn du nicht vorher von den Negern gebraten wirst.«

Diese Antwort rief Tannert in die Erinnerung zurück, daß Schimpfen jetzt am unrichtigen Platz war.

»Wie kommen Sie hierher?«

»Sehr einfach, als Detektiv. Ich habe mich immer sehr um die Angelegenheit des Meisters bemüht und bin nun schon so weit, daß ich alle seine Schliche kenne, ich weiß alle eure Namen, eure Schlupfwinkel, eure Geheimnisse u.s.w., ja noch mehr, ich bin schon seit längerer Zeit sozusagen zweiter Meister. Vizemeister, ich gebe selbst Befehle, schreibe Briefe, siegle sie u.s.w., daher mag es auch kommen, daß Sie manchmal Briefe erhielten, welche Sie sich nicht mit dem sonstigen Betragen des Meisters zusammenreimen konnten. Tut mir sehr leid, aber das, was ich Ihnen auszuführen gab, paßte besser in meinen Kram.«

»Schuft!«

»Halunke!« gab der unerschütterlich ruhige Detektiv zurück. »Nun sagen Sie mir einmal selbst, ist das nicht alles sein von mir ausgeheckt?«

Tannert blieb die Antwort auf diese seltsame Frage schuldig.

»Wer ist der Meister? Wie kommt es, daß Sie seine Briefe fälschen konnten, ohne daß er es merkte?«

»Jedenfalls, weil es keinen Meister gibt,« war die spöttische Antwort. »Weil ihr euch gegenseitig immer an der Nase herumführt, ohne daß ihr es merkt.«

»Wieso?«

»Das wird Ihnen im Himmel klar werden, wenn Sie nicht von hier aus direkt als Muster ohne Wert in die Hölle geschickt werden,« antwortete Sharp.

»Weil, Mister Taunert,« fuhr er dann fort, »wir sind ja nicht mehr weit von den Pforten der Ewigkeit, und so können wir uns einstweilen noch ganz hübsch unterhalten. Sehen Sie, Sie sind auf eine falsche Bahn gekommen, Sie hätten hübsch Detektiv bleiben sollen und nicht gleich hoch oben hinaus wollen. Wenn wir beide zusammengeblieben wären, wir hätten die Welt schön in Staunen setzen können. Aber das müssen Sie doch nun zugestehen, Mister Tannert, daß ich ein bißchen klüger bin als Sie. Ich habe Ihnen nämlich manches Mal einen schönen Strich durch die Rechnung gemacht, so z. B. war ich es, der Ihnen Snatcher aus dem Fasse nahm und dafür einen alten Hund hineintat, und nun glauben Sie wohl gar, Sie hätten Snatcher an die richtige Adresse abgegeben? I, Gott bewahre, dem richtigen Manne schob ich etwas in den Weg, so daß er sich einige Tage verspäten mußte, und der Kapitän, dem Sie Snatcher auslieferten, war ein von mir Angeworbener. Nein, Mister Tannert, da haben Sie sich wieder einmal getäuscht!«

Der Detektiv plauderte immer in ruhigem, freundlichen Tone, Tannert dagegen knirschte mit den Zähnen.

»Well,« fuhr Sharp fort, »schade, daß Sie dem Ende des Lustspiels nicht mit beiwohnen können, sonst würden Sie noch etwas erlebt haben! Ich kenne nun alles, was den Meister anbetrifft, es liegt nur an mir, so habe ich euch alle in der Schlinge, und wären Sie noch mit darunter, so bräche ich Ihnen ebenfalls Ihr niedliches Hälschen, schade, daß Sie schon hier daran glauben müssen.«

»Warum sprechen Sie nur von mir? Was soll es mit mir?« knirschte Tannert,

»Nun, glauben Sie denn etwa, Mister Rotlöwe läßt Sie wieder mit heiler Haut davon? Gott bewahre, der spickt Sie und den alten, schimmligen Seewolf dort mit Pfeilen und röstet euch dann beide langsam am Feuer knusprig.«

»Und Sie, wird Ihr Schicksal etwa ein anderes sein?«

»Ich?« fragte der Detektiv langsam und bog sich wie eine Schlange zusammen, so daß die Hände die Füße berührten. »Ich kann gehen, wenn ich will.«

»Haltet ihn!« brüllte Tannert, aber es war zu spät.

Wie ein Gummiball schnellte Sharp plötzlich vom Boden auf und sprang auf das Feuer zu, welches direkt am Eingange zum Tale brannte.

Die betrunkenen Neger fuhren entsetzt empor, einer sprang auf den Flüchtling zu, erhielt aber sofort einen Schlag, der ihn bewußtlos in das Feuer warf, und der nackte Mann sprang weiter, das dem Neger entrissene Messer in der Faust.

Einige Wurfspeere sausten hinter ihm her, einer davon durchbohrte seinen linken Arm, mitten im Rennen zog er ihn von hinten aus demselben und stieß ihn im nächsten Augenblick einem ihm sich entgegenstellenden Neger in die Brust.

Er hatte das Tal hinter sich.

Draußen standen die Pferde angepflockt, ebenfalls von einigen Negern bewacht; aber diese konnten den nackten Mann nicht aufhalten, wie ein Aal glitt er ihnen unter den Händen durch. Wer nicht auswich, wurde zu Boden geschlagen, und wer ihn schon fest zu halten glaubte, stürzte röchelnd, mit der Todeswunde im Herzen, zu Boden.

Die Verfolger sprangen auf die Pferde, aber schon sauste der Reiter durch die Nacht, und das unter ihm galoppierende Roß war das beste der ganzen Herde gewesen. Sein flüchtiger Hufschlag ging dem Gehör der Nachsetzenden bald verloren.

Nik Sharp war frei!

Das ganze Lager war in Aufregung, und bald kamen die Verfolger erfolglos zurück.

Der rote Löwe tobte und fluchte, er verabreichte seinen Leuten Fußtritte, und als er zu den beiden zurückgebliebenen Gefangenen kam, ließ er seine volle Wut an diesen aus.

Dann wurde auch noch die verkohlte Leiche des ins Feuer geschleuderten Negers gefunden.

»Ihm nach, ins Feuer mit den Gefangenen!« schrie der rote Löwe.

Schon sahen die Verbrecher ihren qualvollen Tod besiegelt, als der Häuptling seinen Entschluß änderte. Er ließ sie fester binden und sorgfältiger bewachen.


24. Die Amazonen.

Die Karawane der fünfzig Musungus lag vor den Toren Abomes, noch ehe die Morgensonne die Tautropfen der Steppe getrocknet hatte, aber schon war alles in der Stadt lebendig. Die Neger saßen auf den Dächern ihrer Hütten und beobachteten, die Köpfe hoch emporreckend, die Ankömmlinge, und neben den Totenschädeln auf den Palisaden tauchte hin und wieder der lebendige Krauskopf eines Negerjungen auf.

»Ich werde Mizanza Nachricht erteilen, daß Ihr darum bittet, der Festlichkeit beizuwohnen,« sagte der Torhüter von dem hölzernen Turme herunter zu John Davids, welcher durch Goliath um die Erlaubnis nachgesucht hatte.

Noch ehe er mit der Antwort zurückkam, erschien oben in dem Turmloch ein mit Tüchern verhülltes Gesicht.

»Was wollt ihr hier?« fragte eine tiefe Stimme, die aber John Davids doch als die eines Weibes erkannte. »Ist euch nicht schon gestern abend gesagt worden, ihr hättet heute keinen Zutritt in die Stadt?«

»Wir bringen reiche Geschenke mit,« ließ John Davids durch Goliath antworten.

»Wir brauchen eure Geschenke nicht! Wartet bis morgen!«

John Davids ließ sich jedoch nicht abschrecken, er wartete geduldig, bis der erste Wächter wiederkam. Bald erschien auch dessen Gesicht wieder in dem Fensterrahmen.

»Ihr dürft den Vorstellungen beiwohnen, wenn ihr viele Geschenke mit euch bringt.«

»Wir haben solche für den König.«

»Wieviel?«

John Davids wußte recht gut, wie er sich zu verhalten hatte. Fragte er, wieviel der König haben wolle, so verlangte der Wächter etwas ganz Ungeheuerliches, machte er aber ein Angebot, so schraubte der Vermittler es so hoch hinauf, wie ihm der König vorgeschrieben hatte, und verlangte dann noch etwas mehr für sich selbst.

Also nannte der Engländer eine Anzahl Doti von Baumwollenstoff, Perlen, Draht, Gewehre u.s.w.

»Ich werde den König fragen, ob er damit zufrieden ist,« antwortete der Wächter und verschwand.

Wiederum wußte Davids, daß der Neger gar nicht zum König ging, sondern sich nur einfach hinter dem Fenster verbarg. Mizanza hätte gerade neben ihm stehen müssen, so schnell kam der Kopf wieder zum Vorschein.

»Das ist nicht genug.« Er nannte eine bedeutend höhere Anzahl von Geschenken.

Der Handel ging hin und her, schließlich aber wurden sie einig. John Davids fügte für den Wächter noch ein besonderes Geschenk hinzu, und es wurde ihm gesagt, wenn die Tore geöffnet würden, könnten er, seine Begleiter und alle weißen Mädchen einziehen.

Außerdem aber wurde noch verlangt, daß keiner der Fremden eine Waffe bei sich trüge.

John Davids willigte ein, und eine Stunde später trugen Pagazis die wohl abgewogenen und abgemessenen Geschenke an die Tore, wo sie sofort in Empfang genommen wurden.

Einige Male kamen noch Boten, welche vom König die Nachricht brachten, das oder jenes wäre zu kurz oder zu leicht, schließlich aber war alles in Ordnung, und der letzte Bote brachte noch eine besondere Einladung, daß die Fremden als Gäste der Vorstellung beiwohnen sollten, der König ließ aber noch hinzufügen, daß die bisherigen Geschenke nicht etwa als Tribut zu betrachten seien. Dieser würde er erst morgen in Empfang nehmen.

»Simbawenni möchte uns gar zu gern von ihrer Einweihung fernhalten,« meinte Ellen. »Ich glaube, sie fürchtet ein Eingreifen unsererseits. Der König aber ist zu habgierig.«

»Aber wie sollte sie ahnen, daß wir etwas von ihren unsauberen Geschichten wissen?« sagte ein Mädchen.

»Sie hat eben ein böses Gewissen; vielleicht flüstert ihr auch eine Ahnung etwas ein. Nun, von uns hat sie nichts mehr zu fürchten, denn die rätselhafte Yamyhla scheint ja ihre Sache allein ausfechten zu wollen.«

Als die Tore geöffnet wurden, luden Boten des Königs die Musungus zum Betreten der Stadt ein, und ohne weitere Zeremonie traten die sechsundzwanzig Herren und fünfundzwanzig Damen in die Hüttenstadt ein; der Franzose hatte sich ihnen ebenfalls angeschlossen, nur Hannibal fehlte. Allerdings trug keines sichtbare Waffen, aber jedes hatte in der Tasche einen Revolver; und an eine körperliche Untersuchung war wohl nicht zu denken.

Mitten auf dem Schädelplatze empfingen der König und sein Gefolge die Fremden mit großer Feierlichkeit. Sie versicherten sich gegenseitig der innigsten Freundschaft, der größten Hochachtung, sie sagten sich gegenseitig die größten Schmeicheleien über ihre Macht und ihren Reichtum, kurz und gut, sie tauschten alle jene Redensarten, welche in Afrika ebenso zu Hause sind, wie in Europa oder sonst in der Welt.

Der lange, zeremonielle Empfang war vorüber, und die Gäste wurden nach dem Gerüste geführt, welches eigentlich für das Gefolge bestimmt war, das aber auf einer schnell gezimmerten, tieferen Etage placiert wurde, während der König, nur von seinen Ministern begleitet, mitten zwischen den Weißen, auf dem obersten Gerüste Platz nahm.

Der König sah zufrieden aus; das reiche Geschenk, der morgen zu erwartende Tribut und die Anwesenheit so vieler, mächtiger Musungus zauberten ein beständiges Lächeln auf seine nicht unschönen, schwarzen Züge.

Zur Feier des Tages war er sehr prächtig angezogen, und zur Ehre der Gäste hatte er noch einiges mehr getan. Das rote Gewand, welches sich um seinen Körper schlang, so, daß der rechte Arm entblößt blieb, war vom feinsten Wollstoffe; zusammengehalten wurde es von einer aus vielen Gliedern bestehenden, goldenen Kette, und auf dem wolligen Haar saß ein dicker, goldener Reifen. An Fuß- und Handgelenken klapperten bei jeder Bewegung unzählige silberne und goldene Reifen, und die Finger waren von unten bis oben mit Ringen bedeckt. Im Gürtel trug er den kunstvoll ausgelegten Dolch, das erste Geschenk der Fremden.

Sein Gefolge hatte ebenfalls die besten Gewänder angelegt, und die Eingeborenen, welche den Platz dicht umstanden oder auf den Hüttendächern saßen, wenigstens ihr bestes Lendentuch. Von den Amazonen konnte man noch nichts sehen.

Der große Platz war völlig leer, bis auf das Gerüst, welches den König und seine Gäste aufnahm und ein anderes viel kleineres, welches vor erstürme stand. Beide erhoben sich an einer Seite des Platzes.

Lord Harrlington saß dicht neben dem Könige, und ehe die Vorstellung begann, mußte er unbedingt etwas über Chaushilm erfahren, sonst hatte er keine Ruhe.

Hinter ihm war David, der Führer, als gelegentlicher Dolmetscher placiert, und durch diesen ließ er den König fragen, ob er ihm mitteilen könne, wo der entführte Chaushilm sich befände.

»Seid ohne Sorge um ihn, Bana, (Herr)« antwortete der König, »dein Freund ist zwar nicht hier, aber es geschieht ihm nichts! Eine Manyana ist bei ihm und schützt ihn. Nachher werde ich dir alles erzählen und dir sagen, wie du deinen Freund wiederfinden kannst.«

Harrlington wurde aus dieser Rede nicht klug, er wußte nicht, daß Manyana Amazone bedeutet, aber er hatte keine Zeit, mehr zu fragen, denn der König hob den Arm und winkte — die Vorstellung begann.

Da kam zu beiden Seiten aus einer Hüttengasse ein langer Zug, der nimmer enden wollte. Es waren alles junge Mädchen und Frauen, die jüngste kaum vierzehn Jahre alt, keine aber über dreißig.

Sie waren alle in voller Kriegsrüstung. In der einen Hand trugen sie den zwei Meter hohen Schild, mit weißem Leder überspannt, in der anderen eine Lanze oder ein Schwert und auf dem Rücken Bogen, Pfeile und ein Bündel Wurfspeere.

Diejenigen, welche von rechts den Platz betraten, hatten ein rotes Tuch, die von links Kommenden ein blaues um die Hüften geschlungen, welches bis an die Knie aufgeschürzt war. Der ganze Oberkörper war nackt. Das Haar war hoch aufgetürmt und mit goldenen Bändern durchflochten, welche in der Sonne funkelten, und ebenso glänzte und gleißte Schmuck von allen Körperteilen. Die Füße und Beine trugen goldene Ringe, desgleichen die Handgelenke und Arme; um die Hüften schlang sich ein breites, goldenes Band, das Gewand haltend, und selbst die Schwertgriffe und Lanzenspitzen waren vergoldet.

Es war ein herrlicher Anblick, diese tadellosen Mädchengestalten zu sehen, an denen alles Ebenmaß und Schönheit war, und welche die Glieder den Blicken der Zuschauer unverhüllt darboten. Aber es wurde den an einen solchen Anblick nicht gewöhnten Fremdlingen fast zu viel, dieses fortwährende Hervorströmen der roten und blauen Gestalten aus den engen Gassen, dieses Gleißen und Funkeln des Goldes und der Waffen.

Schon war der Platz fast gefüllt, aber noch immer drängte es sich hervor; lautlos, still, graziös, mit leichten Schritten, Paar nach Paar kamen sie an, nur selten schlugen einmal die Schwerter aneinander.

Der Anblick war sinnbetäubend, die Gäste, besonders die Damen, fühlten einen Schwindel aufsteigen, sie konnten den Anblick dieser glänzenden Massen fast nicht mehr ertragen, einige von ihnen wurden wirklich unwohl.

Die Eingeborenen waren derartige Schauspiele schon gewöhnt. Sie klatschten oder schrieen keinen Beifall, solange nicht das Zeichen dazu gegeben war, und eben diese fast lautlose Stille vermehrte den überwältigenden Eindruck.

In langsamen Schritten zogen die Blauen und Roten au der Tribüne vorüber, jedesmal, wenn sie den König passierten, graziös das Schwert oder die Lanze zu Boden senkend, so ihre Ehrfurcht dem Gebieter, dem sie Treue geschworen hatten, bezeugend.

Dann trennten sie sich wieder und stellten sich, nach Farben geordnet, links und rechts, zu beiden Seiten des Platzes auf. »Fünftausend,« flüsterte Williams Miß Thomson zu, »ich habe sie gezählt.«

»Aber es sind verschiedene Junge eingeschoben, welche noch nicht zu der Truppe gehören,« flüsterte David, der Führer, zu Williams. »Ich vermisse einige. So müßte zum Beispiel die Anführerin der Roten, welche vor ihrer Farbe steht, Kasegora sein, aber sie ist es nicht, es ist ihre Stellvertreterin.«

»Was bedeuten die Farben?« fragte Lord Harrlington.

»Nichts weiter. Es sind eben zwei Abteilungen, deren jede ihre Vorkämpferin hat. Über diesen beiden aber steht wieder eine, die erste Anführerin, zu der Simbawenni erhoben werden soll.«

»Ist diese schon dabei?«

»Nein, sie darf sich jetzt noch nicht zeigen. Sie erscheint erst, wenn die führerlosen Amazonen eine Beherrscherin begehren. Es ist ein Spiel, welches Sie nachher sehen und begreifen werden. Da kommt der Sprecher, schade, daß Sie nichts verstehen.«

Viele Könige Afrikas, so auch der König von Dahomeh, halten sich einen Sprecher, einen des Redens besonders kundigen Mann, der das Volk begeistern kann.

Der einfach gekleidete, wirklich intelligent aussehende Mann bestieg das kleinere Gerüst und sprach zu dem lautlos lauschenden Volke und den unbeweglich dastehenden Amazonen.

Mit einem Male unterbrach ein jubelnder Schrei zum ersten Male die Stille, das Volk brüllte, und die Amazonen schlugen die Waffen zusammen, was später noch mehrmals geschah.

»Was hat er gesagt?« fragte Williams.

»Er zählt die Heldentaten der Könige auf,« erwiderte David, der Führer, »und jetzt spricht er von den Amazonen, von ihren ruhmvollen Kämpfen, von ihrer Treue zum König, er zählt die Taten der einzelnen Mädchen auf — da, jetzt nennt er die Namen derjenigen, welche für Mizanza im Kampfe gefallen sind. Sehen Sie, wie die Amazonen die Lanzen schütteln.«

Nachdem der Redner ausgesprochen, begannen die Waffenspiele. Hier konnte man bewundern, welche Fertigkeit eine Person, auch ein Weib, erlangen kann, wenn sie von frühester Jugend an einzig und allein für die Kunst, Lanze, Schwert und Bogen zu handhaben, erzogen wird.

Es war herrlich, zwei solche schlanke, schöne Gestalten zu sehen, wie sie blitzschnell aufeinander zusprangen, die Schwerter schwangen, den Hieben auswichen, die schwarzen Leiber hin- und herwiegend, bald zum Schlage sich vorlegend, bald zum Schütze zurückweichend. Dann plötzlich hielt die Hand, welche eben noch das Schwert gefaßt, einen Speer zum Wurfe erhoben, zischend sauste er durch die Luft, aber er prallte an dem schnell vorgehaltenen Schilde ab.

Der Bogen entsandte Pfeil auf Pfeil, schneller als man zählen konnte, aber stets wurden sie zur Seite geschlagen, oder mit dem Schilde aufgefangen.

Dann wieder sprangen zwei Kämpferinnen mit vorgehaltenen Schilden aufeinander los, stießen zusammen, prallten auseinander und ließen dabei fortwährend die Schwerter zusammenklirren, nicht etwa nur vorsichtig, um Lärm zu machen, sondern jeder Hieb hätte genügt, den Kopf der Gegnerin zu spalten.

Doch selten nur geschah es, daß eine einmal eine leichte Verletzung davontrug, welche sie aber unbeachtet ließ und ruhig an dem ferneren Kampfe teilnahm.

Zwei Lanzenfechterinnen wurden zusammengestellt, und bei diesen konnte man besonders die Behendigkeit im Springen bewundern, denn die Lanze bedrohte meist den unteren Körper; doch immer wußte die Bedrohte mit einem Satze dem Lanzenstiche auszuweichen und fing dann wieder den für die Brust berechneten Stoß mit dem Schilde auf.

Diese Schilde der Krieger von Tahumeh sind mit dickem Büffelleder bespannt, wie die der Kaffern, oder auch wie die einiger Indianerstämme Nordamerikas; die der letzteren sind aber klein und rund, während die in Afrika gebräuchlichen zwei Meter lang und einen Meter breit sind. Das Leder ist so fest und widerstandsfähig, daß es einer Rundkugel vollkommen trotzt, aber in dem Kampfe zwischen den Kaffern und Engländern, Ende der siebziger Jahre, waren letztere nicht wenig erstaunt, auch ihre Spitzkugeln, welche sonst die Haut des Rhinozeros durchbohren, von diesen Schilden machtlos abprallen zu sehen. Die Neger wissen, ebenso wie die Indianer, dem Schilde eine schiefe Stellung zu geben, so daß selbst die Spitzkugeln ihre Wirkung verlieren und abgleiten.

Dann traten die Kämpferinnen sich zwei und zwei gegenüber und unterstützten sich im Angriff wie in der Verteidigung; oft hatte eine sich gegen zwei Schwerter oder gegen ein Schwert und eine Lanze zu schützen; ihnen gesellten sich wieder andere bei, und schließlich kämpfte eine ganze Reihe gegeneinander, wohl fünfzig Amazonen gegen fünfzig andere, ohne die Richtung zu verlieren. Die schwarzen Körper glänzten in der Sonne, der Goldschmuck funkelte, und die Schwerter und Lanzenspitzen warfen Blitze. Auf der einen Seite kämpften stets die Roten, auf der anderen die Blauen.

Die Kämpfe wurden unterbrochen. Die Amazonen, welche schon gefochten hatten, lehnten sich hochatmend auf die Lanzen und ruhten aus, die übrigen erwarteten, mit vor Begierde funkelnden Augen, den Moment, da sie an die Reihe kämen, denn jetzt sollte bald das Schauspiel beginnen, an dem sie alle teilnahmen.

Auch die beiden Vorkämpferinnen waren bis jetzt nur Zuschauer und Schiedsrichter gewesen, sie hatten stets die Scheidenden getrennt und eine als Siegerin erklärt.

Da flog plötzlich von dem Dache der Medizinhütte ein breiter und hoher Goldring, mit Diamanten besetzt durch die Luft und fiel gerade zwischen die beiden Vorkämpferinnen. »Es ist der Kopfputz der Führerin,« flüsterte David, »wer ihn erbeutet, der wird als solche eingesetzt, aber es ist schon ausgemacht, daß ihn keine der beiden bekommt.«

Kaum lag der Kopfputz zwischen ihnen, so stürzten die beiden Vorkämpferinnen auf ihn, als wollten sie ihn aufheben, prallten aber gerade, als sie sich beide nach ihm bückten, mit den Schilden zusammen. Sie richteten sich hoch auf, sahen sich an, und im nächsten Moment klirrten beider Schwerter zusammen.

»Jetzt streiten sie sich um das Zeichen der Herrscherwürde,« erklärte David.

»Wer erhält es?« fragte Ellen.

»Keine von beiden; sie töten sich gegenseitig, doch natürlich nur scheinbar. Passen Sie nur auf!«

Waren die Gäste schon bisher entzückt gewesen über die Kunstfertigkeit der Mädchen im Fechten, so brachen sie beim Anblick, dieser beiden Kämpferinnen in laute Rufe des Entzückens aus. Man sah gar keine Waffen mehr, nur unzählige Blitze schwebten bald über ihren Köpfen, bald um ihre Brust, bald dicht über dem Boden, je nachdem sie die Schwerter schwangen; ihr Vor- und Rückwärtsspringen geschah so schnell, daß man den schwarzen Körpern nicht mehr mit den Blicken folgen konnte, auch konnte man ihre goldenen Ringe nicht mehr unterscheiden, der Schmuck zerfloß in goldene Strahlen. Die Kämpferinnen liefen blitzschnell zurück, stürzten wieder vor, prallten mit den Schilden zusammen, fochten mit unglaublicher Schnelligkeit und sprangen wieder zurück, um einen neuen Anlauf zu machen.

Der Kampf drehte sich stets um den Ring, immer waren sie bemüht, ihn vom Boden aufzuheben, doch wurde die sich schon danach Bückende immer wieder genötigt, davon abzustehen.

Das Volk jubelte laut. Die Amazonen verhielten sich nicht mehr ruhig, sie feuerten ihre Vorkämpferinnen durch begeisternde Zurufe an und schwangen die Waffen in der Luft, und nicht nur der König und sein Gefolge klatschten vor Entzücken in die Hände, auch die Gäste wurden durch dieses Schauspiel zu ähnlichen Beifallsbezeugungen hingerissen.

Daß die blaue Kämpferin die bessere war, war nicht zu verkennen. Oft schon hatte sie ihre Gegnerin so weit zurückgedrängt, daß es ihr möglich gewesen wäre, durch einen schnellen Rücksprung in den Besitz des Ringes zu kommen, aber da dies nicht der Vorschrift des Spiels gemäß gewesen wäre, so ließ sie eine solche Gelegenheit stets vorübergehen.

»Wenn Kasegora da wäre,« flüsterte David wieder, »da hätten Sie einmal eine Fechterin sehen können! Dann wäre die Blaue diejenige, welche immer zurückgedrängt würde. Wunderbar, daß Kasegora nicht da ist, sie muß krank sein. Schade! Jammerschade!«

»Ist Kasegora eine so gute Fechterin?« fragte Ellen.

»Eine sehr gute, fast die beste.«

»Und Simbawenni?«

»Die ist auch eine sehr gute, aber mit Kasegora kann sie sich, im Schwertkampf wenigstens, nicht messen, denn dazu gehört mehr Kunst, und Simbawenni ist weniger stark, aber sehr gewandt. Sie versteht viele Kniffe, durch welche sie gewöhnlich siegt.«

»Wie kommt es denn aber, daß Simbawenni zur Führerin gewählt wird, wenn sie nicht die beste ist?« fragte Ellen weiter.

David lächelte schlau.

»Sie ist listig, wie keine andere, und sie ist ja auch die Lieblingsfrau des Königs. Überdies ist sie nach Kasegora die beste Fechterin.«

»Wer ist die blaue Vorkämpferin?«

»Ulimenga, sie soll eine Feindin der Kasegora sein und der Simbawenni beste Freundin. Möglich,« fügte David nachdenkend hinzu, »daß Kasegora darum nicht hier ist, weil sie mit Ulimenga nicht kämpfen will, es sei denn auf Leben und Tod. Auch soll sie die Simbawenni nicht leiden mögen und will vielleicht nicht zu Ehren von deren Erhebung fechten.«

»Ich möchte Simbawenni gern einmal fechten sehen,« sagte Ellen.

»Das wäre sehr schön, sie kann springen, wie keine zweite. Aber,« fuhr David fort, »Sie hätten Yamyhla sehen sollen, welche vor zwei Jahren in die Sklaverei gehen mußte! Der konnten weder Simbawenni noch Ulimenga das Wasser reichen, sie hätte gegen die besten Amazonen zu gleicher Zeit kämpfen können.«

Die Anwesenheit Yamyhlas bei der Karawane war geheimgehalten worden, und so hatte niemand erfahren, daß die einstige Anführerin der Amazonen in ihrer Heimat sei, mit Ausnahme Ngaraisos, des Medizinmannes.

Ellen lächelte, als David im Lobe Yamyhlas überfloß und es bedauerte, sie nicht hier sehen zu können.

Doch jetzt mußten sie ihre Aufmerksamkeit wieder den beiden Fechterinnen zuwenden, welche sich noch immer um den Kopfschmuck stritten, denn sicher trat bald eine Wendung ein.

Die Bewegungen der beiden Fechterinnen wurden nach und nach langsamer, die Schwerter begannen schon weniger oft zusammenzuschlagen, beide Mädchen fingen an zu taumeln, und plötzlich stürzten die Blaue sowohl, wie die Rote zu Boden, sich tot stellend.

Dies war das Zeichen für die Umstehenden.

Den Kriegsruf ausstoßend, stürzten sie plötzlich mit vorgehaltenen Schilden aufeinander los, die Roten gegen die Blauen. Wie Blitze sausten die Schwerter durch die Luft, die zusammenprallenden Schilde gaben den Donner dazu, und das gellende Kriegsgeschrei glich dem Heulen des Sturmes.

Es war ein nervenerschütterndes Schauspiel, diese fünftausend funkelnden Gestalten miteinander kämpfen zu sehen.

Der Kampf drehte sich hauptsächlich um den Platz, wo der Kopfschmuck lag. Jede versuchte, zu ihm zu gelangen, und bald löste sich dadurch auch die Ordnung der Farben. Blau kämpfte nicht mehr gegen Rot, sondern eine Farbe kämpfte gegen die eigene, eine blaue Amazone gegen eine blaue, eine rote gegen eine rote, alles löste sich in ein wildes Durcheinander auf, die Mädchen stürzten zu Boden, absichtlich oder wirklich verwundet — man wußte es nicht — über ihre Leiber hinweg stürmten die Kämpfenden, dem Ringe zustrebend, sie standen auf den Leichen und schwangen die Lanzen, bis auch sie neben jene hinfielen.

Es war schrecklich, nervenerschütternd!

Endlich, wie auf ein geheimes Zeichen, verstummte der Kampf plötzlich, über die Hälfte der Amazonen lag am Boden, die anderen lehnten sich atemlos auf die Lanzen oder stützten sich auf die langen, krummen Schwerter. An einigen floß wirklich das Blut herab, und an verschiedenen Stellen war der Boden gerötet. Nicht alle, welche am Boden lagen, hatten sich aus Verstellung hingeworfen, manche konnten wohl nicht wieder aufstehen — so glaubten wenigstens die Gäste.

Der Ring lag noch immer auf derselben Stelle. Niemand hatte ihn aufzuheben vermocht.

Jetzt trat der Sprecher wieder auf das kleine Gerüst, diesmal sich aber nicht zu dem Volke, sondern zum Könige wendend, und hielt eine lange Rede, wobei er von den noch lebenden Amazonen oft durch Beifallsrufe unterbrochen wurde.

»Die Amazonen wünschen eine Führerin,« erklärte David, »sie sagen, keine wäre unter ihnen, welche die Führerkrone erlangen könne, sie würden sich noch alle töten, wenn der König ihnen nicht eine Herrscherin wähle, welche würdig wäre, die Krone zu tragen.«

Der Sprecher verließ das Gerüst, die Leiter herabkletternd, und sofort trat aus dem Gefolge des Königs eine Gestalt hervor und stand mit einem leichten Sprunge auf der Tribüne.

Es war Simbawenni.

Sie trug keine Waffen, sonst war sie ebenso wie die übrigen Amazonen geschmückt und gekleidet, nur daß ihr den Unterkörper verhüllendes Gewand aus roten und blauen Streifen zusammengesetzt war, somit andeutend, daß sie sowohl über die Blauen, als auch über die Roten herrschen werde.

Sie wendete sich erst zu dem Könige, verneigte, sich mit gekreuzten Armen demütig vor ihrem Gebieter und drehte sich dann den Amazonen zu, welche bis jetzt noch keine Freude zu erkennen gaben, sondern regungslos so blieben, wie sie eben standen oder lagen.

Da öffnete sich die Tür der Medizinhütte, und heraus trat eine sonderbar aufgeputzte Gestalt, in bunte, mit Malereien bedeckte Tücher gehüllt, auf dem Kopfe einen merkwürdigen Aufputz von Hörnern und Geweihen, vor dem Gesicht eine scheußliche Teufelsfratze, und in der Hand jene Zauberkeule, welcher schon einmal Erwähnung getan wurde.

»Ngaraiso,« erklärte David, »er holt jetzt den Ring und krönt damit Simbawenni. Dann erst zollen ihr die Amazonen und das Volk grenzenlosen Beifall.«

Der Medizinmann, der durch den hohen Kopfschmuck sehr groß erschien, bewegte sich hüpfend und tanzend nach dem Platze, sprang über die gefallenen Amazonen hinweg, drehte sich im Kreise und schwang dabei fortwährend die Keule umher. Als er bei dem Ringe anlangte, drehte er sich wieder mehrere Male um sich selbst und bewegte sich dann unter seltsamen Wendungen auf das Gerüst zu, auf welchem Simbawenni stand und ihn erwartete.

Der Medizinmann, in der einen Hand die Keule, in der anderen den Kopfschmuck, bestieg, ohne sich der Hände zu bedienen, die Leiter und betrat das Gerüst, sich dann unter Zaubersprüchen und Verrenkungen des Körpers um das Mädchen herumbewegend.

Jetzt blieb er vor Simbawenni stehen, ließ die Keule fallen und erhob den Ring,

Des schwarzen Mädchens Züge strahlten vor Entzücken, jetzt endlich war der Augenblick gekommen, da sie Anführerin der Amazonen wurde, eine Stellung, welche der eines Königs glich.

Schon senkte sich des Zauberers Hand, um ihr den Schmuck auf den Kopf zu drücken, da plötzlich ließ er den Ring über seinen Arm gleiten, blitzschnell griff er in ihr Haar, mit der anderen Hand in sein Gewand, ein heller Stahl sauste durch die Luft, ein Körper stürzte vom Gerüst, ein buntes Kleid und eine Maske folgten ihm nach und auf dem Gerüst stand hochaufgerichtet — Yamyhla, in ihrer Amazonentracht, dem rot- und blaugestreiften Kleide der Führerin, in der einen Hand ein kleines krummes Schwert und in der anderen das abgeschlagene Haupt Simbawennis hoch emporhaltend, es nach allen Seiten hin zeigend.


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Dann schleuderte sie den Kopf dem Körper nach und setzte sich selbst den Schmuck auf.

Ein tausendstimmiger Schrei des Entsetzens erschallte ringsum, er wurde beantwortet von den Zuschauern auf der Tribüne, die vom Blute der Ermordeten bespritzt worden waren.

Einige Sekunden blieben alle wie gelähmt stehen; nichts geschah, nichts war hörbar, dann aber, als Yamyhla mit lauter Stimme etwas gerufen hatte, kam plötzlich Bewegung in die Erstarrten. Der König stand auf, die Volksmenge wogte hin und her; am allermeisten Tumult entstand aber unter den Amazonen.

Kaum war Yamyhlas Stimme erschollen, so sprangen plötzlich wie auf Kommando alle am Boden liegenden Amazonen auf und drängten sich mit den schon Stehenden nach dem Gerüste hin, auf dem Yamyhla noch stand, nur wenige von ihnen blieben zurück, meist blaue.

Da stieß plötzlich Yamyhla das gellende Kriegsgeheul der Amazonen aus, was aus Tausenden von Kehlen Widerhall fand, war mit einem Sprunge an der Spitze der Viertausend und drang mit erhobenem Schwert auf die übrigen ein. Was vorhin nur ein Kriegsspiel gewesen war, das wurde jetzt Wirklichkeit, das Kriegsgeschrei vermischte sich mit Wehegeheul — auf dem Platze entstand eine Metzelei, ohne daß die Zuschauer eine Ahnung davon hatten, daß dies kein Scheinkampf war.

Die überraschten Amazonen hoben zwar auch die Waffen, um den auf sie Einstürmenden zu begegnen, aber sie konnten dem heftigen Anprall nicht widerstehen, ihre Waffenkunst nutzte ihnen jetzt nichts mehr.

Wie Berserker, den furchtbaren Schlachtruf auf den Lippen, so stürzten die Amazonen auf sie los, allen voran Yamyhla, wie eine Kriegsgöttin anzusehen. Ihr Schwert glich der Sense des Todes; jeder Hieb mähte Köpfe ab, es half kein Schild, kein Gegenhieb, dem kräftigen Arme der Führerin war niemand gewachsen. Und auch die anderen Amazonen, welche Yamyhla folgten, hausten wie Würgengel.

Nach einigen Minuten war nicht eine einzige von denjenigen noch am Leben, welche sich nicht zu Yamyhla gedrängt hatten — es war alles ein verabredeter Plan gewesen.

»Entsetzlich!« stöhnten die weißen Gäste auf dem Gerüst, die als Zuschauer diesem furchtbaren Gemetzel beiwohnen mußten.

Einige Herren und Damen waren aufgesprungen, um das Gerüst wenigstens zu verlassen, aber die Ruhigen drangen mit ihrem Rate durch, vorläufig sich ganz ruhig zu verhalten und vor allen Dingen sich teilnahmlos zu stellen, denn leicht konnte sich sonst die Wut gegen sie kehren.

Die umstehenden Neger waren unterdes nicht alle nur Zuschauer gewesen; viele hatten sich entfernt, und plötzlich starrte der Platz ringsum von Waffen, die Schilde wurden geschwenkt, und alle, welche so kriegerisch auftraten, schrieen wieder und wieder jauchzend den Namen Yamyhla, damit andeutend, daß diejenigen, welche Yamyhla nicht als Führerin anerkennen wollten, dasselbe Schicksal wie die gegnerischen Amazonen zu erwarten hätten.

Ngaraiso hatte die Fackel des Aufruhrs unter die Krieger und Amazonen geworfen, er hatte von der Rückkehr Yamyhlas erzählt, und mit wenigen Ausnahmen wurde die rechtmäßige Anführerin der Amazonen von ihren Stammesgenossen mit unbeschreiblicher Freude begrüßt.

Die der neuen Anführerin feindlich gesinnten Amazonen lagen verblutet auf dem Wahlplatze, auch unter den Negern waren einige heftige Zusammenstöße vorgekommen, aber die Ruhe war wiederhergestellt.

Im Triumphe wurde Yamyhla auf den Schilden emporgehoben und den Amazonen und Eingeborenen gezeigt; ein nicht enden wollender Jubel begrüßte sie; von, Mund zu Mund ging das Gerücht, wie Simbawenni nur durch schamlosen Betrug jenen Streit gewonnen hatte, wegen dessen sie heute bald zur Anführerin gewählt worden wäre. Es wurde nicht gefragt, ob diese Gerüchte wahr seien, man glaubte ihnen. Ngaraiso behauptete es, Yamyhla sagte es, und der erschrockene König gab zu, daß Yamyhla eigentlich die Herrscherwürde über die Amazonen verdient hätte.

Er war froh, daß die zurückgekehrte Yamyhla nicht auch gegen ihn feindlich auftrat, sondern ihren Rücken demütig vor ihm beugte und sich seiner Macht unterstellte, denn heute hätte sie selbst über ihn Gewalt gehabt. Er empfing sie daher freundlich und bestätigte sie als Führerin seiner Amazonen.

Dann wandte sich die Aufmerksamkeit der Amazonen und des Volkes zugleich plötzlich von der umdrängten Yamyhla ab und den fremden Gästen zu, ein donnerndes Geschrei und helles Waffenklirren erschütterte die Luft, die wogende Menge drängte sich um das Gerüst, nicht um den König und die Großen des Hofes, sondern um den Musungus, den weißen Gästen, ihre Anerkennung zu zollen, denn von Yamyhla hatten sie erfahren, daß nur diese es gewesen seien, welche die Rückkehr der Anführerin ermöglicht hatten.

Yamyhla selbst mußte die Amazonen abhalten, daß sie in ihrer Freude nicht die Gäste auf die Schilde hoben und auf dem Platze umhertrugen, aber sie konnte nicht verhindern, daß das Volk sie umdrängte und mit lärmendem Jubelgeschrei begrüßte.

Der König war unfähig, sich seinen Gästen ferner zu widmen, erst jetzt erfuhr er nach und nach von einigen aus seinen Gefolge, welcher Mißmut unter seinen Leuten und ganz besonders unter den Amazonen geherrscht habe, und zwar einzig und allein Simbawennis wegen, weil diese unbeliebte Amazone Anführerin werden sollte, und weil man fürchtete, daß dieses Weib seine Macht mißbrauchen würde. Wäre Yamyhla nicht plötzlich erschienen, wer weiß, ob sich die längst schon angesammelte, allgemeine Wut nicht gegen ihn selbst gerichtet hätte, gegen Simbawenni aber sicher. Aber da Yamyhla dem Könige Gehorsam zeigte, so hatte dieser nichts mehr zu fürchten, sie beherrschte Amazonen und Krieger vollkommen.

Sobald es die Umstände erlaubten, entfernten sich unsere Freunde und begaben sich nach ihrem Lager zurück. Sie waren zu aufgeregt, um der nachfolgenden Schmauserei und dem Zechgelage beizuwohnen. Wo eben tausend Menschen niedergemetzelt worden waren, da wurden jetzt ebensoviel Stück Vieh abgeschlachtet, kaum, daß der Platz von den Leichen gesäubert worden war. Das Blut der letzteren vermischte sich mit dem der ersteren.

Die Herren, wie die Mädchen wanderten unbefriedigt in ihren Zelten auf und ab.

»Keine einzige Mitteilung konnte ich über Chaushilm erhalten,« sagte Lord Harrlington zu seinen Freunden. »Niemand wollte mir Rede stehen, Yamyhla und wieder Yamyhla, das war das einzige, worüber man sich mit den Leuten unterhalten konnte.«

»Sie wird nicht lange auf sich warten lassen,« entgegnete Ellen, »sobald sie abkommen kann, wird sie ihre alten Freundinnen aufsuchen. Ein Glück ist es, daß dieser Ngaraiso ein aufgeklärter Mann ist, mit dem man reden kann; mit seiner und Yamyhlas Hilfe wird es uns leicht sein, Marquis Chaushilm wieder aufzufinden, sei er tot oder lebendig.«

Nicht lange dauerte es, so bewegte sich aus den Toren der Stadt ein schier endloser Zug von Weibern, aber keine Amazonen, welche alle Körbchen oder Holzschalen auf ihren Köpfen trugen.

»Als Dank für Yamyhlas Errettung vom König Mizanza, dem mächtigsten Herrscher des Westens, den Weißen Fremdlingen als Geschenk,« das war ungefähr der Sinn, welcher in der langen, überschwenglichen Rede des sprachgewandten Boten lag, ehe die Weiber ihre Geschenke abluden.

Die Körbe und Schalen enthielten Hammel-, Ziegen- und Rindfleisch; alle Sorten Geflügel und Wild, Bohnen, Reis, Mais, Durra und andere Hülsenfrüchte, so viel, daß die ganze Karawane wohl acht Tage davon hätte leben können.

Die Weiber kehrten mit reichen Gegengeschenken an Stoff, Perlen und Draht zurück, und dann machten sich Weiße, wie Schwarze an die Zubereitung des Mahles, denn in Afrika kann man selten im Genusse des Fleisches schwelgen; Schlachtvieh ist nicht immer genügend aufzutreiben, und Wild in bewohnteren Gegenden zu schwer zu schießen, um eine ganze Karawane damit ernähren zu können.

Hatten aber die Weißen geglaubt, diese Vorräte würden eventuell acht Tage reichen, so gaben sie doch bald ihren Irrtum zu, denn hier sahen sie zum ersten Male, was ein Neger im Essen leisten kann, wenn er Überfluß davon hat. Die Vorräte wären noch in derselben Nacht vertilgt worden, hätte man den Schwarzen nicht die Reste aus den Zähnen gerückt.

Es ist eine Tatsache, daß acht Neger einen ganzen Ochsen innerhalb einer Nacht auffressen können, ohne Magendrücken hinterher zu verspüren; unsere Kolonisten in Afrika können davon zeugen.

Gegen Abend wurden auch einige Fässer Pembe ins Lager gerollt, zum Jubel der Pagazis, und je mehr diese infolge des berauschenden Getränkes zu lärmen begannen, umsomehr stieg auch der Tumult in der Hüttenstadt, nur in vergrößertem Maßstabe, denn dort fand jetzt ein Zechgelage statt.

Als das Geschrei und Geheul der tanzenden Neger in der Stadt schon gar nicht mehr menschlich klang — es war gegen Abend — erschienen im Lager zwei vermummte Gestalten, welche sich jedoch bei Eintritt in das Zeltlager sofort zu erkennen gaben — Yamyhla und Ngaraiso.

Als die erste Begrüßung vorüber war, fragte Lord Harrlington nach Marquis Chaushilm.

»Der ist von Kasegora, einer Amazone und Vorkämpferin, geheiratet worden,« erklärte Yamyhla mit gewöhnlichem Ernst.

Die Herren und Damen brachen in Rufe des Erstaunens aus, sie glaubten, das Mädchen treibe Scherz mit ihnen, bis dieses es ihnen nochmals versicherte und den Hergang so erzählte, wie sie ihn selber zu hören bekommen hatte.

»Kasegora war die ärgste Feindin Simbawennis,« fuhr Yamyhla fort, »und diese wußte, daß eben dieses Mädchen sie gern stürzen möchte und es auch getan hätte, sobald Simbawenni Anführerin war. Letztere suchte immer Streit mit Kasegora, um diese zu einer unvorsichtigen Tat gegen sie selbst zu verleiten, und dann würde der König Kasegoras Haupt haben fallen lassen, denn er betrachtete Simbawenni schon als Anführerin der Amazonen, obgleich sie es noch gar nicht war. Aber Kasegora war vorsichtig und ließ sich nie etwas zu schulden kommen, denn der Aufstand gegen Simbawenni war unter den Amazonen noch nicht völlig zu stande gekommen. Da erfuhr Simbawenni, daß Kasegora einen Weißen, welcher eine Medizin, die Totenschädel von drei Zauberern, beleidigt hatte und deshalb hätte sterben müssen, durch Heirat vom Tode befreit habe; sie begab sich nach der Hütte der Feindin und forderte von ihr, sie solle den Weißen, Marquis Chaushilm, wieder verstoßen und ihn somit dem Tode überliefern. Kasegora weigerte sich; sie wurde heftig gegen Simbawenni, und schließlich entfernte sich diese, den Vorfall dem Könige anzuzeigen. Kurz entschlossen entfloh Kasegora einige Minuten vorher, ehe der König Amazonen ausschicken konnte, um sie zu fesseln.

»Und Chaushilm?« fragte Ellen.

»Den nahm sie mit.«

»Warum?«

»Weil sie ihn liebte.«

Die Zuhörer waren sprachlos über diese Worte, welche Yamyhla ruhig, ernst und bestimmt aussprach.

»Woraus schließt du, daß Kasegora den Fremden liebte, den sie vorher noch nie gesehen hatte?« fragte Ellen endlich wieder.

Yamyhla lächelte.

»Sonst würde sie ihn nicht durch Heirat vom Tode gerettet haben,« entgegnete sie. »Sie hätte Simbawenni nicht getrotzt und hätte Chaushilm nicht mitgenommen.«

Der Beweis war überzeugend.

»Wie kann aber Kasegora jemanden heiraten, den sie zum ersten Male sieht?«

»Die Amazone heiratet den, der ihr gefällt,« sagte Yamyhla einfach.

»Ist diese Ehe unlöslich?« fragte Harrlington.

Yamyhla antwortete nicht, weil sie diese Frage nicht verstand, aber Hannibal erklärte, daß dies nicht der Fall sei, das Zerschlagen der Krüge bedeute zwar eine Heirat, diese könne aber jederzeit wieder aufgelöst werden.

»Und wohin mag Kasegora mit Chaushilm geflohen sein?« fragte Harrlington weiter.

»Nach Tabua, einer Stadt im Staate Ryffi, zehn Tagereisen von hier, aber eine Karawane braucht mindestens sechzehn Tage.« »Warum glaubst du dies? Hat sie jemandem etwas davon gesagt?«

»Nein, aber ich weiß, daß Kasegora nur zwei Blutsfreunde hat, mich und den Häuptling von Tabua. Zu letzterem ist sie auf jeden Fall geflohen, sie hat zwei Pferde mitgenommen. Wenn sie gewußt hätte, daß ich zurückgekehrt sei, so hätte sie mich erwartet und wäre nicht geflohen.«

»So müssen wir nach Tabua ziehen,« wendete sich Harrlington an die Umstehenden.

»Doch sag', Yamyhla,« fragte er wieder die Amazone, »hast du gehört, ob Chaushilm ihr willig gefolgt ist? Das wäre doch sehr sonderbar.«

Yamyhla zuckte die vollen Schultern, und ein spöttisches Lächeln huschte über ihr bronzefarbenes Gesicht.

»Dann wird Kasegora den kleinen Engländer eben gezwungen haben, ihr zu folgen.«

Die Anwesenden hörten das bestürzt.

»So ist auch anzunehmen, daß Kasegora ihren Geliebten nicht gutwillig wieder ausliefern wird!« rief Harrlington niedergeschlagen. Er sah schon eine Kette von Mühseligkeiten vor seinen Augen, deren Überwindung Tod und Vernichtung nach sich ziehen konnte.

»Ich kann nicht einsehen, warum Kasegora den Mann, den sie liebt, nicht besitzen soll,« entgegnete Yamyhla. »Aber ich war schon zu lange unter euch, um nicht gelernt zu haben, daß eine solche Heirat für den Engländer eine Unmöglichkeit ist, und daher werde ich selbst mein Möglichstes tun, um euch euren Freund ohne Anwendung von Gewalt wieder zuzuführen. Ich bin Kasegoras beste Freundin, vielleicht hört sie auf meine Bitte, und tut sie es nicht, so muß Ngaraiso seine Macht anwenden. Ich glaube nicht, daß sie dieser trotzen wird.«

»Kasegora ist sehr abergläubisch,« flüsterte der Medizinmann Harrlington zu.

»Eure Führer wissen den Weg nach Tabua,« fuhr Yamyhla fort, »so folgt ihnen, sobald ihr könnt. Ich muß unbedingt noch hier bleiben, um den ferneren Festlichkeiten beizuwohnen, aber sobald ich kann, stoße ich mit einer bewaffneten Macht zu euch. Unterdes sende ich berittene Eilboten nach Tabua, damit diese sich erkundigen, ob Kasegora dort schon eingetroffen ist, vielleicht treffen sie dieselbe noch auf dem Wege, auf jeden Fall aber erhalte ich von den Boten bestimmte Nachricht. Erfährt Kasegora, daß ich Anführerin geworden bin, so wird sie zurückkehren, und ihr werdet sie unterwegs treffen. Also seid gutes Mutes.«

Ngaraiso hatte unterdessen dem aufmerksam zuhörenden Williams erzählt, wie er den Amazonen, von denen er wußte, daß sie Simbawenni nicht als Anführerin wünschten, von Yamyhlas Rückkehr erzählt habe, und wie enthusiastisch diese Nachricht aufgenommen worden sei. Er selbst hatte noch gar keine Ahnung davon gehabt, daß nicht nur unter den Amazonen, sondern auch unter allen Kriegern von Dahomeh ein förmlicher Aufstand geplant war, um die Weiberherrschaft abzuschütteln, denn Mizanza folgte einzig und allein den Ratschlägen seiner Lieblingsfrau Simbawenni.

Am Tage des Festes sollte diese Wirtschaft aufhören. Simbawenni mußte fallen, mit ihr alle ihr anhängenden Amazonen, und vielleicht auch die Krieger, welche mit der Erhebung Yamyhlas nicht einverstanden waren.

Mit der Enthauptung Simbawennis gab Yamyhla das Zeichen zum Niedermetzeln der völlig Ahnungslosen, aber, sagte Ngaraiso, es wäre noch nicht so blutig abgegangen, wie es zu erwarten gewesen wäre, denn die an Simbawenni hängenden Männer hätten sich ruhig verhalten.

Die beiden Neger verabschiedeten sich herzlich von den weißen Fremdlingen. Mit dem Wunsche baldigen Wiedersehens schlugen sie die Tücher wieder um sich und verließen das Lager.

Der alte Zauberer schritt jetzt freundlich an der Seite derjenigen, welche er einst durch seine Hilfe gestürzt hatte, aber Yamyhla zürnte ihm nicht mehr, er hatte seine früheren Vergehen wieder gutzumachen gesucht. Ngaraiso stand seit dem letzten Regenfall, dem bald ein anderer nachzufolgen schien, in hoher Gunst bei dem Volke, er hätte selbst vermocht, den ganzen Aufstand zu dämpfen, ohne ihn wäre Yamyhla nicht als Führerin anerkannt worden, denn die Dahomehneger sind maßlos abergläubisch, und selbst die Amazonen hätten ihm gehorcht, weil diese zum Waffenglück seinen Segen brauchten.


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Als Harrlington sein Zelt betrat, fand er Hannibal auf seines Herrn Segeltuchstuhl sitzen und eine Pfeife rauchen.

»Nun, Hannibal,« redete ihn Harrlington freundlich an, »hast du keine Lust, bei deinen Landsleuten zu bleiben? Du kannst beim König leicht einen hohen Rang einnehmen und erster Minister werden.«

»Hannibal ist noch immer derjenige, welcher den Dahomehnegern den Branntwein zu trinken gegeben hat,« sagte er kopfschüttelnd, »Ngaraiso oder ich, einer von uns beiden muß getötet werden.«

»Ach was! Ngaraiso, dieser alte Fuchs wird Mittel und Wege finden, um deine Ehre wiederherzustellen, ohne sich selbst oder überhaupt jemanden zu beschuldigen. Er sagt einfach, ein Gott hat ihnen den Branntwein verabreicht, du bist unschuldig, und die Geschichte ist abgetan.«

Hannibal lächelte schlau,

»Hm,« meinte er, »Minister des Königs ist ja ein ganz schöner Posten, aber glauben Sie denn, Lord, ein Mann wie ich, mit solchen Kenntnissen und solcher Bildung, passe noch unter dieses Volk? Minister von Dahmneh, bah, jeder dumme Junge kann das werden! Nein, nein, Lord, Sie wollen mich nur versuchen, ich weiß ganz genau, wie sehr Sie mich bei sich zu behalten wünschen, damit ich Ihnen mit meinen Kenntnissen aushelfen kann.«

Und Hannibal zog ein Futteral aus der Tasche, entnahm demselben eine riesige Hornbrille, setzte sie auf seine Nase, nahm vom Tisch ein aufgeschlagenes Buch und begann mit hochweiser Miene das Papier anzustarren, denn Lesen hatte er leider noch nicht gelernt.


25. Jägerleben.

Blicke nach Norden und Osten! Wald, Wald und nichts als Wald, ein großer, unendlicher Wald zieht sich hin, so weit das Auge von dem Bergrücken, der von Granitblöcken starrt, reicht, einem Ozean vergleichbar, denn wie das Meer hebt und senkt es sich in grünen Wellen. Hier und da erhebt sich eine mächtige Welle, von einem höheren Baume erzeugt, der sich über die anderen emporreckt, und in der Ferne nimmt man die Umrisse von belaubten Hügeln wahr.

Über dem Ganzen schwebt ein warmer Nebel, der, in der Nähe durchsichtig, am Horizont sich zu einem dunklen Blau verdichtet, welcher die Hügel und Berge nur in schattenhaften Konturen sehen läßt.

Das ist das Bild, welches man in Afrika immer und immer wieder genießen kann, so oft man einen Hügel ersteigt, welcher eine Fernsicht gestattet, und hat man ihn auf der anderen Seite wieder verlassen, so kann man auf zweierlei Arten von Landschaften stoßen.

Entweder hat man gar keine Aussicht, weil der Wald mit hohem, undurchdringlichen Unterholz bewachsen ist — an den Bäumen winden sich Schlingpflanzen empor, und stachlige Büsche versuchen den Reisenden von allen Seiten festzuhalten — der Boden ist meist sumpfig, und es herrscht ein ungesundes Klima — das Fieber ist hier zu Hause — oder aber man wähnt sich beim Abstieg vom Hügel in einem Parke zu befinden. Die Bäume stehen weit voneinander, so daß sich nur ihr Laubgeäst gegenseitig berührt, selbst bei Tag ein angenehmes Zwielicht hervorzaubernd, der Boden ist mit dem köstlichsten Rasen bedeckt, Büsche fehlen ganz, und erfrischende, gesunde Luft weht dem Reisenden entgegen.

Überallhin hat man freien Ausblick und sieht Herden von Antilopen, Gnus, Zebras, Giraffen, Elefanten, ab und zu auch ein einsiedlerisches Rhinozeros; die Flüsse wimmeln von Flußpferden. Viele Reisende haben Teile von Afrika mit einem Wildpark verglichen, und wer selbst eine solche Gegend gesehen hat, der gesteht, daß dieses Urteil berechtigt ist.

Hier ist das Paradies der Jäger, nur schade, daß die Reise dahin sehr kostspielig und beschwerlich ist, doch nein, es ist nicht schade, vielmehr sehr gut, sonst würde dieser Tierpark bald entvölkert werden. — — —

Die Karawane der Herren und Damen war eines Abends an einem ziemlich breiten Fluß angekommen, der seine klaren Fluten ruhig durch diesen unendlichen Wildpark wälzte, und hatte hier Zelte aufgeschlagen.

Es war der Platz, den die Gesellschaft auf Anraten Yamyhlas wählen sollte, um die Rückkehr der vorausgeschickten Boten zu erwarten, welche vielleicht gleich Kasegora und Marquis Chaushilm mitbrachten.

Bis dahin aber mußten unbedingt noch vier Tage vergehen. Doch wo hätten sich diese den Sport liebenden Herren und Damen die Zelt besser vertreiben können, als hier, wo jeder Tag mit der Jagd ausgefüllt werden konnte?

Yamyhla hatte ihnen zwar eine große Anzahl von Schafen und Ziegen mitgegeben, welche von Negern der Karawane nachgetrieben wurden, doch diese konnten friedlich das saftige Gras abweiden und sich ihres Lebens freuen, denn jetzt brauchte man wahrhaftig nicht mit dem Fleische zu kargen. Jeder Jäger kehrte mit reicher Beute zurück, und man war nur froh, daß die mitgenommenen Fundis, das heißt die Neger, welche jede Karawane begleiten, um durch Schießen von Wild Fleisch zu verschaffen, nur wenig taugliche Feuersteingewehre besaßen, sonst hätten sie ihre Kameraden mit Wildbret gemästet. Die Fundis, also Jäger von Profession, hatte man übrigens nicht als solche, sondern als Pagazis mitgenommen, denn die Herren und Damen wollten ja selbst soviel wie möglich jagen, aber man konnte den Leuten natürlich nicht verwehren, in dem eigenen Heimatlande ihre Kunst im Jagen zu zeigen.

Übrigens wurden sie doch manchmal gebraucht, denn sie wußten den mit der Jagdweise in diesen Gegenden Unbekannten manchen nützlichen Rat zu geben.

Der erste Morgen fand die ganze Gesellschaft schon in frühester Stunde in voller Jagdrüstung außerhalb der Zelte. Einzeln oder in Gruppen begaben sie sich in den Wald mit der Verabredung, zum Frühstück wieder zurückzusein.

Das Ergebnis aber war wunderbar.

Alle kehrten zurück und erzählten, wie sie nach Tieren geschossen und dieselben getroffen hätten, aber vorläufig hatte noch kein einziger unter ihnen eine Jagdbeute aufzuweisen. Stets waren die angeschossenen Tiere durch Flucht entkommen. Endlich kam auch Monsieur Pontence zurück, und neben ihm trugen zwei keuchende Neger eine Antilope. Der Franzose war nicht wenig stolz, als er merkte, daß er der einzige war, der eine Jagdbeute aufzuweisen hatte.

Endlich unterbrach Williams das drückende Schweigen, welches alle, durch diesen Mißerfolg niedergeschlagen, beobachteten. Er trat auf den Franzosen zu.

»Monsieur Pontence,« sagte er, »verzeihen Sie mir, daß ich Ihnen öfter Unrecht getan habe, wenn ich Ihnen Vorwürfe machte, daß Sie Wild mit Sprengkugeln schießen. Kann ich dies auch jetzt noch nicht billigen, so viel habe ich aus Ihrem Jagderfolg gelernt, daß wir mit diesen elenden Dingern hier,« er schleuderte die Winchesterflinte von sich, »niemals etwas schießen werden. Jetzt nehme ich meine Doppelbüchse und gehe wieder; komme ich nicht nach einigen Stunden schon mit Wild reich beladen zurück, so will ich gehangen werden.«

Williams hatte das Richtige erkannt. Das Repetiergewehr ist eine ausgezeichnete Waffe im Kampfe mit Menschen, weil sie viele Kugeln schießt, aber die Kugeln sind nur klein und werden mit solcher Kraft geschleudert, daß sie den Körper, ja, selbst Knochen ganz durchbohren. Zur Jagd auf Wild, und ganz besonders auf afrikanisches, muß man sich einer Feuerwaffe bedienen, deren Kugeln den getroffenen Knochen zerschmettern, sonst bekommt man ein Tier nie zur Strecke; verwundet flieht es noch meilenweit.

»Ich komme mit, ich komme mit Ihnen!« rief es von verschiedenen Seiten, als Charles sich aus dem Zelte von einem Neger seine Doppelbüchse bringen ließ und sich bereitmachte, abermals sein Jagdglück zu probieren.

Alle bewaffneten sich mit den gleichen Büchsen und versuchten, den schon mit Miß Thomson forteilenden Williams einzuholen, denn jeder wollte gern bei diesem immer fröhlichen Pärchen sein.

Lachend blieb Williams stehen.

»Alle zusammen können wir nicht gehen, sonst schießen wir wieder nichts,« rief er. »Miß Staunton, Miß Petersen, Harrlington, Hannes, kommen Sie mit? Gut — marsch!«

Er schulterte sein Gewehr und verließ mit den Gerufenen das Zeltlager, gefolgt von einer Anzahl Negern, welche die Jagdbeute tragen sollten.

»Nun, Monsieur Pontence, wohin wollen Sie denn?« fragte Miß Murray den Franzosen, der einige Neger mit Schaufeln und Hacken bewaffnete. »Sie wollen wohl die Neger zu Pionieren ausbilden?«

»Beinahe erraten, liebes Fräulein,« schmunzelte der Franzose, »aber ich darf Ihnen wirklich noch nicht sagen, was ich vorhabe. Aber morgen, dann —«

»Was dann?« fragte das Mädchen neugierig.

»Dann werden Sie mich hoch zu Rosse sehen, ein prachtvolles Pferd will ich mir verschaffen, passen Sie auf.«

»Fangen Sie nur keinen Ziegenbock,« meinte Hastings trocken, schulterte sein Gewehr und verließ mit Miß Murray ebenfalls das Lager. Schließlich befand sich zwischen den Zelten niemand mehr, als einige zur Bewachung zurückgelassene Neger und Hannibal, der seines Herrn Anzug ausbesserte, sich aber tief verborgen hielt, daß ja niemand den gelehrten Mann bei einer so niedrigen Arbeit sähe.

Lachend und scherzend schritt die kleine Gesellschaft durch den Wald, unter sich das grüne Gras, über sich das grüne Laubzelt, durch welches man nur hin und wieder den blauen Himmel erblicken konnte.

Man mußte sich erst weit vom Lager entfernen, ehe man die Jagd beginnen konnte, denn das Wild hielt sich in respektvoller Entfernung von den vielen Menschen. Heute morgen hatten die Tiere die Jäger noch ganz dicht herankommen lassen, als sähen sie zum ersten Male Menschen, die Feuerwaffen kannten sie jedenfalls noch nicht, aber schon die ersten Schüsse hatten sie schlauer gemacht, sie flohen wenigstens, wenn sie Menschen erblickten, wenn auch nicht weit genug, daß die weittragenden Büchsen sie nicht erreichen konnten.

Bald begannen sich die ersten Herden Antilopen, Zebras und Giraffen in der Ferne zu zeigen.

»Viel schöner, als diese Tiere zu pürschen, muß doch eigentlich die Jagd zu Pferde sein,« sagte Ellen, »Morgen oder übermorgen, wenn uns diese Art von Jagd überdrüssig wird, wollen wir einmal eine Hetzjagd hinter den schnellen Zebras und Giraffen machen.«

»Aber werden wir uns zurückfinden?«

»Es können uns ja Neger zu Pferde begleiten, einige können reiten. Ich finde mich übrigens stets wieder zurück. Zur Vorsicht können wir ja auch Kompasse mitnehmen.«

»Still,« flüsterte Williams, »dort weidet eine blaue Antilope.«

Sie duckten sich ins Gras, welches sie vollständig verbarg, und betrachteten das edle, geschmeidige Tier, welches etwas größer ist als ein Reh.

»Sie hat ein Junges bei sich,« flüsterte Ellen. »Ja, ein Kalulu.«

»Kalulu? Ist das nicht ein männlicher Negername?« fragte Miß Thomson.

»Allerdings. Aber sehen Sie, daß ich schon weit in die Geheimnisse der afrikanischen Sprachen eingedrungen bin,« lachte Charles leise, »Kalulu heißt eigentlich das Junge der blauen Antilope, und nach ihm werden Kinder genannt,«

»Hasch!« schrie er dann plötzlich laut und sprang auf.

In größten Sätzen jagte die Antilope davon, hinter ihr her das niedliche Junge.

»In, wollen Sie denn hinterherrennen und sie mit den Händen fangen?« fragte Lord Harrlington verwundert.

»Das nicht, aber schießen wollte ich sie nicht lassen,« entgegnete Williams, »es war ja eine säugende Mutter. Was sollten wir mit dem Jungen anfangen?«

»Nun beginnen wir aber ernstlich mit der Jagd,« meinte Ellen, »und, Sir Williams, wenn Sie immer ›hasch‹ machen, so nehmen wir Sie beim Wort, und Sie müssen das Tier wirklich haschen.«

»Ich werde es niemals wieder tun,« versicherte Charles.

»Sehen Sie dort den großen Baum mit den seltsamen Auswüchsen auf dem freien Platze stehen?« fragte Ellen. »Das soll unser Zusammenkunftsort sein, die Neger bleiben dort zurück, wir zerstreuen uns, und hat jemand etwas geschossen, so ruft er dieselben.«

Sie gingen nach dem Baume, der noch hundert Meter weit entfernt war.

Wieder blieb Charles stehen und deutete in die Ferne, über den Baum hinaus, wo ein Rudel von fünf Gazellen zu sehen war.

»Es sind Zwergantilopen,« sagte er, »das am schwierigsten zu schießende Wild, weil es sehr schlau ist. Wir wollen doch versuchen, ob wir uns heranschleichen können.«

Schon wollte er sich wieder ducken, aber Harrlington hielt ihn zurück.

»Warten Sie!« sagte er. »Merken Sie nicht, daß die Tiere ein ganz auffälliges Betragen zeigen? Sie sehen immer starr hierher und nähern sich uns auch langsam.«

»Es ist aber noch viel zu weit zum Schießen.«

»Natürlich, was haben sie aber nur? Ich denke, sie sollen so sehr schlau sein.«

»Sind sie auch.«

»Diese aber nicht, sie kommen direkt auf uns zu, aber ganz langsam, Schritt für Schritt.«

»Sie sind sehr neugierig,« sagte Charles und warf sich ins Gras.

Die anderen folgten seinem Beispiel und krochen langsam auf den Baum zu, hoffend, dadurch die Gazellen in Schußweite zu bekommen.

Hope war etwas vorausgekrochen; sie richtete ab und zu den Kopf auf, um nach den Tieren zu spähen, trotz des mahnenden Zischens von Harrlington.

Plötzlich aber nahmen ihre Züge einen erstaunten Ausdruck an, sie blickte lange geradeaus, warf sich auf den Rücken und brach in ein stilles Lachen aus, daß ihr Körper förmlich erschüttert wurde.

Dadurch fühlten sich die Nachfolgenden veranlaßt, ebenfalls die Köpfe zu heben, und was sie sahen, war allerdings komisch genug, um auch ihre Lachlust zu erregen.

Da stand unter dem betreffenden Baume, nicht mehr weit von ihnen entfernt, Lord Hastings, kerzengerade auf dem Kopfe, die Hände, neben denen die Büchse lag, fest ins Gras gekrallt, und mit den hoch emporgereckten Beinen strampelte er in der Luft herum.

An dem Baumstämme, so, daß sie von den Gazellen nicht gesehen werden konnte, saß Miß Murray, die Arme in die Hüften gestemmt, und kam vor Anstrengung, das Lachen zu unterdrücken, fast um.

»Lord Hastings ist übergeschnappt,« brachte Hope unter Kichern mühsam hervor.

»Er muß schon eine halbe Stunde so stehen,« meinte Charles, »sein Kopf ist schon ganz rot. Wenn er nur keinen Schlaganfall bekommt.«

»Er produziert sich vor Miß Murray als Gymnastiker.« meinte Miß Thomson dazwischen.

Sie hatten sich alle halb aus dem Grase emporgerichtet und betrachteten erstaunt das sonderbare Benehmen ihres Freundes, der standhaft sich auf dem Kopfe hielt und wie ein Wahnsinniger mit den Beinen in der Luft herumarbeitete. Sein Gesicht war ihnen abgewandt.

Schon wollten sie auf ihn zutreten und ihn zur Vernunft bringen, als Lord Hastings plötzlich auf die Füße sprang, die Büchse an die Wange legte und schnell hintereinander zwei Schüsse abfeuerte.

Das Rudel Zwergantilopen jagte davon; es bestand aber nur noch aus drei Tieren.

»Sehen Sie, Miß Murray,« wandte der Schütze sich triumphierend an das laut auflachende Mädchen, »so schießt man in Afrika die Zwergantilope, das flüchtigste, aber auch neugierigste Wild. So etwas kann weder der kluge Williams, noch die schlaue Miß Petersen machen, wenn sie es nicht erst von mir gezeigt bekommen.«

»Auf den Kopf werde ich mich allerdings nichts stellen,« ertönte hinter ihm eine Stimme.

»Ach entschuldigen Sie, Miß Petersen,« stotterte Hastings, und sein schon roter Kopf wurde noch röter, »so war das nicht gemeint,«

»Ich nehme es auch nicht übel,« lachte Ellen, »aber in der Tat, haben Sie die Tiere damit angelockt?«


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»Wahrhaftig, dieselben konnten sich nicht erklären was für ein seltsamer Gegenstand das war, der in der Luft herumzappelte, sie hatten einen solchen noch niemals gesehen, und da trieb sie die Neugierde, sich davon zu überzeugen — sie kamen in Schußweite.«

Nun konnten sich alle das Betragen der Antilopen erklären, Lord Hastings fand für seinen Scharfsinn allgemeine Bewunderung.

Die Neger holten die beiden geschossenen Tierchen als erste Jagdbeute und blieben dann unter dem Baume zurück, während sich die Herren und Damen allein oder zu zweit verstreuten.

Diesmal ging es anders als am Morgen; die Neger hatten nicht viel Zeit zum Schwatzen, immer wurden sie durch Zeichen oder durch Pfiffe gerufen, um erlegte Tiere nach dem Baume zu schaffen.

Endlich hatten alle genug von der Jagd; die Hitze begann lästig zu werden, und so beschlossen sie, nach dem Lager zurückzukehren.

Unter dem Baume lagen etwa zehn Antilopen verschiedener Art, große und kleine, ein Zebra, von Harrlington geschossen, ein Gnu — das ist eine Antilope, fast ebenso groß wie ein Zebra, aber mit bedeutend schmackhafterem Fleisch — als dessen Erleger sich der glückliche Hannes bezeichnete, einige Wildschweine und eine Unmenge von Vögeln. Den Negern wurde es überlassen, die Beute nach den Zelten zu bringen.

Zum Mittagessen war die ganze Gesellschaft wieder versammelt, und die Jagdbeute war eine so große, daß man ausmachte, nicht mehr auf diese Weise zu jagen, denn es ging doch unmöglich an, daß auf jede Person, die Neger eingeschlossen, pro Tag ein Zentner Fleisch zu rechnen war. Von jetzt ab sollten höchstens die scheuesten Antilopen geschossen werden, überhaupt Tiere, welche schwer zu jagen waren. Das Erlegen anderer wurde mit empfindlichen Strafen belegt, und zwar sollten diejenigen, welche das Verbot übertraten, als Wächter im Lager zurückbleiben, denn die alleingelassenen Schwarzen hatten in den paar Stunden schön gewirtschaftet. Die Vorräte an Mehl waren fast verzehrt; allen Herren fehlten Tabak und Zigarren, und ein Neger wurde dabei ertappt, wie er sich hinter einem Baume den Unterrock einer Dame anprobierte.

Der Franzose war bei dem Mittagessen nicht anwesend, auch noch nicht, als die Gesellschaft nach einer langen Nachmittagsruhe die Zelte verließ.

Erst als sie einen Abendspaziergang antreten wollten, kam Monsieur Pontence mit seinen Negern zurück, welch letztere sehr erschöpft schienen. Unwillig schleuderten sie Hacke und Schaufel zur Seite, und nur der Umstand, daß saftige, gebratene Fleischstücke für sie bereitlagen, ließ ihre Gesichter wieder fröhlich erglänzen.

»Haben Sie Mäuse ausgegraben?« fragte der unverbesserliche Williams.

»Morgen erfahren Sie alles,« antwortete Monsieur Pontence und eilte, ohne sich aufhalten zu lassen, in sein Zelt, kam dann mit einem Sattel wieder zum Vorschein, den er draußen sorgfältig abstäubte, und dessen Bügelleder er einölte.

Sir Williams, einige Herren und einige Damen hatten in der Kühle des Abends einen weiteren Spaziergang längs des Flusses gemacht und zu ihrem Bedauern gemerkt, daß es in diesem Gewässer auch Krokodile gab, sonst hätte sich wohl ein stiller Badeort gefunden.

Als der Fluß einmal eine Biegung machte, schnitten sie den Weg ab und gingen geradeaus über einen Platz, der nur wenig von Bäumen bewachsen war.

»Was für ein merkwürdiges Ding hängt denn da am Baume?« sagte da mit einem Male Williams und deutete voraus. »Das sieht ja fast aus wie ein Waldschutzplakat: Abpflücken von Zweigen bei Pfändung verboten! Merkwürdig.«

Er eilte voraus, prallte aber plötzlich zurück.

Jetzt konnten auch die Nachkommenden ein großes Papier sehen, das an einen Baumstamm geklebt war. Darauf war in großen Buchstaben mit Tinte geschrieben:

»Vorsicht, eine Grube!!!«

»Aha, das ist Monsieur Pontences Werk,« rief Charles, »die Grube ist nicht ungeschickt gemacht, man merkt gar nichts von ihr. Natürlich haben ihm die Schwarzen dabei geholfen, oder sie haben vielleicht alles allein gemacht.«

Man mußte sehr genau hinsehen, um erkennen zu können, daß hier ein Loch in der Erde war, welches mit dürren Zweigen bedeckt, auf die der ausgestochene Rasen niedergelegt worden war.

Als die Gesellschaft um den Bau herumging, brach sie in ein unauslöschliches Gelächter aus, nicht, weil das Plakat auch an der anderen Seite des Baumes klebte, sondern weil in der Mitte der zugedeckten Grube, welche sich um den Baum herumzog, aus Ästen eine Art von Krippe hergestellt war, in welcher Gras und sogar Brotstücken lagen.

»Was will der Franzose denn eigentlich fangen?«^ fragte jemand.

»Er sprach davon, sich ein Reittier zu verschaffen,« antwortete Williams, »und nun hält er die Zeit für gekommen. Na, wünsche ihm viel Glück, daß er ein Zebra fängt. Warum hat er das Plakat nur französisch geschrieben? Ach so! Er kann ja nicht englisch, möglich auch, daß er den Zebras Kenntnis in der französischen Sprache zutraut und glaubt, sie könnten es lesen. Ein sonderbarer Kauz, dieser Franzose.«

Lachend erreichte die Gesellschaft das Lager.

Monsieur Pontence nahm hastig das Abendbrot mit den Herren und Damen ein und verschwand dann aus der Gesellschaft, wurde auch nicht wieder gesehen. Wahrscheinlich meinte man, Mister Pontence hielte sich in seinem Zelte auf. Niemand dachte mehr an ihn.

Am frühen Morgen wurde John Davids leise am Ärmel gezupft, und als er, sich schnell ermunternd, von der eisernen Bettstelle auffuhr, sah er Hektor, den Negerjungen des Franzosen vor sich stehen.

»Monsieur noch nicht zurück,« sagte der Kleine auf französisch, denn er war in Frankreich erzogen worden.

»Ist er schon ausgegangen?«

»Ist noch gar nicht wieder da von gestern abend,« erwiderte der Kleine.

»Was?« Mit einem Satze war Davids aus seinem Bette.

»Er ist gestern abend nicht im Zelte gewesen? Warum hast du mir das nicht eher gesagt?«

Doch Schelten half nichts mehr, John Davids alarmierte die Neger und die Herren, und da es sowieso Zeit zum Aufstehen war, versammelten sich bald auch die Damen draußen und vernahmen erschrocken die Kunde, daß der Franzose gestern abend noch das Lager verlassen und dasselbe bis jetzt noch nicht wieder betreten habe.

»Er hat sich verlaufen, wir müssen ihn suchen!« war die allgemeine Meinung.

»Halt!« rief Charles und legte den Finger an die Nase. »Der Franzose hat eine Falle für Zebras graben lassen, und es sollte mich gar nicht wundern, wenn er die Nacht dort zugebracht hat, um das gefangene Tier gleich zureiten zu können.«

»Sattel auch weg,« meinte der Kleine.

»Sehen Sie, ich habe recht,« fuhr Charles fort, »kommen Sie, die Fallgrube ist nicht weit von hier.«

Nach einer halben Stunde näherte man sich jener Gegend.

»Dort liegt wirklich der Sattel, dicht neben der Grube, aber vom Franzosen ist nichts zu sehen. Vielleicht sitzt er auf einem Baume. Geben Sie gut Achtung.«

»Was ist denn das? Die Grube ist wirklich eingebrochen,« fuhr Charles fort, »so hat sich also doch ein Tier gefangen.« Er eilte als erster nach der eingestürzten Grubenbedeckung, bog sich vornüber und spähte hinunter. Plötzlich bog er sich zurück und brach in ein furchtbares Gelächter aus.

Die anderen eilten hinzu, blickten hinunter und sahen zwar kein Zebra — aber Monsieur Pontence, der vor Kälte zitternd in der nassen Grube in einer Ecke kauerte.

Bald war er mittels Stricken emporgezogen und wurde von der Gesellschaft umdrängt. Er war zwar etwas kleinlaut geworden, aber ganz konnte er den gewöhnlichen Ton doch nicht aufgeben,

»Ich wollte,« erzählte er, »gestern abend noch einmal meine Grube besichtigen, vielleicht konnte ja schon ein Zebra hineingestürzt sein. Warum denn nicht, meine Herrschaften? Die Grube war doch ausgezeichnet konstruiert, ganz nach meiner eigenen Erfindung, die Krippe stand nicht mehr da, ich hoffte schon, sie wäre mit einem Tiere hineingefallen, aber nein, die dummen Neger hatten sie nicht richtig nach meiner Angabe gemacht, sie war zusammengestürzt. Dies war mir nun furchtbar unangenehm, denn auf jeder Fallgrube muß eine Lockspeise stehen, auf den für Löwen berechneten z. B. rohes Fleisch, am besten Ziegenfleisch, weil dieses stark riecht.«

»Kurz und gut, Sie wollten also die Krippe wieder aufrichten, sind auf die Zweige getreten und hinuntergeplumpst,« unterbrach ihn Charles ungeduldig,

»Halten Sie mich für so dumm?« versetzte der Franzose gekränkt. »Darauftreten? So dumm bin ich doch wirklich nicht. Nein, ich legte mich auf den Bauch — Pardon, meine Damen — ich legte mich auf meine vordere Breitseite und kroch nach langem Besinnen langsam vorwärts, Zoll für Zoll. Es wäre mir auch gelungen, wenn ...«

»Wenn ich nicht hineingefallen wäre,« warf Hope dazwischen.

»Durchaus nicht, liebes Fräulein, wenn ich nicht in diesem Augenblicke einen heftigen Reiz in meiner Nase verspürt hätte, den ich aber nicht — Pardon, meine Damen — verzeihen Sie meine etwas freie Ausdrucksweise — da ich aber nicht niesen wollte, so griff ich vorsichtig in meine Beinkleidertasche, ehe ich aber das Tuch erfaßt hatte, mußte ich niesen und — — —«

»Und als ich ausgeniest hatte, da lag ich unten in der Grube,« ergänzte Charles lachend. »Fort, Monsieur Pontence, Sie klappern ja wie ein Laubfrosch vor Kälte, und Ihre sonst so schönen Mondscheinpausbacken sind vor Hunger auch schon eingefallen. Machen Sie, daß Sie ins Lager kommen! Halt, was ist denn das? Da unten hat sich wohl, Ihnen zur Gesellschaft, noch ein Igel gefangen? Ach so, das ist Ihre Perücke. Hier; du schwarzer Halunke, hole sie herauf. So, da haben Sie Ihre Haare wieder auf Ihrem rasierten Kopf, und nun laufen Sie, damit Sie in Schweiß kommen.«

»Aber die Grube will ich doch erst wieder zudecken,« sagte der in die Enge getriebene Franzose, sich die Perücke zurechtschiebend, »vielleicht, daß sich noch heute ein Zebra fängt, und dann kann ich es gleich zureiten.«

»Nichts da, fort mit Ihnen, sonst fallen Sie nochmals hinein! Sie kennen ja den Spruch: Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein.« — — —

Der zweite Jagdtag fand gegen vierzig Rosse gesattelt und gezäumt vor dem Zeltlager stehen, schnaubend und mit den Füßen scharrend, ihre Reiter erwartend. Die Tiere hatten sich nach den Strapazen der Reise genug ausgeruht, und so stand zu erwarten, daß sie einer Hetzjagd hinter flüchtigem Wilde, die Ellen plante, wohl fähig sein würden.

Nicht alle Mitglieder der Gesellschaft beteiligten sich an diesem Ausfluge. Einige waren keine Freunde von solchen Parforcejagden und zogen es vor, im Lager zu bleiben und nur der gewöhnlichen Pürschjagd obzuliegen. Die Pferde, welche somit freiblieben, wurden mit Negern, guten Reitern, besetzt, damit diese bei zurückbleibenden Pferden blieben und im Notfalle den Rückweg zeigen konnten, denn wer wußte, wie viele hundert Meilen bei solch einem schnellen Ritte hinter einer Antilope her zurückgelegt wurden.

Ellen führte den Zug; hier war sie in ihrem Element. Sie sagte ja selbst, daß sie auf dem Pferde groß geworden sei. Das enganschließende, helle Reitkleid wurde in der Taille wieder von jenem Flechtwerk aus Lederriemen umschlossen, welches sich einst in der Wüste als Lasso erwiesen hatte. Sie ritt ein unschönes Pferd, das unscheinbarste, welches Mister Selby zur Auswahl gestellt hatte; es war zwar groß, aber es machte keinen schönen Eindruck, weil es zu mager und eckig gebaut war. Die Knochen standen ihm überall aus dem Leibe. Die Herren selbst, welche doch auch Pferdekenner waren, hatten es als steifbeiniges Tier bezeichnet und sich sehr gewundert, daß Ellen es sofort gewählt — Weiberlaune!

Sie waren schon ziemlich weit entfernt, ohne daß Ellen ein Tier für wert gehalten hätte, die Jagd hinter ihm aufzunehmen; ihr Sinn stand nach einem Zebra oder einer Giraffe, dem schnellsten Tiere Afrikas.

Da sahen sie in der Ferne zwischen den Bäumen eine Herde Strauße grasen; es war das erste Mal, daß sie diese Vögel zu Gesicht bekamen. Die Tiere, wohl zwanzig Stück, hielten sich dicht zusammen, mit Ausnahme von zweien, welche ziemlich weit von der Truppe entfernt waren, aber ebenso dem Geschäfte des Grasens, oder, wie der Jägerausdruck dafür ist, der Äsung oblagen. Sie beugten ab und zu den hochgetragenen Kopf zur Erde, pflückten Gras ab und verschluckten es, wobei sie den Kopf immer nach links und rechts wandten. Das Gras war hier sehr hoch, daß man die langen Stelzbeine der Laufvögel nicht sehen konnte.

»Das ist ein Wild, wie ich es mir wünschte, hinter dem wir die Schnelligkeit unserer Pferde probieren können,« sagte Ellen und lenkte ihr Roß jener Richtung zu.

Da aber kam David, der Führer, der ein ausgezeichneter Fundi, das heißt, ein Jäger war, zu Ellen gesprengt und sagte:

»Die Strauße werden von Eingeborenen gejagt. Stören Sie die Leute noch nicht!«

»Wieso?«

Ellen blickte nach dem Rudel und bemerkte in diesem Augenblicke zu ihrem Erstaunen, wie ein Strauß plötzlich zusammenbrach, als wäre er geschossen worden, und zwar von einem Pfeile, denn ein Knall war nicht zu hören gewesen.

»Lassen denn die Strauße den Jäger so nahe herankommen, daß er sie mit dem Pfeile schießen kann? Ich glaubte, sie wären sehr scheu.«

»Dies sind sie auch,« entgegnete David, »aber auch sehr dumm. Sehen Sie dort die beiden allein äsenden Vögel? Das sind gar keine Strauße, sondern Neger, welche sich mit einem Straußenbalge bedeckt haben, die Bewegung der Vögel nachahmen und dabei einen nach dem anderen mit dem Pfeile zu Boden schießen. Wenn wir vorsichtig von hinten heranreiten, können wir sie vielleicht beobachten.«

Man folgte David, der die Gesellschaft in großem Bogen, möglichst so, daß sie von den Tieren nicht bemerkt wurde, und daß der Wind gegen sie war, zu den beiden einzelnen Tieren führte, und bald konnten sich alle von der Richtigkeit der Aussage des Führers überzeugen.

Zwei Schwarze waren es, welche da die Strauße auf listige Weise täuschten. Sie gingen gebückt, auf ihrem Rücken lag ein Straußenbalg, und in der einen Hand hielten sie einen Stock, an welchem der Hals mit dem Kopfe befestigt war, während sie in der anderen Bogen und Pfeile hielten.


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Es war fast lächerlich, zu sehen, wie die Neger einherstolzierten, ganz genau die Bewegungen der Strauße nachahmend, ebenso langsam und gravitätisch die Beine setzend, und wie sie ab und zu die ausgestopften Hälse zu Boden senkten, als wollten die Schnabel Gras rupfen, sie dann wieder emporrichteten und die Köpfe mit den Glasaugen hin- und herwandten. Sie versuchten, den sich langsam von ihnen entfernenden Vögeln nachzukommen, und hielten sie einen Schuß für möglich, so klemmten sie den Stock schnell zwischen die Beine, legten einen Pfeil auf und schnellten ihn nach dem nächsten Tiere, aber nur Männchen sich aussuchend, weil diese die schöneren Federn haben. Das getroffene Tier sank, mit dem Pfeile im Herzen, lautlos nieder, und die Kameraden warfen wohl einen Blick auf den am Boden liegenden, wurden aber durchaus nicht unruhig. Sicher mußte der Pfeilschuß jedoch sein, erklärte David, denn wenn das Tier nur verwundet wäre und in Zuckungen sich im Grase wälzte, so würden alle Vögel sofort erschreckt die Flucht ergreifen. Daher käme es auch, daß die Jäger so selten schössen, sondern nur, wenn sie einen Vogel ganz sicher ins Herz treffen könnten.

Die Vögel hatten die hinter Bäumen haltenden Reiter noch nicht bemerkt, wohl aber die Neger, und da, durch die Ankunft so vieler Weißer erschrocken, ergriffen die Schwarzen plötzlich die Flucht, rannten, sich aufrichtend, durch das Gras, und die Folge davon war, daß die Vögel ebenfalls sofort das Weite suchten.

»Drauf und dran!« rief Ellen und gab dem Pferde die Sporen, daß es im weiten Bogen davonflog, den Tieren nach. Die übrigen Reiter und Reiterinnen folgten ihr.

Den Hals weit vorgestreckt, die kurzen Flügel etwas ausgebreitet, und mit ihnen schlagend, so flohen die Vögel mit Riesenschritten davon; jeder Satz war meterlang, und die Füße schienen kaum den Boden zu berühren. Anfangs hielten die Flüchtenden zusammen, dann aber bogen einzelne, nach rechts und links ab, zerstreuten sich, und die vorausjagende Ellen folgte dem größten, schönsten, aber auch schnellsten Tiere.

Der Strauß ist einem mittelmäßigen Pferde an Schnelligkeit überlegen, aber ein geübter Reiter, welcher in Hetzjagden Erfahrung hat, kann ihn dennoch einholen, einfach dadurch, daß er anfangs sein Tier schont, und erst dann, wenn der Vogel müde wird, es voll ausgreifen läßt, denn der verfolgte Strauß setzt natürlich, wie jedes geängstigte Tier, sofort seine ganze Kraft ein, der Gefahr zu entgehen.

Ellen hatte auf den heimatlichen Prärien schon den Hirsch und die noch flüchtigere Gazelle zu Pferde gejagt und kannte daher diese Jagdweise.

Alle Pferde blieben den fliehenden Straußen auf den Fersen, aber die Entfernung zwischen ihnen und den Reitern verringerte sich nicht, trotzdem die Herren und die Damen weder Sporen, noch Peitsche schonten, die Pferde zu schnellerem Laufe anzutreiben, und nun erst bemerkten sie, daß Ellen bei Auswahl ihres Pferdes doch den schärfsten Blick an den Tag gelegt hatte.

Schön sah es zwar nicht aus, wie der braune Hengst bei jedem Sprung mit den Fesseln hinten ausschlug; ein Sportsmann hätte das Tier sofort aus seinem Gestüt ausrangiert; aber es blieb doch, ohne im geringsten von der Reiterin angetrieben zu werden, an der Spitze der Schar, ja, es war sogar nicht zu verkennen, daß Ellen beständig seinen Lauf zu mäßigen suchte.

Ein Pferd nach dem anderen blieb zurück, nur Ellens Hengst hielt sich, und der einzige, der sein Roß ihm nachtreiben konnte, war Lord Harrlington, dessen kleines, feuriges Tier, ein Pony, bei jedem Sprunge mit dem Bauche fast den Boden zu berühren schien.

Weiter und weiter ging die wilde Jagd, und immer länger zog sich die Reiterschar auseinander, die hintersten gaben schon die Sache auf und zügelten die Pferde, einigen Negern zurufend, bei ihnen zu bleiben.

Die Entfernung zwischen dem Strauß und Ellen betrug ungefähr fünfzig Meter, und eine halbe Stunde mochte dieser Ritt in schnellster Karriere schon gedauert haben, ohne daß sich diese Entfernung verringerte, ja, sie hatte sich eher vergrößert. Dann aber ward der Vogel müde, er begann mehr mit den Flügeln zu schlagen und nahm die Schritte nicht mehr so groß, aber schneller, sie waren also nicht mehr so elastisch wie anfangs.

Noch eine halbe Stunde verging auf diese Weise, dann aber fiel der Vogel plötzlich ganz ab, er rannte nur noch unsicher vorwärts; Ellens Pferd dagegen behielt noch immer seine vorherige Schnelligkeit bei und näherte sich dem Vogel merklich. Als dieser die gedämpften Huftritte im Grase hörte, spannte er noch einmal seine ganze und letzte Kraft an, zu entkommen. Wie der Wind flog er dahin, aber auch Ellen gab jetzt dem Rosse Sporen und Peitsche, und während es in Karriere hinterherjagte, löste sie den Lasso von den Hüften.

Noch zwanzig Meter war sie von dem Vogel getrennt, da wirbelte die Lederschlinge um ihren Kopf, sauste durch die Luft und schlang sich um den langen Hals des Vogels. Ein Ruck, das Pferd galoppierte zur Seite, und das Tier wurde am Boden nachgeschleift. Ellen parierte, sprang ab und trat zu dem Vogel, welcher wie tot dalag, und als sie ihn berührte, zeigte es sich, daß er wirklich verendet war — er hatte das Genick gebrochen.

In diesem Augenblick kam Lord Harrlington angejagt und sprang ebenfalls vom Pferde. Von den übrigen Reitern war noch niemand zu sehen, vielleicht kam überhaupt keiner mehr nach.

»Schade, daß das Tier tot ist,« sagte Ellen, das vom schnellen Ritt erhitzte Gesicht über den Vogel beugend, ohne den Lord anzusehen. Sie hielt, wie auch dieser, ihr Pferd am Zügel.

»Mit dem Lasso werden Sie den Strauß wohl immer töten,« entgegnete der Lord, »der lange Hals wird von dem Ruck stets gebrochen werden. Hätten Sie eine Bola gehabt, so könnten Sie diese um die Füße des Tieres geworfen haben.«

Die Bola ist ein langer Lederriemen, welcher aber am Ende keine Lederschlinge, sondern drei Bleikugeln hat. Diese werden um den Kopf gewirbelt und nach dem zu fangenden Gegenstande geschleudert. Die auseinandergehenden Lederschnüre schlingen sich um ihn und verwickeln sich durch die Schwere der Kugeln so, daß sie von selbst sich nicht wieder lösen. Die Bola wird hauptsächlich in Südamerika, der Lasso in Nordamerika von Indianern und Cowboys (Pferdehirten) gebraucht.

»Die Bola zerschmettert oft selbst einem Pferde die Knochen, um wieviel mehr erst diese dünnen Beine,« sagte Ellen, »nein, ich hätte nicht rucken sollen, aber ich bin es so gewohnt.

»Bitte, halten Sie mir mein Pferd,« fuhr sie dann zum Lord fort, ohne ihn anzusehen.

Gehorsam ergriff dieser die Zügel, während sich Ellen über den Vogel beugte und ihm die schönsten Federn auszog. Der Lord konnte ihr nur zusehen, er mußte ja die beiden Pferde halten, und doch wäre er so gern neben ihr niedergekniet, hätte ihre Hände ergriffen, ihr ins Auge geschaut und etwas gesagt, etwas, was ihm seit Wochen, ja, schon seit Monaten fast das Herz abdrückte. Es war das erste Mal, daß er wieder mit ihr allein war.

Er wendete den Kopf und sah in weiter, weiter Ferne eben die Köpfe einiger Reiter über dem Grase auftauchen. Jetzt oder nie, noch waren sie allein.

»Ellen,« flüsterte er hastig und doch so zärtlich, »Ellen, sag', wollen wir uns nicht aussprechen, wollen wir nicht das Mißverständnis lösen, welches —«

»Danke,« sagte Ellen, nahm ihm die Zügel aus der Hand und war mit einem Sprunge im Sattel. Im Galopp ritt sie den Reitern entgegen und gab den nachkommenden Negern den Befehl, den Strauß abzubalgen und ins Lager zu bringen.


26. Monsieur Pontence.

Unter denen, welche im Lager zurückgeblieben waren, befanden sich auch Hannes und Hope. Ersterer war ein Feind vom Reiten, nur in der äußersten Not bestieg er »so ein schlingerndes und stampfendes Fahrzeug«, womit er ein Pferd meinte, »welches mit dem Klüverbaum hin- und herwackelt und mit dem Heck wedelt.« Und da Hannes zurückblieb, so verließ auch Hope das Lager nicht, denn trotzdem sie während der ganzen Karawanenreise zusammen gewesen waren, hatten sie sich doch immer noch etwas zu erzählen.

Beide saßen jetzt auf einem Baumstamm, Hope strickte, aber nicht etwa einen Strumpf, sondern nach allen Regeln der Kunst an einem engmaschigen Netz, mit dem sie diese Nacht den nebenanströmenden Fluß auf wohlschmeckende Fische untersuchen wollte, Hannes hatte eine ebenso nützliche Beschäftigung vor, er hatte vor sich auf dem Baumstamm seinen ganzen Reichtum von angerauchten Kalipfeifen, die er während einiger Jahre sorgfältig gesammelt hatte, ausgebreitet und kratzte die treuen Begleiter seiner Seereisen mit einem Messer aus.

»Möchte nur wissen,« sagte Hannes und blickte zur Seite, wo zwischen zwei Bäumen Monsieur Poutence hantierte, »was dieser Franzose eigentlich macht. Will er mit dem Dinge da Fische fangen? Dann müssen es aber mächtig große sein, die nicht durch dieses Netz schlüpfen können.«

Nämlich Monsieur Pontence war ebenfalls im Begriff, eine Art von Netz herzustellen. Er hatte zwischen den zwei Bäumen eine Menge Stricke gespannt und versuchte nun, senkrechte Stricke hindurchzuflechten, wodurch ein Netz entstand, aber mit so großen Maschen, daß er bequem seinen dicken Kopf hindurchstecken konnte. Doch da er in derartigen Tauarbeiten ganz unerfahren war, so bekamen in der Verbindungsstelle die Stricke keinen Halt, keine Schleife hielt, und hätte er Knoten gemacht, so hinderten ihn diese, den nachfolgenden zu schürzen. Außerdem versah er sich immer im Durchstecken und mußte von neuem beginnen, kurz und gut, er kam nicht weiter. »Ich glaube, er wollte ein Spinnennetz machen,« lachte Hope leise. »Das müßte ausgezeichnet aussehen, wenn sich das dicke Kerlchen dann hineinsetzt und an den Maschen hin- und herkriecht.«

»Ähnlichkeit mit einer Kreuzspinne hat er sowieso,« meinte Hannes, »er würde sich wirklich sehr gut dazu eignen.«

Der Franzose hatte bemerkt, daß ihn die beiden beobachteten, und blickte nun auch seinerseits manchmal hinüber. Er sah, daß Hope gleichfalls an einem Netz arbeitete, und daß ihr Hannes ab und zu Anweisung gab, wie sie den Bindfaden und die hölzerne Nadel zu führen habe. Er selbst kam mit seinem Flechtwerk durchaus nicht zu stande, es wurde immer jämmerlicher. Jene aber mußten mit so etwas Bescheid wissen, die konnten ihm sicher helfen.

Monsieur Pontence kannte Hope recht gut, sie hielt sich immer viel in seiner Nähe auf, aber schließlich kam es ihm doch vor, als ob das junge Mädchen ihn nur zur Zielscheibe des Spottes mache. Seit jener Zeit hatte er Hope soviel wie möglich gemieden, er redete sich zwar aus, daß mit ihm, dem Hauptmann der Bürgerwehr, überhaupt Spott getrieben werden könne, dazu hatte er eine viel zu hohe Meinung von sich, aber es war etwas an dem jungen Mädchen, das ihn fernhielt, ohne daß er wußte, daß es einfach die geistige Überlegenheit war, die sie ihm gegenüber oft zeigte.

Mit Hannes hatte der Franzose gar keinen Umgang. Er hielt ihn für einen Seemann und für den Diener von Sir Williams, und dies bestätigte sich, je mehr er ihn für diesen Herrn Dienstleistungen verrichten sah.

Hope konnte er nicht gut bitten, ihm zu helfen, er hatte überhaupt vor diesen reichen, stolzen Amerikanerinnen einen großen Respekt, aber da war ja Hannes, wie er ihn immer rufen hörte.

»Jean,« rief der kleine Franzose also hinüber, »komm einmal her, aber schnell!« Die beiden unterhielten sich ruhig weiter.

»Jean, hörst du nicht? Komm einmal zu mir, du sollst mir etwas helfen.«

»Hannes, der meint dich,« sagte Hope zu ihrem Gefährten, »er sieht ja dabei hierher.«

»Mich?« rief Hannes erstaunt, der ziemlich gut Französisch verstand und sprach. »Ich denke, er ruft seinen Diener, den Negerjungen. Ist der Kerl verrückt?«

»Hölle und Teufel!« schrie der Franzose jetzt, über seine Mißerfolge sowieso schon wütend, und stampfte mit dem Fuße auf. »Komm her, Bursche, wenn ich dich rufe!«

»Alle Wetter,« sagte Hannes und stand auf, »da muß ich aber schnell machen, daß ich hinkomme, sonst frißt er mich mit Haut und Haaren auf.«

Langsam, die Hände in der Hosentasche, die Kalkpfeife im Munde, schlenderte er auf den Franzosen zu.

»Jean,« sagte dieser, »du kannst doch Netze flechten! Zeig' mir einmal, wie man die Querstricke an den Dingern befestigt.«

Hannes antwortete nichts, sondern blieb ruhig stehen, und dieses Schweigen veranlaßte den Franzosen, seinen Blick von dem Netz weg nach dem Gerufenen zu wenden. Er blickte in ein gar grimmiges Gesicht und in ein Paar zornige Augen, so schrecklich anzusehen, daß er erschrocken einen Schritt zurücktrat.

»Sagen Sie einmal, Monsieur Nonsense oder Pontence,« begann Hannes ganz ruhig, »Sie sind wohl heute morgen mit dem verkehrten Beine aufgestanden, oder haben Sie kalte Füße, heh? Was fällt Ihnen denn eigentlich ein, Sie dummer Pinsel Sie, heh?«

Hannes sah sich um. Niemand war in der Nähe.

»Wissen Sie, wer ich eigentlich bin?« fuhr er dann donnernd fort, die Pfeife aus dem Munde nehmend. »Ich bin Johannes, Freiherr von, auf und zu Schwarzburg, Kaiserlich, Königlicher Geheim-Sekretär Seiner Hoheit des Fürsten von Greiz-Schleiz-Lobenstein, und Sie haben mich einfach Excellenz zu nennen. Und wissen Sie, was Sie sind? Sie sind in meinen Augen ein Pinsel, und haben Sie das verstanden und haben noch ein Fünkchen von Ehre im Leibe, so wissen Sie, was Sie als Kavalier zu tun haben.«

Wie versteinert, mit offenem Munde hatte der Franzose zugehört. Am liebsten hätte er vor Schreck im den Boden sinken mögen. Als sich aber Hannes jetzt kurz auf den Hacken umdrehte, um zurückzugehen, da kam plötzlich Leben in die bewegungslose Gestalt.

Um Gottes willen, das gab wieder ein Duell! Die letzten Worte deuteten es an.

Hannes wurde leise am Ärmel gezupft.

»Entschuldigen Sie, Exzellenz,« stammelte der erschrockene Franzose, »wie konnte ich wissen, daß ich es mit einer so hohen Persönlichkeit zu tun habe! Bitte tausendmal um Entschuldigung, bin Ihr alleruntertänigster Diener.«

»Wie kommen Sie denn eigentlich dazu, mich wie einen Lakaien anzuschnauzen?« sagte Hannes, noch immer Entrüstung heuchelnd.

»Ich dachte, ich glaubte — ich dachte, weil Sie ...«

»Weil ich dem Sir Williams manchmal den Rock ausgebürstet habe?« fiel Hannes ein. »Wir sind beide intime Freunde und haben zusammen Blut getrunken. Na, Monsieur Pontence,« und Hannes nahm eine gönnerhafte Miene an, »lassen Sie es gut sein, ich bin vielleicht auch zu heftig gewesen. Nennen Sie mich ruhig Hannes, ich reise nämlich inkognito, weil ich sonst ein großes Gefolge mit herumschleppen müßte, aber Jean dürfen Sie nicht sagen, das bitte ich mir aus, so ruft man bei uns im Hotel die Kellner. Und nun zeigen Sie einmal her, was Sie da für Unsinn zurechtgeschustert haben. Hope, komm einmal her und hilf mir!«

Das junge Mädchen war unterdessen hinter den Baumstamm gekrochen und hatte sich nach Herzenslust ausgelacht. Jetzt kam es heran, sich zum Ernste zwingend, und half Hannes, der mit geschickter Hand an dem Netze arbeitete.

Ja, jetzt konnte der Franzose begreifen, woher es kam, daß die vornehme Amerikanerin so intim mit dem jungen Mann verkehrte! Das hätte er doch gleich merken sollen, daß derselbe kein Diener war. Von jetzt ab wollte er aber nähere Bekanntschaft mit dem Manne machen, der solche Titel aufzuweisen hatte, und ihn mit der ausgesuchtesten Höflichkeit behandeln.

»Was wollen Sie denn mit diesem Netze beginnen?« fragte ihn Hannes.

»Ich will damit Krokodile fangen, Exzellenz — Pardon — Monsieur Annes,« antwortete der Franzose höflich.

»Krokodile? Donnerwetter, Sie haben aber immer große Rosinen im Kopfe. Wie stellen Sie sich das nun ungefähr vor?«

»O, das ist sehr einfach! Sehen Sie, Monsieur Annes, so, das Krokodil fährt hier mit dem Kopfe durch, schwabb, und es kann nicht wieder zurück. — Au!«

Monsieur Pontence war mit seinem dicken Schädel durch eine Masche gefahren, und da Hope in diesem Augenblicke die beiden Stricke unten festzog, so legten sich diese hinter die Ohren des Franzosen und hinderten ihn am Zurückziehen des Kopfes.

Er mußte eine Weile zappeln, ehe er wieder befreit wurde.

»Sie haben aber merkwürdiges Unglück,« lachte Hope. »Sie graben eine Grube für Zebras und fallen selbst hinein, machen ein Netz für Krokodile und fangen sich selbst darin.«

»So,« sagte Hannes und zog den letzten Knoten zu, »das Netz ist fertig. Heute abend können Sie Krokodile fangen, das heißt, wenn die Tiere wollen. Was fangen Sie denn mit ihnen an?«

»Ich lasse mir aus der Haut Satteldecken für die Zebras fertigen, welche ich fangen werde; das muß wunderhübsch aussehen, nicht?«

»Gewiß, wenn Sie erst welche haben. Kommen Sie jetzt mit? Wir beide gehen etwas auf die Jagd.«

»Soll mir eine große Ehre sein, Sie begleiten zu dürfen,« antwortete der Franzose und lief in sein Zelt, um sich die Büchse über die Schulter zu hängen.

Alle drei verließen das Zeltlager und begaben sich in den Wald, um noch vor dem Mittag ein Wild zu schießen.

Sie waren bereits eine Weile gegangen, ohne etwas entdeckt zu haben, weil das Wild aus der Nähe des Lagers bereits vertrieben war, als der Franzose das erste vierbeinige Tier erblickte.

»Da,« flüsterte er und deutete voraus, »ein wilder Esel!«

»Wahrhaftiger Gott,« sagte Hannes, »ein wilder Esel, der erste, den ich hier in Sicht bekomme.«

Die Entfernung war noch zu groß, um schießen zu können.

»Sind die Tiere sehr scheu?« fragte Hope.

»Ja, wir müssen uns vorsichtig anpürschen. Sie, Monsieur Pontence, kriechen von Backbord heran, und wir beide von Steuerbord. Sollte er uns dennoch wittern, so suchen wir uns ihn gegenseitig zuzutreiben. Aber bitte, Monsieur Pontence, verschonen Sie uns mit Ihren Kugeln. Blei kann mein Magen schlecht verdauen.«

Monsieur Pontence hatte sich schon auf Hände und Kniee geworfen und kroch nach links ab, während Hannes und Hope den Weg nach rechts einschlugen. Schnell konnten sie sich durch das hohe Gras dem Tiere nähern, ohne von ihm gesehen zu werden. Als sie in Schußweite gekommen waren, richteten sie sich hinter einem Baume auf, um erst den wilden Esel einmal in Freiheit zu betrachten.

Er weidete ganz ruhig das Gras ab, völlig sorglos, ohne auch nur einmal den Kopf zu heben, bewegte die Ohren und schlug sich mit dem Quastenschwanze die Fliegen weg.

»Ich dachte, die wilden Esel sähen ganz anders aus,« meinte Hope, »aber er ähnelt doch fast ganz unseren Eseln.«

»Ich habe noch keine gesehen, sondern nur davon erzählen gehört,« entgegnete Hannes. »Wenn wir ihn erst haben, machen wir uns Salamiwurst.«

Das Eselsfleisch wird besonders in Italien viel zur Bereitung von Salamiwurst verwendet.

»Dort kommt schon der Franzose angeschlichen,« flüsterte Hope. »Schnell, Hannes, er legt schon an, und wie er jetzt steht, schießt er uns gerade an.«

»Er wird doch den Esel nicht mit Sprengkugeln schießen wollen,« sagte Hannes, warf sich aber doch schnell hinter einen Baum.

Da krachte schon ein Schuß, der Esel stieß ein langes, mißtönendes Schmerzgeheul aus und stürzte zu Boden, und gleichzeitig eilten Hannes und Hope darauf zu, von der anderen Seite kam langsam der glückliche Schütze.

»Ein Kapitalschuß, heh, was, Monsieur Annes?« rief der Franzose schon von weitem.

»Sie haben den Esel wieder schön in Stücke geschossen,« meinte Hannes, plötzlich aber fuhr er erstaunt fort: »Ja, was ist denn das? Der Esel hat ja einen Zaum um.«

In diesem Augenblick stürzte hinter einem Baume ein kleiner Negerjunge hervor in roter Hose und blauer Jacke, warf sich vor dem Esel auf die Kniee und umschlang dessen blutigen Hals.

»Petrarca,« schluchzte er und küßte den Esel aufs Maul, »du armes, armes Tierchen, o, o, du tot sein. O ciel, Hektor Schläge bekommen, mein Petrarca tot sein. Komm mach' aufstehen.«

Monsieur Pontence stand in sprachloser Verwunderung vor der Leiche. »Ja, ja, Monsieur Nonsense,« nahm Hannes das Wort, das ihn anwandelnde Lachen zurückdrängend, »da hilft nun kein Weinen, wie Williams sagt. Sie haben eben Ihren eigenen Esel in die Luft gesprengt.«

Endlich machte sich des Franzosen Verwirrung dadurch Luft, daß er den Jungen als den Unglücksanstifter bezeichnete.

»Du verwünschter, schwarzer Schlingel du,« fuhr er den weinenden Jungen an, »was hast du hier mit dem Esel zu tun?«

»Hier fettes Gras sein,« meinte Hektor, »und, Petrarca liebt Fett.«

»Da soll doch gleich ...«

»Lassen Sie es gut sein!« sagte Hannes und zog den Franzosen fort, der große Lust zeigte, den Jungen zu schlagen. »Wissen Sie was, wir stellen heute abend Schlingen, ich verstehe mich auf solche Sachen, und es müßte mit dem Teufel zugehen, wenn wir nicht ein paar Zebras fangen. Dann haben Sie gleich Ersatz für Ihren Esel.«

»So, meinen Sie, daß man das Zebra auch als Lasttier verwenden kann?« fragte der Franzose, der das Unglück sofort vergessen hatte, sobald er auf sein Lieblingsthema gebracht wurde.

»Lügst du, so lüge ich auch,« dachte Hannes und erzählte dem Franzosen, wie die Indianer in Südamerika — wo es gar keine Zebras gibt — solche Tiere fingen und zum Lasttragen verwendeten, zur Verwunderung des Franzosen und zum Ergötzen Hopes.

»Nun haben wir so lange von Zebras gesprochen, bis sie kommen,« unterbrach sie plötzlich den Erzähler. »Dort steht ein ganzes Rudel.«

Man erblickte in der Ferne wirklich eine stattliche Anzahl dieser prachtvollen Tiere, deren gelbes Fell mit den schwarzen Querstreifen dem des Panthers ähnelt.

»Nun verteilen wir uns wieder so wie vorhin,« meinte Hannes, »und nicht wahr, Monsieur Nonsense, Sie schießen diesmal nicht mit Sprengkugeln?«

»Nein, nein,« rief der Franzose, der beim Anblick der langersehnten Tiere ganz Feuer und Flamme wurde, »wenn ich keins fangen kann, dann schone ich wenigstens das Fell. Mon dieu, wenn ich so ein Reitpferd hätte!«

Sie krochen in verschiedenen Richtungen davon.

Hope und Hannes lagen schon längst in Schußweite bei den Tieren, als sie den Franzosen noch weit entfernt, wie einen großen, gelben Frosch durch das Gras kriechen sahen. Er benahm sich dabei so ungeschickt, daß zu befürchten war, die Zebras würden ihn bald entdecken und die Flucht ergreifen.

»Er verscheucht uns noch die Tiere,« sagte Hannes und machte die Büchse schußbereit, »Wir warten nicht auf ihn.«

Es war eigentlich schade, solch ein schönes Geschöpf zu schießen, wenn man nicht gerade seines Fleisches bedarf, aber die Jagdlust ist eine mächtige Leidenschaft, welche nicht leicht zu bändigen ist.

»Laß mich schießen,« bat Hope, »ich habe noch kein größeres Tier als eine Antilope erlegt!«

Hannes ließ die schon erhobene Büchse sinken.

Hope zielte lange und schoß; der stattlichste Hengst stürzte wie vom Blitz getroffen nieder.

»Das war einmal ein Schuß, prachtvoll, nicht gezuckt hat er mehr,« jubelte Hannes und eilte mit Hope nach dem erlegten Tiere, wo sie mit dem ebenfalls herbeieilenden Franzosen zusammentrafen.

»Nun, was meinen Sie, Mister Nonsense,« fragte Hope stolz, »ist das nicht schöner, als wenn man mit Sprengkugeln den ganzen Körper zerrissen hätte?«

»Er blutet ja gar nicht,« meinte Pontence verwundert.

»Die Kugel ist durch den Hals gegangen,« sagte Hannes, das Zebra untersuchend, »und hat wahrscheinlich die Wirbelknochen zerschmettert.« »Mister Pontence,« lachte Hope, »Sie wollen ja gern auf einem Zebra reiten. Nun, setzen Sie sich einmal darauf, und versuchen Sie, ob es weich ist.«

Das Tier lag nicht auf der Seite, sondern mit zusammengeknickten Beinen auf dem Bauche, den Hals weit vorstreckend. Halb mit Gewalt zwangen Hannes und Hope den Franzosen, sich rittlings auf den Rücken zu setzen, weil sie nämlich gerade die zurückkehrenden Hatzreiter ankommen sahen und diesen die komische Situation des Franzosen zeigen wollten. Monsieur Pontence ließ sich nicht lange nötigen, er streckte die dicken Beinchen über den Rücken des Zebras und ließ sich darauf nieder.

In diesem Augenblick trat die vom Pferde abgesessene Ellen an das Zebra.

»Das ist ein Nackenschuß,« rief sie plötzlich erschrocken, »herunter mit Ihnen!«


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Die Warnung kam zu spät; das Zebra sprang plötzlich mit einem Satze auf die Füße, und ehe die Umstehenden nur einen Entschluß fassen konnten, jagte es schon mit Windeseile davon, den Franzosen auf dem Rücken, der sich fest mit angezogenen Beinen anklammerte und die Hände in die Mähne krallte, so den lächerlichen Eindruck eines großen Affen machend, wenn seine Lage nicht so furchtbar ernst gewesen wäre.

Spottet in Amerika ein Pferd aller Anstrengungen der Jäger oder Pferdehirten, es mit Lasso oder Bola zu fangen, weil es sie nie nahe genug herankommen läßt, so gibt es noch ein Mittel, um es zu fangen. Der beste Schütze schleicht sich an das Pferd heran und versucht, ihm einen Schuß beizubringen. Die Kugel muß am Hals einen Wirbel streifen. Glückt es, so wird das Tier augenblicklich gelähmt, die Kugel schnell herausgeschnitten, und das Pferd trägt weiter keinen Schaden davon als am Halse eine Narbe. Das ist der Nackenschuß, und Ellen hatte an der Stellung des liegenden Zebras sofort bemerkt, daß hier ein solcher vorlag.

Nur Hannes und Hope hatten Gewehre bei sich, auch des Franzosen Elefantenbüchse lag am Boden, ehe aber jemand daran dachte, von ihr Gebrauch zumachen, war das Zebra schon längst außer Schußweite, den Franzosen noch immer auf dem Rücken.

»Er hat Revolver bei sich,« sagte Harrlington, »er wird doch das Tier niederschießen.«

»Nehmen wir lieber an, er tut es nicht,« rief Ellen und saß schon wieder auf dem Pferde, gab ihm die Sporen und jagte davon, dem Zebra nach.

Wer meinte, daß sein Pferd von dem langen Ritt noch nicht zu erschöpft sei, folgte ihr.

Denselben Weg, der schon zweimal gemacht worden, ging es abermals zurück; wieder brauste die ganze Kavalkade dahin, und wieder führte Ellens Pferd den Zug. Harrlingtons Pony blieb zurück, es hatte seine ganze Kraft erschöpft.

Wie Schatten flogen die Bäume an Ellen vorüber; sie durfte ihr Tier diesmal nicht schonen, sie gab ihm den einen Sporn, daß das Blut aus der Seite floß, denn es galt, das Zebra so schnell wie möglich einzuholen. Ihr Pferd war müde, es hielt nicht mehr lange aus, das Zebra dagegen hatte sich vorher ausgeruht und wurde überdies durch die ungewohnte Last des Reiters zur doppelten Anstrengung angetrieben. Wäre Ellen wenigstens in Schußweite gewesen, sie hätte mit dem Revolver schießen können, aber statt kleiner zu werden, vergrößerte sich die Entfernung.

Doch sie hielt in der Verfolgung nicht ein. Sie wollte dem Zebra wenigstens auf der Spur bleiben, vielleicht daß sich der Franzose doch noch ermannte und ihm eine Revolverkugel durch den Kopf schoß, wenn er seine Waffen nicht schon unterwegs verloren hatte.

Bis jetzt saß er noch immer zusammengekauert da, sich krampfhaft anklammernd. Daß er sich nicht fallen ließ, konnte ihm Ellen nicht verdenken, denn ein Sprung hier zwischen den Bäumen hätte seinen Tod bedeutet, er wäre unfehlbar zerschmettert worden. Da, was war das? Jagte da nicht fast neben dem Zebra ein schwarzer Schatten her, fast wie ein Mensch anzusehen? Doch nein, es war nicht möglich, so schnell konnte kein Mensch laufen.

Plötzlich verschwand der Schatten wieder, das Zebra jagte eben über eine Lichtung, da machte es plötzlich einen furchtbaren Sprung in die Höhe, der unfreiwillige Reiter wurde in großem Bogen herabgeschleudert, und das Tier selbst stürzte zusammen.

Ellen galoppierte hinzu, und als sie nach einigen Minuten die Stelle erreichte, fand sie Monsieur Pontence, dem sie die erste Aufmerksamkeit schenkte, im Grase sitzen und mit verwundertem Gesicht um sich schauen.

»Haben Sie etwas gebrochen?« rief ihm Ellen zu.

»Mon dieu, nein, ich glaube nicht,« antwortete er, stand auf und reckte die Glieder, »hat mich die Kanaille also doch abgeworfen! Verfluchte Blamage.«

Ellen ließ den merkwürdigen Menschen weiter räsonieren und wandte sich nach dem Zebra. Diesmal lag das Tier auf der Seite, und wie erstaunt war Ellen, als sie aus dem Herzen des Tieres den befiederten Schaft eines Pfeiles hervorragen sah.

Der Schuß hatte das Tier augenblicklich getötet.

Ellen zog den Pfeil heraus und besah ihn. Er stammte aus dem Köcher eines Eingeborenen. Wo die Federn begannen, hielt ein kleiner, kupferner Ring das gespaltene Ende zusammen. Derselbe zeigte eine Anzahl kleiner Vertiefungen in seltsamer Zusammenstellung.

»Haben Sie jemanden gesehen, der den Pfeil abgeschossen hat?« fragte sie den Franzosen.

»Welchen Pfeil?«

»Den hier, der das Zebra getötet und Sie gerettet hat.«

»Das Tier ist geschossen worden?« rief der Franzose verwundert. »Ich habe es doch nicht knallen hören.«

»Natürlich, Pfeil und Bogen knallen nicht,« entgegnete Ellen unwillig. »Haben Sie auch niemanden neben sich herlaufen sehen?«

»Niemanden, höchstens meinen Schatten.«

Ellen fragte nichts mehr, sondern steckte den Pfeil in den Gürtel und wartete, bis die übrigen nachkamen. Sie erklärte kurz, auf welch seltsame Weise das Tier geschossen worden sei, wie sie ganz deutlich neben dem Zebra einen Menschen mit ungeheurer Schnelligkeit habe laufen sehen, und trat dann mit ihren Freundinnen den Rücktritt an. Die Neger mußten das Tier nach dem Lager besorgen, und einer von ihnen trat dem Franzosen sein Pferd ab.

Da zeigte es sich, daß Monsieur Pontence im Sattel recht unsicher war, und schließlich, als der Zug zu galoppiere begann, glaubte er wahrscheinlich, sich wieder auf dem Zebra zu befinden, denn er ließ die Zügel fahren und klammerte sich an der Mähne des Pferdes fest. Ein Glück war es, daß dieses seinen Kameraden einfach folgte; aber der Franzose mußte noch manches Spottwort über seine Reitkunst geduldig hinunterschlucken.

Schon hatte man das Lager fast erreicht, als wieder eine Unterbrechung des Rittes stattfand.

»Monsieur Pontence,« wandte sich Ellen plötzlich an den Franzosen, »hatten Sie heute morgen nicht Ihre Zebrafalle wieder zudecken lassen?«

»Allerdings, Gnädigste, nach meiner eigenen Angabe.«

»Nun, sie ist schon wieder eingebrochen.«

Als man sich nach der Grube begab, fand man zum größten Erstaunen, daß sich wirklich ein Zebra darin gefangen hatte.

»Herr Gott,« rief Charles, »haben Sie aber ein Glück? Da können Sie ja noch heute abend das Zebra zureiten.«

Der Franzose antwortete nichts, sondern sah nachdenklich in die Grube, in welcher eine prächtige Stute stand und ängstlich mit den Hufen scharrte. »Schnell Stricke herbei,« rief Ellen den Negern zu, »damit wir das Tier herausholen können!«

Die nach dem Lager geschickten Neger brachten Stricke, und das erste war, daß dem Tiere eine Schlinge ums Maul gelegt und zugezogen wurde, denn die Zebras sind sehr bissig.

Nach langen Versuchen gelang es auch, zwei Schlingen unter den Leib zu bringen; die Enden wurden um einen gerade über der Grube befindlichen Ast geworfen, und den Anstrengungen aller gelang es endlich, das Tier heraufzuziehen. Ein Bein nach dem anderen wurde angebunden, die Stricke angezogen, und nach Verlauf einer Stunde lag das schöne Tier gebunden und geknebelt am Boden.

»So,« sagte Ellen zu Monsieur Pontence ironisch, »es gehört Ihnen. Wann wollen Sie es zureiten? Heute abend noch, oder erst morgen früh?«

Der Franzose kratzte sich bedenklich hinter den Ohren.

»Mademoiselle,« sagte er endlich, »ich bin Ihnen großen Dank schuldig, denn Sie sind heute hinter mir hergeritten. So gern ich auch ein Zebra als Reitpferd haben möchte, ich verehre Ihnen dieses hiermit, und wenn Sie es haben gut zureiten lassen, so erlauben Sie mir wohl auch einmal, es ein Stündchen zu benutzen.«

»Danke schön,« entgegnete Ellen lächelnd, »ich nehme das Geschenk an. Morgen abend sollen Sie es probieren können.«

Sie ordnete an, daß über Nacht einige Neger als Wache bei dem gefesselten Zebra blieben, um Raubtiere abzuhalten, und begab sich nach dem Lager, wo sie mit den Vestalinnen in einem Zelte eine lange Beratung abhielt.

»Will sie wirklich das Zebra zureiten lassen?« fragte einer der Herren Harrlington.

»Nein, sie will es selbst zureiten.«

»Donnerwetter, das glaube ich kaum, dazu gehört viel!«

»Miß Petersen wird es wohl verstehen, sie hat sich schon von Mister Davids einen Herrensattel geben lassen.«

»Wo ist denn Ihr Netz?« fragte am anderen Ende des Lagers Hope den Franzosen.

»Ja, wo ist es! He, ihr Kanaillen,« wandte er sich an die umstehenden Neger, »wo ist mein Netz?«

Hope erklärte den Negern, was der Franzose wollte, und lachte dann laut auf.

»Die Neger haben es wieder aufgemacht und die Stricke dazu verwandt, Ihr Zebra aus der Grube zu holen und zu fesseln.«

»Hölle und Teufel!« fluchte der Franzose.

»Fluchen Sie nicht, bedenken Sie lieber, wie merkwürdig das ist! Mit dem Krokodilnetz haben Sie ein Zebra gefangen,« scherzte das mutwillige Mädchen. —

Am anderen Morgen waren die Herren verwundert, fast gar keine Dame im Lager zu sehen, und die wenigen, welche zurückgeblieben, erklärten, Ellen wolle das Zebra zureiten, wo, erfuhr aber niemand.

So viel war gewiß, das Zebra war schon am frühesten Morgen verschwunden, und Ellen hatte einen Herrensattel mitgenommen.

»Wo mag sie nur sein?« wurde die Frage aufgeworfen.

»Jedenfalls an einem verborgenen Platz,« war die Antwort.

»Aber warum so heimlich? Es wäre doch recht schön, wenn wir der Bändigung des Tieres zusehen könnten.«

»Wenn Miß Petersen das Zebra zureitet,« erklärte Charles, »so wird sie sich nicht im Damenkostüm befinden, sonst hätte sie keinen Herrensattel mitgenommen, und unseren profanen Augen gestattet sie keinen anderen Anblick.«

Den ganzen Tag ließ sich keine der Damen sehen, und auf alle Fragen hatten die Zurückgebliebenen nur ein Lächeln als Antwort. Gegen Abend erblickte man in der Ferne eine stattliche Kavalkade von Reitern, unter ihnen auch die Damen, und an der Spitze ritt Ellen auf dem Zebra, welches sehr demütig war und willig dem Zügel gehorchte.

Die Reiterschar betrug weit über hundert Mann, jene schwarzen Gestalten aber, die da rittlings aus den Pferden saßen und ihre Lanzenspitzen in der Sonne funkeln ließen, waren keine Männer, sondern Weiber — Amazonen von Dahomeh, und neben Ellen ritt Yamyhla.

Diese hatte Ellen auf einer Lichtung des Waldes getroffen, wo sie das Zebra zuritt. Sie war in Begleitung von hundert wohlbewaffneten Amazonen, um der Karawane nach Tabua das Geleit zu geben, wenn die Boten die Nachricht brachten, daß Kasegora und Chaushilm sich dort befanden.

Der erste, welcher den Zug empfing, war der Franzose, der sein Zebra bewunderte. Wie gesagt, es war ziemlich demütig, aber sein wilder, heimtückischer Blick verriet doch, daß es nur zu gern seine Reiterin abgeschleudert hätte, doch es wagte keinen Versuch. Da es mit Staub und Schmutz bedeckt war, so muhte es sich oft gewälzt haben, aber wenn Ellen ihre Hand auf den Hals des Tieres legte, so zitterte es vom Kopf bis zum Schwanz, ein Zeichen, wie übel ihm diese mitgespielt hatte, auch die blutbefleckten Weichen zeigten das.

»Haben Sie Lust, einmal ein Stündchen auf ihm spazieren zu reiten?« fragte Ellen den Franzosen lächelnd.

»Es wird wohl nicht still halten, wenn ich mich darauf setze,« entgegnete der Franzose nachdenklich.

»Das glaube ich auch,« lachte Ellen.

Die Amazonen wurden im Lager von den Herren und zurückgebliebenen Damen herzlich begrüßt.

Noch ehe Ellen abgestiegen war, erhielt sie schon von einem Mädchen eine schlimme Nachricht. Miß Sargent hatte bereits heute morgen das Lager allein verlassen, um zu jagen, und war bis jetzt noch nicht wieder zurückgekehrt. »Womit war sie bewaffnet?« fragte Ellen.

»Mit der Doppelbüchse und dem Winchestergewehr.«

»Warum das?«

»Sie wollte mit letzterem Vögel schießen. Wir, die Herren und die Neger, haben schon heute nachmittag verschiedene Male nach ihr gesucht, sie aber nicht gefunden.«

Ellen rief rasch die Vestalinnen zusammen und hielt, eine Beratung ab, was hier zu machen sei. Da Miß Sargent eine mutige, entschlossene Dame war, welche es vielleicht sogar übelgenommen hätte, wenn man nach ihr suchte, weil sie bei einer Jagdpartie einen Tag oder eine Nacht ausblieb, so wurde beschlossen, erst am Morgen nach ihr zu forschen, falls sie bis dahin noch nicht zurückgekehrt sein sollte. Yamyhla versprach ihre Beihilfe.

Die Zahl der Personen im Lager war jetzt plötzlich verdoppelt worden, aber die Amazonen kannten den Luxus von Zelten nicht; sie kampierten einfach im Freien, und nur die vielen Lagerfeuer verrieten, wie sehr die Karawane sich vermehrt hatte. Überall flackerten die Feuer auf, dunkle Gestalten lagen darum und beobachteten die Fleischstücke, welche über den Flammen brieten, daneben standen, an Bäume gebunden, die Pferde.

Im Zelte Ellens befand sich Yamyhla und der gleichfalls mitgekommene Ngaraiso.

»Wir wollen noch zwei Tage hier warten,« sagte erstere. »Sind bis dahin die Boten aus Tabua noch nicht zurückgekehrt, so reisen wir ihnen entgegen, und ist deine Freundin morgen früh nicht wieder hier, so benutzen wir den morgenden Tag, um sie aufzusuchen. Uns ist es nicht schwer, die Vermißte wiederzufinden.«

Ellen erzählte die jüngst passierten Abenteuer und sprach auch von dem seltsamen Pfeilschuß, durch welchen der Franzose von seinem Reittier befreit wurde.

»Ob der dunkle Schatten, welchen ich neben dem Zebra herlaufen zu sehen meinte, wirklich ein Mensch war, kann ich nicht behaupten,« schloß Ellen. »Hältst du es für möglich, Yamyhla, daß ein solcher mit einem laufenden Zebra gleichen Schritt halten kann?«

»Warum nicht? Wir Amazonen jagen die Antilope zu Fuß und nur mit dem Speer,« sagte Ymayhla einfach, »wir stechen das eingeholte Tier nieder. Doch sag', hast du den Pfeil aufgehoben?«

Ellen zeigte ihr denselben, den Yamyhla kaum in die Hand genommen hatte, als sie schon erstaunt rief:

»Der Pfeil einer Amazone, die Peilspitze wird nur bei uns so eingefügt.«

Dann betrachtete sie aufmerksam den kupfernen Ring.

»Wahrhaftig,« rief sie dann wieder, »es ist das Zeichen von Kasegora, sie und keine andere hat ihn abgeschossen. Eine Stunde ist das Zebra gelaufen? Gut, so kann sie selbst nicht so weit sein, wir werden sie suchen.«


27. Der weisse Neger.

Nur einige Tage waren verstrichen, seit die Karawane der Herren und Damen von Mgwana aufgebrochen war, als in den Hafen ein großes, schwarzes Vollschiff einlief — der »Blitz«.

Fast sofort, nachdem Hoffmann den Hafenvorschriften genügt, das heißt, sein Schiff angemeldet und das Ankergeld bezahlt hatte, jenes Geld, für welches der Hafen von der Behörde in Ordnung gehalten und verwaltet wird, erschien bei ihm an Bord einer der Heizer des ›Amor‹, welcher den Kapitän zu sprechen wünschte. Der Mann wußte ja, daß Hoffmann ein Freund der englischen Herren war, und, in einer Angelegenheit Rat wünschend, wandte er sich an ihn.

Während die Unterredung im Arbeitszimmer des Kapitäns stattfand, standen der Bootsmann und Georg, die Briefordonnanz, am Fallreep und stellten Betrachtungen über die Neger an, welche in schmalen, aber sehr langen Ruderboten im Hafen hin- und herfuhren, vor den Schiffen hielten und Früchte, Durra und Erzeugnisse der einheimischen Industrie den Mannschaften anboten. Unter letzteren spielen hauptsächlich Goldwaren eine Hauptrolle denn die Westküste von Nordafrika ist ziemlich reich diesem Edelmetalle, wie ja auch der Name »Goldküste« besagt, und die Neger sind geschickt in der Verarbeitung dieses Metalles.


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Daß aber die dort wohnenden Schwarzen sich auch schon die Vorteile der Zivilisation zu nutze gemacht haben und auszubeuten suchen, das verriet das Gespräch, welches zwischen dem Bootsmann und dem schlauen Georg stattfand, welch letzerer nicht mit blinden Äugen in der Welt herumfuhr, sondern vielmehr alles mit recht scharfem Blicke und klarem Verstande anzusehen gewohnt war.

Eben hatte ein Neger, der ihnen dicke Goldringe mit eigentümlichen Eingravierungen zu verkaufen gesucht hatte, den »Blitz« verlassen. Einige der Mannschaft wären vielleicht nicht abgeneigt gewesen, die schönen und dabei billigen Fingerringe zu kaufen, darunter auch der Bootsmann, aber Georg hatte sofort, als er die Ware des Negers gesehen, diesen von Bord gejagt.

»Die Ringe waren aber doch wirklich aus echtem Gold,« sagte der Bootsmann erstaunt, »und noch dazu sehr schön gearbeitet! Warum sollten unsere Leute nicht ein paar solche Dinge kaufen? Es ist doch ganz hübsch, wenn man aus fremden Ländern Andenken mitbringt. In unserer Heimat müssen wir für solche ausländische Sachen wenigstens das Doppelte bezahlen.«

»Da seid Ihr gewaltig im Irrtum, Bootsmann,« lachte Georg, »wenn Ihr glaubt, diese Ringe seien von den Negern geschmiedet. Wißt Ihr, woher diese Schmucksachen kommen? Meistenteils aus England, aber die Neger verkaufen sie als einheimische.«

»Es ist nicht möglich!« rief der Bootsmann erstaunt. »Und doch ist es so,« versicherte Georg, »ich weiß es genau. Es gibt in England Fabriken, welche sich nur mit Anfertigung von Sachen beschäftigen, die dann in den fremden Hafenstädten als Erzeugnisse der Eingeborenen verkauft werden, nicht nur Industriegegenstände, sondern sogar Waffen, Pfeile, Bogen und Lanzen. Ich wette, daß manches Stück, welches ein Reisender für schweres Geld im Auslande erworben hat, und das jetzt in irgend einem Museum hängt, in demselben Land, ja vielleicht in derselben Straße gefertigt ist, in der sich das Museum befindet. Ich war einmal auf einem Schiffe, auf dem sich ein solcher Agent befand, der derartige Geschäfte machte. Er fuhr auch hierher und brachte den Negern ganze Kisten voll Ringe. Das Gold ist schlecht, die Gravierungen sind Fabrikarbeit, und wenn man sie kauft, so glaubt man doch, die Neger haben die selben mit der Hand eingeschnitten, und daher bezahlt man viel mehr, als der Ring eigentlich wert ist.«

»Aber die Neger hier sollen doch gute Goldarbeiter sein?«

»Gewiß, aber wir Matrosen bekommen solche Sachen gar nicht zu sehen. Die Häuptlinge, Sultane und wie die Kerle alle heißen, behalten sie für sich, verschenken oder verkaufen sie auch, aber nicht an uns, solche Schmucksachen können nur Reiche kaufen. Da kommt schon wieder ein Schwarzer angefahren,« unterbrach Georg seine Erklärung, »was mag der denn wieder wollen?! Ware hat er nicht im Boot. Laßt ihn nicht an Bord, Bootsmann, er will doch nur betteln oder stehlen.«

Ein Boot, in dem sich nur ein einziger Neger befand, wurde an den »Blitz« gerudert, indem der Mann geschickt das Wasser mit einem Schaufelruder hinter das Fahrzeug drückte, und ans Fallreep gebunden. Der Ankömmling kletterte dieses hinauf.

»Nichts da,« rief ihm der Bootsmann entgegen! und machte eine zurückweisende Handbewegung, »wir, wollen euch Gesindel nicht an Bord haben.«

Der Neger nahm keine Notiz davon, sondern war mit einem Sprunge über der Bordwand und stand an Deck. Er war zwar nicht groß und auch nicht breitschultrig, sondern eher schmächtig und zierlich gebaut, aber der Körper, nur von einem Lendentuch bedeckt, zeigte eine so ausgebildete Muskulatur, wie man sie an der artigen Gestalten gar nicht zu sehen gewohnt war. Bei der kleinsten Bewegung spielten die Muskeln und schwollen zu einer unglaublichen Größe an. Der Mann mußte entweder sehr schwere Arbeit verrichten, oder er war vielleicht ein Gymnastiker, anders konnte man sich diese Vereinigung von Zierlichkeit und Kraft, beide in einem Körper verbunden, nicht erklären. Seine Hautfarbe war schwarz, das Haar war wollig, aber nicht so hart wie das anderer Neger, und auch sein Gesichtsausdruck war kein abstoßender.

»Massa Hoffmann an Bord?« fragte er in mangelhaftem Englisch.

»Zurück in deinen Kahn,« rief der Bootsmann ärgerlich, aber doch erstaunt die wie aus Erz gegossene, schlanke Gestalt von oben bis unten musternd, als erwäge er, wie ein Handgriff an dieser schwarzen Gestalt wohl aufgenommen werden würde.

In diesem Augenblick kam der Heizer aus Hoffmanns Kajüte, und der Schwarze, welcher von dem Bootsmann schon gepackt werden sollte, schlüpfte plötzlich wie ein Aal unter den Händen desselben durch, an dem Heizer vorüber und war mit einem Sprunge aus der Kajütentreppe verschwunden.

Als sich der Bootsmann von seiner Entrüstung erholt hatte, wollte er nacheilen, da aber erschien schon Hoffmann auf der Treppe.

»Es ist gut, Bootsmann,« rief er dem Aufgebrachten zu. »Ruft den Heizer des ›Amor‹ noch einmal zurück!

»Ihr braucht in dieser Angelegenheit nichts mehr zu tun,« sagte Hoffmann zu dem Zurückgekehrten, »ich habe mir die Sache anders überlegt. Bleibt an Bord und kümmert Euch nicht mehr um die Sache Snatchers.«

Hoffmann ging wieder hinunter.

»Was soll denn das bedeuten?« fragte der Bootsmann den Heizer. »Habt Ihr denn Snatcher schon wieder?«

Der Heizer zuckte die Achseln. »Ich verstehe das auch nicht,« meinte er. »Eben sagte mir noch der Kapitän Hoffmann, ich solle ihn in einer halben Stunde abholen, wir wollten beide zusammen nach dem Konsulat gehen und Anzeige machen, und jetzt denkt er mit einem Male ganz anders, er ist plötzlich über Snatcher beruhigt. Daraus werde ein anderer klug.«

»Sollte der Schwarze damit etwas zu tun haben?« meinte der Bootsmann.

»Wer weiß? Der Kapitän muß ihn kennen, sonst würde er doch den nackten Kerl nicht in seiner Arbeitsstube dulden, und der Neger muß seines Auftrages sehr sicher sein, daß er sogleich zum Kapitän hineinläuft.«

Am Maste ertönte ein Klingeln, welches Georg zum Kapitän rief. Als er wieder auf Deck kam, gab er dem Koch verschiedene Aufträge und wandte sich dann wieder zum Bootsmann.

»Merkwürdig,« sagte er, »der Nigger sitzt unten ganz bequem beim Kapitän im Lehnstuhl und raucht, Zigarren, und jetzt muß ich dem Koch den Auftrag geben, das Beste herzurichten, was es an Bord gibt und, sagte der Kapitän lachend, genug, daß es für drei Personen reicht.«

Noch einige Male wurde Georg gerufen, nachdem die Platten und Schüsseln mit den schnell bereiteten Gerichten von ihm unten aufgetragen worden waren.

»Potz Element,« rief er zum Bootsmann, »das ist ja ganz kurios, jetzt muß ich auch noch Wein für den Nigger servieren! Aber, Bootsmann, Ihr solltet einmal unten zusehen können, so etwas habt Ihr Euer Leben lang noch nicht gesehen. Der Kapitän sitzt und lacht nur immer, und der Nigger greift in die Schüsseln hinein, als hätte er wenigstens vier Wochen nichts gegessen. Als ich jetzt unten war, schluckte er ein halbes Huhn mit einem Male hinunter, Messer und Gabel benutzt er gar nicht, und die fettigen Finger wischt er sich immer im Haar ab. Das ist ja ein sonderbarer Gast, möchte nur wissen, was hinter dem steckt. Ein nackter Neger, raucht des Kapitäns feinste Zigarren, trinkt den besten Wein und schluckt dann den Braten und das Geflügel nur immer so hinunter.«

»Sprechen sie denn nichts zusammen?« fragte der Bootsmann neugierig.

»Freilich sprechen sie zusammen, den Neger habe ich wenigstens immer schwatzen hören, sobald ich aber eintrete, hört er auf und fängt mit verdoppeltem Eifer an zu kauen.«

Wenn aber Georg auch den Neger hätte sprechen hören, er würde selbst dem Bootsmann, seinem besten Freunde, nichts wiedererzählt haben, dazu war er seinem Kapitän viel zu treu.


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Der sonderbare Schwarze mußte wirklich einen ganz furchtbaren Hunger haben; Appetit war es schon gar nicht mehr zu nennen, mit solcher Hast räumte er die aufgetragenen Platten ab. Hoffmann sah zu und mußte oft lachen, wenn der Neger immer wieder eine geleerte Schüssel zur Seite schob und eine neue heranzog, wobei es ihm gar nicht auf die Reihenfolge der Speisen ankam, sondern er aß eben, wie die Gerichte der Reihe nach kamen: erst Braten, dann einen Teller voll Brot, dann Geflügel, dann leerte er wieder eine Schüssel mit Gemüse und griff hierauf zu einer anderen Fleischsorte. Der Kapitän hörte aber zugleich auch zu, denn während des Kauens stieß der Neger Worte hervor, welche Hoffmann sehr interessieren mußten. Der Neger sprach jetzt nicht mehr ein so mangelhaftes Englisch wie vorhin, als er an Bord kam, sondern ein sehr gutes.

»So haben Sie also den Weg von 350 Meilen in zwei Tagen zurückgelegt?« fragte Hoffmann. »Wenn ich Sie nicht kennte, würde ich dies einfach für eine Unmöglichkeit halten! Da müssen Sie aber Tag und Nacht geritten sein. Haben Sie in dieser Zeit gar nicht geschlafen?«

»Doch,« erwiderte der Neger und stürzte ein großes Glas Wein hinunter, »einmal habe ich geschlafen, etwa drei Stunden, an einen Baumstamm gelehnt, und zwar, als mein Pferd zum Reiten untauglich wurde. Das Tier konnte die Anstrengung nicht mehr aushalten, es taugte nichts, und so bin ich dann zu Fuß weitergerannt. Zuletzt habe ich mir ein Boot gestohlen und bin einige Stunden auf dem Flusse gefahren, das Boot liegt noch draußen.«

»Warum haben Sie sich aber nicht einen ordentlichen Anzug verschafft? Sie trafen doch sicherlich unterwegs auf Besitzungen, wo Europäer wohnen!«

»Habe ich auch einmal versucht, aber der nackte Mann wurde so ausgefragt, daß er gleich die Geduld verlor und weitergaloppierte.

»Mein Pferd brach in der Nähe eines Negerkraals zusammen, ich schlich in der Nacht in eine Hütte, stahl dieses Lendentuch hier, färbte mich mit dem Safte einer Pflanze, die ich kannte, vom Kopf bis zu den Füßen schwarz, das Haar ebenso, schlief etwas und rannte dann weiter. Wenn ich als Weißer durch bewohnte Gegenden gelaufen wäre, so hätte das natürlich großes Aufsehen erregt, und so war die Umwandlung nötig.«

»Konnten Sie sich nicht wieder ein Pferd verschaffen?« fragte der Kapitän lächelnd den kauenden Mann. »Da Sie es nicht so genau mit dem Eigentum anderer nehmen, so konnten Sie ja auch ein solches von der Weide nehmen.«

»Der Weg führte durch Wälder und Dschungeln, und in diesen kommt ein Fußgänger schneller fort als ein Reiter,« war die Antwort.

Hoffmann stellte seine Fragen ein, bis der Mann vor ihm gesättigt war, denn da schließlich selbst der furchtbarste Heißhunger gestillt werden kann, so hörte auch der Fremde nach und nach auf, die vor ihm stehenden Schüsseln aufzuräumen; seine Kauwerkzeuge arbeiteten langsamer, und schließlich lehnte er sich mit einem tiefen Seufzer der Befriedigung in den Lehnstuhl zurück, brannte sich eine Zigarre an und blickte, die Hände über dem angefüllten Magen gefaltet, mit wahrhaft glücklichem Gesichtsausdruck den bläulichen Rauchwölkchen nach.

»Da ich annehmen kann, Mister Sharp,« begann Hoffmann wieder, »daß Sie nun eher zum Sprechen, disponiert sind als vorher mit leerem Magen, so ersuche ich Sie um Aufklärung alles dessen, was Sie bis jetzt, sei es im Interesse von Lord Harrlington, oder in Ihrem eigenen getan haben. Ich habe Ihnen meine Hilfe versprochen, und soviel in meinen Kräften steht, werde ich Sie unterstützen. Aber natürlich ist es nötig, daß ich auch in Ihre Pläne Einblick erhalte, denn Sie wissen, Mister Sharp, ich bin nicht der Mann, der sich als willenloses Werkzeug gebrauchen läßt.«

Mister Sharp, der diesmal die Verkleidung oder — da von Kleidern nicht viel zu sehen war — das Aussehen eines Negers angenommen hatte und einen solchen bei nur oberflächlicher Betrachtung auch wirklich sehr gut vorstellte, blickte lange sinnend vor sich hin, nahm die Zigarre aus dem Munde und lehnte sich noch bequemer in den Stuhl zurück.

»Wir haben uns das letzte Mal in China gesehen,« sagte er dann, »als ich Ihnen mitteilte, daß ich von Lord Harrlington verabschiedet worden wäre, wenigstens der Form nach. Ist es nicht so?«

Hoffmann bejahte.

»Wissen Sie, womit ich mich bis jetzt beschäftigt habe?« fragte Nick Sharp weiter.

»Lord Harrlington erzählte mir, Sie wären willens, sich eben jener Verbrecherbande anzuschließen, durch welche die englischen Herren wie die amerikanischen Damen fortwährend belästigt werden; aller Wahrscheinlichkeit nach bemüht sich diese, die Damen in ihre Gewalt zu bekommen.«

»Sonst nichts weiter?«

Hoffmann lächelte.

»Lord Harrlington sagte mir auch noch so nebenbei, « fuhr er fort, »das heißt, ohne Sie im geringsten anklagen zu wollen, daß Sie von der Ihnen gegebenen Vollmacht, in seinem Namen Summen zu erheben, in etwas großem Maßstabe Gebrauch gemacht haben. Sie sollen einen Scheck über dreißigtausend Dollar ausgeschrieben haben.«

»Habe ich auch, und Lord Harrlington ist darüber von mir benachrichtigt worden,« entgegnete der Detektiv gleichgültig, »diese Benachrichtigung ist ihm wahrscheinlich aber erst zugegangen, nachdem er Ihnen dies erzählt hat. Gut aber, daß Sie das zuerst erwähnen, denn von da fängt meine Lebensperiode als Seeräuber an, wenn ich auch wenig Gelegenheit gehabt habe, in Praxis aufzutreten — danke, Kapitän, ich trinke keinen Wein mehr, Kognak befördert die Verdauung besser. Ich wußte, daß der Mann, welcher Seewolf genannt wird, in großer Verlegenheit war, weil er sein Schiff verloren hatte und auch keine Aussicht besaß, wieder ein solches zu bekommen. Der Kapitän ohne Schiff lag mit seiner Mannschaft in Yokohama und wartete vergebens darauf, von seinem Herrn, dem sogenannten Meister, wieder ein Schiffchen geschenkt zu kommen. Meine damalige Meinung war nun schon, daß dieser Meister nicht so schnell im Schenken sei, und als ich später mit dem Seewolf intimer wurde, erfuhr ich wirklich, der Meister hätte ihm ziemlich deutlich gesagt, daß er, habe er durch Ungeschicklichkeit sein Schiff verloren, sich selbst ein solches wieder anschaffen solle. Ich war in dem Besitz des Stempels des Meisters, ferner auch in dem einiger seiner Briefe, und so war es mir also leicht, einen solchen zu fälschen.«

»Wie kamen Sie zu dem Stempel des Meisters?« fragte Hoffmann erstaunt.

Sharp erzählte kurz, wie er in Indien denselben kopiert und sich darnach ein Petschaft angefertigt habe.

»Damals in Yokohama wurde die ganze Mannschaft eines Schiffes gehenkt, welches auf Seeräuberei betroffen worden war. Ich weiß nicht, ob Sie davon gehört haben?«

»Ja, es ist mir bekannt.«

»Wissen Sie auch, daß einer aus dem Gefängnisse entsprang und nicht wieder gefangen wurde?«

»Ja, wenn ich nicht irre, hieß jener Mann Ned Carpenter.«

»Richtig! Doch erlassen Sie mir, zu erzählen, wie alles kam, ich müßte zu weit ausholen — kurz und gut, jener entflohene Ned Carpenter war gar nicht der richtige Mann, der war schon längst tot, sondern ich bin der Mann gewesen, ich habe mich ins Gefängnis sperren lassen, und so bin ich es auch gewesen, der daraus entfloh — alles, um den Seewolf und die ganze Sippschaft zu täuschen.«

Sharp beachtete nicht das verwunderte, fragende Gesicht des Kapitäns, sondern fuhr fort:

»Als Ned Carpenter brachte ich dem Seewolf einen Brief des Meisters, den ich also mir selbst geschrieben hatte, worin dem Seewolf mitgeteilt wurde, daß er mir folgen sollte, denn ich könnte ihm wieder ein Schiff verschaffen. Wer war froher als der Seewolf und seine Leute! Noch in derselben Nacht nahmen sie unter meiner Führung ein Schiff, welches in Yokohama ohne Mannschaft lag, sie glaubten zwar, es wäre nur zufällig ohne Bewachung, und sie staunten über meine Kühnheit, wie ich so ohne weiteres aus einem großen Hafen ein Schiff mit voller Ausrüstung entführte, aber — das alles war eine Vorspiegelung, ich hatte vorher das Schiff für die dreißigtausend Dollar gekauft. Mein doppeltes Ziel hatte ich jedoch erreicht, der Seewolf besaß wieder ein Schiff, und ich stand bei ihm wegen meiner Schlauheit und Verwegenheit in großem Ansehen, seine Mannschaft betete mich wie einen Gott oder auch wie den Teufel an, und so konnte ich manches von ihm erfahren, was ich zu wissen wünschte, umsomehr, als mich der Seewolf für eine dem Meister sehr nahestehende Person hielt. Wie wäre ich sonst zu solch einem wichtigen Auftrage gekommen? Haben Sie nun noch irgend eine Frage zu stellen, Mister Hoffmann? Da alle meine Handlungen wohl überlegt waren, da ich immer nach einem Plane arbeite, so kann es leicht vorkommen, daß ich etwas mir als ganz selbstverständlich Erscheinendes überspringe, was aber für Sie ein Rätsel bleibt.«

»Ja, manches ist mir allerdings vollständig rätselhaft,« entgegnete Hoffmann. »Der Meister hat doch sicher erfahren, daß der Seewolf durch Sie zu einem Schiffe gekommen ist, und ferner, daß Sie letzterem einen Brief gebracht haben, welcher Sie als Bevollmächtigten erklärte. Sollte der Meister ein so kurzes Gedächtnis besitzen, um nicht zu wissen, daß er Ihnen gar keinen Brief geschrieben, denselben Ihnen auch gar nicht ausgehändigt hat? Es wäre doch merkwürdig, wenn der Meister von diesem Betrüge nichts erfahren haben sollte!«

»Richtig, das muß ich Ihnen erst noch erklären. Ich bin nämlich zu der Ansicht gekommen, daß die Person des Meisters gar nicht existiert, daß es vielmehr eine ganze Menge von Leuten gibt, welche alle unter dem Namen des Meisters arbeiten und sich seines Siegels, des Galgens mit der Umschrift, bedienen. Die Briefe weisen nämlich verschiedene Handschriften auf, nicht gerade die, welche eine einzelne Person nach und nach empfängt, sondern solcher verschiedenen, geschäftlichen Inhalts, die also an verschiedene, für den Meister arbeitenden Männer ergehen.«

»Dies ist aber noch kein Beweis,« unterbrach ihn Hoffmann, »daß der Meister selbst nicht existiert. Es könnte ja sein, daß er eine Art Kontor besitzt, in welchem mehrere Männer arbeiten, von denen jeder eine besondere Branche zu besorgen hat. Verstehen Sie, wie ich das meine?«

»Wohl, aber es ist dies nicht so. Nein, es liegt dem Ganzen zwar ein gewisses System zu Grunde, aber so ausgebildet, wie Sie annehmen, ist es durchaus nicht. Ich behaupte nochmals, einen Meister gibt es nicht, das heißt, also eine einzige Person, welche alles dirigiert, sondern es sind verschiedene Menschen, durch welche die Banden geleitet werden, und sie stehen untereinander wohl in Fühlung, aber sie handeln nach eigenem Ermessen, und oft ohne daß einer von dem Plane des anderen etwas weiß. Ich habe mich, ehe ich selbst in die Bande eintrat, einige Male von der Richtigkeit dieser Annahme überzeugt, ich handelte dabei so, daß ich in keine Gefahr kam. Ich fälschte nämlich Befehle, welche den Interessen des Meisters ganz zuwiderlaufen mußten, aber sie wurden doch ausgeführt, ohne daß der Betreffende Unannehmlichkeiten hatte, und später, nachdem ich selbst als Verbrecher beim Seewolf Aufnahme gefunden, dirigierte ich das ganze Schiff durch Befehle, welche ich dem Seewolf in die Hände zu spielen wußte. Natürlich machte ich es so, daß sie nicht in direktem Widerspruch mit denen standen, welche der Seewolf ab und zu noch außerdem empfing. So viel weiß ich jetzt bestimmt, daß der Meister nicht eine einzige Person ist, sondern daß unter diesem Namen verschiedene Männer arbeiten, welche nicht voneinander abhängig sind, und von denen der eine oft nicht einmal die Pläne des anderen kennt, vielleicht nicht einmal die Aufträge, die er austeilt. Es ist eben eine schlecht organisierte Gesellschaft, die ihr Unwesen treibt.«

Der Ingenieur schüttelte zweifelnd den Kopf.

»Ich finde dies alles sehr merkwürdig und unglaublich. Wenn wirklich, wie Sie sagen, eine ganze Gesellschaft existiert, welche diese Verbrecherbande leitet, so ist doch anzunehmen, daß es eine ganz raffinierte Schwindlerbande ist, die nicht so plump operiert.«

»Aber ich bitte Sie, Herr Hoffmann,« unterbrach ihn der Detektiv, »ich habe doch nicht gesagt, daß sie sich plump benimmt. Nein, im Gegenteil, sie operiert äußerst geschickt; wie wäre es denn sonst möglich, daß sie diese Hunderte und Tausende von Menschen, welche sie beschäftigt — und ich versichere Ihnen, es gibt darunter sehr pfiffige Köpfe — daß alle diese der festen Meinung sind, es gäbe nur einen Meister, der allmächtig ist, vor dem sie nicht nur Respekt, sondern auch eine grenzenlose Angst besitzen, weil er jeden Verrat fast im voraus wittert und mit dem Tode bestraft, gleichgültig, ob der Verräter im Zuchthaus, auf dem Meere oder in der Wildnis ist. Nein, nein, der Plan, nach dem sie arbeiten, ist äußerst geschickt angelegt, aber doch nicht geschickt genug — als daß ich — verzeihen Sie mein Eigenlob — als daß ich nicht sein Gewebe erkenne. Ich habe für so etwas aber ganz eigentümlich scharfe Augen. So zum Beispiel kommt das, daß es niemandem auffällt, daß diese Briefe von verschiedener Hand geschrieben werden, einfach daher, daß erstens einmal die eine Person nur immer Briefe in derselben Handschrift bekommt und ferner, daß die Briefe bei Todesstrafe sofort immer verbrannt werden müssen. Übrigens sind nicht alle Briefe mit der Hand geschrieben, sondern mit Hilfe einer Schreibmaschine, wahrscheinlich von Leuten, welche einen Verrat durch ihre Handschrift befürchten, denn diese kommen besonders an solche Verbrecher, welche einst bessere Zeiten gesehen haben und eine gewisse Erfahrung haben. Beim Seewolf braucht so etwas nicht befürchtet zu werden, er kann die Handschrift eines Kindes nicht von der eines Advokaten unterscheiden.«

»Aus was für Leuten mag sich die an der Spitze stehende Gesellschaft zusammensetzen? Haben Sie davon schon eine Ahnung?«

»Nein, aber mein Verstand sagt mir, daß es reiche, angesehene, intelligente Leute sind, die ihre Fähigkeiten in unrechter Weise anwenden.«

»Und wie ist es möglich, daß Sie Briefe fälschen können, ohne daß dieser Betrug bemerkt wird?«

»Das kommt jedenfalls von der Art ihrer Einrichtung. Die Leute sind alle für sich. Jeder hat vielleicht auch eine besondere Bande, die für ihn arbeitet, aber es ist auch gestattet, daß einer die Bande des anderen benutzt, wenn er sie gerade gebraucht, und es ist ihm das erlaubt, wenn seine Befehle denen des ersteren nicht gerade zuwiderlaufen und störend auf dessen Pläne einwirken.«

Der Ingenieur blickte lange sinnend durch das Fenster, welches ihm die Aussicht auf Mgwana bot.

»Sie mögen recht haben,« sagte er dann, »daß der Meister in Person gar nicht existiert. Haben Sie schon eine Ahnung, wer diese Leute sind?«

»Nein, das zu erfahren, soll meine jetzige Aufgabe sein, und ich werde nicht eher ruhen, als bis ich sie kenne. Bis jetzt habe ich mich über die Werkzeuge orientiert, über welche sie befehlen, das heißt, über die Leute, welche in ihrem Dienste stehen, ebenso über die ihnen zu Gebote stehenden Mittel, und ich bin da wirklich auf großartige Resultate gestoßen. Aber soviel ich auch über die Person des Meisters zu erfahren suchte, ich hörte nichts weiter als Mutmaßungen oder auch Gerüchte, welche mit Ammenmärchen Ähnlichkeit haben. Ich brauche wohl jene Vorstellungen nicht erst wiederzugeben, die man sich über den Meister gebildet hat; es sind eben Ungeheuerlichkeiten, wie sie leicht in dem beschränkten, phantasiereichen und abergläubischen Kopfe eines Menschen entstehen können. Vor allen Dingen habe ich mich also dieses Snatcher versichert, denn es ist zehn gegen eins zu wetten, daß der Mann doch noch dem sorglosen Harrlington aus den Händen gezogen wird, weil der Mann jedenfalls einer Person, welche mit zu jener Gesellschaft gehört, gefährlich werden kann. Ich habe ihn vorläufig an einen sicheren Ort gebracht und werde Lord Harrlington davon benachrichtigen. Dieser Snatcher gab mir den ersten Anhaltepunkt, im wem ich eine der als Meister bezeichneten Personen zu suchen habe; durch den Seewolf habe ich dies bestätigt gefunden.«

Der Detektiv sah nachdenkend den Rauchwölkchen seiner Zigarre nach. »Und dann?« fragte der Kapitän. »Wie gedenken Sie weiter vorzugehen, und inwiefern kann ich Ihnen dabei nützlich sein? Sie dürfen auf mich zählen!«

»Lassen Sie mich erst kurz berichten, was ich seit jener Zeit getrieben habe, da ich unter die Flagge des Seewolfes trat. Es ist nicht viel davon zu sagen. Unsere Aufgabe bestand nur darin, ganze Banden von Verbrechern von einem Hafen nach dem anderen zu bringen, verfolgte Personen zu verstecken, kurz und gut, Kleinigkeiten — mit den Vestalinnen hatten wir nichts zu tun, bis vor einigen Wochen, als wir den Befehl erhielten, in ein Hafenstädtchen, nicht weit von hier, zu segeln, dann den roten Löwen aufzusuchen, von dem ich Ihnen schon vorhin erzählte, und diesen dahin zu bringen, daß er die Mädchen fängt und an den Meister verkauft. Um dieses zu verhindern, bin ich in solcher Eile hierhergelaufen, erfahre aber nun von Ihnen, daß eine Hilfe von Ihrer Seite unnötig ist, weil die Damen und Herren schon unter mächtigerem Schutze stehen, als Sie gewähren könnten, unter dem Schutze der Amazonen. Gut, ich sehe ein, daß ein Abmarsch Ihrer Mannschaft unnütz wäre.«

Dann führte der Detektiv weiter aus, wie er von Tannert erkannt worden war, sagte aber, daß dies nichts weiter zu bedeuten habe, denn einmal würde der rote Löwe weder den Seewolf, noch Tannert lebendig aus den Händen lassen, und übrigens hätte er auch gar nicht mehr die Absicht, unter den Verbrechern zu bleiben.

»Meine Bemühungen sollen nun darauf gerichtet sein,« fuhr er fort, »jene Gesellschaft ans Tageslicht zu bringen, welche in geheimer Weise alle diese Verbrecher beherrscht, und dazu werde ich mich eines Mittels bedienen, welches vielleicht nicht sofort Ihre Beistimmung finden wird, dessen Vorteil Sie aber bald einsehen werden.«

»Und was ist das?«

»Lassen Sie mich etwas weiter ausholen! Die Verbrecherbande, der ich bis jetzt angehörte, hat als Hauptaufgabe die Gefangennehmung der Vestalinnen bekommen, alles übrige betreibt sie nur so nebenbei, hauptsächlich solche Geschäfte, welche direkt Geld einbringen. Nun frage ich Sie, Herr Hoffmann: warum sollen wohl die Damen gefangen werden?«

»Diese Verbrecher scheinen sich überhaupt viel mit Mädchenhandel abzugeben,« entgegnete der Gefragte. »Warum sollten sie da nicht einmal nach weißer Ware trachten? Europäerinnen werden genug an asiatische Fürsten verhandelt; um schöne Mädchen in ihre Harems zu bekommen, zahlen diese jeden geforderten Preis.«

»Ich glaube doch, Sie sind auf einer falschen Fährte, wenn es auch möglich ist, daß die Damen wirklich als Sklavinnen verhandelt werden sollen. Wir müssen ins Auge fassen, daß die an der Spitze der Bande stehenden Leute sicher solche aus sogenannten besseren Kreisen sind, und daß sie sich nicht solche unglaubliche Mühe geben würden, wenn sie durch den Verkauf der Mädchen nur Geld herausschlagen wollten. Meinen Sie nicht?«

»Wohl, Sie haben recht, aber was anderes sollen sie bezwecken?« fragte Hoffmann nachdenkend.

»Alle Verbrechen entspringen, wenn man den Wahnsinn als Grund ausschließt, aus zweierlei Ursachen: aus Liebe und Sucht nach dem, was man nicht hat, sei es Geld, Ruhm oder sonst etwas, beleidigte Ehre und das Rachegefühl, das daraus entspringt, sind auch darunter zu rechnen. In den meisten Fällen werden die Verbrechen jetziger Zeit aus Geldgier vollführt, Rechnen wir also nun einmal mit der Liebe und mit der Geldgier. Könnte es nicht der Fall sein, daß die Mädchen gar nicht verkauft werden sollen, sondern daß die betreffenden Männer sie für sich selbst behalten wollen?«

»Das ist eine Annahme!« warf Hoffmann ein.

»Ja, weiter nichts, aber es scheint mir fast, als ob ich bei dieser Annahme nicht so sehr weit an dem Ziele vorbeigeschossen hätte, denn einige Aussagen vom Seewolf, wie besonders auch von Snatcher, lassen mich vermuten, daß diejenigen, welche die Mädchen beständig verfolgen, diesen sehr nahestehen.«

»In der Tat,« rief Hoffmann überrascht, »dann bringt dies allerdings Licht in die Sache!«

»Ferner müssen wir noch damit rechnen,« fuhr Sharp fort, »daß jene Leute die Mädchen nicht nur einfach als lebende Ware behandeln; sie wissen jedenfalls recht gut, vielleicht besser als wir, wie es mit ihren Familienverhältnissen steht. Nun sagen Sie einmal, Herr, Hoffmann, was geschieht denn mit dem Vermögen aller dieser reichen Damen, wenn ihr Schiff einmal untergeht und sie alle spurlos verschwinden?«

»Die Damen werden vor ihrer Abreise wohl Testamente hinterlassen haben, wenn sie keine rechtmäßigen Erben besitzen.«

»Die haben sie nicht,« entgegnete Sharp bestimmt. »Die Damen stehen mutterseelenallein in der Welt, sonst würden sie wohl ein so verrücktes Unternehmen überhaupt nicht begonnen haben. Nur zwei Ausnahmen gibt es: die eine ist Miß Staunton, welche einen Bruder hat, und die andere Miß Petersen, welche einen Stiefvater besitzt, der aber keinen Anspruch auf ihr Vermögen machen kann, sondern nur auf einen kleinen Pflichtteil.«

»Sie sind recht genau über die Verhältnisse der Damen orientiert,« lächelte Hoffmann.

»Gewiß, ich kann Ihnen sogar mitteilen, daß Miß Petersen ihren Stiefvater nicht im geringsten bedacht, sondern ein fremdes Kind, das sie liebt, als Erbin eingesetzt hat.«

»Ich weiß nicht, wohinaus Sie wollen,« sagte Hoffmann etwas ungeduldig.

»Nun, ich will verdammt sein, wenn es weniger auf die Damen selbst abgesehen ist, als vielmehr auf ihr stattliches Vermögen,« rief der Detektiv bestimmt. Kapitän Hoffmann blickte überrascht auf, er hatte verstanden.

»Ah so« sagte er gedehnt, »das wäre allerdings möglich!«

»Das ist nicht nur möglich, sondern es ist so, ich wette meinen Kopf darum. Die Mädchen werden nur als Zugabe mitgenommen, aber ich täusche mich wohl nicht, wenn ich glaube, daß diese sauberen Herren die schönsten für sich behalten wollen und die anderen einfach verschwinden lassen werden.«

»Verschwinden?«

»Nun ja, entweder sie kommen in die Sklaverei, oder sie werden auch ganz stumm gemacht, und letzteres glaube ich eher, denn eine Flucht aus der Sklaverei ist sehr leicht möglich und für diese energischen Mädchen eine Spielerei. Nein, unschädlich sollen sie gemacht werden, aber nicht getötet.«

»Wie das?«

»Es ist ein Ort bestimmt worden, wohin sie gebracht werden sollen, und von dem es wahrscheinlich keine Rückkehr gibt — nehmen jene Männer wenigstens an.«

»Wo ist dieser?«

»Ich werde Ihnen denselben aufschreiben und bitte Sie, sich darüber nicht so sehr aufgeregt zu zeigen.«

Sharp nahm Bleistift und Papier vom Arbeitstische und begann zu schreiben.

»Ist der Name so sehr schwer auszusprechen, daß Sie ihn aufschreiben müssen?« fragte der Kapitän lächelnd.

»Es ist gar kein Name, der Ort besitzt überhaupt keinen solchen. Ich kann nur seine geographische Lage in Zahlen wiedergeben, welche ich mir gemerkt habe. Hier sind sie.«

Er reichte dem Kapitän den Papierstreifen, und obgleich Sharp ihn vorher auf eine Überraschung vorbereitet hatte, sprang Hoffmann doch beim Lesen der Zahlen, welche die geographische Lage eines Ortes ausdrückten, vor Staunen vom Stuhle auf. »Ist es möglich,« rief er, »also dorthin sollen sie gebracht werden? Das ist allerdings wunderbar!«

»Dieses Wunder kommt uns sehr zu statten,« antwortete der Detektiv, »denn darauf gründet sich mein Plan, durch dessen Ausführung ich die ganze Sippschaft kennen lernen werde.«

»Erklären Sie mir diesen Plan! Jetzt sehe ich ein, wie nützlich ich Ihnen sein kann, und ich stelle mich Ihnen vollkommen zur Verfügung, sobald ich die Zweckmäßigkeit Ihres Vorschlages einsehe.«

»Nun, wie gedenken Sie wohl am leichtesten die an der Spitze Stehenden zu entlarven?«

»Sprechen Sie sich aus!« entgegnete Hoffmann, der die Art und Weise des Detektiven kannte, gern Fragen zu stellen und die Antwort als nicht richtig zu erklären.

»Was meinen Sie, ob wohl diese Herren in die Öffentlichkeit träten, wenn sie ihren Zweck erreicht hätten, das heißt, wenn die Damen plötzlich Schiffbruch litten, die ›Vesta‹ mit Mann und Maus unterginge und der Tod jener beglaubigt würde?«

»Sicher, wenn diese Leute wirklich die Absicht haben, in den Besitz des Vermögens der Damen zu kommen! Aber wie sollten sie das erreichen? Ich wüßte nicht, wie sie das anfangen wollten.«

Der Detektiv brach in ein herzliches Lachen aus.

»Verzeihen Sie, Herr Hoffmann,« sagte er, »aber, sehen Sie, wenn ich so ein offenes, ehrliches Gesicht vor mir sehe, das mit naivem Munde mir so etwas sagt, dann wandelt mich immer ein Lachen an. Denn sehen Sie, ich, der ich immer mit Verbrechern zu tun habe, habe fast ein ebensolches Gemüt bekommen, wie so ein Schuft. Sie verstehen wohl, wie ich es meine. Um in den Besitz eines Vermögens zu kommen, gibt es hundert Mittel, eins immer raffinierter als das andere, und daß diese Leute so fein arbeiten, wie nur irgend einer, daran ist doch gar kein Zweifel. Sie haben eine ungeheuer große Auswahl davon und noch dazu eine langjährige Praxis.«


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»Ich gebe zu, daß ich in solchen Sachen unbewandert bin,« sagte der Ingenieur, und es schien fast, als schäme er sich vor dem Detektiven, »meine Kenntnis des Verbrechertums beschränkt sich fast auf das, was ich den Zeitungen entnehme, und die meisten Geschichten hielt ich eher für Übertreibung. Erst Sie haben mir die Augen geöffnet.«

»Gut also, die Leute würden jedenfalls mit gefälschten Testamenten hervortreten und die Erbschaft in Empfang nehmen.«

»Wir wollen nicht wünschen, daß das Schicksal der Damen so etwas möglich macht.«

»Hm, mein Plan ist aber dem doch etwas ähnlich. Was meinen Sie nun ferner, Mister Hoffmann, was diese Leute wohl mit den Damen beginnen würden, wenn sie dieselben wirklich in ihre Gewalt bekämen?«

»Sie würden sie entweder verkaufen oder selbst behalten.«

»Letzteres glaube ich auch. Und wie wäre es, wenn wir diese Leute einmal auf die Probe stellten, was sie mit den Damen anfangen würden? Nun, Herr Hoffmann, was meinen Sie dazu?«

Der Kapitän blickte den Sprecher, der listig mit den Augen blinzelte, erstaunt an.

»Was für eine Absicht haben Sie?« fragte er dann.

Der Detekiv rückte seinen Stuhl näher an den des Kapitäns und begann leise und eindringlich zu sprechen. Hoffmanns Gesichtszüge wechselten fortwährend den Ausdruck, bald zeigten sie Überraschung, bald Unwillen, bald Sorge; das Erstaunen war aber immer vorherrschend.

Endlich schwieg der Detekiv wieder und blickte sein Gegenüber gespannt an.

»Nun, sind Sie einverstanden?« fragte er.

Hoffmann war so erregt, daß er aufstand und im großen Zimmer auf- und abzugehen begann.

»Nein,« sagte er, »dieses Spiel ist zu gewagt. Ich will nicht behaupten, daß der Erfolg unmöglich wäre, aber bedenken Sie die Damen! Es sind dies keine gewöhnlichen, ungebildeten Personen, sondern gefühlvolle Menschen, und diese würden die Lage, in welche Sie sie bringen wollen, sehr schmerzlich empfinden.«

»Bah, so viel für ihre Gefühle.« Der Detektiv schnippte mit den Fingern. »Die Damen haben bis jetzt gezeigt, daß sie sehr wenig Gefühl besitzen,«

»So? Ich dächte, sie hätten gerade bewiesen, daß sie sehr gefühlvolle Naturen sind. Hätten sie sich sonst der Sklavinnen so angenommen? Sind sie nicht stets eingetreten, wenn sie ein Recht bedroht sahen?«

»Halt,« rief der Detektiv, »wir sprechen von zwei verschiedenen Dingen. Ich meinte, sie haben bis jetzt nicht gezeigt, daß sie besonders empfindsam für Unglück sind, was man heutzutage als solches bezeichnet. Sie schlafen im Freien, trinken aus der Hand, essen von Blättern, wohnen in Erdlöchern, marschieren wochenlang zu Fuß; ob es schneit oder regnet, oder ob sie durch Flüsse müssen, ist ihnen ganz egal. Nun, zum Teufel, wenn sie dabei nicht gejammert, sondern nur gescherzt und gelacht haben, dann werden sie auch so etwas ertragen können!«

»Das ist etwas anderes.«

»So darf ich nicht auf Ihre Hilfe rechnen? Das ist mir sehr unangenehm, denn dann werde ich allein handeln, und es ist sehr die Frage, ob die Damen nicht besser daran sind, wenn Sie mir helfen.«

Der Kapitän hatte sich bei diesen Worten gerade am weitesten entfernt von dem Sprecher befunden, jetzt blieb er plötzlich stehen, drehte sich um und sah den Detektiven forschend an.

»Es ist Ihr fester Entschluß, diesen Plan zur Ausführung zu bringen?«

»Ja. Anders ist es nicht möglich, die Gesellschaft zu fassen.«

»Bleiben Sie hier? Ja? Gut, so bitte ich Sie, bis morgen auf meine Entscheidung zu warten, ob ich Ihnen helfe oder nicht. Aber haben Sie auch an die englischen Herren gedacht? Diese müssen auf jeden Fall benachrichtigt werden —«

»Auf keinen Fall,« unterbrach ihn der Detektiv und sprang auf, »das würde den Anschlag vollkommen unnütz machen. Alle Achtung sonst vor diesen Herren, sie haben während ihrer Weltreise mein Vertrauen erworben, aber so gewiß wie zweimal zwei vier ist, dürfen sie mit keinem Warte von diesem Unternehmen erfahren.«

»Warum denn nicht? Sie nehmen an den Damen ebensoviel und vielleicht noch mehr Anteil als wir.«

»Eben darum! Sie würden alles zu schanden machen. Es gibt unter ihnen doch einige, welche ihre Zunge nicht im Zaum halten können, und wenn sie auch schwiegen, schon das Andeuten, daß man ein Geheimnis besitzt, gleicht fast dem Verrate desselben. Glauben Sie mir, Herr Hoffmann, ich bin ein Menschenkenner — sie würden nicht schweigen, es ist eine Unmöglichkeit, daß so viele Menschen ein Geheimnis besitzen.«

»Sie haben recht, ich sehe es ein. Was aber sollen wir den Herren sagen?«

»Überlassen Sie das mir! Ich werde Mittel finden, sie zu beruhigen.«

»Wenn sie aber die Verfolgung der Damen nicht aufgeben wollen?«

»Sie werden es müssen. Doch nun, Herr Hoffmann, noch eine Frage: Haben Sie irgendwo ein Geheimnis, welches zu erfahren für andere von großer Wichtigkeit wäre, von solcher Wichtigkeit, daß der Betreffende keine Anstrengung, keine Geldkosten, und wenn es Millionen wären, scheut, um in den Besitz dieses Geheimnisses zu kommen?«

»Ich?« sagte der Kapitän erstaunt. »Nein, ich habe — doch ja,« unterbrach er sich, die Hand auf die Stirn legend, »das könnte allerdings sein.«

»Haben Sie schon gemerkt, daß jemand sich bemüht, dieses Geheimnis zu erfahren?«

»Georg hat mir erzählt, daß der Inder, der ihn in Bombay gefangen hielt, seltsame Fragen an ihn stellte, die den »Blitz« betrafen. Sonst nichts weiter.«

Der Detektiv nickte vor sich hin.

»Wie kommen Sie zu dieser Frage?« fragte Hoffmann.

»Sie wissen doch, daß es bekannt geworden ist, wo der »Blitz« erbaut wurde!« sagte Sharp.

»Ich weiß, die Zeitungen erzählten es. Dabei ist aber nichts weiter. Ich habe nicht für nötig gehalten, die Spuren meiner Werft vollständig zu vernichten.«

»Wissen Sie auch, daß eine Person den Meeresgrund, wo sich die schwimmende Werft befunden, von Tauchern hat untersuchen lassen?« »Auch das ist mir zu Ohren gekommen.«

»Wissen Sie auch, daß die gefundenen, leeren Farbentöpfe und so weiter zerschlagen, daß der Inhalt herausgekratzt worden ist und daß man diesen ganz genau untersucht hat, um die Bestandteile dieser Farbe zu erfahren?«

»Ich weiß alles,« lächelte der Ingenieur, »aber ich weiß auch, daß man nichts Außergewöhnliches gefunden hat. Was veranlaßt Sie, so geheimnisvoll zu fragen?«

»Ich kalkuliere, daß dieselbe Person, welche alles dies ins Werk setzte, sich nicht damit zufrieden gibt, nichts gefunden zu haben, sondern daß sie weiterforschen wird.«

»Wie sollte sie das tun?«

»Leicht möglich, daß sich der Betreffende an ebendieselbe Gesellschaft wendet, welche die Damen verfolgt, in der Hoffnung, diese könnte ihr das Rätsel lösen.«

Hoffmann schaute den Detektiven forschend an.

»Ist dies nur eine Vermutung, oder haben Sie so etwas aus sicherer Quelle vernommen?«

»Die Fragen des Inders ließen zuerst die Vermutung in mir aufsteigen; eine Unterredung des Seewolfs mit einer geheimnisvollen Person, die mit zu dem Bunde des Meisters gehört, bestätigte diese.

»Sehen Sie sich vor, Kapitän Hoffmann. Dieser Meister, wer er auch sein mag, scheut vor nichts zurück, wenn er gut dafür bezahlt wird.«

Die letzten Worte hatte der Detektiv mit erhobener Stimme gesprochen, aber sie machten auf den Ingenieur keinen Eindruck, er blieb mit verschränkten Armen vor Sharp stehen und blickte denselben lächelnd an.

»Ich habe nicht zu fürchten, daß mir mein Geheimnis geraubt wird,« sagte er, »denn wenn Sie behaupten, daß dadurch schon ein solches halb verraten ist, daß man gesteht, eins zu besitzen, so trifft dies bei mir nicht zu.«

»Haben Sie dieses Geheimnis schriftlich fixiert? Da ist es doch immer noch möglich, daß es Ihnen abgenommen wird.« »Verzeihen Sie mir, wenn ich mich zu Ihnen darüber nicht im geringsten aussprechen kann.«

»Haben Sie es vielleicht hier?«

Sharp tippte mit einem Finger leicht gegen die Brust des Ingenieurs, und es war fast, als ob der große, herkulische Mann einen Faustschlag gegen die Brust erhalten hätte, so schnell trat er einen Schritt zurück, und auch sein Antlitz erbleichte.

»Wie kommen Sie auf eine solche Vermutung?« fragte er ganz bestürzt.

»Nun, wenn man ein Geheimnis nicht schriftlich besitzt, so trägt man es gewöhnlich im Herzen,« sagte der Detektiv leichthin. Hoffmanns Gesicht flammte plötzlich purpurrot auf, dann drehte er sich kurz um und nahm mit großen Schritten wieder die Wanderung im Zimmer auf.

»Seien Sie offen!« sagte er dann, vor Sharp stehen bleibend. »Wissen Sie etwas?«

»Ja, jetzt! Bis vor einer Minute wußte ich nichts davon, aber Ihre plötzliche Fassungslosigkeit verriet mir, daß Sie wirklich etwas besitzen, auf das Sie großen Wert legen. Sie tragen ihr Geheimnis nicht, wie ich vorhin fügte, im Herzen, sondern auf dem Herzen, und, Kapitän Hoffmann, seien Sie vorsichtig, ich sage Ihnen nochmals, die Person, welcher der Raub dieses Geheimnisses aufgetragen worden ist, bebt vor nichts zurück, in den Besitz desselben zu kommen. Es ist ja so einfach, einem Menschen etwas abzunehmen, was er bei sich trägt, besonders, wenn sein Leben dabei nicht in Betracht kommt. Also nochmals, Herr Hoffmann, seien Sie vorsichtig! Noch weiß niemand etwas davon, aber es ist leicht möglich, daß andere dasselbe ahnen, wie ich.

»Und nun,« fuhr Sharp nach diesen in ernsthaftem Tone gesprochenen Worten in seiner gewöhnlich heiteren Weise fort, »nun gestatten Sie mir, wieder einen Europäer aus mir zu machen.« »Mein Kleiderschrank steht Ihnen zur Verfügung,« sagte der Ingenieur.

»Danke,« lachte der Detektiv, »ich werde den von Georg gebrauchen müssen, denn bin ich auch im stande, mein Gesicht nach Belieben zu ändern, den Körper zu kürzen oder gar länger zu machen, das ist selbst für Nick Sharp zu viel.«


28. Die Nebenbuhlerinnen.

Miß Sargent, das stille Mädchen mit dem feurigen Herzen, war zur Jagd aufgebrochen. Sie hatte nicht weit vom Lager am Flusse eine stattliche Anzahl von Pelikanen, jener eigentümlichen Vögel mit der Beuteltasche am unteren Schnabel, gesehen und wollte wenigstens einen davon ausgestopft in die Heimat bringen.

Als sie die betreffende Stelle erreichte, sah sie aber zu ihrem Bedauern keinen einzigen dieser seltsamen Vögel, und so weit sie auch den Fluß aufwärts ging, es wollte ihr keiner zu Gesicht kommen.

Schon wollte sie den Rückweg antreten, als sie plötzlich in dem weichen Uferschlamm Spuren wahrnahm, welche sie veranlaßten, mit angehaltenem Atem und heftig klopfendem Herzen stehen zu bleiben, die doppelläufige Büchse schußbereit zu machen und nach allen Seiten vorsichtig umherzuspähen.

Die Spuren rührten von einem Raubtier her, und so wenig Erfahrung Miß Sargent in dieser Hinsicht noch hatte, so sagte sie sich doch, daß diese mächtigen Tatzen nur einem Löwen gehört haben konnten. Er hatte hier seinen Durst gelöscht, war noch einige Schritte am Ufer weitergelaufen und dann wieder ins Gras zurückgekehrt. Sollte das Mädchen wagen, die Spuren allein zu verfolgen?

Man konnte sie deutlich im Grase erkennen, das stark vom Nachttau befeuchtet war; jeder Schritt des schweren Tieres hatte es niedergedrückt, und so lange die Sonne dasselbe nicht trocknete, richtete es sich nicht wieder auf.

Es war eine kühne Idee, die Verfolgung des Löwen allein aufzunehmen, aber bei der Jagd spielt die Ehrsucht eine große Rolle; je größer die Gefahr ist, um so lieber geht der Jäger allein, das heißt, ein wirklicher Jäger, den ein unsagbares Gefühl zum Jagen treibt und zwingt.

Miß Sargent entschloß sich kurz; sie nahm die Doppelbüchse schußbereit in den Arm — das Winchestergewehr hing ihr über der Schulter — und ging vorsichtig den Spuren nach, welche in kleinen Abständen vor ihr herliefen, ein Zeichen, daß der Löwe gemütlich gegangen war.

Dann aber, als das Mädchen etwa eine Viertelstunde vorwärtsgekommen war, änderte sich plötzlich das Aussehen der Spur, das ganze Gras war niedergedrückt; also war der Löwe auf dem Bauche gekrochen und zwar jedenfalls, dachte das Mädchen, weil er sich an eine Beute schleichen wollte.

Es dauerte auch nicht lange, da fand sie dies bestätigt. Der Löwe war gesprungen, und da, wo er den Boden wieder berührt hatte, war das Gras mit Blut getränkt, und eine rote Spur bezeichnete den weiteren Weg, den das Raubtier genommen hatte.

Was für ein Tier es gewesen, welches sich der König der Wälder und Wüsten zum Frühstück auserkoren, wußte die Jägerin nicht, es konnte ebensogut eine Zwergantilope, wie ein Gnu sein, denn der Löwe ist ja fähig, mit einem jungen Rinde im Maul über eine zwei Meter hohe Fenz zu springen, seine Kraft ist schier unglaublich groß.

Miß Sargent brauchte nun nicht mehr so Schritt vor Schritt weiterzubringen, die Verfolgung des Wildes war weniger gefährlich, denn es war anzunehmen, daß der Löwe seine Gegenwart durch das Zerkrachen der Knochen verriet, die er mit den scharfen Zähnen zermalmte, und außerdem stößt dieses Tier, wenn es beim Verzehren seiner Beute ist und ein verdächtiges Geräusch hört, stets ein Brüllen aus, ein warnendes Zeichen, daß es nicht gestört sein will.

Rüstig schritt das mutige Mädchen durch das hohe Gras vorwärts, nur ab und zu blieb es stehen, um zu lauschen. So sehr Miß Sargents Herz auch vor Erregung klopfte, ihre Hand, welche sie manchmal zur Probe ausstreckte, zitterte nicht im geringsten, und so brauchte sie als ausgezeichnete Schützin nicht zu fürchten, daß ihre Kugel das Auge des Löwen verfehlen würde.

Plötzlich zuckte sie zusammen und sank hinter einem Baumstamm auf die Kniee. An ihr Ohr war das Knacken der brechenden Knochen gedrungen, und da sah sie auch schon, wie sich die Spitzen der hohen Grashalme bewegten. Dort mußte der Löwe sich befinden und seine Beute verzehren.

Wie aber sollte sie das Tier zu Gesicht bekommen? Dazu wäre es nötig gewesen, daß sie bis dicht an seinen Platz vordrang, denn das hohe Gras hinderte jede Aussicht.

Aber nein, es gab ein anderes Mittel. Der Baum, hinter den sie sich duckte, teilte sich dicht am Boden in mehrere Stämme, und einer davon war ganz schräg gewachsen, so daß sie auf dem über einen halben Meter im Durchmesser haltenden Stamme sicher, wie auf einem Brette, emporsteigen konnte, fast ohne die Hände dabei zu gebrauchen.

Schnell entschlossen lehnte sie das Winchestergewehr, als ganz nutzlos, an den Stamm und begann die Reise in die grünen Zweige des Baumes. Kaum befand sie sich über dem Grase, so konnte sie schon den Löwen sehen. Es war ein großes, erwachsenes Männchen m prachtvoller Mähne. Es lag langgestreckt auf seiner Beute, einer gehörnten Antilope, und riß aus dem aufgeschlitzten Leibe derselben große Fleischstücken heraus, die er langsam, als wolle er rechten Genuß dabei haben,, verschlang, die starken Rippenknochen dabei wie Eierschalen zermalmend.

Er kehrte dem Mädchen den Rücken zu und war so in sein Mahl vertieft, daß er das leichte Geräusch, welches Miß Sargent beim Ersteigen des Baumes nicht vermeiden konnte, gar nicht bemerkt hatte.

Jetzt saß sie oben in den Zweigen, ohne eine Gelegenheit zum Schießen zu bekommen, denn der Löwe mußte ihr wenigstens die Seite zukehren.

Doch dem war leicht abzuhelfen.

»Halloh, alter Kater, sieh einmal hierher!« rief plötzlich eine helle Stimme, und schneller konnte nicht der Blitz sein, als sich der Löwe mit einem Satze herumdrehte, ein furchtbares Geheul ausstieß, auf der zerfleischten Antilope stehend, das blutige Maul halb geöffnet, die eine Tatze etwas erhoben, mit glühenden Augen in die Zweige des Baumes starrte, welche den Störer verbargen.


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Nur einen Augenblick aber stand er so da. Kaum war das Gebrüll verstummt, als ein Knall ertönte, ein Schmerzensgeheul, das in ein Todesröcheln überging, ward hörbar, und leblos rollte der Löwe über die Antilope hinweg auf den Boden — die sichere Kugel hatte ihren Weg durch das rechte Auge in das Gehirn gefunden.

Hochaufatmend stand Miß Sargent neben dem von ihrer Hand gefällten Löwen. Sie hatte den König der Wildnis besiegt; sie durfte stolz darauf sein, denn sie hatte ihr Leben eingesetzt, um ihm das seine zu nehmen, und sie fühlte, wie dieser Stolz ihr das Herz zum Springen schwellte.

Aber nun galt es schnell zurückzueilen und Neger herbeizurufen, welche das Tier ins Lager schafften. Sie hing sich das Winchestergewehr über die Schulter und machte sich auf den Rückweg, den Spuren nachgehend.

Die Sonne war unterdessen gestiegen, und wenn sie auch das dichte Laubgewölbe nur an wenigen Stellen zu durchdringen vermochte, so erwärmte sie doch schnell die Luft im Walde, und die Folge davon war, daß der Tau rasch trocknete und sich somit das niedergelegte Gras wieder aufrichtete.

Immer schwerer wurde es der Jägerin, die Spuren zu erkennen, ihr Auge war ja nicht so geübt, jedem niedergedrückten Grashalm anzusehen, ob er von dem Tritt des Löwen oder vom eigenen Gewicht am Boden lag, und so kam es, daß ihre anfängliche Eile bald nachlassen mußte.

Den Kopf vornübergeneigt, den Oberkörper gebeugt, so schritt sie vorwärts, sorgsam achtend, daß sie die Spur ja nicht verlor, denn Miß Sargent mußte sich gestehen, daß sie sich nicht getraute den Weg zum Lager ohne Hilfe der Spur wiederzufinden, es sei denn durch Zufall. Einen Kompaß hatte sie nicht bei sich, und sich nach der Sonne zu richten, war zwar sehr einfach für den, der darin bewandert ist, aber fast unmöglich für jemanden, der in der Stadt aufgezogen wurde, weil jede Steigung der Sonne eine Veränderung der Richtung bedeutet.

Aber sie mußte ja an den Fluß kommen!

Richtig, der Fluß! Miß Sargent blieb plötzlich stehen, richtete sich auf und sah nach der Uhr. Was war denn das? Nun befand sie sich bereits wieder über eine Stunde auf dem Wege und hatte den Fluß noch nicht erreicht, während sie vorhin doch höchstens eine halbe Stunde gebraucht hatte. War denn das auch wirklich die Löwenspur? Ja und nein, eine Spur mochte es wohl sein, wenn sie auch kaum noch die Abdrücke wahrnehmen konnte, ob aber gerade die des Löwen, das war sehr zweifelhaft, sogar unmöglich, sonst hätte sie unbedingt auf den Fluß stoßen müssen.

Es war tatsächlich nicht die Löwenspur, sondern eine andere, welche diese gekreuzt hatte, und der sie versehentlich gefolgt war. Miß Sargent war nicht das Mädchen, das sich lange trüben Gedanken hingab; sie überlegte sich, wo sich ungefähr der Fluß befinden müsse, und nahm dann ungesäumt diese Richtung auf.

Aber ach! Sie hatte fast die entgegengesetzte gewählt, und wenn sie es auch nicht gleich merkte, nach Verlauf von einer Stunde mußte sie sich doch gestehen, daß sie sich verlaufen hatte; sie änderte daher die Richtung nochmals, immer in der Hoffnung, das Lager zufällig zu erreichen, und tat somit das Törichtste, was, ein Verirrter tun kann, was er aber in den meisten Fällen macht.

Als die Sonne ihren höchsten Standpunkt erreicht hatte und somit für einige Stunden überhaupt keinen Anhalt mehr gab, nach dem man sich hätte richten können, befand sich Miß Sargent noch immer auf ihrer Irrwanderung, hatte das Lager auch noch nicht erreicht, als die Sonne sich wieder dem Horizont zuneigte, und machte sich keine Hoffnungen mehr, dasselbe noch an demselben Abend zu erreichen.

Da fiel ihr etwas ein, an das sie bisher noch gar nicht gedacht hatte. Sie war schon mehrere Male genötigt worden, über kleine Bäche zu springen, und es war sicher anzunehmen, daß alle diese Bäche in ein Hauptgewässer, wahrscheinlich sogar in den Fluß eilten, an welchem das Lager stand.

Folgte sie einem solchen Bach stromabwärts, so mußte sie wenigstens auf Menschen stoßen, vielleicht sogar auf das Lager. Morgen wollte sie den Versuch machen, heute war es zu spät.

Sie zündete sich ein großes Feuer an, trockenes Holz war genügend vorhanden, und legte sich sorglos zum Schlafen ins weiche Gras nieder. Ihre Lage war durchaus nicht schlimm; Munition hatte sie wenigstens für hundert Schuß, und in diesem wild- und wasserreichen Walde brauchte sie weder Hunger noch Durst zu leiden. In wenigen Minuten war sie entschlummert und schlief trotz des Geheuls der Schakale und Hyänen, welche, allen Behauptungen zum Trotz, den Menschen nie angreifen, ununterbrochen bis zum Morgen.

Beim ersten Sonnenstrahl erhob sie sich, schüttelte den Tau von den Kleidern und begab sich wieder auf den Weg.

Bald hatte sie einen Bach erreicht, und nach kurzer Rast, während welcher sie sich einen erlegten Wasservogel gebraten, machte sie sich auf, dem Bach stromabwärts zu folgen.

Wieder war sie einige Stunden marschiert, niemals sich von dem Gewässer trennend, und wenn es auch noch so große Biegungen machte, als sie plötzlich, nicht mehr weit entfernt von sich, etwas erblickte, was sie zum Nachdenken bewog, ehe sie sich selbst dem betreffenden Objekt näherte.

Was da vor ihr lag, war eine Hütte, einfach aus Zweigen und Schilf, welches am Bache wuchs, hergestellt, wie sie die Neger errichten, wenn sie auf Jagdausflügen längere Zeit an einer Stelle verweilen.

Miß Sargent hoffte einen Menschen hier zu treffen und beschloß, die Hütte aufzusuchen. Es konnten ja höchstens zwei oder drei hier wohnen, und Miß Sargent hätte mit ihrem Winchestergewehre ein ganzes Dutzend Schwarze nicht zu fürchten brauchen.

Langsam schritt das Mädchen längs des Baches auf die Hütte zu, welche den Eingang auf der anderen Seite hatte. Beim Näherkommen erkannte sie, daß die Hütte doch nicht so leicht hergestellt war, wie es die Neger gewöhnlich zu tun Pflegen; junge, armdicke Baumstämme waren dicht nebeneinander in den Boden gerammt, und wäre dieser Aufbau nicht mit Zweigen zugedeckt gewesen, so hätte er eher den Eindruck eines Blockhauses gemacht, als den einer Jagdhütte. Die Ritzen zwischen den einzelnen Stämmchen waren sorgfältig mit Binsen zugestopft.

Schon hatte das Mädchen die Hütte fast erreicht, als es plötzlich erschrocken seinen Schritt hemmte, und doch hätte das, was ihr Ohr erreichte, sie vor Freude aufschreien lassen sollen. Aber war es denn möglich? Ja, die Worte, welche aus dieser Hütte drangen, waren englisch, es war keine Täuschung, und, heiliger Gott, was war denn das? Wurde da nicht mit schwacher Stimme ihr Vorname gerufen?

Leise schlich sich Miß Sargent näher und lauschte. In der Hütte sprach wirklich ein Mann mit schwacher, leiser, aber hastiger Stimme; die Worte wurden unzusammenhängend hervorgestoßen, nach jedem Satze trat eine Pause ein. Es war wirklich so, der Mann sprach mit einer Frau, welche auch den Vornamen Maud hatte, ebenso wie Miß Sargent. Aber hatten denn diese Worte eigentlich einen Sinn?

»Maud,« flüsterte die Stimme drinnen, »Maud, kommst du endlich — ich warte schon lange auf dich — kennst du mich denn nicht mehr — weißt du noch, wie wir zusammen am Bache saßen — wo die Forellen sprangen — die Sonne spiegelte sich im Wasser — die Blätter rauschten über uns. — Ach, Maud,« der Mann stöhnte tief auf, »kennst du mich nicht mehr?« Seine flüsternde Stimme verwandelte sich plötzlich in ein gellendes Schreien: »Nein, ich kenne dich nicht mehr — — geh' weg, du Ungeheuer, du bist ja ganz schwarz — deine Augen funkeln wie Kohlen — fort, fort, du Ungeheuer, du erdrückst mich — du tötest mich — ich kann den Druck nicht aushalten — dein Atem verbrennt mich — Wasser, Wasser, bringe mich ans Wasser — dann kannst du mich töten — aber erst Wasser!«

Wachte oder träumte das Mädchen denn? Sie wollte schon um die Hütte gehen und den Eingang suchen, denn so viel war ihr jetzt klar, der Mann drinnen, jedenfalls ein Engländer, war krank und verlangte von dem Wesen, das bei ihm war, Wasser. Aber noch einmal blieb sie wie gebannt stehen und lauschte.

»Maud, töte das Pferd nicht!« klang es drinnen weiter. »Ich kann nicht mehr gehen — aber wenn ich sterben muß — bring' mich ans Wasser — Wasser!«

Mit ein Paar Schritten stand Miß Sargent in der kleinen Tür und überflog mit einem Blick das Innere der Hütte. Da lag auf einem Lager von Binsen eine Männergestalt und schaute das Mädchen mit gläsernen Augen an. Sonst war niemand in der Hütte.

Entsetzt tat Miß Sargent einen Schritt zurück, trat aber im nächsten Augenblick wieder an das Lager des Mannes heran. Er trug die Jagdkleidung der englischen Herren und — war es denn möglich — dieses eingefallene Gesicht, dem der Tod schon den Stempel aufgedrückt zu haben schien, diese gläsernen Augen mit den blauen Ringen, tief in den Höhlen liegend, gehörten sie wirklich Marquis Chaushilm?

Ja, es war kein Zweifel. Miß Sargent stand an dem Lager des Verschwundenen, wahrscheinlich an seinem Sterbelager.

Der Marquis hatte sich etwas aufgerichtet.

»Fort, fort, Kasegora,« schrie er mit lauter Stimme, »fort, du schwarzes Ungetüm, du willst mich töten — verdursten lassen — du hast mich verlassen — aber gib mir einen Tropfen Wasser — nur einen einzigen — und ich will sterben!«

Dem Mädchen traten die Tränen in die Augen. Das war Marquis Chaushilm, den sie vor einigen Tagen noch als einen gesunden Menschen, in der vollen Blüte seiner Manneskraft gesehen hatte, strotzend vor Lebenslust und Lebensmut, und jetzt — dem Tode nahe.

Aber jetzt war keine Zeit zum Trauern oder zum Grübeln, auf welche Weise der Herzog hierhergekommen, wo Kasegora, die ihn entführte, verschwunden sei! Rasch nahm das Mädchen eine neben dem Lager stehende Kürbisflasche und eilte nach dem Bache. Während sie Wasser schöpfte, beschäftigten sich ihre Gedanken nur damit, wie sie den unglücklichen Chaushilm vom Tode retten oder doch wenigstens nach dem Lager bringen könne, denn er war jedenfalls vom Fieber ergriffen worden, von dem furchtbaren Mukunguru der Neger, und Chinin war das einzige Mittel, welches half. Hier in dieser Wildnis wäre er gestorben, und wenn ihn zwanzig Ärzte umstanden hätten, ohne daß ihm Chinin verabreicht wurde.

Aber wie ihr auch blitzschnell die Gedanken durch den Kopf schossen, keiner war darunter, der ihr einen Ausweg gezeigt hätte, wie sie den Marquis nach dem Lager bringen könnte. Sie konnte ihn nicht tragen, und wenn sie es vermocht hätte, sie wußte den Weg nicht, er starb unterwegs in ihren Armen.

Kasegora allein konnte helfen.

Mit langen Zügen schlürfte der Durstige den kühlenden Inhalt der Flasche hinunter, mit seiner fleischlosen Hand dabei die, welche das Gefäß hielt, umklammernd, und das Mädchen wurde von tiefem Mitleid ergriffen, als es mit der anderen Hand den Puls, der vom heftigsten Fieber gejagt wurde, fühlte. Sie konnte nicht anders, sie mußte die abgemagerte Hand, welche nur noch aus Haut und Knochen bestand, liebkosend streicheln, und sie konnte den Lauf der Tränen nicht hemmen, wenn sie in dieses fahle Gesicht blickte, um welches wirr die Haare hingen.

Was hatten wenige Tage aus diesem Jüngling gemacht! Die Weltreise hatte ihm den Tod gebracht.»Jung, reich, schön, der Erbe eines berühmten Namens, mußte er hier in der Wildnis sterben, und niemand kam an sein Grab, um ihn zu betrauern. Nur Schakale heulten darum her, und Hyänen stießen wie zum Spott ihr heiseres Lachen aus.

Aber nein, was sollten diese Visionen bedeuten, noch lebte er ja — weg mit solchen Gedanken! Miß Sargent hatte für Marquis Chaushilm nie eine besondere Teilnahme gehegt, wie überhaupt keine der Damen, denn er war als ein etwas flatterhafter Charakter bekannt, aber zugleich auch als ein sehr gutmütiger und als Freund sehr zuverlässiger Mensch, allgemein beliebt, unter den Herren sowohl, als den Damen, aber zur Liebe für diesen Mann hatte sich wohl keine so leicht aufschwingen können.

Doch die eigentliche Natur der Frauen ist ja Teilnahme, diese ist bei ihnen viel vollkommener entwickelt als bei den Männern, sie liegt im tiefsten Inneren ihres Wesens. Selbst mehr zum Leiden, als zum Handeln geboren, müssen sie auch fremden Schmerz eher lindern, als der unempfindsamere Mann, und das Leben lehrt, wie bei ihnen die Erregung des Mitleids auch andere Seiten in ihrem Herzen anzuschlagen und zum Klingen zu bringen weiß.

So war es kein Wunder, daß Miß Sargent beim Anblick dieses sich im Fieberdelirium windenden Mannes, den sie in seiner Gesundheit nicht beachtete, neben dem Mitleid plötzlich ein Gefühl in ihrem Herzen spürte, welches sie sich nicht zu erklären wußte, aber es sagte ihr, daß sie gern ihr Leben hingeben würde, könne sie das seine dadurch retten.

Der Kranke hatte die Flasche geleert, ohne nach mehr Wasser zu verlangen, und von der Anstrengung des Aufrichtens und Trinkens erschöpft, sank er auf sein Lager zurück, ohne die Hand des Mädchens dabei freizugeben. Leise versuchte Miß Sargent sich von dem festen Griff zu befreien, aber so zart sie es auch tat, der mit geschlossenen Augen Daliegende merkte es, er richtete sich mit einem Ruck wieder auf und umklammerte die pflegende Hand noch fester.

»Bleib hier, Maud, bleib hier!« flüsterte er, und auf den eingefallenen Wangen entstanden plötzlich rote Flecke. »Gehe nicht von mir, schütze mich vor ihr — sie will mich töten — sie saugt mein Blut aus — da, da ist sie,« schrie er gell auf und umschlang mit beiden Armen die Kniee des Mädchens, »schütze mich vor ihr, rette mich! Siehst du sie dort nicht?«

Miß Sargent glaubte, er spräche im Delirium, aber sie wandte doch den Kopf, und da sah sie wirklich in der Tür eine schwarze Frauengestalt stehen — Kasegora, die mit unheilvoll drohenden Äugen das weiße Mädchen beobachtete und jedenfalls schon lange eingetreten war.

»Bleibe bei mir, Maud,« phantasierte der Fieberkranke weiter, »sie will mich töten.«

Er umschlang mit seinen kraftlosen Armen das Mädchen noch enger, und als ob sie plötzlich die Pflicht fühlte, daß sie ihn gegen die Negerin schützen müsse, legte auch sie die Arme um seinen Hals und drückte ihn an sich, die Augen fest auf Kasegora gerichtet.

Langsam kam diese näher, schleuderte die Gazelle, welche sie auf den Schultern getragen hatte, in die Ecke und trat nun, in der einen Hand die Lanze, auf dem Rücken Bogen und Köcher, dicht vor das weiße Mädchen hin, dieses mit glühenden Augen anschauend.

Immer drohender zogen sich die schöngeschwungenen Augenbrauen der Amazone zusammen, aber Miß Sargent fürchtete sich nicht im geringsten. Fest blickte sie der Zürnenden ins Antlitz und hielt den wimmernden Chaushilm schützend umschlungen.

Die Negerin sagte etwas, was das Mädchen nicht verstand, wohl aber verstand es die Handbewegung nach der Tür: sie sollte die Hütte verlassen. Ein stummes Kopfschütteln war die einzige Antwort, die Maud gab.

Da ergriff die Schwarze plötzlich ihre Hand und riß sie so heftig von Chaushilm fort, daß dieser loslassen mußte, aber noch gelang es ihm, ihre andere Hand zu erfassen, und er bemühte sich unter Stöhnen und Jammern, sie wieder zurückzuziehen, und da auch Miß Sargent alle Kräfte anstrengte, so mußte die Negerin nachgeben. Der Kranke sank wieder zurück, aber im nächsten Moment sprang die Schwarze wie eine Tigerin auf das Mädchen zu und suchte es an der Hüfte zu umschlingen, um es aus der Hütte zu schleppen, aber sie traf auf energischen Widerstand. Miß Sargent befreite sich selbst von dem Kranken und stieß beide Hände vor die Brust der Amazone, so daß diese zurücktaumelte.

Dann hatten sich beide gepackt und rangen miteinander, Weib gegen Weib, Brust an Brust. Jede suchte die andere vom Krankenlager weg und zur Hütte hinauszudrängen. Lange konnte der Kampf nicht dauern, denn er war ungleich. Wie eiserne Zangen preßten der Schwarzen Arme den Leib des Mädchens zusammen, sie umschlang es mit einem Arme, faßte mit der freien Hand an die Kehle der Gegnerin, schnürte sie zusammen und bog den Kopf des Mädchens hintenüber.

Miß Sargent röchelte, sie sah vor sich das triumphierende, höhnisch lachende Gesicht der schwarzen Gegnerin, die sonst schönen Züge durch Leidenschaft entstellt. Sie konnte nicht mehr Gebrauch von ihrem Revolver machen, denn ihre Arme lagen fest an den Körper gepreßt, sie war unfähig, sich zu bewegen.


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Schon fühlte das weiße Mädchen den Erstickungstod eintreten, als der würgende Griff nachließ. Sie war frei, und diejenige, welche sie eben noch zu töten versucht hatte, stand einem Manne gegenüber, der die Hütte betreten wollte.

Es war ein Neger oder Mulatte, ein Löwenfell hing ihm über den Nacken und ließ die schmutzig-rote Hautfarbe des ganzen Körpers sehen — es war der rote Löwe, allen an der Nordwestküste wohnenden Negern wohlbekannt.

Der nur mit einer Keule bewaffnete Häuptling sprach zu Kasegora, erst nach dem weißen Mädchen, dann nach Chaushilm deutend. Kasegora antwortete mit einigen drohenden Worten, plötzlich hielt sie die vorher entfallene Lanze hoch in der Hand, aber ebenso schnell war der rote Löwe hinter einen schützenden Baumstamm getreten, von wo aus ein höhnisches Lachen erschallte. »Was wollte er?« fragte Miß Sargent.

Kafegora warf ihr einen Blick zu, begab sich dann zu Chaushilm, hob ihn auf und legte ihn so, daß er von der Tür aus nicht mehr gesehen werden konnte. Als sie damit fertig war, näherte sich der Hütte ein anderer Mann, der in der Hand einen grünen Zweig, das Zeichen des Friedens, schwang. In ziemlich weiter Ferne blieb er stehen und hob die Hand zum Zeichen auf, daß er zu sprechen wünsche. Sonst war niemand weiter zu sehen, auch der rote Löwe hielt sich noch versteckt.

Ehe Kasegora in die Tür trat, stellte sie den Bogen so an die Wand, daß er ihr zur Hand war. Dann trat sie an die Tür und hörte den Neger an, der ihr in langer Rede etwas auseinandersetzte, worauf die Amazone immer nur ein einziges Wort erwiderte und manchmal ein spöttisches Lachen hören ließ.

Der Mann hatte ausgesprochen. Noch einmal sagte er etwas in drohendem Tone, ebenso antwortete Kasegora, aber kürzer, der Mann lachte laut und höhnisch auf, aber in diesem Augenblick hielt die Amazone den Bogen in der Hand, die Sehne gespannt, ein Pfeil schnellte ab, und mit durchschossenem Herzen fiel der Mann, der das Friedenszeichen getragen hatte, lautlos zu Boden.

Ein hundertstimmiges Wutgeschrei erschallte bei diesem Friedensbruch hinter den Bäumen. Überall stiegen Rauchwölkchen auf, und mit dem Donner der Salve schlugen die Kugeln hageldicht in die Hütte.

Kasegora hatte sich sofort nach Absendung des Pfeiles hinter die Tür geworfen, instinktiv hatte Miß Sargent ebenso gehandelt, und nur diesem Umstände hatten sie zu danken, daß sie nicht von Kugeln getroffen wurden. Die Hütte war aus frischen Baumstämmen zusammengesetzt, welche von den aus schlechten Gewehren abgeschossenen Kugeln nicht durchbohrt werden konnten.

Hastig rief die Dahomeh dem weißen Mädchen etwas zu, und es war fast, als ob diese in dem Augenblick der Gefahr deren Sprache plötzlich verstände. Schnell riß sie aus einer Spalte die Binsen heraus, so daß ein Loch gleich einer Schießscharte entstand, und steckte das Winchestergewehr hindurch, eben als der ganze Wald von Wilden zu wimmeln begann, welche hinter Baumstämmen hervorsprangen und nun mit gellendem Geschrei auf die Hütte zustürzten, Gewehre, Lanzen, Keulen und Speere schwingend.

Sechzehnmal entfuhr der Mündung ein Feuerstrahl, ebensoviele Neger machten einen Luftsprung und blieben als Leichen im Grase liegen; vier Pfeile wurden von Kasegoras Bogen abgeschleudert, und ebensoviele Herzen wurden durchbohrt — und der Wald, noch eben dicht bevölkert, war mit einem Male wie ausgestorben. Die überlebenden Angreifer standen mit entsetzten Gesichtern hinter den Bäumen und erwarteten, daß diese feuerspeiende Hütte noch weiter Tod und Verderben unter sie sende. Zwei Weiber und zwanzig Tote — das war zu viel für diese abergläubischen Wilden.

Ohne Zaudern warf Miß Sargent der Amazone, welche auf der anderen Seite der Tür stand, die Doppelbüchse nebst Munition zu, sie zum Gebrauche derselben auffordernd. Die beiden Nebenbuhlerinnen, welche eben noch mit Aufgebot aller Kräfte um den Besitz des Kranken gerungen und gegenseitig sich das Leben zu nehmen gesucht hatten, waren mit einem Male Kampfgenossen geworden. Galt es doch, sich und den, für den die eine Liebe, die andere vorläufig ein noch unbestimmtes Gefühl hatte, gegen einen hundertfachen Feind zu verteidigen.

Marquis Chaushilm lag unbeweglich mit geschlossenen Augen da, er wußte wahrscheinlich nicht, welch heißer Kampf um ihn her entbrannte. Er lag vor den Kugeln geschützt.

Die Amazone fing das zugeworfene Gewehr auf, betrachtete die Konstruktion und die Patronen und nickte befriedigt mit dem Kopfe. Sie stellte eine Schießscharte her, lud die Büchse und schob die Mündung derselben durch das Loch.

Noch einmal wurden die Neger durch eine lange Rede des roten Löwen zum Sturm auf die Hütte angefeuert. Man hörte seine Stimme hinter einem Baume schallen und wie die Gewehre wieder geladen wurden, dann stieß der Häuptling das Schlachtgeheul aus. Aus wenigstens zweihundert Kehlen fand es Beantwortung, und ebensoviele Gestalten stürzten hinter den Bäumen vor und rannten der Hütte zu, unterwegs ihre Büchsen abschießend.

Abermals feuerte Miß Sargent; aber sie wartete diesmal, bis ihre schwarze Waffengefährtin wieder geladen hatte, ehe sie das Magazin ihres Gewehres erschöpfte, und die Amazone hatte dieses Manöver sofort verstanden, sie sparte ihre Schüsse auf, bis das weiße Mädchen laden mußte.

Schuß krachte auf Schuß. Jede Kugel warf einen Neger zu Boden, aber dieselben ließen nicht im Sturme nach, denn der rote Löwe stand hinter der Linie und trieb die Zurückweichenden wieder unbarmherzig vorwärts. Gern hätte ihn Miß Sargent mit einer Kugel bedacht, aber sie mußte erst die nächsten niederschießen, denn höchstens noch eine Minute konnte es dauern, dann hatten die Wilden die Hütte erreicht.

Sie hatte noch ihren Revolver bei sich, mit diesem wollte sie erst noch sechs Angreifer zu Boden werfen, dann begann der Kampf mit dem Messer, und wenn Zeit dazu war, so konnte sie auch den Revolver wieder laden. Die Amazone eignete sich besser zum Nahkampf, das ahnte sie. Dieselbe würde Schwert und Lanze ordentlich zu gebrauchen wissen, aber der Masse mußte auch sie bald erliegen.

Da hatte der erste Neger die Tür erreicht. Miß Sargent riß den Revolver heraus; aber schon sank der Mann mit der Lanze der Amazone in der Brust nieder, ihm folgte ein zweiter, ein dritter, dann schwang die Amazone das Schwert durch die Luft, sich vor die Tür stellend, und hinter ihr sandte das weiße Mädchen ihre Revolverkugeln in die Reihen der vor ihr Stehenden, mit denen die Amazone focht.

Es war ein Glück, daß die Neger vorher die Gewehre abgeschossen hatten, aber doch fiel noch ein Schuß, und mit diesem zugleich stürzte die Amazone unter die Feinde und wütete wie der Tod, der seine Sense schwingt. Ohne sich zu besinnen, sprang ihr Miß Sargent nach, sie wollte ihre Gefährtin nicht verlassen. In der einen Hand das Messer, in der anderen den Revolver, hielt sie sich zur Seite der Amazone.

Jetzt waren beide dicht umringt, von allen Seiten bedrohte sie der Tod durch Lanzen, Speer und Keule, als plötzlich Pferdehufe den Boden erschütterten. Wohl hundert Reiter jagten zwischen den Bäumen heran, und Kasegoras Schlachtgeheul fand hundertstimmigen Widerhall — die Amazonen kamen ihrer Vorkämpferin zu Hilfe.

Noch ehe Miß Sargent erkannt hatte, daß dicht hinter den Amazonen ihre Freundinnen und die englischen Herren folgten, waren von ersteren die Feinde auseinandergejagt. Sie warfen die Waffen weg und suchten sich durch Flucht zu retten und zu ihren entfernt stehenden Pferden zu kommen, aber es war vergebens. Wie Wetterstrahlen sausten die krummen Schwerter der schwarzen Weiber durch die Luft, zuckten die Lanzenspitzen, und das Wehegeheul der Getroffenen vermischte sich mit dem Schlachtruf der Amazonen.

Nach wenigen Augenblicken war der Boden mit Leichen bedeckt. Verwundete gab es nicht, nur einem einzigen wäre es fast gelungen, die Pferde zu erreichen, dem roten Löwen, aber kurz vorher holte ihn Kasegora ein; der Häuptling schwang die Keule, doch ein Dolchstoß warf ihn ins Gras.

Langsam kehrte Kasegora nach der Hütte zurück, aus welcher Chaushilm bereits herausgetragen worden war. Die Damen und Herren umstanden ihn.

»Mukunguru,« sagte Yamyhla bedauernd, »er hat das Fieber, es wird ihn töten.«

»Hat einer der Herren Chinin bei sich?« rief Lord Harrlington. »Das ist das einzige, was ihn retten kann.«

Niemand hatte daran gedacht, diese wichtige Medizin mitzunehmen, mit Ausnahme von John Davids, welcher ja schon in Afrika gewesen war und dieses kostbare, nicht zu ersetzende Mittel gegen Fieber stets bei sich führte.

Schnell wurde das weiße Pulver, in Wasser gelöst, dem Kranken zu trinken gegeben. Wenn das Fieber noch nicht so weit vorgeschritten, daß sich das Blut zu zersetzen begann, so war bei sorgsamer Pflege Rettung noch möglich, erklärte John Davids, er wolle den Kranken nach besten Kräften behandeln.

In kurzen Worten teilte Miß Sargent ihren Freunden das Vorgefallene mit, konnte aber natürlich nicht erklären, warum sich Chaushilm und Kasegora ohne Pferde hier befanden, und so wandten sich jetzt aller Augen letzterer zu, auf welche Yamyhla bereits lebhaft einsprach.

»Wird sie den Marquis gutwillig seinen Freunden überlassen?« fragte Miß Thomson leise.

»Sie muß,« entgegnete Ellen bestimmt. »Gibt sie nicht gutwillig nach, so wird sie dazu gezwungen, es geht nicht anders. Aber Yamyhla erzählt ihr erst von ihrer Erhebung zur Anführerin, es wundert mich aber sehr, daß Kasegora nicht mehr Freude zeigt, ihre Freundin wiederzusehen, ein schwaches Lächeln, das ist alles. Sehen Sie, jetzt spricht Yamyhla zu ihr von Chaushilm, sie deutet auf den Kranken — Kasegora nickt beistimmend mit dem Kopfe.«

Yamyhla sprach wirklich mit Kasegora über Chaushilm, denn sie deutete auf diesen, und Kasegoras eben noch glückliches Lächeln verschwand Plötzlich, ihre Züge nahmen einen traurigen Ausdruck an. Sie heftete ihre Augen erst auf Miß Sargent, die neben Chaushilm stand, dann auf diesen selbst, mit einem unsagbar schmerzvollen Blick. Langsam nahm sie die Lanze von der Schulter und stützte sich darauf, und als Yamyhla endlich schwieg und sie fragend anschaute, da rannen aus ihren Augen langsam zwei schwere Tropfen, vielleicht die einzigen, welche je ihre Wangen benetzten.

Fast wie beistimmend senkte sie den Kopf, aber auch den Oberkörper bog sie vor, ein Zittern durchlief die kräftige Gestalt — und lautlos stürzte Kasegora zu Boden, die Wimpern mit Tränen befeuchtet.

Sofort kniete Yamyhla neben ihr nieder, und wie von einer Ahnung erfüllt, schlug sie das lederne Gewand zurück, welches Kasegora quer über der Brust trug. Die Ahnung der Amazone fand sich bestätigt; der Lederstreifen harte das Blut bisher zurückgehalten, jetzt quoll es in dunklen Strömen aus der Brust.

Yamyhla legte die Hand aufs Herz Kasegoras und stand dann auf.

»Tot,« murmelte sie dumpf. »Eine Amazone stirbt im Stehen.«

Auch John Davids kniete neben ihr und untersuchte sie.

»Sie ist tot« sagte er. »Mich wundert, daß sie noch so lange gelebt hat. Eine Kugel hat die Lunge getroffen, dieselbe ist schon ganz mit Blut angefüllt.«


29. Die Doppelgänger.

»Wo sind die fehlenden Damen und Herren, wo die anderen Amazonen?« fragte Miß Sargent Ellen, als sich der Reiterzug wieder dem Lager zu bewegte.

Sie führten eine Tote mit sich, denn die Leiche Kasegoras sollte so schnell als möglich nach Abome gebracht werden, um dort mit allen Feierlichkeiten begraben zu werden, und wäre sie auch unterwegs verwest — so hatte Yamyhla angeordnet. Chaushilm lag auf einer Tragbahre, die zwischen zwei Pferden hing.

»Ich muß Ihnen zunächst erklären, wie wir Sie gefunden haben,« antwortete Ellen der Fragen«. »Als Sie heute morgen noch nicht im Lager waren, brachen wir mit Yamyhla und den hundert Amazonen, die zu uns gestoßen waren, auf, um sie zu suchen. Den eingeborenen Weibern war es ein leichtes, Ihrer Spur zu folgen, und so trafen wir zuerst auf den von Ihnen getöteten Löwen. Ich ritt voraus und erblickte neben der Leiche des Männchens eine Löwin, welche um dessen Verlust trauerte. Bei unserer Ankunft ergriff sie die Flucht, und da merkten wir, wie sie ein Junges vor sich hertrieb, durch Tatzenschläge es zu schnellerem Laufe nötigend. Als sie sah, daß sie unseren Pferden nicht entkommen konnte, wandte sie sich gegen uns. Das Tier war furchtbar gereizt. Yamyhla meinte, es wäre eine zum ersten Male säugende Mutter, die ihre anderen Jungen durch ihre Unachtsamkeit verloren habe, dies versetzte sie bei der Verteidigung in eine furchtbare Wut. Sie fiel durch meine Kugel, das Junge ließ ich ins Lager schaffen — ein reizendes Tierchen, wie Sie sehen werden — und wir verfolgten die Spur von Ihnen weiter, welche in großem Bogen herumlief, sich aber immer weiter vom Lager entfernte. Gleichzeitig fand Yamyhla auch Spuren von Kasegoras Anwesenheit, und ferner teilten uns als Kundschafter ausgesandte Amazonen mit, daß der rote Löwe, ein gefürchteter Räuber, mit etwa zweihundert Mann nicht weit von uns sich aufhielte. Später kam die Nachricht, daß dieser Häuptling mit der Hauptmacht seiner Leute Wwiterzüge, fast mit uns gleiche Richtung haltend, und daß er etwa zwanzig zurückgelassen habe, welche einen weißen Gefangenen bei sich hätten. Dreißig Amazonen, einige Damen und Herren bogen ab, um letzteren zu befreien, wir folgten Ihrer Spur weiter und kamen im rechten Augenblick hinzu, Sie aus den Händen des roten Löwen zu retten, der Sklaven und Sklavinnen macht, wenn er kann, welches Los auch Ihnen beschieden gewesen wäre.«

»Wo treffen wir mit der Abteilung zusammen, welche den Weißen befreien wollte?«

»Erst im Lager. Yamyhla behauptete, diese Expedition wäre ganz gefahrlos. Schon der unerwartete Anblick der Amazonen würde genügen, die feigen Räuber in die Flucht zu treiben, und ich glaube dies gern.«

»Welche Damen haben sich diesem Zuge angeschlossen? « fragte Miß Sargent wieder, sich umsehend. »Es können nicht viele sein.«

»Nein, es sind auch nicht viele, darunter zum Beispiel Miß Morgan. Uns war ja die Hauptsache, Sie erst wiederzufinden; die Anwesenheit des roten Löwen in dieser Gegend ließ uns Schlimmes befürchten. Die Bewegungen dieser Räuber sind sehr schnell, weil sie alle beritten sind, und es wäre doch schrecklich gewesen, wenn Sie von ihm gefangen worden wären. Weit waren Sie auch nicht davon entfernt.«

»Ich hätte den Tod vorgezogen,« antwortete Miß Sargent.

Sie mußte jetzt ausführlicher ihr Abenteuer erzählen, sie schilderte das Wiedersehen mit Chaushilm, das seltsame Betragen Kasegoras, ihren Zweikampf, das in ihrer Liebe sich beleidigt glaubende Weib und stellte dann die Frage, wie es wohl käme, daß Kasegora und Chaushilm hier in einer Hütte wohnten, da sie von Abome doch auch mit Pferden aufgebrochen sein sollten.

»Das kann ich Ihnen wohl erklären,« entgegnete Ellen. »Nicht weit von hier trafen wir auf die von Raubtieren schon abgenagten Skelette zweier Pferde, und Yamyhla glaubte schon damals, das könnten die von Kasegora und Chaushilm sein. Jetzt können wir dies auch wirklich annehmen. Ferner sagte Yamyhla, der Verlust von Pferden in diesen Gegenden könnte sehr leicht durch die Tsetse bewirkt werden, jene Fliege, an deren Stich Pferde und Rinder unwiderruflich sterben. Es ist ein Glück, daß sie hier schon seltener aufritt. Ich hatte schon Angst um unsere Pferde, denn passierte uns solch ein Unglück, so bliebe ich die einzige Reiterin, und es ist doch kein schönes Gefühl, wenn ich reiten, und dabei meine Freundinnen zu Fuße gehen sehen soll. Ich würde dann vorziehen, ebenfalls zu Fuße zu marschieren.«

»Wie das?« fragte Miß Sargent verwundert.

»Warum sollte gerade Ihr Pferd von dem Stiche der Tsetse verschont bleiben?« »Sie vergessen,« entgegnete Ellen, »daß ich im Lager ein zugerittenes Zebra besitze, und die Tsetse schadet diesem nichts,«

»Glauben Sie, daß Marquis Chaushilm am Leben erhalten bleibt?« fragte Miß Sargent nach einer Weile wieder. »Es wäre doch schrecklich, wenn der Marquis sterben sollte.«

»John Davids hegt die größte Hoffnung. Er sagt, der widerstandsfähige Körper des Marquis hätte noch länger die schauderhafte Pflege des schwarzen Mädels ertragen. Das beste für ihn ist außer Chinin und geeigneter Nahrung frische Seeluft, und die Herren wollen auch unverzüglich nach Mgwana zurück und an Bord des ›Amor‹ gehen.«

»Schauderhafte Pflege sagen Sie? Sollte ihn das Weib, welches, ihn liebte, nicht sorgsam gepflegt haben?«

»Nun ja, nach ihrer Weise, Sie hat ihn jedenfalls mit zähem Antilopenfleisch halbtot gefüttert, während ein Fieberkranker nur die notwendigste Nahrung zu sich nehmen darf, ihn in warme Decken gehüllt, wenn er fror, und ihn mit Wasser begossen, wenn er schwitzte. Ein Schwarzer mag solch eine Pferdekur aushalten, aber ein Europäer kann das nicht, und wenn er der gesündeste Mensch wäre. Ich bin gespannt, was Chaushilm uns erzählen wird, wenn er wieder gesund ist.«

»Ich auch,« erwiderte Miß Sargent nachdenklich. Nach kurzer Zeit schimmerten die weißen Zelte des Lagers zwischen den Bäumen durch, und das Leben, das dort herrschte, verriet, daß der kleinere Trupp schon wieder zurückgekehrt sein mußte.

Miß Sargent hatte nach und nach mit allen Freundinnen einige Worte gewechselt und ritt jetzt gerade neben Johanna.

»Wie werden sich die anderen Damen freuen,« sagte letztere, »wenn sie nicht nur ihre Freundin, sondern auch Marquis Chaushilm wiedersehen!« »Was für ein Herr ist das dort?« fragte Miß Sargent, nach dem Zeltlager deutend.

»Welchen meinen Sie?«

»Den, welcher neben Miß Morgan steht und sich mit ihr unterhält. Da — jetzt gehen sie auseinander. Er trägt die übliche Kleidung der Herren, ist aber keiner der Unsrigen.«

»Wahrhaftig,« rief Johanna erfreut, »er ist der befreite Gefangene. Der Mann kann von Glück sagen, daß wir zufällig hierhergekommen sind, sonst könnte er sein Leben in der Sklaverei beschließen, wenn ihm nicht der Tod beschieden war.«

Miß Sargent wurde mit ungeheurem Jubel begrüßt, wieder mußte sie kurz ihre Erlebnisse zum besten geben, und dadurch wandte sich die Aufmerksamkeit auf den armen Chaushilm, dessen Zustand alle mit tiefster Teilnahme erfüllte.

Ellen, Johanna und die meisten der Neger waren unterdes in das Lager geritten und wurden von Miß Morgan empfangen, die Bericht erstattete.

Was Yamyhla vorausgesetzt hatte, war eingetroffen. Die Räuber hatten beim Anblick der Amazonen sofort die Flucht ergriffen, aber diese hatten ihre Schwerter nicht eher ruhen lassen, als bis keiner mehr am Leben war. Den Gefangenen hatten sie gefesselt vorgefunden, nur mit einigen Lumpen bedeckt, ihn nach dem Lager mitgenommen, und dort habe ihm einer der Herren einen Anzug mit allem Nötigen zur Verfügung gestellt. Es sei ein sehr anständiger, gebildeter Mensch, schloß Miß Morgan ihren Bericht, von Beruf Detektiv, doch, dort stünde er selbst und wünsche die Anführerin zu sprechen. Bisher habe sie sich mit ihm nur über seine ausgestandenen Leiden unterhalten.

»Ein Detektiv?« fragte Ellen halb erstaunt, halb unwillig. Sie hatte nun einmal ein ganz besonderes Vorurteil gegen Leute dieses Berufes.

»Ja, Miß,« antwortete der befreite Mann selbst und trat vor Ellen, welche, wie die anderen, vom Pferde gestiegen und die Zügel einem Neger übergeben hatte.

Der Gerettete hatte ein wirklich einnehmendes Äußere; der geliehene Anzug saß ihm gut, und ein Rasiermesser hatte das Gesicht wieder glatt gemacht.

»Mein Name ist Anderson, und ich bin Detektiv,« fuhr er fort, den Hut lüftend. »Es scheint, Sie sind von diesem Geständnis unangenehm überrascht; sollte mir sehr leid tun, wenn Sie glauben, mit der Befreiung eines Detektiven einen Mißgriff getan zu haben.«

»Durchaus nicht,« beeilte sich Ellen zu sagen. »Verzeihen Sie mir den Ton, in welchem ich eben sprach. Es freut mich, daß ich einen Menschen aus den Händen jener schrecklichen Männer befreit sehe. Doch, wie kommt es, daß Sie, als Detektiv — ich nehme Ihrer Aussprache des Englischen nach an, daß Sie Amerikaner sind — wie kommt es, daß Sie unter Räuber gefallen sind, welche ihr Wesen nur in der Wildnis treiben? Hat Ihr Beruf das mit sich gebracht?«

»Allerdings, Miß,« entgegnete der Mann, der sich als Anderson vorgestellt hatte. »Meine Aufgabe bestand darin, einen Kassierer, welcher unter Mitnahme bedeutender Geldsummen flüchtig geworden ist, zu verfolgen. Seine Spur führte mich nach der Nordwestküste Afrikas und von da ins Innere. Weiß der Himmel, was er hier zu suchen hatte, wollte wahrscheinlich einmal eine kleine Jagdpartie unternehmen, er ist immer so ein Leichtfuß gewesen. Die Expedition, welche ich gemietet hatte wurde gesprengt, die meisten Mitglieder getötet, ich selbst und ein anderer Weißer von jenem Häuptlinge gefangen genommen, welcher der rote Löwe genannt wird. Das ist in kurzem die Geschichte der Ereignisse, durch welche ich als Gefangener hierhergekommen bin.«

»Wo ist der andere Gefangene?«

»Es gelang ihm, zu entfliehen. Wir sind fast eine Woche lang umhergeschleppt worden; der andere ist gleich in den ersten Tagen geflohen, ich habe nichts wieder von ihm gesehen. Möglich, daß er in dieser pfadlosen Wildnis zu Grunde gegangen ist.«

Der Mann, der kein anderer als Tannert war, hatte die Wahrheit gesprochen. Seinem Mitgefangenen, dem Seewolf, war es gelungen, durch List seine Wächter zu täuschen und zu entkommen. Auch Tannert hätte mehrmals Gelegenheit dazu gehabt; da er aber merkte, daß sein Leben geschont wurde, er übrigens auf Befehl des roten Löwen mit mehr Rücksicht behandelt wurde, so beschloß er, seine Flucht auf später zu verschieben. Erst wollte er sehen, was mit den gefangenen Vestalinnen begonnen werden sollte, das heißt, wenn der rote Löwe sie erst in seiner Gewalt hatte.

»Sie sind amerikanischer Detektiv?« forschte Ellen etwas mißtrauisch weiter.

»Jawohl. Ich war längere Zeit in der Nähe der großen Seen tätig und kam dann — — Mein Gott,« rief er plötzlich aus — sein Blick war auf Johanna gefallen — »Sie auch hier, Miß Sharp? Finden sich denn alle Detektivs der Welt in Afrika zusammen? Führt Ihr Beruf auch Sie hierher?«

Er ging mit ausgestreckter Hand auf Johanna zu, die ihn kalt von oben bis unten ansah.

»Ich kenne Sie gar nicht,« sagte sie ruhig, ohne die dargebotene Hand anzunehmen.

»Wie? Sie kennen mich nicht? Erinnern Sie sich doch! Wir arbeiteten am Oberonsee zusammen, ich stellte den Lakai, Sie die Kammerzofe jener russischen Gräfin vor, die sich dann dank unserer Bemühungen als Schwindlerin entpuppte. Erinnern Sie sich nun des Anderson? Ich wurde Rudolf, Sie Jeannette gerufen. Wir haben manch hübsches Stündchen im Bedientenzimmer verlebt.«

»Sie sind im Irrtum. Ich kenne weder Sie, noch bin ich jemals von einer russischen Gräfin Jeannette gerufen worden,« erwiderte Johanna kalt und wandte sich ihrem Zelte zu.

Bestürzt hatten alle anwesenden Damen und Herren diese kurze Unterredung angehört; stumm sahen sie der Fortgehenden nach und blickten dann auf den Detektiven, welcher selbst verlegen geworden zu sein schien.


Illustration

»Wirklich,« murmelte er, »ich scheine mich getäuscht zu haben. Aber selten ist mir eine solche frappante Ähnlichkeit vorgekommen. Zug für Zug, das Haar, die Haltung gleichen vollkommen der Miß Sharp, der Schwester des berühmten amerikanischen Detektiven Nikolas Sharp.«

Unter den Zuhörenden war Ellen die erste, welche das Wort ergriff. Sie wandte sich an den Detektiven.

»Sie werden im Irrtum sein,« sagte sie ruhig. »Miß Lind ist keine Detektivin, sie ist unsere Freundin.«

Auch sie ging in ihr Zelt, welches am Eingange zum Lager stand und von ihr allein bewohnt wurde, weil in diesem alle jene Sachen aufbewahrt wurden, welche sie unter eigener Aufsicht haben wollte, und daher fast überfüllt war.

Unter den Mädchen bildeten sich Gruppen. Man sprach über diese rätselhafte Begegnung. Bald aber waren sich alle darüber klar, daß hier ein großes Mißverständnis obgewaltet habe. —

Miß Petersen saß beim hellen Scheine einer kleinen Lampe am Zelttisch und blickte, den Kopf auf die Hand gestützt, mit trüben Augen in die Flamme.

»Sollte Miß Morgan sich auch geirrt haben,« flüsterte sie vor sich hm, »als sie mir einst sagte, Johanna sehe der Schwester dieses Nick Sharp zum Verwechseln ähnlich? Ich habe von dieser Detektivin erzählen hören; sie soll die besten Männer dieser Berufsart oft in den Schatten gestellt haben. Sie erfreut sich beim Publikum einer großen Gunst, und doch, eine Detektivin, ein Mädchen, das Unschuld heucheln und dabei die raffiniertesten Sachen behandeln muß — pfui, das ist noch viel schlimmer als ein Detektiv!

»Ware es möglich, daß Johanna wirklich diese Detektivin ist? Ja, warum nicht? Nick Sharp war von Lord Harrlington bereits dazu engagiert, mich zu beobachten, warum sollte er nicht auch seine Schwester angeworben haben? Und wäre sie eine Detektivin, hätte ich Grund, sie zu bestrafen? Nein, das kann ich nicht, sie muß ja für Geld arbeiten. Aber hätte ich Grund, sie aus meiner Nähe zu stoßen? Gewiß, auf jeden Fall. Das wäre ja köstlich, wollte ich dulden, daß man mich mit Spionen umgibt, mich beobachten läßt und mich wie ein Kind beschirmt. Es ist wahr, ich schulde Johanna viel Dank. Oft hat sie mir das Leben gerettet, oft das Ihrige für das meine eingesetzt, so zum Beispiel als sie damals mich von den Schlingpflanzen befreite, die mich unter Wasser festhielten. Aber schließlich tun Detektive für Geld alles. Nein und abermals nein, wenn sie eine Detektivin ist, so muß sie aus meinen Augen, sie oder ich, eine von uns beiden verläßt die ›Vesta‹, und sollte ich auch die treueste Freundin verlieren. Von einem Manne, der mich betrügt, mag ich nicht mit Spionen umstellt werden, die ihm jede meiner Handlungen melden.«

Träumend blickte Ellen in das flackernde Licht der Lampe. Trübe Gedanken mußten es sein, die hinter dieser offenen, faltenlosen Stirn ihr Wesen trieben, denn ihr Auge umflorte sich immer mehr; immer schmerzlichere Linien zeichneten sich um den feingeschnittenen Mund.

Sie zog eine Uhr aus dem Busen.

»Neun Uhr,« murmelte sie. »Jetzt wird er kommen. So oder so, es muß zu einem Abschluß kommen.«

In diesem Augenblick wurde der Zeltvorhang zurückgeschlagen; Mister Anderson trat mit einer Verbeugung herein und blieb am Eingange stehen.

»Ihrer Aufforderung gemäß, finde ich mich pünktlich bei Ihnen ein,« sagte er. »Befehlen Sie über mich, ich stehe Ihnen zu Diensten.«

»Bitte, nehmen Sie Platz!« erwiderte Ellen mit erzwungener Freundlichkeit, eine Handbewegung nach dem zweiten Stuhle des Zeltes machend.

Der Detektiv nahm auf dem zusammenlegbaren Stuhle, Ellen gegenüber, Platz.

»Ich habe Sie zu mir gebeten,« begann sie, »um Auskunft zu bekommen über jene Dame, welche Sie vorhin mit Miß Sharp anredeten. Ist diese Dame wirklich, Miß Sharp, die Schwester des Detektiven Nikolas Sharp?«

Sie heftete den Blick gespannt auf das Gesicht des vor ihr Sitzenden, der eine geringe Verlegenheit nicht verbergen konnte, aber dieser Detektiv brachte dieselbe absichtlich hervor. Er war zu sehr Schauspieler, als daß er nicht seine vollständige Ruhe hätte bewahren können, wenn er es wollte.

»Geehrtes Fräulein,« antwortete er, »ich habe jene Dame zwar als Miß Sharp begrüßt, aber ich kann mich natürlich geirrt haben, und ich glaube das auch jetzt, da jene Dame selbst behauptet, mich nie gesehen zu haben.«

»Sieht sie derselben wirklich so ähnlich?«

»Sie ist die vollständige Doppelgängerin derselben, sie gleicht ihr Zug für Zug. Das reiche Haar hat bei beiden dieselbe nußbraune Farbe, über den braunen Augen dieselben langen Wimpern, der kleine Mund; in der Tat, wenn jene Dame nicht selbst sagte, daß sie nicht Miß Sharp sei, so könnte ich ruhigen Herzens darauf schwören.« »Wo lernten Sie Miß Sharp kennen?«

»Erinnern Sie sich der Skandalgeschichte der russischen Gräfin, welche in den Gegenden der großen Seen einst eine Rolle in der Gesellschaft spielte?«

»Nein, ich habe nichts davon gehört.«

»Nun, jene Gräfin stand im Verdacht, eine französische Schwindlerin zu sein. Ich wurde von der Polizeibehörde abgesandt, sie zu beobachten, nahm bei ihr Dienste als Lakai und traf dort Miß Sharp, welche von ihr als Kammerzofe engagiert worden war, und die sich in die intimeren Verhältnisse der Gräfin einzuweihen suchte. Anfangs wußten wir nicht, daß wir beide Detektive waren; an gewissen Zeichen erkannten wir uns aber bald.«

»Wohin ging Miß Sharp von da?«

»Kurz vor der Katastrophe des Dammdurchbruchs am Oberonsee gelang es uns, die Gräfin zu entlarven. Wir trennten uns; ich blieb am Oberonsee und sah Miß Sharp bei jenem Dammdurchbruch wieder, wo sie sich, wie es gewöhnlich Ihre Art war, mit heldenmütiger Bravour benahm. Ich sah mit eigenen Augen, wie sie siebenmal zwischen die Eisschollen sprang und jedesmal mit einem Menschen wieder ans Ufer kam.«

Ellens Augen vergrößerten sich, starr blickte sie den Detektiven an.

»Wissen Sie bestimmt, daß diese Person Miß Sharp hieß?« fragte sie leise.

»Ganz bestimmt. Wenn wir nicht hier in Afrika, sondern in Amerika wären, so könnte ich Ihnen genug Zeugen dafür bringen.«

»Aber haben Sie nicht in den Zeitungen gelesen, daß die Retterin Miß Jane Lind genannt wurde?«

»Das macht nichts aus,« sagte Anderson gleichmütig, »wir Detektiven ändern jeden Tag unseren Namen. Daß Miß Sharp sich damals, als sie von Zeitungsreportern um ihren Namen gefragt wurde, einen anderen gab, wundert mich gar nicht, denn Miß Sharp war immer bescheiden und ganz und gar nicht ehrsüchtig. Wäre ihr wirklicher Name damals bekannt geworden, so hätte ihr das großen Schaden gebracht, denn sie wurde von vielen Leuten gesehen und bewundert. Selbst die Vorgesetzten von der Polizei hätten dies nicht gern gesehen. Wir Detektiven sind zu bedauern, wir gehören nicht uns selbst, sondern unseren Vorgesetzten.«

Lange schwieg Ellen, ihre Augen nicht von der flackernden Flamme wendend. Es war ihr, als hätte plötzlich eine kalte Hand ihr Herz berührt.

»Ich danke Ihnen,« sagte sie endlich. »Bitte, betrachten Sie sich, so lange Sie hier sind, als im Lager zu Hause, Sie genießen dieselben Vorrechte wie wir. Ich hoffe, daß Sie auch die Rückreise mit uns antreten werden.«

»Ich bin gezwungen, Ihre Hilfe jetzt in Anspruch zu nehmen, und kann Ihnen dieselbe mit nichts anderem vergelten als mit meiner Dankbarkeit,« erwiderte Mister Anderson, stand auf, verneigte sich gegen Ellen und verließ das Zelt.

»Also doch!« murmelte Ellen. »Mit einer Detektivin haben wir fast zwei Jahre lang als Freundin verkehrt, sie als die Unsrige betrachtet, sie in unsere tiefsten Geheimnisse eingeweiht, und sie hat unsere Vertrauensseligkeit dazu benutzt, uns unter der Maske der Demut und Bescheidenheit auszuhorchen, damit sie es wiedererzählen könne. Wem? Nun, wem anders als Lord Harrlington? Jetzt kann ich mir auch erklären, wie es kommt, daß der ›Amor‹ uns immer wiederzufinden wußte, und auch wenn ein noch so unbekannter Hafen bestimmt wurde.«

Sie trat vor den Zelteingang.

Das Lager bestand aus zwei Hälften, in der einen wohnten die Herren, in der anderen die Damen. Trotzdem es schon Nacht war, herrschte zwischen den Zelten noch Leben; man ging plaudernd spazieren und freute sich der schönen, kühlen Nacht.

»Miß Dulwich,« rief Ellen ein vorübergehendes Mädchen an, »würden Sie die Freundlichkeit haben, Miß Murray in mein Zelt zu rufen; ich möchte sie sprechen.«

Sie trat wieder ins Zelt.

»Es wird die höchste Zeit, daß dieses gefährliche Element aus unserer Mitte entfernt wird,« murmelte sie leise. »Sie hätte verdient, daß die Gesetze der ›Vesta‹ gegen sie angewendet würden, aber eben, weil sie der ›Vesta‹ nicht würdig ist, soll keine Anwendung davon gemacht werden; selbst das ist eine Schande, wenn eine solche Person diese Strafe überhaupt versteht. Ich glaube, ich werde bei den Damen auf einigen Widerstand stoßen, denn Johanna ist sehr beliebt, aber ich werde ihn zu besiegen wissen. Vor allen Dingen gilt es, die Damen vorzubereiten, sie mit dem Charakter Johannas vertraut zu machen, ohne daß diese etwas davon merkt, sonst ist die schlaue Detektivin im stände und schmiedet Gegenpläne. Dazu ist es nötig, daß ich mit den Damen spreche, welche über die Vestalinnen eine gewisse Macht haben. Das wären Miß Murray, Nikkerson, Thomson und vielleicht auch Miß Sargent. Letztere ist in letzter Zeit sehr beliebt geworden. Diese Damen mögen die anderen so vorbereiten, daß ich beim Verkünden des Ausschlusses von Miß Lind, respektive Miß Sharp, auf keinen Widerstand stoße. Je schneller die Sache erledigt wird, desto besser.«

Ohne irgendwelche Überraschung oder Unwillen zu zeigen, hörte die Angekommene die Auseinandersetzungen Ellens an und versprach beim Verlassen des Zeltes, die Freundinnen über Johannas Charakter aufzuklären.

»Bitten Sie Miß Nikkerson, zu mir zu kommen, auch sie möchte ich persönlich sprechen,« rief Ellen der Hinausgehenden nach.

Miß Nikkerson konnte jedenfalls nicht gleich gefunden werden, denn es verging ziemlich lange Zeit, ehe sie ins Zelt trat.

Auch sie hörte die Erklärung Ellens völlig ruhig an, ja sie erwiderte nicht einmal ein Wort und verließ das Zelt mit dem Auftrage, Miß Thomson zu rufen.

»Seltsam,« dachte Ellen, »ich glaubte, die Damen würden diese Nachricht ganz anders aufnehmen. Ich ahne fast, daß sie mit meinem Vorschlag, Miß Sharp auszustoßen, nicht sofort einverstanden sind.«

Da wurde der Vorhang zurückgeschlagen, aber nicht nur die gerufene Miß Thomson trat ins Zelt, sondern sie hatte ihren Arm in den Johannas gelegt, und hinter ihr folgten Miß Murray, Miß Nikkerson, Miß Sargent und noch andere Damen — das Zelt war mit Personen ganz angefüllt.

Bestürzt heftete Ellen die Augen erst auf Johanna und ließ ihre Blicke dann über die anderen Freundinnen schweifen.

Ohne Umschweife nahm Miß Thomson das Wort.

»Sie haben mich rufen lassen, Miß Petersen,« sagte sie, »um mir mitzuteilen, daß Miß Lind hier, meine Freundin« — sie betonte das letzte Wort — »eine Detektivin ist, eigentlich Miß Sharp heißt und die Schwester des Detektiven Nikolas Sharp ist, und daß sie als solche nicht würdig wäre, fernerhin unter uns und auf der ›Vesta‹ zu bleiben. Sie hätten recht, Miß Petersen, wenn dem so ist, aber von wem haben Sie denn diese Mitteilung? Von einem wildfremden Manne, den keine von uns kennt, den wir halbnackt als Gefangenen gefunden haben, ich betone, als einzigen Gefangenen unter den verworfensten Menschen, die nie eine zivilisierte Gegend betreten haben.«

Ellen wollte die Sprecherin unterbrechen, aber Miß Thomson machte mit der Hand eine abwehrende Bewegung und fuhr schnell in der Rede fort:

»Ich bemerke ausdrücklich, daß ich nicht nur für meine Person spreche, sondern im Namen aller Vestalinnen, Sie ausgenommen, und dies zu bezeugen, sind diese Damen hier. Ich soll Ihnen hiermit sagen, daß Sie, ehe Sie noch einer anderen Dame Ihre Mutmaßung über Miß Lind mitteilen, diese selbst fragen, ob an der Aussage des Detektiven etwas Wahres ist, oder nicht, denn« — Miß Thomson erhob ihre Stimme — »ehe wir die Aussagen dieses uns wildfremden Menschen glauben, trauen wir vielmehr denen von Miß Lind, welche seit fast zwei Jahren unsere Freundin ist und sich stets als solche benommen hat.«

Miß Thomson schwieg.

Anfangs hatten sich Ellens Züge immer mehr verdüstert; schnell wandelte ihr Auge von Gesicht zu Gesicht, und das, was sie da wahrnahm, sagte ihr, daß jetzt ein Entscheidungsmoment gekommen war. Diese Mädchen traten alle für Johanna ein. Blieb sie bei ihrer Aussage, so war eine Scheidung nicht zu umgehen, die ›Vesta‹ hatte aufgehört, Freundinnen zu beherbergen, so lange sie sich auf dem Schiff befand, selbst wenn Johanna freiwillig ausgeschieden wäre.

Da begegnete ihr Blick dem Auge Johannas, diesem freundlichen, gütigen, treuherzigen, braunen Auge, das jetzt mit einem so traurigen Ausdruck auf ihr ruhte, und plötzlich wurde Ellens Stimmung umgewandelt, sie wußte mit einem Male, daß dieses Mädchen keine Detektiv! war.

»Sie haben recht, Miß Thomson,« sagte sie, »ich habe nicht recht gehandelt, als ich den Aussagen des fremden Mannes sofort Gehör schenkte. Miß Lind,« wendete sie sich an diese, »wären Sie eine Detektivin, so könnte ein Nebeneinanderleben zwischen uns nicht mehr möglich sein, und die Vermutung, daß dem so sei, daß wir fast zwei Jahre lang eine Detektivin als Freundin betrachtet hätten, brachte mich in eine übereilte, mißmutige Stimmung. Beantworten Sie mir meine Fragen, und ich werde Ihren Antworten glauben.

»Sind Sie Miß Sharp?«

»Nein,« entgegnete Johanna offen und fest, »mein Name ist Johanna Lind.«

»Sind Sie die Schwester des unter dem Namen Nikolas Sharp bekannten Detektiven?«

»Nein.«

»Kennen Sie oder haben Sie den Mann schon einmal gesehen, welcher Sie als die Detektivin Jane Sharp bezeichnete?« fragte Ellen weiter.

»Nein.«

»Oder,« fuhr Ellen fort, die Augen fest auf Johanna gerichtet, »sind Sie überhaupt Detektivin?«

»Nein,« versetzte Johanna ruhig, dem Blick der Fragerin ebenso fest begegnend.

»Dann war meine Annahme ein Irrtum,« sagte Ellen und streckte dem Mädchen die Hand entgegen. »Vergessen Sie das Vorgefallene! Ich bitte Sie herzlich darum! Sie haben eine Doppelgängerin, mit der Sie verwechselt worden sind.« — —

Die gute Stimmung unter den Vestalinnen war schon längst wiederhergestellt, aber es herrschte doch noch im Lager der Damen Aufregung, trotzdem es schon spät war. Wieder standen die Damen in Gruppen zusammen, und hastiges, geheimnisvolles Flüstern herrschte unter ihnen. Dann schieden sich einzelne ab und begaben sich nach den Zelten der Herren.


Illustration

Unter den etwa zehn Damen befand sich auch Hope, und als sie sich den Zelten der Herren näherte, rief diese plötzlich leise aus:

»Dort steht er, er geht nach den Pferden, und der Kuckuck soll mich beißen, wenn er nicht soeben mit Miß Morgan gesprochen hat.«

Man sah zwischen den Zelten eine dunkle Gestalt verschwinden, welche wohl wie ein Weib aussah, aber fest behaupten konnte man das wegen der Finsternis doch nicht.

Die kleine Gesellschaft sprach unterwegs mit einigen ihr begegnenden Negern und begab sich dann ebenfalls dahin, wo die Pferde angebunden standen. Dort trafen sie auf Mister Anderson, der die Pferde zu mustern schien. »Schöne Pferde, nicht wahr?« redete ihn Thomson an.

»Es sind wirklich einige sehr schöne darunter,« war die Antwort, »wie man sie selten in Afrika findet.« Afrika hat nicht viel schöne Reittiere aufzuweisen, und gute, importierte verderben schnell; an eine Fortpflanzung edler Rassen ist nicht zu denken.«

»Sie scheinen Pferdekenner zu sein!«

»Allerdings, ich war früher ein großer Sportsmann und bin auch jetzt noch ein guter Reiter.«

»Welches Pferd würden Sie sich aussuchen, wenn Ihnen die Wahl freistände?« fragte Miß Murray.

»Dieses dort ist das schönste,« antwortete Andersons auf eine Schecke deutend.

Er wunderte sich nicht wenig, als ein Neger diesem Pferde sofort einen Sattel auflegte.

»Wollen Sie heute nacht noch ausreiten?« fragt er erstaunt, »Ach so, es ist ja ein Herrensattel!«

»Ja, ein Herrensattel,« sagte da plötzlich Miß Sargent und trat dicht vor den völlig verblüfften Mann »und nun setzen Sie sich darauf, und reiten Sie dem Führer nach, der Sie begleiten wird, er hat Proviant genug für Sie und sich, damit Sie beide die Küste erreichen können. Ja, nur los, zögern Sie nicht,« fuhr Miß Sargent den Mann an, der seinen Ohren nicht trauen zu dürfen glaubte, »steigen Sie auf den Schecken und reiten Sie davon, wir schenken Ihnen das Tier.«

Mister Anderson merkte, daß es den Damen ernst war; überall blickte er in finstere, entschlossene Gesichter — er wußte wohl, was man gegen ihn vorhatte. Wortlos bestieg er das Roß und der ihm als Führer bestimmte Neger das seine.

»Und, Mister Anderson,« nahm Miß Thomson noch einmal das Wort, »bemühen Sie sich nicht, noch einmal unseren Weg zu kreuzen. Ich habe nämlich einen Feind, den ich bis zum Tode hasse, und der sieht Ihnen so ähnlich wie ein Ei dem anderen. Es sollte mir leid tun, wenn ich meine Wut an seinem unschuldigen Doppelgänger auslassen würde. Good bye!«


30. Die Heiratsvermittlung.

Mister Selby, der Direktor jener Faktorei, welcher die Karawane unserer Freunde ausrüstete, hatte ein Zimmer seiner Villa Miß Petersen für einen Nachmittag zur Verfügung gestellt. Diese Dame hatte ihn um diese Gefälligkeit gebeten, weil in ganz Mgwanna kein öffentliches Haus existierte, in welchem eine Private Unterhaltung stattfinden konnte, und eine solche hatte Miß Petersen heute mit einem Herrn vor, welcher zu diesem Zwecke eigens aus Kapstadt gekommen war.

Mister Selby hatte den Wunsch der Dame, mit der er ein so gutes Geschäft abgeschlossen, sofort erfüllt, und nun befanden sich Miß Petersen und der fremde Herr in einem der elegantesten Zimmer der Villa.

Dieser Herr war Macdonald Staunton, der Bruder Hope Stauntons, dessen Schiff jetzt in Kapstadt lag, und welcher, ehe er Miß Petersen aufgesucht, dieser von seiner baldigen Ankunft geschrieben und zugleich gebeten hatte, seiner Schwester nichts von seiner Reise zu sagen, weil die von Ellen gebetene Besprechung jene beträfe.

Ellen hatte ihn selbst von dem Postdampfer abgeholt und, ohne erst Worte zu verlieren, sofort nach Selbys Villa geführt. Sie kannten sich beide schon von früher; sie hatte seine Bekanntschaft schon in New-York gemacht.

»Es ist ein sehr unangenehmer Fall, welcher mich zu Ihnen führt,« begann der in Zivil gekleidete Marineoffizier, als nach der ersten förmlichen Begrüßung im Hafen eine herzlichere im Salon stattgefunden hatte. »Ich habe lange gesonnen, wie ich es Ihnen mitteilen soll, aber schließlich habe ich eingesehen, daß der kürzeste Weg der beste ist: eine offene Aussprache.«

»Betrifft diese Hope, Ihre Schwester?« fragte Ellen.

»Ja, und es ist eben das Schlimmste für mich, daß ich meiner Schwester eine Nachricht bringen muß, die sie betrüben wird. Ich habe das eigentlich nicht nötig, sie brauchte nicht alles zu erfahren, was ihr junges Herz erschrecken würde; aber dennoch ist es nötig, ihr zu sagen, daß sie ferner nicht mehr auf der ›Vesta‹ in Ihrer Gesellschaft bleiben kann.«

»Warum nicht?« fragte Ellen lächelnd.

»Weil es zu kostspielig ist,« entgegnete Staunton offen.

»Ich weiß alles, was Ihnen zu sagen so schwer fällt,« kam Ellen ihm zu Hilfe, ohne auf das erstaunte Gesicht des Offiziers zu achten. »Eine Freundin von mir, welche sehr gut über Ihre Verhältnisse orientiert —«

»Wie wäre dies möglich?« unterbrach Staunton sie etwas unwillig.

»Sehr einfach, diese Freundin ist die Tochter des Bankiers, bei welchem das Vermögen Ihres Vaters deponiert war, und da sie selbst eine Freundin Hopes ist, so teilte sie mir den Verlust dieses Vermögens mit der Bitte mit, es Hope zwar nicht zu sagen, aber sie doch von der weiteren Teilnahme an der Reise fernzuhalten, sie nach New-York zu schicken, wo sie sehr bequem von dem leben könne, was ihr gerettet worden ist. Ist es nicht so?«

»Nein, es ist noch schlimmer geworden. Von einem Vermögen war eigentlich nicht die Rede, sondern jener Bankier besaß nur Aktien, welche zwar sehr viel einbrachten, aber unter Umständen auch ganz wertlos werden konnten. Dieser Fall ist nun eingetreten. Das letzte, was davon noch übrig geblieben, ist auch weg, Hope ist ein armes Mädchen, welches nichts besitzt, als einen Bruder.«

»Das ist sehr traurig, aber Hope bekam in letzter Zeit immer noch Anweisungen zugeschickt!«

»Sie hatte mich darum gebeten, und ich habe diese von meinem Gehalte bestritten.«

»Sie wurden in New-York allgemein für einen sehr reichen Mann gehalten,« sagte Ellen.

»Mein Vater war auch reich,« erwiderte Staunton, »er hatte sich den Reichtum durch eigene Kraft erworben, keinen Cent geerbt, und so hielt er sich denn auch berechtigt, nach Gutdünken mit dem Gelde zu wirtschaften. Das heißt, er ist nicht leichtsinnig mit dem Gelde umgegangen, er hat nur zu stark spekuliert und viel dafür ausgegeben, sich einen Namen zu verschaffen, was er ja auch erreicht hat. Als er starb, waren die Kapitalien aufgebraucht, er hinterließ uns Aktien, welche sich damals ausgezeichnet rentierten. Ich schlug die Offizierskarriere ein und hatte von Geschäften soviel wie gar keine Kenntnis. Hope war ein Kind, und unser Vormund ließ uns in dem Glauben, wir wären wirklich sehr reich, während wir doch nur von der Dividende lebten, welche die Aktien abwarfen. Diese verloren immer mehr an Wert, ohne daß ich dies wußte. Es lagen auf unseren Grundstücken fast ebensoviel Hypotheken, wie sie wert waren, vom Vater bei augenblicklicher finanzieller Verlegenheit selbst aufgenommen, sie wurden vom Vormund, einem etwas leichtsinnigen Manne, nicht wieder gedeckt; kurz und gut, vor ewigen Monaten erfuhr ich, daß wir so gut wie ruiniert waren; ich machte noch einmal verzweifelte Anstrengungen, etwas zu retten, aber die Folge einer genauen Ordnung unserer Verhältnisse war nur die Einsicht, daß überhaupt nichts mehr zu retten war. Jetzt bin ich nur noch auf meinen Gehalt angewiesen, und der genügt nicht, um Hope auf diese Weise weiterleben zu lassen.« »Wollen Sie Hope über diese Verhältnisse aufklären?« fragte Miß Petersen.

»Nein, es wäre grausam, das junge Mädchen plötzlich damit bekannt zu machen,« antwortete der Offizier, »mein Gehalt reicht aus, daß sie in New-York ein standesgemäßes Leben führen kann, wenn sie sich unter Aufsicht befindet, welche verhindert, daß sie sich Extravaganzen erlaubt, zu welchen sie leider sehr geneigt ist. Aber dies kommt eben daher, weil sie sich für ein reiches Mädchen halt und daher den Wert des Geldes nicht kennt.«

»Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen, Kapitän,« sagte Ellen, »so lassen Sie Hope noch so lange bei mir, bis diese Reise beendet ist.«

»Dies erlauben meine Mittel nicht.«

»Ich meine, sie bleibt als meine Freundin bei mir. Sie verstehen mich.«

»Das geht auf keinen Fall,« rief der Offizier energisch. »Ich verstehe vollkommen, was Sie meinen, und nur, weil Sie es so zart andeuten, beleidigt mich dieser Vorschlag nicht. Doch wir können ja offen sprechen,« fuhr er ruhiger fort. »Ich weiß, Sie sind eine wirkliche Freundin von Hope, und ich schätze Ihre edle Denkungsweise. Sie wollen also, um Hope des Vergnügens dieser Reise nicht zu berauben, die Mittel aus eigener Tasche bezahlen. Das nehme ich auf keinen Fall an, um so weniger, da ich Offizier bin.«

Ellen schwieg verlegen.

»Und Hope selbst würde entrüstet sein, wenn sie später einmal erfahren sollte, daß sie ohne ihr Wissen und ihren Willen durch die Mittel anderer Vergnügungen genossen hat,« fügte der Offizier hinzu.

»So müßte Hope unsere Gesellschaft verlassen.« sagte Ellen seufzend.

»Ja, es geht nicht anders. Sie muß in ihre Heimat, nach New-York zurück.«

»Wie wollen Sie aber bewirken, daß sie sich Ihrem Willen fügt, wenn Sie Ihre Schwester nicht mit der Ursache davon bekannt machen? Haben Sie großen Einfluß auf Ihre Schwester? Hope ist ein sehr, sehr gutherziges Mädchen, aber sie kann auch sehr eigensinnig sein.«

»Ich habe bereits einen Vorwand gefunden, und zwar keinen erdichteten. Hope hatte in jüngeren Jahren eine Freundin, die sie innig liebte; ihr Bruder ist Leutnant auf meinem Schiffe, sein Name ist Murray. Dieser hat nun vor einigen Tagen einen Brief erhalten, mit der Nachricht, daß seine Schwester schwer erkrankt ist, und, wie es oft eine Eigentümlichkeit von Kranken ist, daß sie Tag und Nacht nach Hope begehrt. Leutnant Murray selbst wird in den nächsten Tagen nach New-York abreisen, und ich will Hope veranlassen, mit ihm zu gehen. Wenn Sie mir Ihre Unterstützung zusagen, Miß Petersen, so wird es leicht sein, Hope dazu zu bewegen, denn sie hat ein gefühlvolles, weiches Herz.«

»Gern will ich dabei tun, was ich kann,« antwortete Ellen. »Es ist sogar gut, daß Sie sich erst an mich gewendet haben, denn ich habe großen Einfluß auf Hope. Ich glaube, sie würde selbst, ohne Angabe eines Grundes, auf meine Bitte hin, Ihrem Wunsche entsprochen haben, doch ist es besser so.«

»Ich danke Ihnen herzlich,« sagte der Offizier und schüttelte der Dame warm die Hand. »Eine Zentnerlast ist mir von der Brust genommen. Wann meinen Sie, daß wir Hope alles mitteilen sollen? Je eher, desto besser ist es; ich schlage vor, noch heute.«

»Heute ist es wohl nicht gut möglich, denn Hope hat heute morgen mit mehreren Damen eine kleine Reise nach einem nicht weit von hier entfernten Hafen angetreten, wo nach Schwämmen getaucht wird, und die Gesellschaft wird vor Abend nicht zurückkehren.«

»So sagen wir morgen,« entgegnete Kapitän Staunton. »Auf meine Bitte wird mich Mister Selby für diese Nacht beherbergen. Wo soll die Unterredung stattfinden?«

»Wieder hier! Morgen früh um zehn Uhr schlage ich vor. Ich bringe Hope mit.«

»Einverstanden,« rief der Offizier.

Er spielte einige Zeit verlegen an seiner Uhrkette, hob dann den Kopf und sagte:

»Noch eins, Miß Petersen. Sie waren innerhalb zweier Jahre nun beständig in der Nähe von Hope, und so können Sie mir die beste Auskunft geben über eine Frage, deren Beantwortung mir von größtem Interesse ist und mich zugleich bedrückt.«

»Bitte, fragen Sie! Allerdings kennt wohl niemand Hope so gut, wie ich.«

»Sehen Sie,« begann Staunton sichtlich zögernd, »die ›Vesta‹ ist in ständiger Begleitung des ›Amor‹ gesegelt. Die Damen haben alle ihre Ausflüge in Gesellschaft der englischen Herren gemacht, sie sind oft wochenlang in engem Verkehr mit ihnen gewesen, und Hope ist achtzehn Jahr alt, da ...«

»Ah, ich verstehe,« unterbrach ihn Ellen lächelnd. »Sie wollen wissen, ob Hope zu einem der Herren eine tiefere Neigung gefaßt hat?«

»Es ist so.«

Gespannt hingen des Offiziers Augen an Ellens Munde, als wolle er schon jetzt die Antwort ablesen.

»Nein, das ist nicht der Fall,« fuhr Ellen fort, »Sie können sicher sein, daß nicht einmal eine heimliche, flüchtige Liebelei vorgekommen ist. Einmal habe ich auf Hope ein wachsames Auge gehabt, und dann ist sie auch eine Person, welche nicht das kleinste Gefühl verbergen kann. In ihren Zügen, in ihren Augen kann man offen lesen, was in ihrem Herzen vorgeht.«

»Hat auch keiner der englischen Herren ein Auge auf das hübsche Mädchen geworfen und ihr zu verstehen gegeben, daß er Neigung für sie hege? Junge Mädchen können sich leicht einen Gedanken in den Kopf setzen, sie bilden sich ein Ideal, das sie um keinen Preis der Welt fahren lassen.«

»Auch das nicht,« sagte Ellen kopfschüttelnd, »ich wüßte nicht einmal, daß Hope auch nur irgend einem Herrn jemals besondere Aufmerksamkeit geschenkt hätte.

»Doch ja,« fuhr sie lächelnd fort, »aber es ist eigentlich lächerlich, daß ich Ihnen dies mitteile. Einer der Herren hat einen Diener, einen früheren Seemann, mit dem Hope gern und viel verkehrt, weil sie für alles, was das Seemannswesen betrifft, schwärmt und dieser Mann ihr genügend Material für ihren phantastischen Sinn liefert.«

»Das ist nichts,« lachte Kapitän Staunton. »Hope hat als Kind stets für die Reitknechte ihres Vaters geschwärmt, weil diese größere Sporen, als der Vater selbst, trugen.«

»Warum sollte aber Hope nicht die Werbung eines dieser englischen Herren annehmen, wenn eine solche wirklich vorläge?« fragte Ellen. »Es sind alles ehrenwerte, zuverlässige Menschen, von denen keiner mit Hope spielen würde. Keinem einzigen traue ich so etwas zu. Aber ich glaube fast,« Ellen lächelte und warf dem Kapitän einen prüfenden Blick zu, »nach Ihren vorsichtigen Fragen zu schließen, ob Hopes Herz auch frei ist, gehen Sie noch mit einem anderen Plane um. Habe ich recht? Spielen Sie die Rolle eines Heiratsvermittlers?«

»Ihr Scharfsinn hat Sie nicht getäuscht; ja, ich gehe damit um, Hope zu verheiraten,« entgegnete Kapitän Staunton offen.

»Hope zählt achtzehn Jahre und ist alt genug, um sich zu verloben. Der Mann, welcher sie liebt, schon seit langem liebt, weiß von ihren Vermögensverhältnissen, aber wenn er auch nicht selbst ein bedeutendes, sicheres Kapital besäße, so würde er sich doch nicht im mindesten um Hopes Armut kehren. Er liebt sie, nicht ihr Vermögen, und das ist heutzutage sehr, sehr selten.« »Darf ich fragen, wer dieser Herr ist?«

»Leutnant Murray, der Bruder jenes Mädchens, welches Hope an ihr Krankenlager ruft.«

»Ah!« rief Ellen überrascht, »Sie hat mir oft von diesem Leutnant Murray erzählt.«

»Das freut mich,« sagte Staunton. »Wie hat sie sich über ihn ausgesprochen?«

»Sie zählt ihn zu ihren Freunden, sie sprach oft davon, wie er als Kadett, als sie noch ein Kind war, sie mit Aufmerksamkeiten überhäuft hat, sie spricht von ihm mit Hochachtung, mit warmen Worten, aber, daß sie ihn liebt, glaube ich nicht.«

»Das ist auch nicht nötig,« rief Staunton erfreut, »das wird schon noch kommen, wenn sie ihn näher kennen lernt, länger in seiner Gesellschaft gewesen ist, und dazu bietet die Reise beider in die Heimat die beste Gelegenheit. Sagen Sie selbst, Miß Petersen, wir Seeleute sind als plumpe, ungeschliffene Gesellen verschrieen, welche mit der Tür immer gleich ins Haus fallen, macht diese von mir eingeleitete Verbindung nicht dem feinsten Diplomaten Ehre?«

Kapitän Staunton strahlte vor Vergnügen, und lachend mußte Ellen ihm beistimmen.

»Leutnant Murray ist ein junger, schöner Mann mit außerordentlichen Vorzügen,« fuhr Staunton fort, »er stammt aus einer der besten Familien, ist ein guter Mensch, er liebt Hope, und warum sollte also diese Ehe nicht die glücklichste auf Erden werden? So lange ich selbst ledig bin, kann ich wohl Hope standesgemäß auftreten lassen, viel lieber wird es ihr aber sein, wenn sie unabhängig an der Seite ihres Mannes steht.«

»Ihr letzter Satz war nicht logisch,« lächelte Ellen. »Sie fügten, so lange Sie selbst ledig wären ... nur fehlte in dem Satze das Aber«.«

»O, Sie wissen? Hope hat Ihnen gewiß davon erzählt,« sagte der Offizier, leicht errötend. »Allerdings, ich weiß, daß Sie verlobt sind. Also,« Ellen stand heiter lachend auf, »unter uns gesagt, etwas Eigennutz Ihrerseits ist auch dabei, wenn Sie Hope bald verheiraten wollen, damit Sie freier werden.«

Sie schnitt dem Offizier das Wort ab und fragte ihn, ob sie zusammen die Faktorei von Mister Selby einmal besichtigen wollten.

»Ich erzähle Ihnen dabei alle unsere Abenteuer, ernste und heitere, bei welch letzteren sich Ihre Schwester, wie gewöhnlich, besonders hervorgetan hat, und zeige Ihnen die Pferde, auf denen wir gejagt und gekämpft haben. Wenn in meiner Erzählung jenes Abenteuer vorkommt, wo ein Franzose einen unfreiwilligen Ritt auf einem Zebra machte, so werde ich Ihnen jenes Zebra zeigen, welches ich selbst zugeritten habe; es steht vorläufig hier, bis ich es nach New-York schicke. Und morgen werde ich Ihnen einmal Miß Juno vorstellen, eine junge Löwin, die ich mit eigenen Händen gefangen habe. Sie befindet sich an Bord der ›Vesta‹ und wird jetzt gerade ihr Vesperbrot einnehmen; in einigen Tagen soll dieses Kind unter großartiger Feierlichkeit getauft werden.«

Als die beiden plaudernd zwischen den Faktoreigebäuden spazierten und den arbeitenden Negern zusahen, kam ihnen ein Herr entgegen.

»Sir Williams,« rief ihm Ellen schon in einiger Entfernung zu, »was fehlt Ihnen denn? So habe ich Sie noch gar nicht gesehen. Wirklich, Sie sehen ja förmlich verstört aus.«

Sir Williams begrüßte den Kapitän als einen alten Bekannten aus Yokohama.

»Verstört sehe ich nicht aus,« sagte er dann, »wohl aber ärgerlich. Mit Hannes, meinem Diener, ist es bald nicht mehr auszuhalten, der Junge ist ein Nagel zu meinem Sarge.«

»Ist dies jener Hannes, von dem Sie vorhin sprachen?« fragte der Kapitän Ellen.

»Ebenderselbe,« antwortete diese. »Ja, denken Sie nur,« fuhr Charles fort, »seit einiger Zeit ist der Kerl völlig verrückt, und seit wir in Mgwana sind, ist es mit ihm gar nicht mehr auszuhalten. Frage ich ihn, so gibt er verkehrte Antworten, befehle ich ihm etwas, so sagt er einfach: Machen Sie es selber, und dabei pfeift er Tag und Nacht einen Parademarsch nach dem anderen, als hätte er Mehlwürmer verschluckt; der Kopf brummt mir, so hat er die ganze Nacht gepfiffen. Gestern nachmittag gebe ich ihm meine Stiefeln zum Wichsen, und wie ich nach seiner Kammer gehe, weil er nicht wiederkommt, da steht der Bengel da und treibt mit vier Stiefeln nach den Klängen der Marseillaise ein Kugelspiel.«

»Was hat er denn nun schon wieder gemacht, daß Sie so aufgeregt sind?« fragte Ellen.

»Gemacht hat er diesmal nichts, aber fort ist er seit heute morgen, rein verschwunden, und seine Kammer hat er abgeschlossen. Der Junge hat vor einigen Tagen ein paar tausend Mark Bergungsgeld bekommen und nun ist er ganz aus dem Häuschen. Er hat hier auf der Faktorei einen alten Freund getroffen, einen früheren Seemann, und ich glaube fast, diesen hat er aufgesucht, um mit ihm das Geld durchzubringen. Ich wollte einmal fragen, ob dieser Freund jetzt hier ist, wenn nicht, so ist Hannes wirklich mit ihm in irgend eine Spelunke gegangen.«

Unter Bergungsgeld versteht der Seemann das Geld, welches ihm ausgezahlt wird, wenn er durch seine Bemühungen ein Wrack vor dein Sinken bewahrt und in einen Hafen gebracht hat. Der Eigentümer der Ladung ist gezwungen, dem rettenden Schiffe gewisse Prozente des Wertes auszuzahlen, und diese werden unter die Mannschaft verteilt. Die Auszahlung des Bergungsgeldes geschieht gewöhnlich nach sehr langer Zeit, oft nach Jahren, weil das Seemannsgericht die Entstehung des Unglücks und so weiter erst genau untersucht.

»Aber ich würde mir von meinem Diener so etwas doch nicht gefallen lassen,« sagte Kapitän Staunton, als Sir Williams seine Jeremiade beendet hatte.

»Jawohl, gefallen lassen. Zwischen Diener und Bedienten ist ein Unterschied, den ich mir früher nicht habe träumen lassen. Hannes ist nur ein Bedienter, das heißt, er läßt sich von seinem Herrn bedienen. Doch adieu, Miß Petersen, ich muß eilen, sonst werden die paar tausend Mark noch alle. Adieu, Kapitän, sehe Sie hoffentlich heute noch wieder, bitte, besuchen Sie uns auf dem ›Amor‹.«

Sir Williams ging eilig weg.

Nach einer Stunde begaben sich Miß Petersen und der Kapitän nach dem Strande zurück. Da kamen auf einem Seitenwege einige Damen auf sie zu.

»Dort kommen jene Damen, welche den Ausflug unternommen haben,« sagte Ellen schnell. »Wollen Sie, daß Sie jetzt schon von Hope gesehen werden? Sonst müssen Sie schnell hier einbiegen.«

»Warum denn nicht?« entgegnete der Kapitän. »So können wir ja gleich mit ihr sprechen,«

»Aber Hope ist ja nicht unter ihnen!« rief Ellen bestürzt. »Was soll das bedeuten?«

Nachdem die flüchtige Begrüßung stattgefunden, fragte Ellen, wo Hope geblieben wäre.

»Hope?« fragte ein Mädchen erstaunt. »Ja, die ist doch gar nicht mitgekommen.«

»Natürlich, sie ist ja mit Ihnen nach dem Landungsplatz gegangen, wo das Schiff lag, mit dem Sie nach jenem Hafen fahren wollten.«

»Allerdings, aber ehe das Schiff abging, erklärte sie, aus irgend einem Grunde nicht mitfahren, sondern nach der ›Vesta‹ zurückkehren zu wollen. Ist sie nicht dort?«

Bestürzt schauten sich Ellen und der Kapitän an, und auch die anderen Damen wurden unruhig, als sie hörten, daß Hope gar nicht an Bord zurückgekehrt sei.

Noch standen sie alle sprachlos da, ohne einen Entschluß fassen zu können, als eilig eine Vestalin daherkam. Sie trug einen Brief in der Hand.

»Die Post ist angekommen,« rief sie schon von weitem, »und dazwischen ist ein Brief, welcher Miß Stauntons Handschrift trägt. Ich fand dies so merkwürdig, daß ich Ihnen denselben sofort bringen wollte, Miß Petersen, aber ich mußte Sie sehr lange suchen.«

Hastig erbrach Ellen das an sie adressierte Schreiben und überflog es.

Beim Lesen desselben wurde sie erst purpurrot, dann erbleichte sie, und schließlich begannen ihre Hände so zu zittern, daß sie den Brief kaum halten konnte.

»Lesen Sie,« sagte sie mit bebender Stimme zu Kapitän Staunton, »und treffen Sie Ihre Maßregeln! Ich bin für nichts verantwortlich zu machen.«

Dann wandte sich die leicht erregbare Ellen schnell ab, um ihre hervorstürzenden Tränen zu verbergen.

In diesem Augenblicke kam auch Sir Williams an.

»Ich weiß alles,« sagte er, »Hannes hat auch mir geschrieben und das Geld beigelegt, welches er sich bei mir nicht abverdient hat. Ich gebe dem Jungen meinen Segen, er ist rechtschaffen von mir gegangen.«

Kapitän Staunton wandte sich mit blassem Antlitz an Sir Williams.

»Hannes, Ihr Diener, dem Sie vorhin ein so schlechtes Zeugnis in Betreff seines Charakters ausgestellt haben?« sagte er vorwurfsvoll.

Sir Williams wurde plötzlich sehr ernst.

»Wenn ich vorhin ungünstig über ihn gesprochen habe,« sagte er, »so geschah dies mehr aus Scherz. Es tut mir leid, wenn Sie die Ironie nicht verstanden haben. In meinen Augen ist Hannes ein Mann, in den ich in jeder Weise Vertrauen setzte.« — — — — — — — — —

Der deutsche Paketdampfer »Urania« teilte mit scharfem Bug die Wellen. Schon hatte er das schmutzigblaue Grundwasser hinter sich und fuhr über azurne Tiefen; der Kapitän signalisierte Volldampf. Eine dicke Rauchwolke wirbelte aus dem Schlot, und mit ganzer Fahrt strebte die »Urania« dem Westen zu. In vier Wochen konnte sie Hamburg, ihren Heimatshafen, erreicht haben.

Am Heck des Schiffes standen zwei Passagiere eng umschlungen und schauten nach der sich immer mehr entfernenden Küste.

Es waren ein Herr und eine Dame, beide noch sehr jung. Ihre Gesichter strotzten vor Gesundheit, und ihre Augen strahlten voller Hoffnung. Der Mann war sehr einfach in einen blauen Anzug gekleidet, die schlanke Gestalt der Dame wurde von einem grauen, schmucklosen Reisekostüm umschlossen.

»Ich weiß nicht. Mir wird doch manchmal recht wehmütig,« sagte das junge Mädchen, »wenn ich an meine Freundinnen denke. Ist es denn recht, daß ich so ohne Abschied von ihnen gegangen bin, vielleicht für immer? Ich habe Freud und Leid mit ihnen geteilt, und nun ein kurzer Brief, ein Gruß an alle, eine Entschuldigung, das ist alles.«

»Es ging nicht anders,« sagte der Mann. »Glaube mir, sie hätten dich nicht gehen lassen, du wärst auf tausend und abertausend Schwierigkeiten gestoßen. Nein, so war es das beste. Das einzige, was mich besorgt macht, ist, was dein Bruder sagen wird.«

»O, der ist gut,« erwiderte das Mädchen rasch,«er wird ja erst erstaunt sein, aber schließlich liebt er mich und hat nur mein Glück im Auge. Werden wir aber auch nicht Unannehmlichkeiten haben, wenn wir nach Deutschland kommen? Dort soll alles so genau genommen werden, und wir sind beide noch so jung,« fügte sie etwas ängstlich hinzu.

»Ich bin mündig, und du bist eine Amerikanerin, so steht unserer Verbindung nichts im Wege. Ach, das wird herrlich werden,« fuhr der junge Mann mit strahlender Miene fort, »wenn wir erst zusammenleben!«

»Wirst du die Stelle gleich bekommen?«

»Ich hoffe bestimmt so. Mein Freund auf dem Lotsenamt hat mir fest versichert, daß er den Platz für mich offen hält, bis ich eintreffe.«

»Dann wird es herrlich!« rief das junge Mädchen fröhlich. »O, wie ich mich auf dieses Leben freue! Wenn wir erst unser kleines Haus haben und ich wirtschafte darin herum und warte auf dich, und du kommst dann abends nach Hause, das Essen steht auf dem Tisch, du erzählst mir, was du für Schiffe hereinbugsiert hast, von den fremden Passagieren und ob du nicht einmal bekannte Gesichter darunter gesehen hast. Vielleicht kommandierst du als Lotse gar einmal den ›Amor‹ und die ›Vesta‹. Und weißt du, wenn es draußen stürmt und schneit, dann wärme ich dir deine Pantoffeln am Ofen und stopfe dir schon vorher die Pfeife. Aber das sage ich dir, den Schnee mußt du schon draußen abschütteln, nicht etwa in der Stube.«

Der junge Mann lachte.

»Du kannst die Zukunft schön ausmalen,« sagte er dann ernst, »aber sag', wenn nun alles nicht so kommt? Ein halbes Jahr können wir uns wohl über Wasser halten, aber was dann? Du weißt, ich nehme nichts von dir an.«

»Wenn du nur nicht so stolz sein wolltest,« sagte das Mädchen und strich den jungen Mann zärtlich über das Gesicht, »dann könntest du so leicht dein Steuermannsexamen ablegen. So müssen wir erst furchtbar lange sparen, bis wir das Geld zusammen haben. Wenn du auch nur ein einfacher Matrose oder ein Arbeiter bleibst, das schadet nichts, darum bist du mir ebenso lieb, wir wollen uns schon mit ganz Wenigem gemütlich einrichten, und haben wir einmal gar nichts, nun, dann teilen wir das eben auch zusammen,«

»Wirst du nicht recht oft an deine früheren Verhältnisse zurückdenken, vielleicht mit Schwermut? Es könnten doch solche Zeiten kommen!«

Da schlang das Mädchen ihren Arm um seinen Hals und legte ihren Mund an sein Ohr. »Weißt du noch, wie das Lied heißt, welches ich dir einst in Batavia vorsang?«

Und leise sang sie:

»Gern geb' ich Glanz und Reichtum hin Für dich, für deine Liebe!«


31. In der Abendstunde.

England ist das Land der Frömmelei. In keinem Teile Europas steht dieselbe in so schöner Blüte wie dort. Aber die von England nach Amerika getragene Bigotterie hat dort noch seltsamere Auswüchse gezeitigt. Amerika hat das Mutterland darin noch überflügelt, und wer Neigung oder Bedürfnis fühlt, auf offener Straße vor Tausenden von Zuhörern, natürlich Arbeitslosen oder Faulen, zu predigen, zu gewissen Zeiten mitten auf dem Trottoir auf die Kniee zu sinken, um zu beten, sich vor die Theater zu stellen und die Besucher derselben vor den Fallstricken dieser Welt zu warnen und so weiter, der gehe nach den Vereinigten Staaten, dort wird ihm dies alles gestattet, er findet Gleichgesinnte, er findet auch Bewunderer.

Ganz besonders lieben es die amerikanischen Damen, sich mit ihrer frommen Andacht zu brüsten, oder, wie sie sogar sagen, mit ihrer Heiligkeit, und wie immer und in jedem Lande die größten Gegensätze herrschen, so findet man wiederum unter den amerikanischen Damen gerade die ärgsten Freidenker, die schlimmsten Emanzipierten und die am freiesten Sprechenden und Handelnden.

Zu der ersteren Kategorie gehörten auch die Mitglieder eines sogenannten Andachtsklubs, das heißt eines Vereines junger Damen, welche an gewissen Tagen zusammenkamen, beteten, sangen, aus der Bibel vorlasen — und hinterher die Tagesereignisse durchklatschten, wobei eine große Menge Tee konsumiert wurde, damit der Geist die nötige Spannkraft erhielt, um aus der kleinsten Mücke einen Elefanten machen zu können, und damit das Mundwerk nicht erschlaffe.

Die Mitglieder des Andachtsklubs setzten sich aus Töchtern der höheren Kreise und der Geldaristokratie von New-York zusammen. Bis vor einem Jahre hatte sich die Unterhaltung hauptsächlich um Stadtneuigkeiten, ab und zu auch um die Besatzung des ›Amor‹ und der ›Vesta‹ gedreht. Die in den Zeitungen über diese Schiffe erscheinenden Artikel wurden besprochen und den Vestalinnen etwas am Zeuge zu sticken versucht, bis einst in diesen Klub ein neues Mitglied aufgenommen wurde, welches nach der Andachtsstunde eine ganz andere Unterhaltung aufbrachte, die bald in eine wahre Manie, in eine Sucht ausartete.

Dieses neue Mitglied war Miß Emmy Waible, jene Freundin Hopes, welche dieser nach Australien einen Brief schrieb, der von Hope beantwortet wurde, und später fand nochmals zwischen beiden ein Briefwechsel statt, ohne daß dessen besonders Erwähnung getan worden wäre.

Als einst wieder das Gespräch auf die Vestalinnen gekommen und deren Beziehungen zu den englischen Herren durchgehechelt waren, sprach Miß Emmy davon, daß sie selbst im Besitze einiger Briefe einer Vestalin sei.

Allgemeine Aufregung entstand,

Emmy mußte die Schriftstücke mitbringen, sie wurden von vorn nach hinten, von hinten nach vorn gelesen, buchstabiert und studiert, und da sie aus der Feder der zur Übertreibung neigenden Hope stammten, so kann man leicht begreifen, daß die Andachtsstunde um zwei Stunden verlängert und daß dreimal soviel Tee, wie gewöhnlich, getrunken wurde.

Plötzlich erinnerten sich alle vierzehn Mitglieder des Andachtsklubs, daß sie doch auch diese oder jene Dame der ›Vesta‹ kannten, einige sogar gleich zwei und drei, und ebensogut wie Emmy mit Hope korrespondierte, konnten sie doch auch einen Briefwechsel mit einer Vestalin beginnen.

Welch prächtigen Stoff gab dies zur Unterhaltung nach der Andachtsstunde!

Am nächsten Tage mußte der Postdampfer vierzehn Briefe expedieren, welche alle die Adresse ›Vesta‹ »Amerikanisches Konsulat«, trugen.

Nun ist es natürlich, daß, wenn jemand sonst keine Verwandten oder Bekannten hat, mit denen er sich schreibt, er gern die Gelegenheit ergreift, einen Brief zu beantworten, denn jeder spricht sich gern einmal einem Bekannten gegenüber aus, den er kennt und nicht jeden Tag sieht.

Kurz und gut, nach einer schönen Andachtsstunde griff eine Dame in ihr Nähkörbchen und sagte so nebenhin:

»Ich habe jüngst Miß Nikkerson geschrieben; ich hatte gerade einmal Zeit, und sie hat mir auch sofort geantwortet. Ein sehr hübscher Brief, aber, aber ...

»Wie wunderbar,« sagte eine Zweite, »auch ich bekam neulich den Einfall, an Miß Petersen zu schreiben! Sie wissen, ich lernte sie auf dem Eise kennen.«

»Und da sagt die Welt, es gäbe keine Wunder? mehr,« ließ sich eine Dritte vernehme»und brachte aus ihrem Häkeltäschchen ebenfalls einen Brief zum Vorschein,« »ist das nicht ein sicherer Beweis? Vor einigen Wochen ...«!

Und so ging es in verschiedenen Variationen weiter bis endlich vierzehn Briefe aus Taschen, Beuteln, Körbchen und Strickstrümpfen erschienen waren. Alle waren sie von der ›Vesta‹ und alle waren sie Antworten auf zufällig in einem freien Augenblick geschriebene Briefe.

Das Vorlesen der Schreiben begann. Mit hoher, tiefer, heller, rauher oder knarrender Stimme wurde ihr Inhalt von den Empfängerinnen zum besten gegeben, jedem einzelnen schloß sich eine kurze Kritik an, und nach dem Verlesen sämtlicher Briefe erfolgte eine lange Debatte Aus diesen Briefen konnte man das Leben der Vestalinnen haarklein erkennen, es lag wie ein offenes Buch vor den Augen der scharfsinnigen Mädchen, und leider mußten alle gestehen, daß dieses Leben als ein sehr gottloses zu bezeichnen war.

In den nächsten Andachtsstunden sollte der Weltumseglerinnen im Gebet gedacht werden, damit ihre unsterblichen Seelen nicht verloren gingen, wenn sie sich mit schwarzen Heiden und gottlosem Gesindel abgäben. Heute war es schon zu spät. Die Equipagen warteten schon vier geschlagene Stunden auf das Erscheinen der jungen Damen, und während diese oben die Abschiedshymne sangen, fluchten unten die Kutscher.

Diese segensreichen Andachtsstunden mit solchen Effekten wiederholten sich noch öfter, fast jeden Monat einmal. Immer höher wurde der Stapel von Briefen, immer mehr beteten die Mädchen um Errettung der Seelen der armen Verirrten, und immer grimmiger wurde das Fluchen der wartenden Kutscher.

Trotz der Verschwiegenheit, welche jede dieser Damen beteuerte, dauerte es nicht lange, so wurde in weiten Kreisen von New-York bekannt, mit wem die frommen Mädchen in so eifrigem Briefwechsel standen. Manche neugierige Frage ward hörbar, aber sie wurde immer energisch abgewiesen, weil jedes Mädchen verschwiegen war wie das Grab — mit Ausnahmen. Ja, ein unverschämter Reporter des »New-York-Herald« hatte einmal die Frechheit, eine Dame zu fragen, ob ihm die Briefe der Vestalinnen nicht für einige Tage geliehen werden könnten. Seine Zeitung würde zehntausend Dollar in die Armenkasse zahlen. Nun, dieser Mensch gehörte eben zu jener Klasse von Menschen, welche den Hyänen und Aasgeiern gleichen. Je mehr etwas anrüchig ist, desto mehr werden sie davon angezogen.

Dieser Briefwechsel entwickelte sich unter den Damen zu einer Art von Sport, jede suchte die andere durch die Anzahl von Briefen, die sie von der ›Vesta‹ empfangen, zu überflügeln, und wer die meisten aufzuweisen hatte, war stolz und wurde von den anderen beneidet. In der Andachtsstunde wurde nicht mehr so viel gesungen wie früher. Man sah oft nach der Uhr, und kaum war das »Amen« gesprochen, so packte man die alten, die neueren und neuesten Briefe aus, die letzteren wurden unter Ausrufen des Entsetzens oder der Entrüstung vorgelesen — das Wort »Shocking« ward unzählige Male hörbar — dann wurden die neueren Briefe mit den älteren verglichen, und stets fanden die frommen Mädchen, daß die armen Seelen der Vestalinnen sich mit rasender Schnelligkeit dem Orte näherten, wo Heulen und Zähneklappern ist. Wie konnte dies auch anders sein, wenn diese armen, betörten Mädchen — der Ausdruck frivol wurde umschrieben — sich der Gefahr aussetzten, mit Männern tagelang durch Wildnisse zu marschieren, in Zelten dicht nebeneinander zu schlafen, ja, sogar in einem einsamen Hause, mitten in der Wüste, zu. tanzen — »Shocking.«

Gott sei Dank, daß ein aus reinem Mädchenherzen aufsteigendes Gebet erhört wird, vielleicht, daß die Vestalinnen noch vor dem ewigen Verderben gerettet werden konnten. —

Der Andachtsklub hatte Versammlung bei Miß Emmy Waible, welche, obgleich noch die jüngste, bereits vor langer Zeit schon mit frommer Hand die Oberherrschaft über den Klub an sich gerissen hatte. Sie konnte beim Vorlesen aus der Bibel durch den Tonfall der Stimme, durch ein eigentümliches Vibrieren derselben und durch feuchten Augenschimmer bei rührenden Stellen die Zuhörer am besten zum Weinen bringen. Keine andere wußte so, wie sie, die dunkelsten Bibelstellen zu erklären, und in ihren Gebeten wechselten blumenreiche Ausschmückungen mit poetischen Wendungen — die Herzen der Mitbetenden wurden direkt bis in den Himmel erhoben.

Miß Emmy Waible, eine hübsche Blondine mit träumerischen Augen, ließ unter ihrer Aufsicht von zwei Stubenmädchen den Teetisch ordnen und deutete dabei einer der Zofen, einer neuengagierten, oftmals mit sanften Worten an, daß sie besser in einen Gänsestall passe als in ein Teezimmer.


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Eine Equipage kam nach der anderen angerollt, ihre schönen Fahrgäste schälten sich im Vorzimmer aus Pelzen und warmen Umhüllungen — es war Winter — bis sich ihre erst unförmlichen Gestalten wieder in schlanke verwandelt hatten; die Dienstmädchen zogen die Ankommenden die Überschuhe von den Stiefelchen, und dann begaben sich alle nach dem Teezimmer, wo sie von Miß Emmy mit sanftem Lächeln und noch sanfteren, Augenaufschlag begrüßt wurden.

Als zwölf Gäste erschienen waren, hielt Emmy die Zeit für gekommen, die Mitglieder des Andachtsklubs mit einer entsetzlichen Tatsache bekannt zu machen.

»Miß Cook und Miß Vincent haben für heute abgesagt,« teilte sie mit. »Erstere hat sich einen starken Fieberanfall zugezogen — wir wollen nachher im Gebet der Schwester gedenken, und letztere macht einen Besuch im Hospital.«

Die Gefahr war angedeutet; ein vielstimmiger Schreckensschrei verriet, wie scharfsinnig dieselbe überall sofort erkannt worden war.

»Gott sei uns gnädig, so sind wir ja zu dreizehn am Tisch,« ertönte es von allen Seiten.

»Ich habe Vorsichtsmaßregeln getroffen,« lächelte Emmy, »Sie sehen, es sind vierzehn Tassen vorhanden.«

»Wer ist denn die vierzehnte Besucherin?«

»Mein neues Stubenmädchen Hedwig,« erklärte Emmy. »Sie ist noch ein sehr junges Ding, erst vierzehn Jahre alt. Ich habe sie mir vom Lande kommen lassen und hoffe, aus ihr noch eine wahrhafte Christin zu machen. Denken Sie sich nur, neulich hat mir Hedwig gestanden, daß sie das »neue Testament« noch gar nicht gelesen hat, sondern nur einen Auszug davon, und die Offenbarung Johannis versteht sie gar nicht. Sie lachte immer, als ich von dem siebenköpfigen Tiere vorlas und sagte, das sei wohl eine Mißgeburt.«

Zwölf Rufe des Entsetzens ertönten.

»Ich erteile ihr täglich eine Bibelstunde,« fuhr Emmy fort, »und suche sie durch Sanftmut und gutes Beispiel zu einer tugendhaften Christin zu erziehen. Ich glaube, ihre Bekehrung ist nicht mehr fern. So wird es ihr nur von Vorteil sein, wenn sie an unserem Teetisch teilnimmt. Manches gute Samenkörnlein wird in ihr Herz fallen und dort Wurzel schlagen.«

Die Damen bewunderten den Bekehrungseifer ihrer lieben Schwester.

»Hedwig ist ein heidnischer Name,« meinte eine, »er erinnert mich immer an Götteropfer.«

»Ich werde sie umtaufen, sobald sie sich dem Heiland ergibt,« entgegnete Emmy.

»Aber, liebe Emmy,« ergriff ein anderes Mädchen das Wort, »die Gegenwart Hedwigs am Teetisch ist ja ganz vortrefflich, doch wie soll das nachher in der Andachtsstunde werden? Wir können doch unmöglich in unserem Kreise eine unbekehrte Person dulden, unser Gebet würde ja an Kraft verlieren. Könnten wir da vielleicht einen — —«

Emmy unterbrach die Sprecherin

»Auch dafür ist gesorgt. Heute wird ein fremder Gast in unserer Mitte sein.«

»Ein Gast? Wer ist die Dame? Kennen wir sie?« ertönte es überall.

»Es ist keine Dame.«

»Keine Dame? Ein Kind also! O, wie herrlich, ein unschuldiges, frommes Kind.«

»Es ist auch kein Kind.«

»Auch kein Kind? Um Gottes willen, es ist doch nicht etwa ein Mann?«

Es lag ein furchtbares Entsetzen in diesem Ausruf.

»Ich bitte Sie, meine Schwestern, nehmen Sie erst Platz am Tische und stärken Sie sich durch eine Tasse Tee zu unserem kommenden Werke,« sagte Emmy und rückte die Stühle. »Dabei werde ich Ihnen erklären, wer dieser Mann ist, der nicht nur unserer Versammlung beiwohnen, sondern auch vorlesen und vorbeten wird, denn er ist kraft seines Glaubens nicht nur befähigt dazu, sondern ich trete ihm gern die Ehre ab, ich bin nicht würdig, daß ich ihm seine Schuhriemen löse.« Nach dieser demütigen Rede nahmen die Damen Platz, der kommenden Erklärung harrend. Hedwig wurde hereingerufen und mußte sich zwischen Emmy und der Frömmsten der Frommen niedersetzen. Jetzt fand erst eine Stärkung mit Tee, dann die Andachtsstunde und schließlich das eigentliche Teegelage statt, wobei die Hände strickten, stickten oder häkelten, meist warme Sachen für Negerkinder, und wobei sich der Mund rhythmisch zum Klappern der Strickenden bewegte.

Hedwig, das unbekehrte Mädchen mit dem heidnischen Namen, ein in der Entwicklung begriffener Backfisch, zeigte einen wahrhaft unchristlichen Heißhunger. Die eine ihrer roten Hände versenkte sich gewöhnlich in die Zuckerdose, die andere lag auf dem Kuchenteller.

»Nun erklären Sie aber, liebe Emmy, wer jener Mann ist, der heute unserer Andacht beiwohnen wird, und von dem Sie mit solcher Ehrfurcht sprechen,« begann eine Dame die Unterhaltung, mit dem Löffel in der Tasse rührend.

»Es ist doch nicht etwa so ein bezahlter Prediger?« warf eine andere Dame dazwischen. »Und wenn es ein Erzbischof wäre, ich mag mit solchen Leuten nichts zu tun haben. Schon von weitem riecht man denen die Scheinheiligkeit an. »Umsonst habt ihr es empfangen, umsonst sollt ihr es wiedergeben« sagt die Bibel, und wer dies nicht tut, steht tief in meiner Achtung.«

»Nein, nein,« wehrte Emmy ab, »jemand anderes ist es. Sie alle werden sein Erscheinen mit großer Freude begrüßen. Kennen Sie Mister Chalmers?«

»Wie, Mister Chalmers, George Chalmers, der Straßenprediger? Der nur für andere lebt, der sein Vermögen den Armen geschenkt hat? Der dem Bischof auf offener Straße die Mütze vom Kopfe geschlagen hat? Ach, das ist ja reizend, das ist entzückend!«

So tönte es durcheinander. Eine allgemeine Begeisterung ergriff die Damen. Sie jauchzten auf, die Teekanne begann plötzlich zu zischen, die Teelöffel klapperten, und der hohe Kuchenaufbau stürzte mit einem Male in sich zusammen — weil die unbekehrte Hedwig das größte Stück unten entdeckt und es rücksichtslos herausgezogen hatte.

Emmy hatte in dem Briefe an Hope Chalmers erwähnt. Sie nannte ihn damals das Ehrenmitglied zahlreicher pietistischer Gesellschaften, einen von Gott begnadeten Ausleger der heiligen Schrift, dessen Geist, losgelöst von der Erde, sich nur mit dem Himmel beschäftige und so weiter, während Hope ihm, das heißt, nur in Gedanken, den wenig ästhetischen Namen »altes Teegesicht« beigelegt hatte.

Nun, dieser Mann war seitdem noch bedeutend in der Gnade gewachsen.

»Wann kommt er denn?« fragte ein Mädchen, nachdem die Begeisterung ein wenig nachgelassen.

»Pünktlich um vier Uhr,« entgegnete Emmy, »wenn unsere Andachtsstunde beginnt. Er hat es mir fest zugesagt.«

»Kennen Sie ihn denn persönlich? Davon haben Sie uns ja noch gar nichts gesagt.«

»Gewiß kenne ich ihn schon lange,« entgegnete Emmy mit vor Begeisterung glühenden Wangen. »Er verkehrte früher, als er noch in besseren Verhältnissen lebte, viel auf den Besitzungen meines Vaters, dort lernte ich ihn kennen. Er war schon damals ein guter Bibelvorleser. Meine Mama lud ihn oft zu sich ein, wenn sie Freundinnen bei sich hatte, und sie einer Erbauung bedürftig waren. Seit dem Verluste seines Vermögens hat er sich vollkommen Gott hingegeben.«

»Er hat sein Vermögen nicht verloren,« versicherte eine Dame eifrig. »Er ist gegen Arme so furchtbar freigebig gewesen, ich weiß es ganz genau, daß er sich bankerott gemacht hat. Stehen doch im Hospital allein drei Freibetten, die seinen Namen tragen.«

»Aber er bezahlt sie nicht mehr, wie mir der Arzt jüngst sagte,« warf eine Dame ein, welcher von Chalmers einmal auf der Straße das Beten verweigert worden war, weil es schon zu spät gewesen.

»Das macht nichts, der Wille war da, und das ist die Hauptsache.«

»Aber er hatte doch ein ganz beträchtliches Vermögen, und da muß er den Armen sehr viel geschenkt haben. Es ist ja wahr, er wird oft von den Armenvätern erwähnt, aber immerhin, so eine Million Dollar verschwindet doch nicht spurlos.«

»Ich weiß, wohin sein Vermögen gekommen ist,« sagte ein Mädchen geheimnisvoll. »Er hat einen Bruder, der in Europa lebt, sein Geld verloren und eine große Familie zu ernähren hat. Dem hat der edle Chalmers sein Vermögen vermacht.«

»Wissen Sie das bestimmt?«

»Ganz, ganz bestimmt. Sein eigener Rechtsanwalt hat es mir erzählt.«

»Dann bitte ich um Entschuldigung,« sagte die Dame, welche auf Chalmers nicht gut zu sprechen war.

»Ach, er ist wirklich ein entzückender Mensch,« seufzte eine schwärmerische Schwester. »Mir geht es durch und durch, wenn er auf der Straße steht, umgeben von einer nach Hunderten zählenden Menge, die nach Gottes Wort lechzt, wie der Hirsch nach frischem Wasser; wenn er so die Hände emporhebt, die Augen zum Himmel aufschlägt und mit mächtigen Worten den Ungläubigen, die sich nicht im Blute des Lammes gewaschen haben, die Folgen ihrer Sünden vorhält, die Qualen der Hölle herzählt, wie sie mit feurigen Zangen gezwickt und mit flüssigem Schwefel übergossen werden. Ich denke manchmal, der Himmel muß sich öffnen und Schwefel herabregnen lassen. Neulich ertappte ich mich dabei, wie ich bei ganz heiterem Himmel den Regenschirm aufspannte, so war ich hingerissen worden.«

»Ja, und wenn er dann wieder die Freuden des Paradieses beschreibt,« warf eine andere ein, »wie wir Schafe auf den himmlischen Fluren werden und die Böcke uns hilfesuchend anblöken. Ich weine dann immer vor Entzücken.«

»Er ist wirklich ein von Gott begnadeter Mensch,« meinte eine dritte.

»Ein mächtiges Werkzeug in der Hand Gottes,« rief eine vierte.

»Wie haben Sie es eigentlich gemacht, liebe Emmy, daß Mister Chalmers unsere Andachtsstunde besuchen will?« wandte sich eine der Damen an Emmy. »Seine Zeit ist doch sonst sehr in Anspruch genommen.«

»Ich traf ihn neulich auf der Straße,« antwortete Emmy. »Wir begrüßten uns als Jugendfreunde, und das Gespräch kam auf Hope, welche wir beide kannten. Er fragte mich, ob ich mich mit ihr schriebe, und als ich dies bejaht hatte, kam ich darauf zu sprechen, daß unser Andachtsklub überhaupt viel mit den Vestalinnen korrespondiere. Er war Feuer und Flamme, als er von unseren Zusammenkünften erfuhr. Er forschte über alles nach, wie wir die Stunde abhielten, welche Lieder wir sängen, und so bat ich ihn, ob er nicht einmal einer solchen mit beiwohnen wolle. Mit Freuden sagte er sofort zu. Aber auch für den Andachtsklub interessierte er sich. Er fragte, ob wir viele Krankenbesuche abstatteten, und riet mir hauptsächlich, durch Briefe auf die Seele Hopes zu wirken. Ferner, als ich ihm die Damen der ›Vesta‹ nannte, mit denen Sie korrespondieren, sagte er, er würde selbst —«

»Mister Chalmers wartet im Vorzimmer,« unterbrach die eintretende Kammerzofe die Sprecherin.

Die Teetassen wurden klirrend hingesetzt, Stühle genickt, und alles begab sich nach dem Zimmer, wo die Andachtsstunde abgehalten werden sollte. Nur Hedwig blieb zurück, langte sich erst noch von jenem Teller zu, welcher ihr wegen des besonders teuren und seinen Gebäcks nicht gereicht worden war, und entfernte sich dann durch die andere Tür nach ihrem Schlafzimmer, damit die Samenkörnlein, welche während dieser Stunde in ihr Herz gefallen waren, in Ruhe Wurzeln schlagen konnten.

In dem dunkel gehaltenen Vorzimmer mit brauner Tapete und Vorhängen wurde Mister George Chalmers von den versammelten Damen empfangen und nach flüchtiger Vorstellung durch Händeschütteln begrüßt.

Mister Chalmers war eine hohe, magere Gestalt mit bleichem, eingefallenen und bartlosen Gesicht, weißen Händen, schlanken Fingern und kurzgeschorenem Haar. Er mochte erst fünfundzwanzig Jahre zählen, doch machte sein Gesicht, wenn er die Lider über die Augen fallen ließ, was er fortwährend tat, den Eindruck eines Totenschädels. Er trug einen schwarzen Anzug und eine weiße Halsbinde und machte somit einen sehr salbungsvollen Eindruck, wie er sich überhaupt sehr bedachtsam und wohlüberlegt benahm.

Er war keine unangenehme Erscheinung, wenn sein bleiches Gesicht nur nicht einen so müden Ausdruck gehabt hätte. Für dieses Aussehen hatte man eigens eine Erklärung gefunden. Die für ihn schwärmenden Damen sagten, er habe sich »überbetet«.

Ohne weitere Umstände wurde die Andacht begonnen. Nach einigem Nötigen übernahm Mister Chalmers das Amt Emmys. Er sprach das Eröffnungsgebet, schlug das zu singende Lied vor, las den Text und erklärte ihn.

Wirklich, Emmy war gegen ihn ein Schulkind, wußte sie ihre Zuhörerinnen nur zu Tränen zu rühren so konnte Mister Chalmers nach Belieben unerschöpfliche Tränenströme hervorzaubern, sie wieder eintrocknen lassen und die Augen der Damen vor Freude über die Verheißungen aufleuchten lassen.

»Was für ein Mann!« flüsterte Emmy ihrer Nachbarin zu. »Und der hat als Kind alles gestohlen, was er liegen sah, erzählte mir meine Mama. Was vermag die Bekehrung alles aus dem Menschen zu machen!«

Das Schlußgebet war gesprochen, die Damen empfingen den Segen, die ausgespreizten Krallenfinger schwebten segnend über den Häuptern, dann erhob man sich und begab sich nach dem Teetisch zurück, an welchem Hedwig diesmal nicht zu erscheinen brauchte. Die Zahl vierzehn war voll.

Mister Chalmers war nicht nur ein frommer Mann, er war auch ein gewandter Weltmann; er wußte die Unterhaltung geschickt zu führen, ohne dadurch den Heiligenschein, der um sein Haupt schwebte, zu verletzen. So zum Beispiel verflocht er, als er aufgefordert wurde, von seinen Missionsarbeiten auf der Straße zu erzählen, diese Schilderungen immer mit interessanten Anekdoten über seine frommen Zuhörer, die Straßenpassanten, ohne jedoch im geringsten anstößig zu werden. Im Gegenteil, alles sah er nur von dem Gesichtspunkt aus, daß der unbekehrte Mensch schon hier auf der Erde verloren, der bekehrte Mensch das Kind Gottes sei, dem alles zum besten diene.

Hierauf schilderte er, wie er jüngst einen Kampf mit dem leibhaftigen Gottseibeiuns, der ihn in seiner Schlafstube besucht, siegreich ausgefochten habe, wie der böse Geist in Gestalt eines schwarzen Katers mit glühenden Augen zum Fenster hinausgeflüchtet sei, und lenkte dann das Gespräch auf den Briefwechsel der frommen Schwestern mit den Vestalinnen.

Hier kam er auf eine unerschöpfliche Quelle der Unterhaltung.

Alle Briefe wurden ihm vorgelesen — die Damen trugen stets den ganzen Vorrat bei sich. — Chalmers teilte heilsame Lehren daran, ließ sich die Schreiben zeigen, gab sie zurück, empfing neue, forderte die alten nochmals, um zu beweisen, daß die Vestalinnen von Woche zu Woche sich immer mehr den Pforten der Hölle näherten; er gab weise Ratschläge, wie man ihnen den Weg des Heils zeigen könne, und schließlich waren sich alle Damen darüber einig, daß die ›Vesta‹ unbedingt nächstens mit ihrer gottlosen Besatzung ins Meer versinken müsse, und mit ihr zugleich der ›Amor‹, damit die Herren und die Mädchen bis zum jüngsten Gericht in ihrer verwerflichen Gemeinschaft leben müßten, wenn nicht beide Schiffe mit vollen Segeln direkt in die Hölle führen.

Stunde auf Stunde verstrich, die Nacht kam, die Kutscher knallten unten ungeduldig mit der Peitsche, und noch immer erklärte Mister Chalmers aus den ihm gereichten Briefen die Sündhaftigkeit der Vestalinnen sowie der englischen Herren und prophezeite ihren baldigen Untergang.

Schließlich aber erklärte der heilige Mann, er müsse gehen, denn er habe noch in einer Straße, wo der Teufel ganz besonders zu hausen scheine, Traktätchen zu verteilen. Das ließ sich natürlich nicht verschieben. Die Damen verabschiedeten sich von Mister Chalmers, ihn bittend, recht oft, womöglich immer, der Andachtsstunde beizuwohnen, und fuhren dann in ihren Equipagen davon.»

Mister Chalmers nahm einen Mietswagen und fuhr nach jener Straße, in welcher, wie er sagte, der Teufel sein Quartier aufgeschlagen habe.

Darin hatte er recht, denn so einfach und solid diese Straße auch aussah, so war von ihr doch bekannt, daß gerade in ihr sich einige Häuser befanden, in welchen die jungen, leichtsinnigen Söhne der Geldaristokratie zusammenkamen und dem verbotenen Vergnügen des Hazardspieles huldigten.

Chalmers stieg am Anfang der Straße aus dem Wagen und schritt zu Fuß weiter. An einem sehr ehrbar aussehenden Hause blieb er stehen, klingelte und betrat durch die sich öffnende Tür das Innere.

Hier also wollte er sein Missionswerk, das Austeilen der Traktätchen beginnen. Wahrlich, den Bewohnern und Besuchern dieses Hauses tat es sehr not, Gottes Wort zu hören.

Er stieg eine Treppe empor. Niemand schien in dem Hause zu sein, aber aus einem Zimmer in der ersten Etage drang dem frommen Manne ein dumpfes Stimmengewirr entgegen.

Lauschend blieb er an der Tür stehen.

»Rot hat gewonnen,« hörte er eine Stimme drinnen ausrufen, »zehn, zwanzig, hundert Dollar. Richtig, meine Herren? Gut, setzen Sie weiter!«


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Der Lauscher hörte ein seltsames Knistern — es war das Springen der Elfenbeinkugel in der Roulette. Drinnen wurde Hazard gespielt. Ha, wie wollte der, Mann Gottes diese Sünder andonnern, wie wollte er das Gold vom Tische werfen, den Roulettetisch umstürzen und diesen elenden, vom Teufel besessenen Menschen das Wort Gottes unter die Augen halten, daß sie erbleichten und in wilder Flucht die Spielhölle verließen! Aber er wollte sie nicht entkommen lassen, er wollte ihnen nach eilen und nicht ruhen, als bis sie erkannt, wohin ihre Seelen einst fahren würden, wenn sie nicht das Wort Gottes und den Heiland annähmen.

»Le jeu est fait, das Spiel ist gemacht,« hörte er wieder drinnen die Stimme rufen.

Klänge, als würden Goldstücke gezählt, wurde hörbar.

»Halt, das geht nicht, Spurgeon!« rief jemand, »Sie dürfen nicht mehr setzen.«

»Oho, warum nicht, Chalmers hat gestern auch noch tausend Dollar gesetzt.«

»Und sie verloren,« lachte ein anderer.

Da wurde die Tür geöffnet, der Mann Gottes trat herein.

»Chalmers!« riefen ihm alle entgegen. »Endlich. Wir haben mit Schmerzen auf Sie gewartet.«

Das Spiel ist die mächtigste Leidenschaft, aber so mächtig sie auch sein mag, sie war nicht stark genug, um diese Gesellschaft zu halten, als Chalmers eintrat.

Das Geld wurde vom Roulettetisch zusammengerafft und man umringte den Neuangekommenen.

Es waren sechs Herren, alle jung, aber in ihr Zügen stand geschrieben, daß sie die Kraft ihrer Jugend schon vergeudet hatten. Daß sie alle den feinsten Kreisen der Gesellschaft angehörten, verriet weniger die elegante Kleidung — die kann jeder anlegen — als vielmehr die nachlässig sicheren Bewegungen, die wohlgepflegten, goldfunkelnden Hände und die Sprache, wenn diese sich auch nicht immer in den gewähltesten Ausdrücken bewegte.

»Haben Sie Erfolge von Ihrer Andachtsstunde gehabt?« fragte einer der Herren Chalmers hastig.

»Natürlich,« antwortete dieser, ging an einen Nebentisch, füllte sich ein Glas mit Wein und stürzte es hinter. »Pfui Teufel, mir ist ganz weichlich geworden von all diesem Plärren, Singen und Beten! Der Teufel soll diese Betschwestern holen, auf der Straße zu sprechen ist mir tausendmal lieber. Doch ja, ich habe Erfolge gehabt. Hier, Kirkholm,« er zog zwei Briefe aus der Tasche, »sind zwei neue Handschriften, die eine davon ist sehr kraus, ich glaube, sie ist von der Murray. Werden Sie sie nachmachen können?«

»Ich danke,« lachte der Angeredete, der die Briefe prüfte, »ich habe schon andere Schriften als diese geschrieben. Sind das die einzigen, die Sie haben?«

»Ja, die anderen besitzen wir schon. Ich habe aber die Mädchen ermahnt, auch den anderen Vestalinnen zu schreiben, damit deren Seelen gerettet werden, und so kann ich Ihnen bald mehr Handschriften verschaffen.«

»Sonst noch etwas gehört, was die Vestalinnen machen?« fragte einer.

»Nichts Neues, was wir nicht auch schon wüßten,« antwortete Chalmers, »wir sind besser orientiert als die Damen.«

»Was nutzt uns das alles, so lange wir die Mädchen selbst nicht fest haben,« sagte ein Herr, »wir arbeiten und bereiten vor, und ich sehe schon, am Ende kommen sie doch wieder nach Hause, und wir stehen mit langer Nase da.«

»Das glaube ich nicht,« ließ sich da eine sonore Stimme vernehmen, »Wetten, wir, Spurgeon, daß die Mädchen innerhalb eines Monats verschwunden sind?« »Flexon!« riefen die Herren und umringten den hochgewachsenen Mann, der eben in das Zimmer getreten war und den Mantel abwarf.


32. Das Medaillon.

Der letzte Abend in Afrika war gekommen, und wie es die Besatzungen des ›Amor‹ und der ›Vesta‹ gewöhnlich zu tun pflegten, wenn sie ein Land verließen, so sollte auch diesmal der Abschied durch ein Fest gefeiert werden, zu welchem jeder geladen wurde, der die Damen und Herren unterstützt oder sonstwie Teilnahme für sie gezeigt hatte.

Als der Ort des Festes war die Faktorei von Mister Selby auserkoren worden, der bereitwilligst Hof, Garten und Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt hatte, umsomehr, als, wie er selbst lachend erklärte, doch er den grüßten Nutzen von dem Besuche hatte. In Mgwana gab es weder ein Hotel, noch größere Kaufmannsläden. In afrikanischen Städten werden beide meist nur durch Faktoreien vertreten, und so mußte Mister Selby auch den Wein, das Flaschenbier und sämtliche Delikatess liefern, die er vorrätig hatte. Ein mit Geldmitteln gut versehener Afrikareisender kann mitten im schwarzen Erdteil also ebensogut Steinpilze, Spargel, Kompot, junges Gemüse aller Art und so weiter essen, wie im feinsten Hotel Europas, das heißt, wenn ihm die Pagazis mit den Sachen nicht weglaufen, oder wenn es einem Negerhäuptling nicht beliebt, diese köstlichen Gerichte für sich zu beanspruchen.

Niemand war bei dein Feste vergessen worden, der bei der Expedition geholfen oder sich daran beteiligt hatte. Den fünfzig Pagazis war der Hof eingeräumt worden, und dort feierten sie unter der Aufsicht von Goliath und David den Abschied der Musungus, aber die beiden Führer brauchten heute die Rhinozerospeitsche nicht anzuwenden, denn die Neger ließen sich nicht lange nötigen, die Unmenge von gebratenen Schafen, Ziegen und Kälbern, von Pembe und Wein zu vertilgen. Um die Verdauung zu fördern, oder vielmehr, um sich wieder neuen Hunger zu machen, wurde von Zeit zu Zeit gesungen und getanzt, wozu die schwarzen Dorfschönen herangezogen wurden.

Fast ebenso laut und fröhlich, wenn auch etwas sittsamer und weniger gierig, ging es in den Gemächern der Villa und besonders im anschließenden Garten zu.

Hier hatten sich die Vestalinnen, die Herren des ›Amor‹ und die Beamten versammelt, um die morgende Abfahrt der beiden Schiffe würdig vorzubereiten. Kapitän Hoffmann hatte sich mit seinen Steuerleuten und Ingenieur Anders ebenfalls eingefunden, und spät des Nachts erschien auch Yamyhla nebst einigen befreundeten Amazonen auf schaumbedeckten Pferden.

Berittene Boten hatten schon Tage zuvor diese kriegerischen Weiber eingeladen.

Es wurde lebhaft bedauert, daß Marquis Chaushilm an dem Feste nicht teilnehmen konnte, aber immerhin war man doch schon vergnügt darüber, daß jede Lebensgefahr für ihn vorüber war, und auf der See, in frischer Salzluft, würde er sich nach Aussage eines Arztes sehr schnell erholen.

Über Hope und Hannes zu sprechen, war streng verboten worden. Die Mißstimmung, welche die Flucht der beiden jungen Leute erzeugt hatte, war vorüber. Kapitän Staunton hatte gesagt, er wolle sein möglichstes tun, um die beiden heißblütigen, unbedachtsamen Leutchen an einer Heirat zu hindern, und so galt die Sache, vorläufig wenigstens, für erledigt. Zur Benutzung während der Abendstunden war für die Beamten im Garten eine Kegelbahn errichtet worden, und jetzt belustigte sich eine Gesellschaft von Herren und Damen damit, beim Scheine von Laternen die Kugeln zu werfen. Die Herren hatten es sich bequem gemacht, ihre Oberröcke ausgezogen und kegelten in Hemdsärmeln. Sie hatten sich den Damen gegenüber schon oft in anderer Toilette gezeigt, durch zwingende Not veranlaßt, warum sollten sie es jetzt nicht auch einmal tun, wo es galt, die Damen zu überwerfen, und außerdem ist das Ablegen des Oberrockes in England sehr gebräuchlich, selbst in Damengesellschaft tut man es nach erhaltener Erlaubnis.

Die Partie, welche zu Gunsten der Herren ausfiel, neigte sich dem Ende zu. Einige der letzteren brauchten schon nicht mehr zu werfen. Da kam ein Neger gelaufen, der mit bei der Expedition gewesen war, fragte nach Mister Davids und überreichte ihm ein kleines Billet.

John Davids las es, steckte es in die Westentasche, nahm seinen Rock vom Nagel, zog ihn an und verließ die Gesellschaft.

Gleich darauf tat Lord Harrlington seinen letzten Wurf, und, vom Spiel erhitzt, zog auch er seinen Rock an und entfernte sich, um durch Spazierengehen im Garten sich abzukühlen.

Dieser war mit Palmen und anderen exotischen Gewächsen bepflanzt; aber diesem Teile schloß sich ein anderer an, welcher das Aussehen eines Waldes hatte oder wirklich ein solcher war, nur daß das Unterholz abgeschlagen und dadurch ein wohlgepflegter Park entstanden war.

Hierher lenkte Harrlington seine Schritte.

Träumerisch wandelte er in dieser Säulenhalle von alten Stämmen, er achtete nicht, wie es sonst sein für Naturschönheit empfängliches Gemüt tat, auf die Leuchtkäfer, die durch die Blätter huschten, gegen die Bäume stießen und wie feurige Funken zu Boden fielen, dann im Grase weiterkriechend, auf das monotone und doch so melodische Zirpen der Heimchen, von denen Afrika ganz andere Arten aufzuweisen hat als Europa; er achtete auch nicht auf das fröhliche Lachen und Scherzen, welches zu ihm Herüberdrang, sondern sein Ohr hatte nur Aufmerksamkeit für den traurigen, klagenden Ruf eines Nachtvogels, denn dieser paßte zu den Gedanken, die ihn durchwühlten.

Ach, wo waren sein Übermut, seine Lebenslust geblieben? Mit welchen Hoffnungen hatte er diese Weltreise angetreten, wie unaussprechlich hatte er sich gefreut, als ihm damals Ellen erlaubte, ihr nachzusegeln, als sie ihm in Konstantinopel so warm die Hand gedrückt, sich bei ihm herzlich bedankt hatte!

Und nun? Vorbei, vielleicht für immer!

War er daran schuld? Nein, er hatte sich wohl einmal schwach gefühlt; aber dafür war er ein Mensch, er hatte die Schwäche überwunden, bereut und sie durch sein ferneres Handeln wieder gut zu machen gesucht. Wenn sie ihm nur einmal, einmal eine Unterredung gewähren wollte, dann würde alles wieder gut werden! Ja, er durfte den Mut nicht verlieren. Er war ein Mann, fühlte sich frei von jeder Schuld, und noch hatte er Aussicht, Ellen zu gewinnen. Warum auch nicht? Er liebte sie mit aller Kraft seiner Seele, sie hatte ihn auch geliebt, und wer wußte, vielleicht liebte sie ihn noch jetzt, sie zeigte dies nur nicht, weil sie sich einst hintergangen glaubte — sie hatte ihr Unrecht eingesehen, schämte sich aber, sich ihm wieder zu nähern — des Weibes Herz ist ja unberechenbar.

Plötzlich sah Lord Harrlington das liebliche Spiel der Leuchtkäfer. Sein Ohr hörte wieder das fröhliche Lärmen seiner Freunde, und sein Herz begann sich auch plötzlich mit Lebenslust und Hoffnung zu füllen.

Da huschte hinter einem Baume plötzlich eine Weiße Gestalt hervor, auf den einsamen Spaziergänger zu. »Endlich,« flüsterte eine Stimme, »ich fürchtete schon, Sie hätten das Billet nicht erhalten, Mister Davids. Es hat doch niemand etwas davon erfahren?«

Wie erstarrt stand Lord Harrlington da, er fühlte, wie eine eiskalte Hand in sein Herz griff und das wieder tötete, was nach langem Winterschlaf die ersten Keime zu treiben begann.

»Sie sind im Irrtum, Miß Petersen,« sagte er kalt, »ich bin nicht Mister Davids.«

»Entschuldigen Sie, Lord Harrlington, ich habe Sie verkannt,« klang es ruhig dem Abgehenden nach.

»Ihr Bäume, zersplittert und stürzt über mich! Fort, fort, nur fort aus ihrer Nähe!«

Wie ein Wahnsinniger stürzte Lord Harrlington davon, wie ein Feuermeer glühten die Glühwürmer vor ihm, wie Posaunenschall drang ihm das Zirpen der Heimchen ins Ohr, und jener Jubel dort war das Hohngelächter der Hölle. Harrlington preßte beide Hände gegen den Kopf, der ihm zu springen drohte; es flimmerte ihm vor den Augen, er sah nichts mehr, er fiel, raffte sich wieder auf, rannte gegen einen Baumstamm und blieb endlich erschöpft auf einer kleinen Waldblöße liegen.

Nach und nach kam er wieder zu sich, er fühlte, daß er jetzt eben dem Wahnsinn nahe gewesen war. Wäre dies doch geschehen, denn in dem sich aufhellenden Gehirn tauchten Gedanken auf, die ihn abermals an den Rand des Wahnsinns brachten.

»Ellen! Ellen!« Das war sein einziger Gedanke.

»Habe ich das um dich verdient, Ellen, daß du mich beiseite wirfst, um einen anderen vorzuziehen?«

Gern wäre er wieder aufgesprungen, aber die Glieder versagten ihm den Dienst, er war wie gelähmt. Und das war ein Glück, er konnte nicht mehr den Schmerz durch wahnsinniges Rennen im finsteren Walde dämpfen; ein Tränenstrom brach aus seinen Augen und erleichterte ihm das Herz. »Ellen,« schluchzte er. »Also so weit sind wir gekommen! Das ist das Ziel, das ich auf dieser Reise erreicht habe! Ist es denn nur möglich? Ängstigt mich nicht ein furchtbarer Traum? Nein, ich bin in Afrika, im Garten der Faktorei, dort, dort stand Ellen und erwartete einen anderen, begrüßte mich mit fröhlicher Stimme als diesen. »Endlich« rief sie, »ja endlich, endlich!«

»Und das ist meine Ellen, der ich Jahr und Tag nachgefolgt bin, die ich gehütet habe wie meinen Augapfel, der zuliebe ich mir das Fleisch Stück für Stück mit glühenden Zangen vom Körper reißen lassen will, ehe ihr nur ein Haar gekrümmt wird; das ist jene Ellen, für die ich Tag und Nacht gesorgt habe, an welcher alle meine Gedanken hängen! Ist es nur möglich?«

Vor seinen Augen tauchte sie auf, die schlanke, prächtige Gestalt mit den junonischen Schultern, dem herrlichen Nacken, dem kleinen, stolz getragenen Kopf, den kalten und doch so tiefblickenden Augen, in denen ein Meer von Glück und Wonne liegen konnte, wenn sie lachte.

Er hatte ja eine Photographie Ellens bei sich, jene, welche ein Straßenräuber in Konstantinopel verloren. Sie hatte ihm dieselbe geschenkt; kein anderer konnte sich rühmen, ihr Bildnis zu besitzen, er hatte es wie einen Talisman auf dem Herzen getragen.

Ach, das war noch eine glückliche Zeit gewesen!

Langsam griff der auf der Waldlichtung im Mondenschein liegende, weinende und schluchzende Mann in die Brusttasche, um die Photographie hervorzuziehen.

Da — was war das, — da zuckte plötzlich seine Hand zurück, als wäre in seiner Brust eine Schlange gewesen und hätte ihn in die Hand gebissen. Doch schnell griff er abermals hinein, und diesmal brachte seine Hand ein kleines Medaillon an einer goldenen Kette zum Vorschein.

Wie kam dieser Gegenstand in seine Tasche? Harrlington brauchte nicht lange nachzusinnen, bald hatte er die Lösung gefunden.

Richtig, er hatte schon öfters bemerkt, daß John Davids um seinen Hals eine goldene Kette trug, man sah sie manchmal blitzen, wenn er sich bückte. Einige behaupteten, an dieser trüge er das, was ihn so ernst und tiefsinnig stimme.

Vorhin sah nun Harrlington beim Kegelspiel, wie Davids nach einem Wurfe plötzlich mit der Hand an den Hals griff, sich umdrehte und etwas von der Brust zog.

Niemand sollte es sehen, aber zufällig hatte es Harrlington doch wahrgenommen.

Dann ging Davids dahin, wo sein Rock hing und steckte etwas in die Seitentasche; es war das Medaillon mit der gesprungenen Kette gewesen.

Nun entsann sich Harrlington, daß Davids ganz genau denselben Überrock trug, wie er selbst, und so hatte er also das Medaillon versehentlich in Harrlingtons Rock gesteckt. Dann hatte Davids den seinen angezogen, ohne den Irrtum gemerkt zu haben.

Jetzt hielt Harrlington den Gegenstand in der Hand, welches die Ursache des geheimen Leidens John Davids enthalten sollte. Harrlington lächelte, besaß er nicht auch ein Herzleiden? Aber das konnte nicht in ein Medaillon gefaßt werden.

Mein Gott, Davids!

Jetzt zuckte es Harrlington erst wieder durch das Gehirn, daß es ja dieser Mann war, den Ellen ...

Wie durch eine geheimnisvolle Kraft getrieben, mußte Harrlington die goldene Kapsel öffnen. Einmal, zweimal glitten die zitternden Finger ab, dann aber knackte es, der Deckel öffnete sich, und der bleiche Mond beleuchtete das Bild — Ellens.

Noch bleicher als das Mondlicht wurde Harrlingtons Antlitz. Mit entgeistertem Auge starrte er in die lieblichen Züge, die ihn aus einem zierlichen, in Öl gemalten Miniaturbild entgegenlächelten. So hatte sie gelächelt, als sie dem Besitzer des Medaillons das kleine Bild gegeben hatte.

Plötzlich umnachtete sich wieder das Auge des Lords, und wie Posaunenschall schmetterte ihm Miß Morgans Stimme die Worte ins Ohr: »Er ist ein Mann, welcher keine Leidenschaft kennt, alles an ihm ist Ruhe, Kälte und Überlegung, und so liebt er auch das Mädchen, welches die gleichen Eigenschaften besitzt. Er beobachtet nur, hat er aber gefunden, daß das Mädchen seiner Wahl für ihn geeignet ist, so geht er direkt auf sein Ziel los, besiegt alle Schwierigkeiten, alle Hemmnisse und ruht nicht eher, als bis er es erreicht hat. So unschuldig Mister Davids auch scheinen mag, er ist ein für Frauen ganz gefährlicher Charakter. — Beobachten Sie ihn, und vor allen Dingen beobachten Sie Miß Petersen selbst!«

Da löste sich von einem Baum ein dunkler Schatten los und kam mit elastischen Schritten über die Lichtung gegangen. Lord Harrlington sprang auf und stand mit einem Satze vor dem Manne, mit dem er sich eben in Gedanken beschäftigt hatte, vor John Davids.

»Lord,« sagte Davids leise und hastig, »ich habe Sie belauscht, Sie irren sich, ich ...«

»Schweigen Sie,« herrschte Harrlington ihn an, »kennen Sie dies Medaillon hier?«

Damit hielt er ihm die Kette vor die Augen. Davids änderte plötzlich sein Benehmen, er richtete seine Gestalt hoch auf, und seine Stimme klang ruhig und kalt, als er antwortete:

»Es ist das meine.«

»Wie kommen Sie zu dem Bilde?«

»Darüber bin ich Ihnen keine Rechenschaft schuldig!«

Harrlington knirschte die Zähne aufeinander.

»Was hatten Sie vorhin mit Miß Petersen zu tun?« stieß er mit finsterer Stimme hervor.

»Ich finde Ihre Frage sehr sonderbar, Lord, doch will ich keine Beleidigung darin sehen.« Mit zuckender Hand fuhr Harrlington in die Tasche, Daids sah einen Gegenstand in seiner Hand blinken und sprang auf Harrlington zu, ihm in den Arm fallend.

»Beherrschen Sie sich Lord,« raunte er ihm zu, »ich beschwöre Sie! Begehen Sie keine Torheiten, es liegt ein Irrtum vor.«

Aber mit eiserner Kraft befreite sich Harrlington aus der Umfassung und packte Davids.

»Schurke, verräterischer Schuft!« zischte Harrlington, während beide mit der Kraft der Verzweiflung Brust an Brust rangen. »Gib mir Ellen wieder, du hast mir sie geraubt. Du oder ich, einer von uns muß bleiben.«

Ein Schuß krachte, Harrlingtons Arme fielen schlaff herab, er taumelte einige Schritte zurück und sank dann zu Boden. Zwischen beiden lag ein noch rauchender Revolver.

Im nächsten Augenblicke kniete Davids neben den mit geschlossenen Augen im Grase Liegenden.

»Lord,« flüsterte er hastig und schüttelte ihn an der Schulter, »kommen Sie zu sich. Ich erkläre Ihnen, wie ich zu dem Bilde gekommen bin — es liegt ein furchtbarer Irrtum vor — beim allmächtigen Gott, ich schwöre Ihnen, ich bin Ellen mit keinem Worte zu nahe getreten — sie liebt mich nicht — wir lieben uns nicht — ich will Ihnen etwas sagen, was Sie mit Jubel erfüllen wird — Ellen liebt Sie, mehr denn je — James, ermannen Sie sich — lassen Sie uns Freunde sein — einen treueren als mich finden Sie nicht.«

»Halloh, was ist los, was gibt's hier?« ließen sich da Stimmen vernehmen, und aus dem Walde traten zwei Gestalten.

John Davids war schnell aufgestanden.

»Sir Williams, Sir Hendricks,« rief er leise, »gut, daß Sie kommen.«

»Wie?« rief Williams, den Revolver am Boden erblickend. »Sie haben sich wohl duelliert? Lord Harrlington!« rief er erstaunt.


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»Nicht so laut,« warnte Davids, »wir haben uns nicht duelliert. Lord Harrlington zeigte mir seinen Revolver, eine Patrone war stecken geblieben, ich nahm ihn, und während ich ihn untersuchte, wurde Harrlington plötzlich unwohl, fiel zu Boden, stieß mich, und der Schuß ging los. Das ist alles.« Williams warf dem Sprecher einen seltsamen Blick zu, dann beschäftigte er sich mit dem bewußtlosen Lord, ebenso wie Hendricks.

»Ist er verwundet?« fragte er leise.

»Nein, nein, nur bewußtlos, er hat eine starke Nervenerschütterung gehabt. Bitte bringen Sie ihn an Bord!«

Lord Harrlington kam schnell wieder zum Bewußtsein, er stand auf und blickte verstört um sich.

»Ist Ihnen besser, Lord?« fragte Davids, ruhig auf ihn zutretend.

»Ja. Begleiten Sie mich an Bord, Sir Hendricks,« murmelte er.

»All right, stützen Sie sich auf mich,« sagte dieser und bot ihm seinen Arm.

Obgleich die beiden Zuletztgekommenen nicht wußten, was eigentlich vorgefallen war, stellte doch keiner eine Frage.

Schwer lehnte sich Harrlington auf den Arm seines Freundes und ging einige Schritte. Dann blieb er plötzlich stehen und wandte sich um.

»Davids,« sagte er leise.

Sofort kam der Gerufene auf ihn zu, ergriff die dargebotene Hand und schüttelte sie herzlich.

»Sie haben verstanden, was ich vorhin zu Ihnen sagte?« fragte er.

Lord Harrlington nickte nur.

»So gehen Sie an Bord und erholen Sie sich, Sie haben schwer gelitten. Ich bleibe hier, gesprochen wird nichts darüber.«

Harrlington raffte sich auf und entfernte sich dann mit Hendricks.

»Ist er nicht verwundet worden?« fragte Williams, als beide verschwunden warm.

»Nein,« antwortete Davids, streifte den linken Rockärmel zurück und hielt den entblößten Arm Williams hin. »Bitte verbinden Sie mir den Arm!« Wortlos nahm Williams sein Taschentuch und legte den Verband an.

Dann bückte sich Davids, hob vom Boden den Revolver und eine Kette auf, steckte beides zu sich und sagte dann zu seinem Freunde:

»Kommen Sie, Sir Williams, wir wollen die Gesellschaft aufsuchen. Ich erkläre Ihnen später alles, wenn Zeit dazu ist.«

»Ich hätte nicht geglaubt, daß Lord Harrlington eine so schwache Natur hat,« meinte Charles kopfschüttelnd.

»Eine schwache Natur hat er, sagen Sie? Ich glaube, nur wenige hätten das aushalten können, was er ausgehalten hat, ohne wahnsinnig zu werden. Ich hätte es nicht ertragen können.«

Eben hatten die beiden die Gesellschaft erreicht, als einige Böllerschüsse ertönten, und es plötzlich von allen Seiten zu prasseln und zu zischen begann. Überall fuhren Raketen in die Höhe, auf dem Waldboden, im Garten, auf dem Hofe sprangen feurige Frösche herum, an den Bäumen drehten sich Feuerräder, und die Nacht wurde von bengalischen Flammen erleuchtet.

Die Neger gebärdeten sich wie unsinnig, fast rannten sie sich selbst die Köpfe ein, dann warfen sie sich auf den Boden und heulten vor Entsetzen.

»Wer hat das Feuerwerk arrangiert?« wurde die Frage laut.

»Mister Davids und ich,« entgegnete Ellen fröhlich, »wir haben vereint daran gearbeitet. Ich wollte nur einmal die entsetzten Gesichter der dummen Neger dabei sehen.«


33. Verrat.

»Lebe wohl, Afrika, lebt wohl ihr alle, die ihr uns treu zur Seite gestanden habt — es geht der Heimat zu!«

So rief Ellen und schwenkte auf der Kommandobrücke das weiße Taschentuch, ebenso wie an Deck die übrigen Damen. Am Lande standen die Beamten der Faktorei und winkten Abschiedsgrüße, die Neger schwangen die Arme in die Luft und sandten lachend und brüllend den Damen Kußhändchen nach, und auf dem ›Amor‹ lehnten die Herren an der Brüstung und riefen: »Auf Wiedersehen!«

»Es scheint doch so, als ob wir die Wette verlieren,« meinte die neben Ellen stehende Miß Murray. »Bis an die Westküste von Südamerika haben wir etwa 14 Tage zu segeln, und innerhalb dreißig Tagen soll uns der ›Amor‹ nicht erblicken.«

»Ich habe doch noch Hoffnung,« entgegnete Ellen. »Einmal können wir die Fahrt länger ausdehnen, und sind wir ihnen einmal, nur ein einziges Mal aus den Augen, dann ändern wir unseren Kurs, und sie finden uns nicht wieder. Da wir ausgemacht haben, jetzt in der Nacht ohne Laternen zu fahren, so soll uns dieses ein Leichtes sein. Da, jetzt lichtet auch der ›Amor‹ die Anker.«

»Es ist aber gefährlich und verboten, in der Nacht ohne Lichter zu fahren.«

»Wir müssen es eben einmal riskieren.«

»Und wenn wir ihnen nun entkommen sind, was dann?« fragte Jessy.

»Dann fahren wir direkt nach einem kleinen Hafen Süd-Amerikas und erkundigen uns, wo der ›Amor‹ vor Anker liegt. Nach Ablauf der dreißig Tagen fahren wir hin, und dann,« lachte Ellen, »lassen wir uns zu der gewonnenen Wette gratulieren.«

»Sie wissen also noch nicht, welchen Hafen wir anlaufen wollen?«

»Doch, aber ich habe den Namen noch nicht bekannt gemacht, weil eine oder die andere Vestalin ihn doch versehentlich ausplaudern könnte. Dann sagen Sie selbst, Miß Murray, ist es nicht geradezu wunderbar, daß die Engländer uns immer finden, wo wir auch liegen, und zwar nicht erst tagelang später, so, daß sie unseren Ankerplatz in irgend einem anderen Hafen erfahren haben könnten. Woher mag dies kommen?«

Miß Murray zuckte mit den Achseln.

»Es ist sonderbar, aber ich kann es mir nicht erklären. Manchmal sind wir zusammen gesegelt, manchmal haben wir ihnen den Namen selbst gesagt.«

»Aber manchmal konnten sie auch keine Ahnung von dem Bestimmungsorte haben, denn wir machten ihn erst unterwegs aus, wechselten sogar oft den Beschluß, und trotzdem fanden sie uns wieder. Nun, diesmal will ich es noch versuchen, indem ich ihnen erst entkomme und dann solch einen Hafen aufsuche, der gar nicht den Namen eines solchen verdient. Er besitzt weder Seeamt, noch Post, noch sonst etwas, auch auf den genauesten Karten ist er nicht angegeben.«

»Was für einer ist es?«

»Vor dem Frühstück, wenn die Wachen wechseln, werde ich die Vestalinnen zusammenrufen und ihnen den Namen verkünden. Ach, liebe Jessy, Sie glauben nicht, wie ich mich freue, die Heimat wiederzusehen!«

»Wir sind noch weit ab von New-York,« lächelte Jessy.

»Ich bezeichne ganz Amerika als meine Heimat,« sagte Ellen. »Dort kenne ich den Namen jedes Tieres, jedes Baumes, jeder Pflanze, ich kenne alle Sprachen, alle Gewohnheiten der Bewohner, der Eingeborenen, ich kann mich mit Indianern in ihrem eigenen Idiom unterhalten und habe in allen Gegenden gute Bekannte.«

»Sie sind also froh, daß diese Weltreise zu Ende geht? Wirklich, von Ihnen hätte ich das am allerwenigsten gedacht, wenn ich auch schon manchmal Ähnliches gemerkt habe.«

»Liebe Jessy,« antwortete Ellen, tief aufatmend, »ich fühle, daß ich als Kapitänin der ›Vesta‹ eine Last auf meine Schultern gelegt habe, unter deren Bürde ich manchmal, besonders in letzter Zeit, zusammenzubrechen drohe. Was ist der Kapitän eines Handelsschiffes gegen mich? Ihm ist es gleichgültig, ob er während der Reise einige seiner Leute einbüßt oder nicht, er mag wohl anfangs etwas Mitleid haben, das ist aber auch alles. Und ich? Ich zittere oft bei dem Gedanken, daß durch ein Unglück gar manche Vestalin die Heimat nicht wiedersehen dürfte. Zwei Damen haben uns schon verlassen, und ach, eine sogar, gerade die, welche ich liebte, ist ohne ein Wort des Abschiedes heimlich von mir geflüchtet.«

»Denken Sie nicht mehr daran,« tröstete Jessy ihre Freundin, »Sie haben keinen Grund, solche Sorge um uns zu tragen. Wir sind alle freiwillig an Bord gegangen, ich betone, Sie haben uns nicht veranlaßt, Ihnen zu folgen, sondern wir haben Sie als Kapitänin gewählt, und stößt uns ein Unglück zu, so müssen wir es geduldig ertragen, denn wir alle haben es uns selbst zuzuschreiben. Wie sich jemand bettet, so liegt er, Sie aber können sich von jeder Verantwortung freisprechen.«

»Ich habe aber nun einmal das Gefühl, als hätte ich doch eine solche auf mich genommen,« entgegnete Ellen, »und so oft ich mir dies auch ausrede, es gelingt mir nicht. Ich will herzlich froh sein, wenn wir erst amerikanischen Boden unter unseren Füßen haben. Dort drohen uns weniger Gefahren, wir können überallhin mit der Eisenbahn fahren, Militär steht uns überall zur Verfügung, was sollte uns also dort für ein Unglück zustoßen?« »Der Krieger, welcher von keinem Feinde zu besiegen ist, der aus jeder Schlacht wohlbehalten und siegreich hervorgeht, kann durch einen zufällig vom Dach herabfallenden Ziegelstein erschlagen werden,« antwortete Jessy nur, dann schwieg sie.

Sie wußte recht gut, was Ellen die Reise verleidet hatte, sie kannte den Schmerz, welcher deren Innerstes durchwühlte, aber keine der Vestalinnen konnte sich dazu aufschwingen, Ellen zu trösten, denn alle wußten, daß sie an ihrem Schmerz die Hauptschuld, ja, einige sagten sogar, die alleinige Schuld trug. Dort auf dem nachsegelnden Schiffe war die Ursache ihres Elendes, und wie leicht hätte sie dieses in Glück und Freude verwandeln können, aber Ellen hatte nun einmal einen Charakter, in dem maßloser Stolz vorherrschte. Jede Andeutung, daß sie sich versöhnen sollte, wies sie mit Entschiedenheit, ja sogar mit Heftigkeit zurück. So kam es, daß niemand auch nur den Versuch machte, mit ihr über den wunden Punkt zu sprechen.

Lord Harrlington wurde allgemein bedauert, noch nie hatte er die Sympathie der Damen so besessen wie jetzt, da man ihm ansah, wie sehr er unter der Entzweiung mit Ellen litt. Gar manche der Vestalinnen wäre bereit gewesen, seinetwegen Ellen die Freundschaft zu kündigen, wenn man nicht hoffte, das Mißverständnis würde sich noch lösen.

»Ich bitte die Damen, sich um das Steuerrad zu versammeln,« rief Ellen, als um acht Uhr — es war morgens — alle Damen an Deck erschienen, um sich abzulösen.

Eine Hauptversammlung wurde stets am Steuerrad abgehalten, damit die an demselben Stehende dabei sein könne.

»Es gilt, den Hafen zu bestimmen, welchen wir als Ziel festsetzen wollen,« begann Ellen und erklärte, warum sie jetzt erst den Namen nenne.

Daß man während der Nacht immer ohne Lichter segeln wollte, hatte Ellen schon früher vorgeschlagen, und es war ihr beigestimmt worden. Es war nun einmal Ellens Wunsch, dem ›Amor‹ zu entkommen, und wenn auch die meisten Vestalinnen es lieber gesehen hatten, wenn derselbe immer bei ihnen geblieben wäre, so fügten sie sich doch dem Wunsche der Kapitanin.

Und dann war es ja auch ganz hübsch, wenn man die Wette gewann, wenn sich die englischen Herren öffentlich von den Damen als besiegt erklären mußten. Später traf man wieder mit ihnen zusammen, wenn man nach Ablieferung der befreiten Mädchen New-York erreicht hatte.

Und dann? Ja, dann würde wohl so manches ans Tageslicht kommen, was während der Reise im Dunkeln gesponnen worden war. Denn so sehr es die Mädchen auch manchmal, wenn sie im engeren Kreise zusammen waren, einander abstritten, innerlich waren sie doch anderer Meinung, und gar manche dachte: Auf zwei oder drei Jahr Priestern, der ›Vesta‹ zu sein, ist ja ganz hübsch, aber immer? Nein, das wäre auf die Dauer langweilig, selbst Ellen, so sehr sie sich auch den gegenteiligen Anschein gibt, denkt im Herzen doch nicht anders als ich.

»Der Name dieses kleinen Hafens,« fuhr Ellen fort, »welcher so versteckt liegt, daß ihn sogar die Geographen noch nicht aus den Karten verzeichnet haben, ist Guanosaca, einige Meilen südlich von Arauco, welchen Hafen Sie wohl alle kennen. Wie der Name schon andeutet, wird dort Guano gestochen, fremde Schiffe kommen nur sehr selten dahin, ich meine, zu außergewöhnlicher Zeit, die Dampfer und Segler, welche dort anlaufen, um Guano zu laden, fahren regelmäßig und kehren direkt von dort wieder nach Europa oder Amerika zurück. Eine Postverbindung gibt es nicht, und so brauchen wir nicht zu fürchten, daß unser Aufenthalt dort verraten wird. Wir begeben uns in kleinen Seebooten nach Arauco, dortwerden uns schon die Herren wiederfinden, und behaupten dann, die ›Vesta‹ sei gescheitert, bis die dreißig Tage vorüber sind. Sind die Damen mit diesem Vorschlag einverstanden?«

Alle waren es.

»Guano ist doch der Unrat von Vögeln, der sich mit der Zeit angesammelt hat,« ließ sich ein Mädchen hören, »und so ist anzunehmen, daß in Guanosaca nicht eben eine angenehm duftende Luft weht.«

Die Damen mußten lachen, selbst Ellen stimmte mit ein.

»Nein, Guano riecht nicht,« erklärte sie dann, »der Verwesungs-Prozeß ist völlig vorüber, sonst würde Guanosaca ein sehr ungesunder Ort sein, während er im Gegenteil sehr gesund ist. Übrigens werden Sie mir wohl nicht zutrauen, daß ich Sie nach einem Hafen führe, in dem es, mit Erlaubnis zu sagen, stinkt,« schloß Ellen lächelnd.

»Na, na,« flüsterte ein Mädchen einem anderen zu, »um dem ›Amor‹ zu entgehen, würde Miß Petersen noch einen ganz anderen Ort aufsuchen.«

Die Damen waren also mit den Vorschlägen einverstanden, sie zerstreuten sich wieder, um ihrer Arbeit nachzugehen. Johanna hatte das Amt des ersten Steuermannes übernommen und begab sich auf die Kommandobrücke.

Ellen war überzeugt, daß sie ihrer Freundin bitter unrecht getan hatte, als sie diese für eine Detektivin hielt, und suchte dieses Versehen durch doppelte Freundlichkeit wieder gut zu machen. Kein Wort wurde über jene Verwechselung verloren, auch über den, der den Irrtum herbeigeführt hatte, und den man seit jenem Abend nicht wieder gesehen, wurde nicht mehr gesprochen.

Den Führer desselben traf man in Mgwana, er erzählte, Mister Andersen hätte ihn in der Nähe der Küste entlasten und wäre allein weitergeritten.

Die beiden Mädchen unterhielten sich also über die noch an Bord befindlichen Schützlinge. Ellen fragte Johanna um Rat, wie man die Wege am besten zu wählen habe, um alle so schnell als möglich nach ihren entfernt voneinander liegenden Geburtsorten zu bringen. Sie nahmen dabei die Karten zu Hilfe, und wieder mußte Ellen einsehen, welch einen klaren und scharfsinnigen Kopf ihre Freundin besaß. Obgleich dieselbe noch nie in Südamerika gewesen war, wie sie sagte, wußte sie doch ebensogut und noch besser als Ellen dort Bescheid, rechnete mit allen möglichen Hindernissen, schloß aus den Sitten der Eingeborenen, deren Gebiete sie zu passieren hatten, auf etwaige Unannehmlichkeiten und wußte immer das richtige Mittel, um diese zu verhüten.

»Bitte, Johanna,« sagte Ellen nach Beendigung dieser Unterredung, »wollen Sie einmal hinunter in den untersten Raum gehen und nachsehen, ob die Wasserfässer gut angelascht (angebunden) sind? Es ist leicht möglich, daß wir diese Nacht einen heftigen Seegang bekommen, wodurch die Fässer ins Rollen geraten können.«

In Mgwana waren die alten Fässer durch neue ersetzt worden, und Johanna sollte sich nochmals davon überzeugen, ob sie gut angebunden waren. Die ›Vesta‹ schlingerte nur leicht, aber schon jetzt mußte zu erkennen sein, welche Fässer nicht genug angelascht waren, schon jetzt mußten sich an diesen die Stricke gelockert haben und sie sich etwas hin- und herbewegen

Johanna nahm eine Laterne und begab sich in das Zwischendeck, unter welchem sich der Raum befand, in dem gewöhnlich der Wasservorrat aufbewahrt wird. Das Mädchen schloß einen Lukendeckel auf, hob ihn vom Boden empor und stieg langsam eine Treppe hinunter, die in diesen Raum führte.

Hier war es völlig dunkel. Die Laterne beleuchtete die eisernen Tanks und die Fässer, in denen sich das Wasser befand.

Tanks sind große, eiserne Behälter, Reservoire, welche jetzt alle Schiffe mit sich führen. In ihnen wird das Wasser aufgehoben, welches zum Waschen diente während die Holzfässer das Trinkwasser enthalten, dem das Wasser hält sich in Tanks nicht so gut wie in Holzfässern, es nimmt zu sehr den Eisengeschmack an. Da die ›Vesta‹ viel Wasser brauchte und auch viel mitnehmen konnte, da sie sonst keine Ladung barg, so waren hier mehrere große Tanks und viele Fässer vorhanden.

Als Johanna von der Leiter herab in den Raum trat, fiel das Licht der Laterne plötzlich auf eine Gestalt, die ihr entgegenkam.


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»Miß Morgan,« rief sie erstaunt, »wie kommen Sie hierher?«

»Ich hörte im Zwischendeck unter mir ein Rauschen. Ich fürchtete, ein Tank oder Faß möchte gebrochen und das Wasser ausgelaufen sein und wollte mich sofort davon überzeugen,« antwortete Miß Morgan.

»Aber die Luke war doch oben zugeschlossen,« sagte Johanna verwundert.

»War sie das? So hat eine Dame sie offen gefunden, glaubte wahrscheinlich, sie wäre versehentlich offen gelassen worden und hat sie zugedeckt. Das wäre eine schöne Geschichte gewesen, wenn man mich eingeschlossen hätte,« fügte sie lachend hinzu.

»Nun, Sie hätten ja nur zu klopfen brauchen,« meinte Johanna gleichgültig und begann die Untersuchung der Fässer, welche sie alle in gutem Zustande fand.

Während dieser Beschäftigung blieb Miß Morgan immer bei ihr, unterhielt sich mit ihr über dieses und jenes und begab sich mit Johanna wieder nach oben.

Diese teilte weder der Kapitänin, noch irgend einer anderen mit, daß sie Miß Morgan unten in der Wasserlast — so lautet der seemännische Ausdruck für diesen Raum — eingeschlossen gefunden, fragte auch nicht, wer die offenstehende Luke zugeschlossen habe.

Ganz anders verhielt sich Miß Morgan.

Sie beklagte sich bei Ellen, daß man sie in der Wasserlast eingeschlossen habe, als sie sich von dem vermeintlichen Wasserrauschen überzeugen wollte, vielleicht hätte sie stundenlang, ja tagelang dort stecken können, wenn ihr Klopfen nicht gehört worden wäre.

Ellen ließ die Vestalinnen zusammenrufen und fragte, wer die Luke wieder zugedeckt habe.

Es erfolgte keine Antwort. Jede behauptete, nichts davon zu wissen.

Die Sache wurde fallen gelassen, man nahm an, daß eine der Damen in Gedanken den Lukendeckel aufgesetzt und verschlossen habe. Niemand dachte daran, daß hier eine Absichtlichkeit vorliegen könnte. Es wäre ein kindischer Spaß gewesen, jemanden in der Wasserlast einzuschließen, und die Person, welche am allerwenigsten an so etwas glaubte, war — Johanna.

Um zwölf Uhr kam Miß Morgan an die Reihe, die ›Vesta‹ zu steuern, und Johanna wurde abgelöst.

Kaum stand Miß Morgan am Steuernd, so verließ Johanna den Salon, wo das gemeinschaftliche Mittagsmahl eingenommen wurde, und begab sich in den Gang, von welchem aus man die einzelnen Kabinen betrat.

Niemand war auf demselben zu sehen, die Wache befand sich an Deck, die Freimache im Salon beim Mittagessen. Die Speisen wurden nicht durch den Gang getragen, sondern mittels eines Aufzuges von der Kombüse aus direkt in den Salon hineingelassen.

Vor der Tür, welche in Miß Morgans Kabine führte, blieb Johanna stehen, klinkte am Schloß und versuchte zu öffnen.

Die Tür war verschlossen.

Einen Augenblick blieb Johanna nachdenkend stehen, dann zog sie einen seltsam gebogenen Haken aus der Tasche und betrachtete das Schloß. Die Kapitänin besaß einen Schlüssel, welcher alle Kabinentüren öffnete, aber mit diesem Instrument war auch Johanna im stande, das Schloß zu öffnen, und wenn es noch so kompliziert gearbeitet gewesen wäre.

Schon wollte sie den Haken ins Schloß stecken, als sie wieder einhielt, etwas vor sich hinmurmelte, den Schlüssel in der Tasche verbarg und die Tür verließ.

»Miß Morgan ist zu schlau,« murmelte sie, »sie hat ein unmerkliches Zeichen, wenn jemand die Tür öffnet, und vielleicht finde ich nichts in der Kabine.«

Johanna begab sich nach jener Luke, welche nach der Wasserlast führte, öffnete den Deckel und stieg zum zweiten Male die Treppe hinunter.

In diesem Augenblicke kam Ellen durch den Gang.

»Johanna,« rief sie erstaunt, »wir vermissen Sie bei Tisch! Was wollen Sie unten? Funktioniert die Pumpe nicht?«

Das Wasser wird von unten durch mehrere Pumpen an Deck befördert.

»Ich wollte noch einmal nach einem Fasse sehen,« entgegnete Johanna, »die Stricke des einen sind etwas schwach, und da das Schiff jetzt stärker schlingert, so könnten sie doch noch nachgeben.«

»Sie sind zu diensteifrig,« lachte Ellen der in der Luke Verschwindenden nach.

»Besorgt ist das richtige Wort,« tönte es von unten herauf.

Johanna setzte die mitgenommene Lampe in Brand und ging, die Augen auf die niedrige Decke geheftet, nach einer bestimmten Stelle in der Wasserlast und musterte dort noch schärfer die Decke. Sie bemerkte nichts Außergewöhnliches.

»Gerade hier darüber befindet sich die Kabine von Miß Morgan,« murmelte sie.

Sie stieg auf ein Faß, welches auf dieser Stelle lag, und berührte mit dem Kopfe die Decke, wenn sie sich aufrichtete, sie mußte also gebückt stehen. Aufmerksam betrachtete sie die eingesetzten Bretter, dieselben beleuchtend, aber auch jetzt konnte sie nicht das geringste Verdächtige bemerken. Nun setzte sie die Lampe auf das Faß, stemmte beide Arme gegen ein Brett und versuchte, es aufzuheben, vermochte aber dieses ebensowenig, wie die anderen hochzustemmen, obgleich sie in ihrer jetzigen Lage eine bedeutende Kraft entwickeln konnte.

Johanna hatte sich vorher über die Lage von Miß Morgans Kabine orientiert; sie konnte hier unten ganz genau angeben, wie weit der Fußboden dieser Kabine reichte, aber wie sie auch jedes einzelne Brett untersuchte und emporzuheben sich bemühte, keine Planke zeigte eine Spur, noch bewegte sie sich im mindesten in ihren Fugen.

»Und doch möchte ich darauf schwören,« flüsterte sie, »Miß Morgan hat ihren Weg in die Wasserlast durch den Fußboden ihrer Kabine genommen; eine Ahnung, oder wie man es sonst auch nennen mag, sagt es mir, und noch nie hat mich eine solche getäuscht. Aber was mag sie hier unten zu suchen gehabt haben?

»Ihre Aussage war eine leere Ausflucht, sie hat hier etwas ganz anderes gesucht. Aber was? Warum hat sie sich einen geheimen Eingang zur Wasserlast verschafft? Das einzige wäre, daß sie hier ein Versteck hat, und ist ein solches da, so werde ich es finden.«

Sie stieg vom Faß, nahm die Laterne und begann eine Untersuchung des Raumes.

Die Wasserlast war leicht zu übersehen. Es standen vier eiserne Tanks darin, dicht an der Wand, und zehn Fässer, ziemlich weit voneinander entfernt. Johanna untersuchte alles gründlich, und zwar mit dem Auge des Detektiven. Nichts wäre ihrer Aufmerksamkeit entgangen, aber sie fand keinen Anhalt für ihren Verdacht. Sie besah die Verschlüsse der Tanks — die Schrauben waren fest angezogen, die Spunde der Fässer waren nicht angetastet worden; Johanna kroch unter die letzteren, den dunkelsten und entferntesten Fleck beleuchtete und befühlte sie; ab und zu klopfte sie mit dem Finger an die Wand oder den Fußboden, aber es war vergeblich.

»Ich muß Miß Morgan noch genauer beobachten,« dachte sie, »einmal werde ich sie schon fassen. Vielleicht habe ich auch eine günstige Gelegenheit, in ihre Kabine zu kommen.«

Sie stieg wieder ans Zwischendeck und suchte im Salon ihre Freundinnen auf. — — —

Die Nacht brach an, Dunkelheit lagerte sich über das Meer; auf dem ›Amor‹ waren schon die grünen und roten Seitenlichter, wie auch die Toplaterne angezündet worden, aber auf der ›Vesta‹ traf man keine Vorbereitungen dazu. Ebensowenig wie die Brigg von der ›Vesta‹ gesehen werden konnte, sondern nur die Lichter, so konnten die Engländer auch nicht mehr das Vollschiff sehen, selbst nicht mit dem besten Nachtfernrohr, denn mittels desselben ist nur eine kleine Entfernung zu überblicken.

Das Nachtfernrohr besitzt im Inneren zwei kleine Spiegel, von denen der eine einen Lichtstrahl auffängt und ihn nach dem anderen Spiegel wirft, von welchem dieser Lichtstrahl weiter durch das Fernrohr geht und den Gegenstand beleuchtet, den man beobachten will. Es gehört eine große Übung dazu, das Fernrohr immer so zu drehen, daß das Licht der hinter dem Beobachter stehenden Flamme immer gerade dahin reflektiert wird, wohin man sehen will.

Das Nachtfernrohr ist eine schöne Erfindung, aber im Gebrauch recht mangelhaft. Man kann den Gegenstand, den man vor sich hat, wohl erkennen, es ist aber unmöglich, einen Gegenstand, von dem man nicht weiß, wo er ist, in der Nacht damit zu finden. Über das Nachtfernrohr wird viel erzählt, was auf Übertreibung beruht.

»Jetzt oder nie wird es uns gelingen,« sagte Ellen, »dem ›Amor‹ zu entkommen. Es ist eine stockfinstere Nacht, der Mond geht erst des Morgens für eine Stunde auf. Wer hat um zehn Uhr das Steuerrad zu bedienen?«

»Ich,« entgegnete Miß Morgan, »an mir ist heute die Reihe.«

»So steuern Sie, wenn Sie das Rad übernehmen, direkt Westen, wir sind genug südlich gefahren. Morgen nehmen wir den alten Kurs wieder auf. Will doch sehen, ob der ›Amor‹ uns diesmal wiederfinden kann. Also Westen, Miß Morgan.«

»Ich wollte Sie bitten, mich für heute abend durch eine andere Dame vertreten zu lassen,« sagte Miß Morgan schnell, »ich fühle mich etwas unwohl.«

»Wer von den Damen will Miß Morgan vertreten?« fragte die Kapitänin die Umstehenden.

»Hier!« rief ein Mädchen und trat hervor.

»Gut, so nehmen Sie also um zehn Uhr den neuen Kurs auf. Es fehlen nur noch zehn Minuten bis dahin.«

Die Damen zerstreuten sich, um sich vorzubereiten, das heißt, die Wache löste nur unter sich ab, nämlich der Ausguck, auf der Back stehend und etwaige Schiffe meldend, und der Posten am Steuerrad.

Die Wache, zu welcher Johanna gehörte, kam erst um zwölf Uhr an Deck.

Miß Morgan ging nach dem Hinterteil des Schiffes und legte sich, ohne erst Vorbereitungen zu treffen, einfach auf Deck nieder.

»Wollen Sie nicht lieber zur Koje gehen?« fragte Ellen, als sie bei einem Rundgang an Miß Morgan vorüberkam.

»Nein, ich muß an der frischen Luft bleiben, in der Kabine ist es mir zu schwül. Der Schwindelanfall wird schnell vorübergehen,« antwortete das Mädchen und drehte sich auf die Seite.

Ellen ging; auf der ›Vesta‹ hatte jedes Mädchen freien Willen, genötigt wurde nicht.

Kaum war Ellen fort, so kroch jedoch Miß Morgan leise vorwärts, legte sich dann glatt hin und drückte das Auge fest auf eine bestimmte Stelle des Decks. Gerade darunter befand sich die Kabine von Johanna.

Diese Kabine lag nicht, wie die anderen, an der Seite des Schiffes, sondern am Heck, ebenso wie noch eine zweite nebenan. Die Auswechslung der Posten war vor sich gegangen, die an Deck Befindlichen unterließen jedes unnötige Geräusch, hauptsächlich alles Stampfen, um die in ihren Kabinen Schlafenden nicht zu stören.

Ellen stand allein auf der Kommandobrücke und beobachtete den ›Amor‹, dessen drei Hauptlichter man immer noch deutlich erkennen konnte, ebenso wie die erleuchteten Bullaugen, also die Fensterchen am Rumpf, bald aber mußte man durch die neue Richtung so weit entfernt sein, daß die Lichter nicht mehr zu sehen waren.

Da huschte plötzlich von hinten eine weiße Gestalt nach der Kommandobrücke, war mit einem Satze die Treppe hinauf und stand vor Ellen. Es war Miß Morgan, mit fieberhaft gerötetem Gesicht und funkelnden Augen.

»Sie wollten bewiesen haben, daß Miß Lind eine Detektivin ist und im Bunde mit den Engländern steht,« flüsterte sie hastig, ehe Ellen noch den Mund auftun konnte, »Kommen Sie, ich werde den Beweis liefern!«

Mit einem Sprunge war sie im Kartenhaus, riß den großen Spiegel von der Wand, war wieder bei Ellen, faßte sie am Arm und riß sie mit sich fort, die Treppe hinunter, dann nach dem Heck eilend.

Ellen wußte nicht, wie ihr geschah. Willig ließ sie sich mit fortziehen, dabei ebenso leise auftretend, wie ihre Führerin, obgleich die leichten Segeltuchschuhe sowieso auf dem Holz das Geräusch der Schritte dämpften.

Miß Morgan eilte ans Heck, ließ dort Ellen los, nahm den Spiegel unter dem Arm hervor, lehnte sich so weit als möglich heraus und hielt den Spiegel etwas schräg in den ausgestreckten Händen.

In dem Spiegel konnte man das Bullauge von Johannas Kabine erblicken und sehen, wie an dieses bald ein Tuch angehalten, bald wieder weggezogen wurde, so daß sich das Fenster bald verdunkelte, bald erhellte.

»Was sehen Sie?« flüsterte Miß Morgan.

»Es wird signalisiert,« gab Ellen erstaunt zurück. »Ja, es ist erst der Anfang. Nun beobachten Sie den ›Amor‹.«


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In diesem Augenblick wurde die Toplaterne auf dem ›Amor‹ heruntergelassen, blieb eine halbe Minute unten und wurde dann wieder gehißt, als wäre sie an Deck nachgesehen worden.

»Es war das Verstandenzeichen,« flüsterte Miß Morgan wieder, »nun passen Sie auf, was Miß Lind signalisiert.«

Das Tuch wurde nicht mehr wie vorhin gleichzeitig angehalten und abgenommen, sondern so, daß das Bullauge einmal nur einen Augenblick, dann wieder für längere Zeit erleuchtet blieb, und da dies in verschiedener Reihenfolge stattfand, so entstand dadurch eine Zeichenschrift, auf der See viel angewandt, deren Zeichen mit den Punkten und Strichen der Telegraphie verglichen werden können. Dadurch ist eine vollkommene Verständigung möglich.

Ellen blickte mit starrem Auge in den Spiegel und begann abzulesen:

»G—u—a—n—o—s—a—c—a, Guanosaca,« flüsterte sie mit bebender Lippe, »b—e—i, bei A—r—a—u ..«

Sie las nicht weiter, sie hatte genug verstanden. Sie fühlte, wie ihr plötzlich das Blut in den Kopf stieg, ein Zittern überlief ihre Glieder, dann jagte sie zurück nach dem zum Zwischendeck führenden Eingang, sprang mit einem Satz die Treppen hinunter und lief, nein, stürzte nach der hintersten Tür, welche zu Johannas Kabine gehörte.

Sie brauchte nicht erst die Türe zu öffnen — sie wäre doch verschlossen gewesen — so heftig war der Lauf Ellens gewesen, daß sie, als sie mit der Schulter an die Tür anprallte, das Schloß aufsprengte, die Tür flog zurück — und vor Ellen stand Johanna, die wie vom Blitz getroffen, auf ihrem Sofa zusammensank.

Hochaufgerichtet stand Ellen in der Tür, das bleiche Gesicht mit den rollenden Augen auf die Dasitzende gerichtet, die sie wie entgeistert ansah.

»Sie haben nach dem ›Amor‹ signalisiert?« fragte« Ellen mit vor Aufregung zitternder Stimme.

Die Antwort blieb aus.

»Sprechen Sie,« fuhr Ellen das Mädchen an und trat auf sie zu, »Sie haben dem ›Amor‹ den Namen des ausgemachten Hafens zusignalisiert. Gestehen Sie, Ihr Leugnen würde Ihnen jetzt nichts mehr helfen.«

Da sprang Johanna plötzlich auf und schaute der Kapitänin voll in die Augen.

»Ja, ich habe es getan,« rief sie, »meine Rolle ist hier ausgespielt. Gott sei gedankt, daß ich Ihretwegen nicht mehr zu lügen brauche!«


34. Über Bord.

Die »Urania« war schon acht Tage unterwegs. Mit unveränderter Schnelligkeit durchschoß sie die Fluten des Atlantischen Ozeans; die schwarz-weiß-rote Flagge an der Fahnenstange war immer nur von einem mäßigen Winde bewegt worden, also war auch kein Seegang vorhanden, und schon konnte man an der abnehmenden Temperatur merken, daß man sich in der gemäßigten Zone befand, denn in den nördlichen Gegenden herrschte jetzt der Winter.

Daher kam es, daß die Passagiere alle so munter und bei guter Laune waren! Wie konnte es bei dem herrlichen, sonnigen Wetter anders sein! Fälle von Seekrankheiten waren nur ganz wenige und diese ganz vorübergehend aufgetreten, eben wegen des ruhigen Laufes der ›Urania‹, und außerdem befinden sich auf einem von Afrika nach Europa fahrenden Schiffe nur selten Passagiere, die noch keine Seereise gemacht haben, also nicht »seefest« sind, wenn auch das einmalige Überstehen der Seekrankheit nicht die Wiederholung derselben ausschließt.

Auf einem Schiffe läßt sich leicht Bekanntschaft schließen; der wochenlange, enge Aufenthalt in steter Gesellschaft bringt dies ja mit sich; ja, sogar Freundschaften werden viel geschlossen, aber merkwürdig ist es, daß diese fast stets erlöschen, sobald das Schiff sein Ziel erreicht hat. Dann beginnt nämlich unter den Passagieren ein Hasten und Drängen, um erst einmal aus dem vollgepfropften Gepäckraum seine Koffer und Kisten herauszubekommen und dann an Land zu bringen, sie von sich anbietenden Trägern fortschaffen zu lassen, ist nicht immer ratsam. Oftmals sieht man weder den Träger, noch sein Gepäck wieder.

Mit aller Kraft reißt der Passagier an seinem im Gepäckraum zu unterst liegenden Koffer, hilfesuchend sieht er sich um. Gott sei Dank, da steht ja sein neuer Freund. Er ruft den Herrn, der glücklicher war als er und mit dem Koffer in der Hand schon wieder an Deck geht, an, ihm zu helfen — jawohl, der Freund ist im Hafen plötzlich taub geworden, er hört nicht auf die Rufe, sondern denkt: Selbst ist der Mann.

Ferner wäre es interessant, wenn man auf einem Passagierdampfer fortwährend zwischen Hamburg oder Bremen und New-York hin- und herführe, die während jeder Reise stattfindenden Verlobungen feststellte und dann konstatierte, wie viele der Pärchen auch noch am Lande Hand in Hand durchs Leben gingen.

Da könnte man zu erstaunlichen Resultaten kommen.

Doch es ist natürlich, daß sich auf einem Schiffe zwei Seelen schneller finden, als auf dem Lande, wo größere Auswahl vorhanden ist, sei es nun zur Gesellschaft, zur Freundschaft oder selbst aus dem Gefühle der Liebesbedürftigkeit.

Solch eine Sehnsucht, sich einem Menschen anzuschließen, hatte auch ein einsamer Passagier der »Urania«. Es war schon ein ältlicher Mann, mittelgroß, untersetzt und breitschulterig, einfach, aber anständig gekleidet. Sein Gesicht war ein ganz gewöhnliches, nicht schön und nicht häßlich, der ins Graue spielende Backenbart wohlgepflegt, die Augen ruhig geradeaus blickend — einfach ein Alltagsmensch.

Er ging den ganzen Tag an Deck spazieren, die Pfeife im Munde, die respektablen Fäuste in den Hosentaschen, und gab diesen Spaziergang nur auf, wenn die Glocke zum Essen rief oder wenn es Zeit war zum Schlafen.

Am frühen Morgen nahm er wieder den einsamen Gang an Deck auf, begrüßte jeden oben erscheinenden Passagier mit einem »Good Morning«, wechselte aber sonst mit keinem Menschen ein Wort, wahrscheinlich, weil ihm keiner der Menschen an Bord gefiel, mit Ausnahme von zwei Personen, die aber wieder seine Unterhaltung nicht wünschten.

Diese beiden waren ein Herr und eine Dame, welche stets zusammenstanden oder saßen, an Deck sowohl wie unten an der Tafel, sich immer unterhielten und sofort schwiegen, wenn ein Fremder sich ihnen nahte, also, wie ein deutsches Wort es so recht schön ausdrückt — ein Pärchen.

Dieses Pärchen waren Hope und Hannes, die sich liebenden Flüchtlinge.

Gerade diese beiden Personen mußten für den einsamen Spaziergänger eine besondere Anziehungskraft besitzen. Gleich am ersten Tage hatte er sich ihnen zu nähern gesucht und eine Unterhaltung angeknüpft, natürlich über das Wetter.

»Schönes Wetter heute,« sagte er auf englisch.

Hannes, der mit Hope an der Brüstung stand und dem Spiele der Wellen zusah, drehte sich um, blickte den Mann zerstreut an und antwortete:

»Ja, ja, schönes Wetter!«

»Ob es wohl bald regnen wird?« .

»Weiß ich wahrhaftig nicht.«

»Wolken sind noch nicht zu sehen,« fuhr der Fremde beharrlich fort, ,

»Kann nichts dafür — was sagtest du, Hope?« wandte sich Hannes an das Mädchen.

Nach diesem interessanten Gespräch nahm der Fremde seine einsame Wanderung wieder auf. Acht Tage waren nun schon vergangen; er hatte immer noch einmal versucht, ein Gespräch mit den beiden anzufangen, aber das Resultat war stets dasselbe gewesen; er erhielt nur zerstreute, kurze und schließlich gar keine Antworten.

Die Nacht vom achten zum neunten Tage war etwas stürmisch gewesen, aber der Morgen hatte wieder einen hellen Tag und wenig Wind gebracht. Der Fremde war schon wieder einige Stunden unterwegs, immer von vorn nach hinten und von hinten nach vorn an Deck, als Hannes heraufkam, diesmal aber allein, sich auf eine Bank setzte, eine Pfeife stopfte und zu rauchen begann.

Eine Zeitlang wanderte der Fremde ruhig an der Bank vorbei, dann aber mußte er einen Entschluß gefaßt haben, er blieb vor Hannes stehen, bat um ein Streichholz und setzte sich, während er seine Pfeife anzündete, neben diesen.

»Thank you,« sagte er, als er das Streichholz wegwarf.

Diesmal war es Hannes, welcher ein Gespräch anfing, jedenfalls zur heimlichen Freude des Fremden.

»Ich kalkuliere, Sie sind ein Deutscher,« sagte Hannes auf deutsch, den Fremden lächelnd anblickend.

»Allerdings,« rief dieser erstaunt in derselben Sprache, »woran merken Sie das gleich?«

»Ich höre es an der Aussprache Ihres ›Danke‹ und habe es schon früher gemerkt, als wir uns über das Wetter unterhielten.«

»Ich hätte nicht geglaubt, daß Sie kein Engländer sind,« entgegnete der Fremde, »Sie sprechen doch mit Ihrer Dame immer englisch.«

»Ja, warum denn nicht? Sie ist eine Amerikanerin. Haben Sie ihr das nicht angehört?«

»Nein, ich bin noch nicht so weit, einen Engländer von einem Amerikaner unterscheiden zu können. Die Dame ist doch nicht unwohl,« fügte er besorgt hinzu, »sonst ist sie um diese Zeit doch gewöhnlich an Deck?«

»Doch, sie ist in der Nacht etwas seekrank geworden und zieht es vor, in der Koje zu liegen, statt an die frische Luft zu gehen.«

»Wie, seekrank? Bei dem geringen Seegang, den wir hatten? Das hätte ich nicht geglaubt — die Arme!«

»Was sagen Sie denn aber erst dazu? Die Dame ist zwei Jahre lang ununterbrochen auf einem Schiffe gewesen, und noch dazu auf einem Segler, der viel stärker schlingert, als ein Dampfer, und ist dort nur im Anfange etwas seekrank gewesen,« sagte Hannes lachend.

»Ist nicht möglich,« sagte der Fremde verwundert. »Ich habe nur zweimal eine Seereise gemacht, bin aber schon vollkommen seefest.«

»Prahlen Sie ja nicht so mit Ihrer Seefestigkeit,« entgegnete Hannes spöttisch. »Die Seekrankheit ist nämlich ein eigentümliches Ding, just wie das Heimweh. Sehen Sie, ich habe zwar keine Heimat und kenne daher auch kein Heimweh, aber ich habe Menschen kennen gelernt, die viele, viele Jahre fern von den Ihren waren, ohne nur davon eine Idee zu haben, was Heimweh überhaupt ist, hauptsächlich auch darum, weil es ihnen zu Hause nicht gut gegangen ist, und da, nach zehn Jahren, werden sie plötzlich von dieser Krankheit befallen, sie fangen an zu weinen, zu jammern, zu lamentieren und ruhen nicht eher, als bis sie den heimatlichen Boden wieder unter den Füßen haben. Ist das nicht merkwürdig?«

»Ja. Wie mag das Heimweh entstehen?«

»Es ist eben unberechenbar. Ein Bild, ein Wort, ja nur ein plötzlicher Gedanke kann eine unbestimmte Sehnsucht erwecken, man weiß nicht, wonach man sich eigentlich sehnt — so ist mir erzählt worden — und schließlich merkt man, daß es das Heimweh ist. So habe ich es mir wenigstens zurechtgelegt.« »Sie meinen, daß es sich mit der Seekrankheit ebenso verhält?« sagte der Fremde.

»Ganz genau so,« versicherte Hannes. »So zum Beispiel gibt es alte Seebären, die nur einmal in der Jugend seekrank gewesen sind, die sich gar nicht mehr darauf besinnen können, und andere, die vielleicht diese Krankheit überhaupt nicht gehabt haben. Das Schiff mag noch so schlingern und hüpfen, sie gehen auf den tanzenden Planken wie auf dem Lande. Da, bei ganz schönem Wetter kommt der Wind mit einem Male von der anderen Seite, das Schiff beginnt aus einer anderen Richtung zu schlingern nur ganz wenig, und der alte Seebär beginnt plötzlich zu stöhnen und zu jammern, daß der Schiffsjunge sich über ihn halbtot lachen muß — er ist seekrank geworden. Wie kommt das?«

»Das muß lustig sein, wenn die Passagiere alle gesund sind, und der Kapitän wird plötzlich seekrank,« lachte der Fremde.

»Ja, das kann aber vorkommen. Ebenso ist es, wenn jemand auf einem Segelschiffe gefahren ist und kommt dann auf einen Dampfer. Dieser bewegt sich ganz anders als ein Segler, er stampft viel mehr, weil er sich nicht über die Wellen erhebt, sondern sie mit Gewalt durchbricht. Und dann macht auch das Zittern der Schraube viel aus. Daher ist die Dame auch seekrank geworden.«

»Sie sagten vorhin, das Fräulein sei zwei Jahre ununterbrochen auf einem Segelschiffe gewesen. Wie soll ich das verstehen? Ist sie die Tochter eines Kapitäns?«

»Nein,« entgegnete Hannes. »Haben Sie von der ›Vesta‹ gehört?«

»Ei gewiß,« rief der Fremde, »wer sollte nicht von diesem Schiffe gehört haben? Sie ist doch nicht eine von den Damen, welche auf der ›Vesta‹ fahren?«

»Gewiß,« nickte Hannes, »bis vor acht Tagen war sie eine Vestalin.«

Der Fremde blickte einen Augenblick nachdenklich vor sich hin, es mußte ihm plötzlich einfallen, daß die Vestalinnen alles reiche, vornehme Damen waren, und daß dieser Mann, der so intim mit einer von ihnen verkehrte, kein gewöhnlicher Mensch sei, so einfach er auch angezogen war und sich benahm. Er hielt es plötzlich für nötig, sich vorzustellen.

»Entschuldigen Sie, daß ich mich noch nicht vorgestellt habe,« sagte er und nahm den Hut ab, »mein Name ist Renner, Max Renner aus Frankfurt.«

»Und ich heiße Hannes Vogel,« antwortete Hannes, der in der Kunst des Vorstellens nicht sehr bewandert war, und wollte auch den Hut ziehen, brachte die erhobene Hand aber nur bis an die Tabakspfeife, die er aus dem Munde nahm.

»Darf ich fragen,« begann Herr Renner wieder sehr höflich, »ob diese Dame Ihre Gemahlin ist? In diesem Falle müßte ich um Entschuldigung bitten, von ihr als Fräulein gesprochen zu haben.«

»Meine Frau ist sie noch nicht, aber lange wird es nicht mehr dauern,« entgegnete der offene Hannes.

»Sie haben sie doch nicht von der ›Vesta‹ entführt?« scherzte der Mann an seiner Seite.

»Doch, ich habe sie entführt, wie man so sagt — aber das heißt,« unterbrach sich Hannes schnell, der unter Entführung eigentlich etwas anderes verstand, »Gewalt habe ich dabei nicht angewendet, sie ist mir freiwillig gefolgt.«

»Das glaube ich auch,« sagte Herr Renner, »man kann Ihrer Braut wahrlich nicht anmerken, daß sie gezwungen worden ist, Ihnen zu folgen.«

»Also Renner heißen Sie,« nahm Hannes wieder das Wort. »Wissen Sie auch, daß dieser Name sehr schlecht bei mir angeschrieben steht? Wenn ich ihn nennen höre, möchte ich immer gleich zuschlagen.«

Erschrocken brachte der Herr die beiden Hände aus der Hosentasche, von denen schon vorher gesagt wurde, daß sie sich zu recht ansehnlichen Fäusten ballen konnten, »Wieso?« rief er verblüfft. »Wie kommen Sie darauf?«

»Nun, nun,« sagte Hannes und mußte über das erschrockene Gesicht seines Nebenmannes lachen, »ich meinte das ja ganz anders.«

Er erklärte ihm, was der Seemann unter einem Renner versteht, und wie schlecht ein solcher bei ihm angeschrieben ist.

Jetzt mußte auch der Herr über seine augenblickliche Angst lachen.

Plötzlich nahm er eine nachdenkliche Miene an, blickte lange starr auf eine Decksplanke und sagte dann langsam:

»Wie ist mir denn, habe ich Ihren Namen, Vogel, nicht schon einmal irgendwo gehört?«

»Wohl möglich, Vogel ist kein so seltener Name.«

»Aber, wenn ich nicht irre, war es Hannes Vogel.«

»Vielleicht Johannes Vogel, der Name mag oft genug vorkommen. Warum nicht?«

Der Mann drehte den Kopf Hannes zu und musterte ihn.

»Ich darf wohl als richtig annehmen, daß Sie Seemann sind?« fragte er. »Ihre Ausdrücke, Ihre ganze Art lassen darauf schließen.«

»Jawohl, ich bin Seemann, bin neun Jahre in allen Himmelsrichtungen als Matrose gefahren,« entgegnete Hannes.

»Dann irre ich mich nicht, ich habe schon einmal von Ihnen erzählen hören, etwa vor zwei oder drei Jahren, es war in einem kleinen Hafenort.«

»Ach so, Sie haben aus dem Munde eines Matrosen meinen Namen gehört? Ja, dann ist es möglich, daß er mich gemeint hat,« rief Hannes. »Wissen Sie nicht, wie der Mann geheißen hat?«

»Er hieß — warten Sie einmal.« Renner legt? die Hand auf die Stirn. »Jochen — Jochen...« »Jochen Voß doch nicht etwa?« fragte Hannes mit gespannter Miene.

»Richtig, Jochen Voß war sein Name.«

»Himmel, Hölle, Bramstange und Klüverbaum,« schrie Hannes und sprang von der Bank empor, so daß Herr Renner erschrocken zusammenfuhr, »und das sagen Sie mir jetzt erst?«

»Ich hatte keine Ahnung davon, daß Sie dieser Hannes Vogel waren,« lächelte jener.


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»Vor drei Jahren, sagen Sie? Nein, das kann höchstens vor zwei Jahren gewesen sein. Nicht wahr?«

»Ja, das mag stimmen, ich war damals in einem kleinen Hafen bei Kiel, ich kehrte in einer Schenke ein, wo Matrosen logierten. Mit dem einen schloß ich für diesen Abend Freundschaft, und er verkürzte mir die Zeit durch seine Erzählungen. Er sagte, er wäre vor einer Woche erst aus dem Londoner Gefängnis gekommen, weil er ein paar Soldaten ...«

»Das ist er, das ist er,« jubelte Hannes auf und schien Lust zu haben, dem Manne um den Hals zu fallen. »Hat er von mir erzählt, seinem Kompagnon?«

»Natürlich, immerwährend hat er von Ihnen erzählt, er fing ja gleich damit an, wie er mit Ihnen zusammen die englischen Soldaten verprügelt hat, wie Sie entflohen, er aber gefaßt worden ist.«

»War er recht böse darüber, daß ich mich nicht freiwillig gestellt habe, während er eingesteckt wurde?«

»Durchaus nicht,« lachte Renner, »er freute sich sehr, daß Sie dem Steineklopfen entgangen sind.«

»Ja, ein braver Kerl war er immer,« sagte Hannes stolz, »nicht ein Fünkchen Eigennutz hatte er im Leibe. Was hat er sonst noch von mir erzählt?«

»Ich sage Ihnen, den ganzen Abend und die halbe Nacht. Ich wurde nicht müde ihm zuzuhören, und er nicht müde zu erzählen. Das sind ja tolle Streiche gewesen, die Sie beide da immer zusammen ausgeführt haben.«

»Ja, wir waren riesig fixe Kerls, so ein Paar kommt nicht leicht wieder zusammen. Ich wollte, ich wäre jetzt bei ihm, da wollte« wir wieder schöne Streiche aushecken. Ach so,« unterbrach sich Hannes und kratzte sich verlegen hinter den Ohren, »ich bin ja bald Ehemann, da ist es mit den Streichen vorbei, sonst schimpft die Frau.«

»Na, lustig können Sie deshalb auch noch bleiben,« tröstete Renner.

»Ei und ob,« lachte Hannes, »wir wollen schon lustig sein, meine Frau macht immer mit, aber nur nicht solche Sachen, wofür man eingesteckt wird. Ich kann ja von meiner Frau später nicht verlangen, daß sie Steine klopft — dann hört ja der Respekt auf.«

Herr Renner mußte lachen.

»Ja,« sagte er dann, »das war damals ein lustiger Abend, ich habe nie bereut, daß ich, statt in einem dumpfigen Hotelbett zu liegen, ihn in einer so heimisch nach Teer duftenden Schifferstube zugebracht habe. Ungezählt waren die Abenteuer und Streiche, die Jochen von Ihnen und sich zum besten gab. Ich entsinne mich auch, daß er, wenn er von Ihnen sprach, sich gern eines anderen Namens bediente. Er nannte Sie oft den — Baron glaube ich. Nicht wahr, so wurden Sie von ihm genannt?«

»Der Spitzbube,« lachte Hannes verlegen. »Nein, Baron war es nicht, vielleicht Freiherr?«

»Stimmt!« rief Renner. »Er sagte meistenteils nicht: mein Freund Hannes, sondern: mein Freund, der Freiherr. Wie kommen Sie eigentlich zu dieser Bezeichnung? Sind Sie Freiherr?«

»Gott bewahre. Was sollte ein Freiherr wohl als Matrose zur See machen? Es ist nur ein Spitzname, den ich einmal vor Jahren bekommen habe.«

»Nun, nun,« meinte Renner, »wie ich gehört habe, findet man unter Seeleuten oft Adelige, denen es zu Hause nicht gefallen hat und die fortgelaufen sind.«

»Mag sein, bei mir ist so etwas nicht der Fall,« entgegnete Hannes kurz.

Der Fremde warf einen prüfenden Blick auf Hannes.

»Ich weiß doch nicht recht,« sagte er dann bedächtig mit respektvoller Miene, »es ist etwas an Ihnen, welches mich doch glauben macht, daß ich die Ehre habe, mit einem Freiherrn zu sprechen.«

»Unsinn!« rief Hannes etwas ärgerlich. »Ich bin froh, daß ich kein solcher bin, der sich mit Dienern und Lakaien herumärgern muß, danke vielmehr Gott jeden Morgen, daß ich ein freier Mann bin, der nichts hat, als seine gesunden Glieder, und dem die ganze Welt gehört.«

»Da haben Sie recht,« stimmte Renner ihm bei. so sind Sie wohl der Verwandte eines Freiherrn? Denn wie wäre es sonst möglich, daß Sie den Namen bekommen haben!«

Hannes ärgerte sich sehr, daß der Fremde in seinen Vermutungen nicht nachließ, und da er keinen Grund hatte, etwas zu verheimlichen, so teilte er ihm mit, daß er im Besitz eines Geburtsscheines sei, der ihm zu dem Spottnamen »der Freiherr« verholfen habe. Er hoffte, daß damit die Neugierde des Herrn Renner befriedigt sei, aber er hatte sich getäuscht.

»Ach, das ist ja interessant!« rief dieser. »Ich kenne die Familie des Freiherrn von Schwarzburg, es ist ein mächtiges Adelsgeschlecht am Rhein, und wenn ich nicht irre, so existiert auch ein Sohn mit dem Namen Johannes. Er dürfte in Ihrem Alter sein, und es ist leicht möglich, daß diesem der in Ihrem Besitz befindliche Geburtsschein abhanden gekommen ist. Dürfte ich ihn einmal sehen? Ich kenne ungefähr das Datum, wann dieser Johannes geboren ist.«

»Ich habe ihn nicht bei mir,« entgegnete Hannes, der das ihm unangenehme Gespräch auf jeden Fall abbrechen wollte.

»So haben Sie ihn schon abgeliefert?«

»Nein, nein, er ist unten im Koffer, ich trage nur meine notwendigsten Papiere bei mir. Aber jetzt, Herr Renner, hören Sie endlich mit Ihrer Fragerei auf! Donnerwetter, Sie müssen doch nun gemerkt haben, daß mir dieses Thema keine Freude macht.«

Nach diesen freimütigen Warten wagte der neugierige Herr nicht mehr, über den Geburtsschein zu sprechen. Er lenkte das Gespräch auf einen anderen Gegenstand, der für Hannes mehr Interesse haben mußte, auf Hope.

»Das Fräulein wird Ihre Gegenwart schwer vermissen,« sagte er. »Es wird unsereinem schon sauer genug, einsam in der Koje zu liegen und seinen düsteren Gedanken nachzuhängen, um wieviel mehr so einer jungen Dame, wenn sie den Gegenstand ihrer Liebe nicht weit von sich weiß.«

»Wer aber seekrank ist, ist allein am besten aufgehoben,« versetzte Hannes und klopfte seine Pfeife aus; »selbst wenn meine Braut mich wünschte, würde ich nicht zu ihr kommen, die Stewardeß kann ebensogut ihre Wünsche befriedigen, wie ich.«

»Ach, wie können Sie so hartherzig sein!«

»Ich bin durchaus nicht hartherzig und am allerwenigsten gegen meine Braut, das können Sie sich wohl denken. Aber ich weiß Seekranke zu behandeln, ich habe genügend Gelegenheit gehabt, sie zu beobachten. Die Seekrankheit greift nämlich nicht nur den Körper, sondern auch die Seele an.

»Der mutigste Mensch wird feig, und der gutmütigste wird zänkisch. Darum vermeide ich es, mit meiner Braut zu sprechen, so lange sie seekrank ist. Ist der Unfall vorüber, dann kommt sie schon von selbst an Deck, mich aufzusuchen, und es ist keine Disharmonie zwischen uns entstanden.«

»Sie sind ein Diplomat,« lachte der Fremde.

Die Glocke rief zur Tafel. Der Platz an Hannes Seite war diesmal leer, Hope verschmähte jede Nahrung.

Aber am Nachmittage kamen beide Arm in Arm an Deck. Hope sah bleich und angegriffen aus, war aber trotzdem äußerst guter Laune, denn ihr Unwohlsein war überstanden. Das kam hauptsächlich daher, daß die »Urania« jetzt ganz ruhig lief.

Der Wind hatte sich vollständig gelegt, auch der Seegang hatte sich mit einem Male beruhigt, aber am Horizont stiegen schwere Wolken auf. Die Passagiere freuten sich des ruhigen Wetters; Kapitän und Mannschaft dagegen musterten besorgt die dunklen Wolken, die einen Sturm versprachen.

Hope, noch sehr erschöpft, ward von Hannes gegen Abend wieder in ihre Kabine geführt, er selbst kam gleich wieder an Deck und wurde sofort von Herrn Renner welcher das Pärchen unbehelligt gelassen hatte.

»Ich kalkuliere, wir bekommen heute eine böse Nacht« sagte Hannes zu Renner.

»Ich glaube auch,« versetzte dieser, »ich habe zwar zu wenig Erfahrung, um als Wetterprophet auftreten zu können, aber ich lese in den besorgten Mienen der Matrosen, daß etwas im Anzüge ist. Ihre Behauptung bestätigt dies.«

»Ja, diese Ruhe ist eine trügerische, sie geht einem heftigen Sturm voraus. Aber ich freue mich wieder auf einen solchen, habe schon lange keinen mehr mit durchgemacht. Wissen Sie, was ich in dieser Nacht anfangen werde? Ich ziehe meinen alten Ölanzug an, stelle mich ans Heck und lasse die Wellen über mich weggehen. Das ist herrlich, sage ich Ihnen, so etwas verjüngt mich stets um ein ganzes Jahr.«

»Da haben Sie dieselbe Passion, wie ich,« rief Renner erfreut, »auch ich kenne kein größeres Vergnügen, als meine Brust dem Sturme darbieten zu können. Da fühlt man erst, daß man ein Mann ist, die Knochen füllen sich mit Mark, und der Wind bläst alle Krankheiten aus dem Körper heraus. Dann werden wir uns heute nacht wohl wieder an Deck treffen, Herr Vogel?«

»Haben Sie aber auch Ölzeug? Sie werden ohne das durch und durch bis auf die Haut naß.«

»Das macht nichts,« lachte Renner, »es ist ja warm. Gegen Erkältung bin ich gefeit. Im schlimmsten Falle kann ich mir ja von einem Matrosen Ölzeug borgen.« — —

Es war eine stockfinstere Nacht; kein Mondstrahl, kein Stern konnte die schwarzen Wolken durchdringen, die, vom heftigsten Sturm gepeitscht, über den Himmel flogen.

Der Sturm heulte, die Masten und Raaen ächzten wie in Todesangst, und Welle auf Welle übergoß das Deck der »Urania«, für einige Augenblicke einen dampfenden Gischt zurücklassend, bis eine neue Woge an den Schiffsrumpf donnerte und gebrochen über das Deck rollte.

Kein Matrose war an Deck zu sehen, alle hatten Verstecke aufgesucht, wo sie vor den durchnässenden Wogen sicher waren, und der Kapitän hielt den Kopf nur bis zu den Augen über die schützende Leinwand, welche zu beiden Seiten der Kommandobrücke aufgespannt war. Er sah nichts weiter als ein ungeheures Hügelfeld, auf welches das wackere Schiff bald emporkletterte, bald hinabfuhr, dann jedesmal den Bug tief im Wasser vergrabend.

Es war keine Gefahr vorhanden, die Takelage war in bester Ordnung, alles an Deck, im Zwischendeck und unten im Raum festgebunden, von ihm selbst geprüft, und so konnte er getrost den Ausgang des Sturmes abwarten.

Für die Sicherheit der beiden Personen, welche hinten am Heck standen und sich an die Bordwand klammerten, war er nicht verantwortlich, denn es waren keine Frauen oder Kinder, denen er den Aufenthalt an Deck bei Sturm verbieten mußte, sondern kräftige Männer, wahrscheinlich Seeleute, sonst hätten sie es wohl nicht gewagt, dem ungestümen Spiel der Wogen zuzuschauen.

Da plötzlich gellte ein Schrei durch die Nacht, ein Mann stürzte von hinten der Luke zu, glitt aus und rollte über Deck. Matrosen sprangen von allen Seiten zu und fingen ihn auf.

»Was ist los?« hörte der Mann auf der Brücke rufen, während sein Steuermann schon die Treppe hinuntersprang, um sich von dem Tatbestand zu überzeugen. Der Kapitän selbst durfte unter keinen Umständen die Brücke verlassen, und wenn das Schiff in Stücke ging.

»Mann über Bord!« heulte in diesem Augenblicke die Stimme eines Matrosen. Der Kapitän stand schon am elektrischen Signalapparat.

»Stopp — Gegendampf,« klingelte es im Maschinenraum. Das Zittern der Schraube hörte plötzlich auf, um dann aber desto heftiger zu werden — die »Urania« dampfte rückwärts.

»Wer ist es?« fragte unten der Steuermann den an allen Gliedern zitternden Mann mit dem aschfahlen Gesicht.

Stumm deutete er nach hinten.

Die Matrosen stürzten nach hinten, den Mann mit sich reißend.

»Er ist über Bord gewaschen,« stöhnte er, »hier hat er sich festgehalten.«

Eine eiserne Stange lief auf der hölzernen Bordwand um das ganze Schiff herum, da, wo sich der Unglückliche festgehalten haben sollte, war sie krumm gebogen — so ungestüm ist die Kraft des entfesselten Ozeans.

Einige Passagiere hatten sich um Renner versammelt und hörten seiner Unglücksbotschaft zu, sich dabei an irgend etwas festklammernd.

»Wer war es?« fragte der Steuermann.

»Er hieß Hannes Vogel.«

»Zurück vom Boot!« rief der Kapitän. »Seid Ihr toll, jetzt ein Boot aussetzen zu wollen?«

Doch gleich sah er seinen Irrtum ein, die Gestalt die auf ein Boot zugesprungen und Anstalten machte, die Taue zu lösen, war kein Matrose — ein Weib hielt sich an dem Taue fest.


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»Haltet sie, sie will über Bord,« schrie ein Matrose, sprang an die Bordwand und bekam eben noch eine Frau zu fassen, welche sich ins Wasser stürzen wollte.

»Laßt mich,« flehte das Weib und rang mit dem Matrosen, »ich muß ihm nach, ich muß.«

Vier kräftige Arme zwangen die Wahnsinnige, von ihrem Versuche abzustehen, schafften sie in ihre Kajüte, schlossen die Tür ab und ließen einen Posten davor. Es war nicht das erste Mal, daß ein Weib einem über Bord Gespülten nachsprang — aber der Kapitän war verantwortlich dafür, daß so etwas nicht geschah.

»Laßt mich ins Boot, oder laßt mich ins Wasser springen,« schrie die Unglückliche und pochte unausgesetzt an die Tür.

»Hannes,« gellte es dann noch einmal auf, und ein dumpfer Fall erfolgte. Das Mädchen mußte ohnmächtig zusammengebrochen sein.

Auf der Kommandobrücke standen mehrere Matrosen mit großen Lampen, an denen Spiegel angebracht waren. Die »Urania« dampfte in weitem Bogen um die Unglücksstelle, die reflektierenden Strahlen beleuchteten auf weite Ferne das Meer, aber das Auge erblickte nur eine wüste Wasserfläche, himmelhohe Berge und tiefe Täler.

»Volldampf, alten Kurs!« kommandierte der Kapitän eine Viertelstunde später. »Die Wogen haben ihn sofort verschlungen. Ich habe meine Pflicht getan,« fügte er leise hinzu.


35. Die Gesetzte der ›Vesta‹.

Nur selten kommt es vor, daß ein Dampfer, wenn er zum Dampfen fähig ist, die Fahrt unterbricht, auf offenem Meere still liegt, und noch seltener geschieht es, daß ein Segelschiff, dessen Takelage und Ruder in Ordnung sind, und welches auch nicht leckt, mit aufgerolltem Segel und festgebundenem Ruder auf dem Wasser schaukelt, ohne den günstigen Wind zu benutzen.

Dann muß gerade eine Arbeit vorliegen, bei der alle Kräfte der Mannschaft heranzuziehen sind, so daß kein Matrose mehr übrig ist, um das Schiff zu beaufsichtigen, wie gesagt, man trifft nur selten einmal auf ein solches stilliegendes Schiff.

Das Fahrzeug aber, welches mit eingezogenen Segeln und festgebundenem Ruder träge von dem frischen Winde getrieben wurde, hatte keine derartige Arbeit zu besorgen. Alles war in Ordnung. Niemand stand an Deck, um Beobachtungen der Wasserfläche oder des Meeresgrundes zu machen, keine Pumpen wurden gedreht, sondern alle die in Matrosenkostümen gekleideten Mädchen standen um den Hauptmast herum und hörten der Erzählung der Kapitänin zu.

Je länger sie sprach, desto unwilliger wurden die Mienen der Umstehenden. Laute der Entrüstung wurden hörbar, und nur sehr, sehr wenige gab es unter ihnen, welche an der Wahrheit der Rede ihrer Kapitänin zweifelten, sie kämpften noch mit sich selbst, ob sie deren Worten Glauben schenken sollten oder nicht.

Jedenfalls, sagten sich die wenigen, wollen wir nicht urteilen, ehe wir sie nicht selbst gesehen und ihre Verteidigung gehört haben, und wenn sie irgend einen genügenden Entschuldigungsgrund vorbringen könnte, so wollten sie, ihre Freundinnen, für sie mit aller Kraft eintreten.

»Führen Sie jetzt Miß Lind, wie sie sich nennt, vor,« sagte die Kapitänin zu einer Dame.

Diese ging und kam gleich darauf mit Johanna zurück.

Glaubten die Vestalinnen, eine schuldbewußte Person mit ängstlichem Gesicht und niedergeschlagenen Augen vor sich geführt zu bekommen, so hatten sie sich getäuscht. Noch nie trug Johanna den Kopf so hoch, die strahlten ihre Klugen in solch freudigem Glanze, wie jetzt, da sie sich wegen des an der ›Vesta‹ geübten Verrates verantworten sollte. Kein Zucken in ihrem Gesicht zeigte, daß sie irgendwelche Angst fühle vor Strafe; ruhig trat sie in die Mitte der einstigen Freundinnen, denen sie ansah, daß sie dieselben nicht mehr als solche betrachten dürfe. Nur auf wenigen Gesichtern konnte sie noch eine Spur von Teilnahme erblicken, alle übrigen sahen die Verräterin mit Haß oder Verachtung oder mit Abscheu an. Mit ernster Miene und Stimme begann die Kapitänin das Verhör, Teilnahme kannte sie nicht mehr.

»Haben Sie diese Nacht dem ›Amor‹ den Namens des Hafens zusignalisiert, welchen wir kurz vorher unter uns als unser nächstes Ziel ausgemacht hatten?« fragte sie Johanna.

»Ich habe es getan,« war die ruhige Antwort.

Ein Murmeln ging durch die Reihen der umstehenden, Johanna hatte ihr Vergehen gestanden, eine Entschuldigung war nicht mehr möglich.

»Warum?«

Johanna blieb die Antwort schuldig. Sie schien weder diese nochmals wiederholte Frage Ellens zu Hörens noch die Umstehenden zu bemerken, ihr braunes Auge war in die Ferne gerichtet, auf das blaue unendliche Meer, als sehne sie sich dorthin oder erwarte von dort Rettung.

»Wollen Sie meine Frage beantworten?« sagte Ellen, als sie nochmals vergeblich das »Warum« wiederholt hatte.

»Nein, es hat doch keinen Zweck,« entgegnete Johanna, die Augen wieder nach Ellen wendend. »Bestrafen Sie mich so, wie es die Gesetze der ›Vesta‹ für meinen Fall vorschreiben. Ich habe die Straft verdient und werde sie ohne Murren ertragen.«

Erstaunt hörten die Vestalinnen diese demütigen Worte; in den Herzen einiger stieg Mitleid wieder auf.

»So schnell geht das nicht,« sagte aber Ellen, »wir bestrafen Sie nicht, ehe wir nicht wissen, mit wem wir es zu tun haben. Sie kennen doch übrigens den Paragraphen, nach dem wir Sie bestrafen müssen, wollen wir nicht selbst unser Wort brechen, und Sie kennen auch die Strafe, welche Ihrer harrt? Ich frage Sie deshalb, weil Sie die Sache sehr leicht zu nehmen scheinen.

»Ich weiß, was für eine Strafe ich zu gewärtigen haben.« antwortete Johanna ruhig.

Ellen ließ sich von einer Nebenstehenden ein Ledermappe reichen, nahm daraus einen Bogen Papier und las vor:

»Paragraph acht: Wer ein schon bestimmtes Reiseziel verrät, so daß es bekannt wird, oder überhaupt Mitteilungen über etwas macht, was zwischen Vestalinnen unter dem Siegel der Verschwiegenheit ausgemacht wird, wird an den Mast gebunden, erhält so viele Geißelhiebe, als die Vestalinnen für gut befinden, und wird im nächsten Hafen an Land gesetzt.«

»Ist dies Ihre Unterschrift?« fuhr Ellen fort, Johanna das Papier hinhaltend und auf eine Stelle deutend.

»Es ist die meinige.«

Immer erstaunter wurden die Vestalinnen über das rätselhafte Benehmen Johannas, welche mit solcher Ruhe, ja Freudigkeit alles zugab.

»Einen Augenblick, Miß Petersen,« rief da Miß Thomson und trat vor Johanna, »gestatten Sie mir, einige Fragen zu stellen.«

»Johanna,« redete sie das Mädchen an, das Papier nehmend, »Sie haben sich hier mit Johanna Lind unterzeichnet. Ist dies auch Ihr wirklicher Name?«

Alle verstanden sofort, was Miß Thomson vorhatte. So schwach der Plan auch war, nach welchem Betty die Verteidigung der Angeklagten führen wollte, die Mädchen waren unter sich und nicht von einer höheren Gerichtsbarkeit abhängig. Doch war es möglich, daß Betty, welche unter den Mädchen das meiste Ansehen genoß, dadurch die Strafe Johannas lindern konnte. Sie wußte, daß einige, zum Beispiel Miß Murray und Nikkerson, auf ihrer Seite standen.

Aber Johanna war es selbst, welche diese keck aufgegriffene Verteidigung zu nichte machte.

»Ich habe mich Johanna Lind unterzeichnet,« entgegnete sie, »und dieses ist mein Name. Geben Sie sich keine Mühe, Miß Thomson, meine Strafe zu lindern. Ich habe sie verdient.« Bestürzt ließ Miß Thomson das Papier zu Boden fallen und blickte lange in die braunen Augen der vor ihr Stehenden..

»Johanna,« sagte sie dann leise, »warum wollen Sie sich denn durchaus ins Unglück stürzen? Merken Sie denn nicht, wie ich bemüht bin, Sie zu retten? Seien Sie doch nicht so trotzig! Ihre Lage ist wirklich! eine sehr ernste.«

Johanna ließ ihre Augen lange auf den Zügen der einstmaligen Freundin ruhen, die sie jetzt noch zu retten suchte. Ihr früherer Glanz erlosch plötzlich; tiefe Wehmut umschleierte sie, und dann füllten sie sich mit Tränen.

Aber kaum benetzten diese ihre Wangen, so schüttelte sie unwillig den Kopf, daß die Tropfen abgeschleudert wurden, und mit fester Stimme sagte sie:

»Ich will nicht gerettet sein, ich will bestraft werden, damit ich die ›Vesta‹ verlassen kann.«

Ihr Benehmen, ihre Worte waren den Vestalinnen unbegreiflich. Entweder hatten sie es hier mit jemanden zu tun, dessen Geist nicht ganz richtig war, oder ein Geheimnis lag vor.

Achselzuckend trat Miß Thomson zurück, ihren Freundinnen einen bedeutsamen Blick zuwerfend. Diejenigen, welche gehofft hatten, Johanna zu retten, gaben dies jetzt auf. Höchstens konnten sie die Strafe noch lindern.

»Wie ich schon sagte,« nahm Ellen wieder das Wort, »ich will erst wissen, ehe Sie bestraft werden, warum Sie den Namen des Hafens verraten, ob Sie dieses schon früher manchmal getan haben, und mit wem wir es eigentlich zu tun, wen wir so lange auf der ›Vesta‹ als Gefährtin beherbergt und als Freundin behandelt haben.«

»Bestrafen Sie mich!« sagte Johanna einfach. Ich bin nicht verpflichtet, Ihnen auf derartige Fragen Antwort zu geben. Mein sehnlichster Wunsch ist nur, aus Ihrer Nähe entfernt zu werden und zwar sobald als möglich.«

Ellens Augenbrauen zogen sich finster zusammen.

»Gut,« sagte sie, »ich werde Sie nicht mehr fragen, sondern die Antwort auf eine andere Weise mir zu verschaffen suchen. Wer von den Damen damit einverstanden ist, die Papiere dieser Person zu untersuchen, welche uns verraten hat,« wandte sie sich an die Umstehenden, »bitte ich, die Hand zu erheben. Es steht zu erwarten, daß Miß Lind, wie sie sich nennt, nicht diesen einzigen Verrat ausgeübt hat, ja, daß sie sogar ganz andere Pläne verfolgte, als sie sich an Bord der ›Vesta‹ aufnehmen ließ.«

Die meisten Hände flogen in die Höhe; es war nicht nur Neugier, welche die Mädchen zu dem Wunsche veranlaßte, die Effekten Johannas zu untersuchen. War sie wirklich eine Detektivin, dann mußten sich interessante Tatsachen ergeben, dann war Johanna wahrscheinlich eine ganz gefährliche Intrigantin.

»Ein Zählen der Hände ist nicht nötig,« sagte Ellen, »nur wenige haben sie nicht aufgehoben. Bitte, holen Sie die Koffer von Miß Lind, welche deren Papiere enthalten!«

In kurzer Zeit kamen die fortgeschickten Mädchen wieder mit den Koffern Johannas, zu denen sich Ellen gestern abend von der Eigentümerin die Schlüssel hatte geben lassen. Diese selbst war nicht mehr in ihrer Kabine geblieben, sondern mißte gleich nach der Entdeckung in ein besonderes Gemach gehen, wo sie bis zum folgenden Morgen streng bewacht worden war.

Unter den abgesandten Mädchen befand sich auch Miß Morgan; diese trug eine kleine Stahlkassette.

Teilnahmlos sah Johanna zu, wie ein Koffer nach dem anderen durchsucht wurde, ohne daß man etwas anderes darin fand, als Kleidungsstücke und Andenken an die Reise.

»Die Papiere werden wohl in dieser Kassette sein,« meinte Miß Morgan und gab Ellen das stählerne Kästchen mit dem sorgfältig gearbeiteten Schloß.

Sie beobachtete dabei Johanna scharf, ebenso taten dies auch die anderen Vestalinnen, doch die Verdächtige zeigte keine Unruhe. Träumerisch blickte sie hinaus auf das blaue Meer.

Ellen suchte an dem Schlüsselbund und hatte bald den richtigen Schlüssel gefunden. Der Deckel sprang auf und den Blicken der Damen zeigte sich eine Menge zusammengefalteter Schriftstücke.

»Diese werden uns Auskunft über das geben,« sagte sie dabei, »was uns Miß Lind nicht sagen will.«

Sie setzte die Kassette auf ein Faß und begann, ein Schreiben nach dem anderen herauszunehmen, zu entfalten und durchzulesen.

»Ist dies Ihr Geburtsschein, welcher auf den Namen Johanna Lind lautet?« fragte sie dann.

»Ja.«

»Sie heißt also wirklich Johanna Lind und nicht Sharp,« flüsterten die Umstehenden.

»Nicht so schnell, meine Damen,« entgegnete Ellen, »hier ist ein Papier, welches von der Kriminalpolizei der Vereinigten Staaten für eine Miß Johanna Sharp ausgestellt ist und die Besitzerin dieses Papieres berechtigt, bei einem Sittlichkeitsverbrechen als Detektivin vorzugehen und bei den Behörden Hilfe zu requiriere». Sind Sie diese Miß Johanna Sharp?« wandte sie sich mit unheilverkündender Stimme an Johanna. »Sie haben mir zwar schon einmal gesagt, Sie heißen nicht Sharp, aber jetzt, da ich dieses Papier bei Ihnen gefunden habe, will ich dieselbe Frage noch einmal stellen.«

»Ich heiße auch Johanna Sharp,« entgegnete das Mädchen ruhig, »es ist ein angenommener Name.«

Rufe der Entrüstung wurden laut. So hatte Johanna also alle belogen, ihre besten Freundinnen getäuscht. Selbst diese konnten jetzt ihren Unwillen nicht unterdrücken. »Und Sie gestehen jetzt, daß Sie Detektivin sind?« fuhr Ellen fort.

»Ja, ich bin Detektivin von Beruf,« antwortete Johanna gleichgültig, ohne eine Spur von Aufregung zu zeigen.

Unter den Damen änderte sich das Urteil schnell. Die man eben noch für ein bescheidenes Mädchen gehalten, beschuldigte man jetzt als eine freche Person, ohne jedes Gefühl von Ehre.

»Und Sie befinden sich auf der ›Vesta‹ im Amte einer Detektivin?« fragte Ellen gespannt.

Johanna antwortete nicht mehr, ihre Augen waren wieder starr auf den blauen Ozean gerichtet.

»Nun, diese Papiere werden uns ja darüber aufklären,« sagte Ellen und fuhr mit dem Durchsehen der Schriftstücke fort. »Ein Papier ist für Miß Johanna Sharp, das andere für Miß Jan Sharp ausgestellt, alle aber zu dem Zwecke, daß sie als Detektivin jemanden beobachten soll. Hier ein anderes: Miß Johanna Lind, genannt Sharp, soll sich als Kammerzofe von einer vermeintlichen russischen Gräfin mieten lassen, behufs Beobachtung ihres Umganges. Aha, meine Damen, ich glaube, Sie haben Mister Anderson bitter unrecht getan, als Sie ihn mitten in der Wildnis dieser Person wegen fortjagen.«

»Wer konnte das ahnen?« riefen die Vestalinnen, deren Unwille von Minute zu Minute wuchs.

»Haben Sie die Kühnheit, jetzt noch zu leugnen, daß Sie die Schwester des berüchtigten Detektiven Nicoles Sharp sind?« wandte sich Ellen an Johanna.

»Ich hätte Ihnen nicht geantwortet, wenn Ihre Ausdrucksweise nicht eine ganz unziemliche wäre,« entgegnete Johanna. »Ich bin allerdings die Schwester des Detektiven Nikolas Sharp, aber mein Bruder ist unter diesem Namen nicht berüchtigt, sondern bekannt, und zwar ist er mit Männern befreundet, welche an Ansehen noch weit über Miß Petersen stehen.« »Genug,« sagte die Gereizte und wühlte mit zitternden Händen in der Kassette, »wir werden sehen, inwieweit sich Ihr Geschäft einer Detektivin mit der Ehre der ›Vesta‹ verträgt. Hier, was ist das?« rief sie plötzlich und betrachtete ein kleines Stückchen Papier. »Meine Damen, mir ahnt, daß wir auf etwas stoßen, was wir alle nicht vermutet haben. Hier steht zuerst mein Name, meine Adresse, die des Bankiers, der mein Vermögen verwaltet, und dahinter die Summe, wie hoch mich Miß Lind finanziell taxiert. Und ich bin wirklich erstaunt, wie weit es eine Detektivin bringen kann, denn die Zahl stimmt ganz genau. Aber nicht nur ich bin auf diesem Zettel vermerkt, der Name keiner einzigen Vestalin fehlt. Alle stehen darauf, ihre Adressen, Bankiers, Rechtsanwälte und so weiter, und hinter jeder steht ebenfalls eine Zahl, wahrscheinlich auch die Summe von Dollars angebend, über welche die betreffende Person zu verfügen hat. Hm, meine Damen, was meinen Sie dazu?«

»Fragen Sie die Angeklagte, was das zu bedeuten hat!« rief ein Mädchen aus der Menge.

»Wir wollen erst sehen, ob sich noch mehr Interessantes vorfindet,« antwortete Ellen und fuhr im Durchstöbern der Papiere fort.

Johanna beachtete weder die Entdeckungen Ellens, noch den in den Worten liegenden Hohn, noch die entrüsteten Ausrufe. Mit müdem Ausdruck starrte sie auf das Meer hinaus, wie ein Verbrecher, der seinem Richter überliefert ist, aber noch eine lange Rede anzuhören hat, dabei aber nichts sehnlicher wünschend, als daß diese beendet ist, und daß sich die schwere Kerkertür hinter ihm schließt.

Plötzlich erbleichte Ellen; ihre Hände zitterten noch heftiger als zuvor. Sie hielt einen Brief, dessen Adresse aus Lord Harrlingtons Feder stammte. Mit fest zusammengepreßten Lippen durchflog sie den Inhalt. Immer starrer hefteten sich die Augen auf dieses Papier, und dann warf sie Johanna einen Blick zu, in dem Zorn und Abscheu zugleich lagen.


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»Also mit solchen Geschäften geben Sie sich auch ab,« bebte es von ihren Lippen — sie steckte den zusammengeballten Brief in ihre eigene Tasche, »eine Kupplerin haben wir zur Freundin gehabt. Pfui Teufel,« brauste sie plötzlich auf, »ich finde keinen Ausdruck, um diese Gemeinheit zu bezeichnen.«

»Ich weiß nicht, wodurch ich solchen Schimpf verdient hätte,« sagte Johanna, welche Ellen während des Lesens beobachtet hatte.

»Wie, Sie finden auch noch Entschuldigungen, um diese Gemeinheit bemänteln zu wollen?«

»Ich wüßte nicht, welcher Gemeinheit ich mich schuldig gemacht hätte,« war die ruhige Antwort. »Wie bezeichnen Sie das Geschäft einer Kupplerin?« fragte Ellen.

»Als gemein. Aber ich habe mich nicht mit Kuppele abgegeben.«

»Leugnen Sie nur!« lachte Ellen bitter. »Wir sind Ihre Lügen schon gewöhnt.«

»Verschonen Sie mich wenigstens mit solchen unbegründeten Vorwürfen,« sagte Johanna tonlos. »Sie müssen eingesehen haben, daß ich mich nicht entschuldigen will. Legen Sie mir die Strafe auf, welche ich verdient habe, und lassen Sie mich sonst in Ruhe. Unsere Wege werden sich nicht wieder kreuzen. Noch weiß ich einen Ort, wo es mehr Gerechtigkeit gibt, als auf der ›Vesta‹, und noch weiß ich eine Person zu finden, welche besser von mir denkt, als diese Damen, und insbesondere Sie, Miß Petersen.« —

»Das wird jedenfalls ein Detektiv sein, das glaube ich. Erst aber wollen wir weitergehen, was sich hier vorfindet. Nach diesem einen Beweise Ihrer Tätigkeit an Bord der ›Vesta‹ vermute ich, daß ich noch mehr finden werde. Ja, gewiß, hier sind sie schon.«

Ellen brachte ein ganzes Paket Briefe zum Vorschein, alle mit der Adresse Johannas versehen, aber alle in verschiedenen Handschriften geschrieben. Sie entnahm den Umschlägen die Briefe, und je mehr sie las, desto entrüsteter wurde sie, bis sie zuletzt einen unsagbaren Ausdruck von Zorn, Abscheu und Ekel zeigte.

»Meine Damen,« rief sie, ohne Johanna anzusehen, »ich wage kaum, Sie mit dem Inhalte dieser Briefe bekannt zu machen. Aber ich muß es tun, um Sie über den Charakter dieser nichtswürdigen Person aufzuklären. Es ist geradezu empörend, was Miß Lind unter der Maske der Freundschaft getrieben hat. Denken Sie sich nur, sie spielte zwischen Ihnen und den Herren des ›Amor‹ die Kupplerin, nicht nur zwischen mir und Lord Harrlington, sondern zwischen fast jeder von Ihnen und einem der Herren. Dadurch können Sie sich gleich einen schönen Begriff von diesen Herren machen. Dieselben tragen hier Miß Lind förmlich und höflich auf, jeder einzeln, ihn bei der betreffenden Dame, die er zu lieben vorgibt, in ein möglichst gutes Licht zu bringen, und bitten Miß Lind zugleich, ihnen mitzuteilen, ob Miß so und so günstig über ihn denkt. Kurz und gut, sie spielt die Rolle einer Kupplerin. Nun kann — —«

»Das ist nicht wahr!« schrie Johanna plötzlich dazwischen, und fast schien es, als wolle sie sich auf Ellen stürzen. »Nie habe ich derartige Briefe empfangen. Meine einzige Korrespondenz führte ich mit Lord Harrlington.«

Unter Ausrufen der namenlosesten Entrüstung sprangen einige Mädchen Johanna entgegen und hinderten sie, Ellen die Briefe zu entreißen. Ihre Glaubwürdigkeit war vollständig dahin.

»Schweigen Sie!« fuhr Ellen sie an. »Fügen Sie Ihren früheren Lügen keine neuen hinzu. Hier sind die Beweise,« sie hielt ihr die Briefe hin, »daß Sie mit fast allen Herren in Verbindung gestanden haben.«

»Diese Briefe sind gefälscht und mir untergeschoben worden,« entgegnete Johanna, die ihre Ruhe schon wiedergefunden hatte, fest.

»Haben Sie diesen Zettel geschrieben, der unsere Namen, Adressen und Vermögensverhältnisse enthält?«

»Ich habe ihn geschrieben, nicht aber jene Briefe empfangen, die Sie da halten.«

»Es ist gut. Kupplerinnen pflegen sich gewöhnlich gewissenhaft über die Vermögensverhältnisse derjenigen zu orientieren, welche sie an den Mann bringen wollen. Außerdem fragt Sie Lord Harrlington noch öfters in Briefen, wohin die ›Vesta‹ segelt, und es ist anzunehmen — —«

»Es ist nichts anzunehmen, sondern ich habe ihm wirklich stets mitgeteilt, welches unser nächster Hafen war,« unterbrach sie Johanna, »denn ich bin von Lord Harrlington engagiert und bezahlt worden, ebenso wie mein Bruder, bekannt als Nikolas Sharp, über Sie nach Kräften zu wachen. Machen Sie es kurz, Miß Petersen, fällen Sie Ihr Urteil, meine Damen, ich habe nur einen Wunsch, möglichst schnell bestraft zu werden, damit ich das Schiff verlassen kann, auf dem ich mit Ihnen, Miß Petersen, zusammenleben muß.«

Die Damen waren empört, nicht eine schien mehr gewillt zu sein, für Johanna Partei zu ergreifen.

»Es soll kurz gemacht werden, verlassen Sie sich darauf,« entgegnete Ellen. »Die Planken der ›Vesta‹ sollen nicht lange mehr von Ihren Füßen geschändet werden. Beantworten Sie zuvor nur noch einmal meine Fragen, damit alles in rechtmäßiger Form vor sich geht! Gestehen Sie, von Lord Harrlington dazu angeworben zu sein, immer den nächsten Hafen zu verraten, brieflich oder durch Signal, damit der ›Amor‹ der ›Vesta‹ folgen kann?«

»Gestehen Sie, überhaupt den Herren, oder ich will sagen, Lord Harrlington alles verraten zu haben, was zwischen uns gesprochen wurde?«

»Nein, sondern nur das, was ich ihm zur Sicherheit Ihrer Person zu sagen für nötig hielt.«

»Gut, es ist dasselbe. Ich will mich nicht länger damit aufhalten, da Sie die Sache ja so schnell als möglich erledigt haben wollen. Glauben Sie, daß eine dieser Damen ein persönliches Vorurteil gegen Sie hegt? In diesem Falle müßten wir erfahren, warum Sie dies glauben, die betreffende Dame könnte eventuell als Richterin ausgeschlossen werden.«

Einen Augenblick zögerte Johanna. Ihr Blick streifte Miß Morgan, deren Augen den ihren begegneten, aber sofort gesenkt wurden.

»Nein,« sagte Johanna, »ich bin mit allen Damen als Richterinnen einverstanden.« »Meine Damen,« wandte sich Ellen an die Vestalinnen, »die Strafe der Miß Lind besteht darin, daß sie an den Mast gebunden, gegeißelt und im nächsten Hafen an Land gesetzt wird. Nun kommt es darauf an, zu entscheiden, wieviel Peitschenhiebe sie empfangen soll.«

»Halt!« rief Johanna. »Gewähren Sie mir eine Bitte!«

»Sprechen Sie,« sagte Ellen, hoffend, daß Johanna um Gnade bitten würde, da sie sich über den Gleichmut der zu Verurteilenden schon immer geärgert hatte. Sie fühlte plötzlich einen wahren Haß gegen Johanna.

»Geißeln Sie mich, so lange es Ihnen beliebt,« war die kalte Antwort, »meinetwegen bis zum Tode, aber verlangen Sie nicht, daß ich auch nur eine Minute länger an Bord dieses Schiffes bleibe, welches Sie befehligen. Geißeln Sie mich, und geben Sie mir dann ein Boot, in dem ich mich von der »Vesta»entfernen kann, oder ich schwöre es Ihnen, ich springe über Bord.«

»Tun Sie das,« hätte Ellen fast erwidert, aber sie unterdrückte diese Bemerkung und sah sich fragend im Kreise der Damen um.

»Nein, das können wir nicht erlauben,« sagte Miß Nikkerson, energisch eintretend. »Wir sind Hunderte von Meilen von Land entfernt, ein Aussetzen gliche einem Morde, Johanna — Miß Lind hat diese Strafe nicht verdient, und ich gebe meine Stimme nicht dazu her.«

Die Mädchen traten außer Hörweite Johannas zusammen und berieten sich, es ging heftig dabei zu, eine Gegenpartei entstand, aber sie unterlag.

»Geißelung und Aussetzung im nächsten Hafen,« teilte Ellen der Schuldigen nach Schluß der Beratung mit.

»Sie wollen mich also nicht sofort aussetzen?« rief Johanna verzweifelt. »Gut denn, so erkläre ich Ihnen hiermit öffentlich, ich habe auch das Gelübde der Keuschheit gebrochen.« Wie erstarrt vernahmen die Vestalinnen diese Worte, dann aber machten sie ihrer Entrüstung Luft in Schmähungen über die Ehrlose.

Da stürzte Miß Thomson auf Johanna zu.

»Sind Sie denn wahnsinnig, Johanna?« rief sie unter Tränen, »Sehen Sie denn nicht, wie ich und einige Freundinnen uns bemühen, Sie vor dem schrecklichen Schicksale zu bewahren, das Sie bedroht? Und, Vestalinnen,« sie wandte sich zu den Damen um, mit einem Gesicht, daß die ihr zunächst Stehenden entsetzt zurückwichen, so schrecklich blitzten ihre Augen, »bei Gottes Tod, allen Gesetzen der ›Vesta‹ zum Trotz, erkläre ich hiermit, daß niemand auch nur eine Hand heben wird, um Johanna zu schlagen.«

»Sie haben die Gesetze unterschrieben,« unterbrach Ellen sie zornig, mit purpurrotem Gesicht.

»Wohl habe ich es getan, aber ich werde mein Wort nicht halten, und sollte auch ich fernerhin für eine ehrlose Person gelten, Johanna war nicht nur meine Freundin, sie hat sich auch wie eine solche betragen, und nimmer werde ich dulden, daß man sie schlägt, weil sie etwas getan hat, was mit ihrem Pflichtbewußtsein nicht im Einklang stand. Niemals, sage ich, und wer es wagt, Johanna zu nahe zu treten, bekommt es mit mir zu tun.«

»Und mit mir,« erklang es noch von vier Stimmen, und Miß Murray, Miß Nikkerson und zwei andere Mädchen stellten sich schützend vor die Bedrohte.

»Nun, wer will Johanna an den Mast binden? Der Weg zu ihr geht über uns.«

Ellen ward aschfahl, aber sofort gewann sie ihre Fassung wieder.

»Meine Damen, ich lege das Kommando als Kapitänin der ›Vesta‹ nieder. Da.« sie zerriß das Papier, welches die Gesetze der ›Vesta‹ enthielt, »die ›Vesta‹ hat aufgehört, zu existieren.« Da war es wieder Johanna, die in die wie gebannt dastehende Masse, welche, etwas Entsetzliches fürchtend, kaum zu atmen wagte, Leben brachte.

Ihre Kraft war gebrochen, weinend stürzte sie Miß Thomson zu Füßen und umklammerte deren Kniee.

»Betty,« schluchzte sie, »haben Sie wenigstens Erbarmen mit mir! Begreifen Sie denn nicht, daß ich nur von hier fort will, nur fort, fort von diesem Schiffe, auf dem ich ein fluchwürdiges Dasein gelebt habe. Geben Sie mir ein Boot, nur ein Boot, ohne Segel, ohne Kompaß, ohne Ruder, ohne Proviant, ohne Wasser, nur ein Boot, in dem ich die ›Vesta‹ verlassen kann. Haben Sie Erbarmen mit mir, Betty!«

Sie sprang auf und stürzte nach einem kleinen Boote, riß die Taue ab und ließ es ins Wasser.

»Halten Sie ein!« rief Betty und sprang zu ihr. »Sie sind nicht bei Sinnen!«

»Ich bin's, ich weiß nur das eine, daß ich von hier fort muß! Helfen Sie mir, ich bitte, ich beschwöre Sie, bei unserer Freundschaft, helfen Sie mir, daß ich ins Boot komme. Ich werde den Weg an Land finden, und finde ich ihn nicht, so soll es mir auch gleich sein, aber helfen Sie mir, ins Boot zu kommen!«

Es lag so eine tiefe Verzweiflung in dem Tone des Mädchens, daß Betty ihr unwillkürlich gehorchte. Sie loste das Tau und ließ mit Hilfe einer anderen Dame das Boot ins Wasser, während die übrigen drei, welche zu Johanna gehalten, schon Segel, Riemen, Kompaß und Proviant getragen brachten.

Auch sie mußten dem Verzweiflungsrufe gehorchen; wie ein Zwang lag es auf ihnen allen, die Bitte der Unglücklichen zu erfüllen.

»Ich danke Ihnen,« sagte Johanna und wollte sich schon über die Bordwand schwingen, um ins Boot zu steigen, als Miß Thomson sie noch einmal zurückhielt.

»Sprechen Sie,« drang Betty in sie. »Sie sind nicht so schuldig, wie Sie scheinen und scheinen wollen. Sie haben eine Feindin, welche Sie verleumdet. Sprechen Sie, noch ist es Zeit, alles wieder gut zu machen. Zahlen Sie auf mich. Haben Sie eine Feindin unter uns, die Sie vernichten will?«

Johanna ließ die Augen im Kreise herumwandern, bis sie denen von Miß Morgan begegneten.

»Haben Sie eine Feindin?«

Johanna wollte etwas sprechen, aber tonlos bewegten sich nur die Lippen, kein Wort ward hörbar.

»Johanna,« drängte Betty, »so sprechen Sie doch nur!«

»Nein, ich habe keine Feindin,« sagte sie endlich.

»Aber Sie sind unschuldig, Sie sind keine Detektivin?«

»Ich bin Detektivin,« entgegnete Johanna und richtete sich, auf der Bordwand stehend, hoch auf, »aber ich bin unschuldig, und so gewiß, wie ein Gott über uns wohnt, werden Sie meine Unschuld noch erfahren, später oder schon hier auf Erden!«

Wie schwörend hob sie die Hand zum Himmel empor. Atemlos lauschten ihr die Vestalinnen, es war ihnen allen, als hörten sie eine Prophetin sprechen.

»Und auch Sie, Miß Petersen,« fuhr Johanna fort, »werden einst noch einsehen, was für Unrecht Sie mir zugefügt haben, mir, der treuesten Freundin, die Sie je gehabt haben. Auch Sie werden einst noch erkennen, welches Unrecht Sie Lord Harrlingtou getan haben, diesem edlen Menschen, der Tag und Nacht für Sie sorgt, der: mich beschworen hat, Sie wie meinen Augapfel zu behüten, dem ich in die Hand geschworen habe, nicht von Ihnen zu weichen, und wenn es meinen Tod herbeiführen solle. Wohl bin ich Detektivin und als solche, Ihrer kleinlichen Meinung nach, eine verwerfliche Person, aber denken Sie daran, was ich Ihnen sage: einst werden Sie es bitter bereuen, mir solche Schmach zugefügt zu haben, und wünschen, alles ungeschehen zu machen. Und dann werde ich Ihnen zeigen, daß ich edler denke, als Sie, ich werde Ihnen verzeihen, wenn Sie eingesehen haben, daß ich ganz ausschließlich nur Ihretwegen mich zur Spionin erniedrigt habe, weil ich Mitleid mit Lord Harrlington fühlte. Schon längst hätte ich meinen Posten mit einer Lage vertauschen können, in der ich die Glücklichste aller Sterblichen gewesen wäre, aber ich habe sie ausgeschlagen, weil ich Lord Harrlington helfen wollte, seinen Schatz zu behüten, doch nun kann ich nicht mehr, meine Kraft ist zu Ende, ich gehe vom Nord der ›Vesta‹ als eine Ausgestoßene, doch die Zeit wird vielleicht bald kommen, da Sie, Miß Petersen, mich mit Freuden wieder bewillkommen werden.«

Johanna richtete sich noch höher auf, sie streckte die Arme, und ihre Stimme klang feierlich.

»Ich sehe in die Zukunft; meine Ahnung trügt mich nie. Um Ihretwillen, Miß Petersen, müssen alle diese Mädchen noch viel Ungemach erdulden, und nicht eher werden Sie befreit werden, als bis Sie Ihr Unrecht eingesehen haben und geläutert wurden. Bis dahin hoffen Sie nicht, Glück auf Ihrer Reise zu haben, mit mir verläßt dasselbe die ›Vesta‹. Nicht ein Fluch soll es sein, mit dem ich scheide, ich will Sie nur auf die Zukunft vorbereiten.«


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Sie winkte noch einmal freundlich Miß Thomson zu und sprang dann ins Boot.


36. Im Laboratorium.

Mister Elias Kinnaird bewohnte am Ende einer Sackgasse in New-York ein kleines Häuschen, dessen zwei Frontfensterchen in die Gasse selbst blickten, dessen Hinterfensterchen aber auf einen Teil des Hafens ging. Aber nach keiner Seite genoß man eine schone Aussicht, vorn standen zerfallene Häuser, vor deren Türen schmutzige Kinder in der Gasse spielten, und hinten lag eine enge Wasserstraße, in welcher elende, verankerte Kähne schon seit Ewigkeit lagen und wohl noch liegen mußten, bis sie einst in dem trüben Wasser versanken. Aber Mister Elias Kinnaird brauchte auch keine Aussicht, denn man sah ihn niemals am Fenster, man sah ihn überhaupt nicht, mit Ausnahme eines Tages der Woche, auf einige Stunden. Eine Frau vom Hause nebenan besorgte für ihn alles, was er zum Lebensunterhalt brauchte, und der einzige Schornstein des Hauses verriet, daß er Fleisch und Gemüse nicht roh verzehrte, sondern eigenhändig zubereitete. Die einzige Stunde, wo man den kleinen, buckligen Kinnaird mit dem uralten Gesicht das Haus verlassen sehen konnte, war Freitags nachmittags.

Dann ging er nach einem nicht weit entfernten Kräutergewölbe, wo er sich erst mit dünner, krächzender Stimme die Chemikerzeitung erbat, sich aus ihr einige Notizen machte und dann für einige Dollars einkaufte: Schwefel, Salpeter und andere Chemikalien, die er selbst nach Hause schleppte oder, wenn das Paket einmal zu groß wurde, sich von einem Jungen nachtragen ließ.

Elias Kinnaird war Chemiker, und er zeigte schon im Gesicht, daß er viel mit Säuren und explosiven Stoffen zu tun hatte, denn es war nur eine einzige Brandnarbe, wodurch natürlich seinen Zügen jede Schönheit genommen war. Alles waren unnatürliche Runzeln, die Augen kaum zu sehen, der Kopf ganz kahl — kurz, Kinnaird besaß ein geradezu abschreckendes Gesicht, und die kleine, buckelige Gestalt machte völlig den Eindruck einer giftgeschwollenen Kreuzspinne, wenn man den Ausdruck gebrauchen darf, da die arme Kreuzspinne nun doch einmal als giftig verschrieen wird.

Wovon Elias Kinnaird eigentlich lebte, wußte niemand, aber selbst die Leute in dieser elenden Sackgasse waren viel zu pfiffig, um etwa zu glauben, daß in jenem Häuschen Gold gebraut würde. Gold wird nur in der Erde gefunden oder durch Arbeit gewonnen, davon ist der Jankee überzeugt und hört nicht auf Ammenmärchen, daß man Gold auch aus unedlen Metallen erzeugen könne.

Jedenfalls besaß Kinnaird ein kleines Vermögen und verwendete dieses dazu, irgend ein Patent zu erfinden, etwa eine neue Nahrung aus Kartoffelschalen herzustellen, oder Tinte aus Abflußwasser, oder einen delikaten Wein aus Bierneigen zu brauen — alles Sachen, welche in Amerika nicht zu den Unmöglichkeiten zählen — daß aber ein Mann mit einem kleinen Vermögen nur seiner Bequemlichkeit oder der Wissenschaft leben sollte, ohne zu spekulieren, das geht so leicht in keinen Jankeekopf hinein.

Weiter aber ging das Gerücht, daß Kinnaird doch ein ganz smarter Kerl sein müsse, der Haare auf den Zähnen hätte, denn einst kam vor sein Haus eine Equipage gerollt, ein feingekleideter Herr stieg aus, verschwand in dem Häuschen und kam erst nach einigen Stunden wieder heraus. Diese Besuche wiederholten sich noch oft, und des Nachts wurde verschiedene Male mit dem eisernen Klopfer an die Tür des Chemikers gepocht.

Seit jener Zeit wurde die Gasse noch mehr als früher von einem säuerlichen Duft durchzogen, der den Atem versetzte und die kupfernen Gegenstände der Hausfrau schwarz und die eisernen rot machte, und wären silberne vorhanden gewesen, so hätten diese eine schwefelgelbe Farbe angenommen, aber Gott sei Dank war in den Häusern kein Silber zu finden, welches in Gefahr gekommen wäre, und die silbernen Dollarstücke wurden, um sie nicht erst einer solch furchtbaren Gefahr auszusetzen, möglichst schnell in trinkbare Sachen umgesetzt.

So viel stand aber fest, Elias Kinnaird war kein gewöhnlicher Mensch, er war ein pfiffiger Kerl, der wohl wußte, wie Geld zu verdienen war — was in Amerika erst den Menschen über das Tier erhebt — und als gar einer, der in einer Seifenfabrik arbeitete, im Bierhaus seine unumstößliche Meinung dahin aussprach, daß Elias Kinnaird annelistrierte, womit der gelehrte Mann analysieren meinte, da bekam jeder vor Mister Kinnaird ganz gewaltigen Respekt.

Dem Chemiker war es wahrscheinlich ganz gleichgültig, was über ihn gesprochen wurde, ja, er erfuhr nicht einmal davon, daß er innerhalb kurzer Zeit in der Sackgasse ein berühmter Mann geworden war, denn er kam ebensowenig wie früher aus dem Hause, nahm der Frau den Proviantkorb ab, heizte mittags den Kochofen, den ganzen übrigen Tag aber den Destillierkolben und Schmelzofen, in dem er wahrscheinlich höllische Suppen zusammenkochte. Die schädlichen Dämpfe leitete er nach dem Hofe zu ab und genierte dadurch seine Nachbarn nur wenig. —

Eines Nachts, als alle Bewohner der Sackgasse schon, ermüdet von harter Arbeit, schliefen, näherte sich dem letzten Hause ein schneller Schritt, und vor der Tür hielt eine Gestalt, die mehrmals leise den eisernen Klopfer ertönen ließ.

Es dauerte lange, ehe die Tür geöffnet wurde, aber der Unbekannte, ein großer, in einen langen Mantel gehüllter Mann, ließ sich das Warten nicht verdrießen, klopfte auch nicht noch einmal, mußte also ganz sicher sein, daß der Bewohner des Häuschens noch wache, obgleich die beiden Fensterchen nicht erleuchtet waren.

Sein Warten wurde auch von Erfolg gekrönt, denn nach etwa fünf Minuten ertönte in dem Hausflur ein von abgetretenen Pantoffeln herrührendes Schlürfen. Man hörte, wie eine Laterne auf den Boden gesetzt wurde, dann ein Ruck, die Tür sprang auf, und dahinter stand die eingeschrumpfte Gestalt von Elias Kinnaird, der eine große Spritze gleich einer Handkanone schußbereit dem Fremden entgegenhielt.

Doch dieser fürchtete sich vor der seltsamen Waffe nicht, sondern trat schnell in das Haus und zog die Tür hinter sich zu.

»Weiß Gott, Kinnaird,« lachte er leise, »Sie jagen mir immer einen Schreck ein, wenn Sie so plötzlich die Tür aufreißen und mir die Spritze entgegenhalten. Wenn Sie mich nun einmal für einen Einbrecher ansähen, was wäre dann mein los?«

»Dann bekämen Sie eben die ganze Ladung Schwefelsäure ins Gesicht,« kicherte der Alte krächzend.

»Teufel,« sagte der andere erschrocken, »also Schwefelsäure haben Sie in Ihrer Klistierspritze. Das gäbe einen beißenden Empfang! Was machten Sie denn, wenn Sie Ihren Freund mit solch höllischer Mixtur verbrannt hätten?«

»Dann steckte ich Sie einfach in ein Faß mit Natronlauge und würde Sie neutralisieren,« kicherte der Alte weiter.

»Hören Sie auf,« rief der Fremde, sich schüttelnd, »sonst stecken Sie mich noch in einen Destillierkolben und lassen mich zu einem anderen Menschen umkrystallisieren.«

»Das ginge nicht, dazu wäre erst nötig, daß Sie aufgelöst würden. Doch kommen Sie, wir wollen hier nicht stehen bleiben.«

Dann nahm der Alte die Laterne vom Boden auf und humpelte dem Fremden voran durch den Gang, an einer Treppe vorbei.

»Gehen wir heute nicht hinauf?« fragte der Fremde.

»Nein, ich habe unten einen chemischen Prozeß zu beaufsichtigen,« krächzte der Alte, »und hier sind wir auch ungestört.«

»Waren wir das oben nicht immer?« fragte der Fremde mißtrauisch.

»Doch, doch, früher wenigstens. Seit einigen Wochen hat aber die Frau, welche mich versorgt, einen neuen Logierherrn bekommen, dem traue ich nicht. Ich denke, er will spionieren.«

Sie waren unterdes eine Treppe hinuntergestiegen, bei deren schlechter Konstruktion man auf den Gedanken kommen konnte, der Alte wäre, selbst der Erbauer gewesen, da die übrigen Häuser überdies gar kein Kellergeschoß hatten, und traten dann in einen hohen Raum, der sehr plump mit rohen Ziegelsteinen ausgemauert war, und dessen Decke auf Balken ruhte.

Dies war das Laboratorium des Chemikers, und beim Eintritt wähnte man sich in das Arbeitszimmer des Doktor Faust versetzt.

Der ganze Raum war vollgepfropft mit Retorten, Ballons, Glasröhrchen, Destillierkolben und anderen Instrumenten, wie sie in jedem Laboratorium gebraucht werden, auf Regalen längs den Wänden standen sie herum, ein großer Tisch war mit ihnen bedeckt, desgleichen mit Spirituslampen, Schlauchen, Flaschen und Phiolen, auf anderen Regalen wieder standen nur Flaschen und Büchsen, zwar alle ohne Aufschrift, aber sehr sauber gehalten.

Auf einem Nebentisch befand sich ein mächtiger Destillierapparat, und die tönerne Retorte lag über einem Ofen, dessen Holzkohlenfeuer den Inhalt derselben verdampfen ließ.

Der Raum wurde am Tage von zwei Fensterchen erhellt, die dicht über dem Wasser lagen, jetzt aber mit Läden verdeckt waren. Der Raum wurde dürftig von einer Petroleumlampe erleuchtet. Durch die Fenster konnten Röhren gelegt und vor ihnen Glaskästen aufgestellt werden, und ebenso, wie diese Vorrichtung, verriet auch eine gläserne Maske, daß dieser Chemiker viel mit Giften zu tun hatte.

Elias Kinnaird setzte sich auf einen Stuhl vor dem Destillierapparat. Sein Begleiter legte den Mantel und den tief über die Stirn hängenden Schlapphut ab, und nachdem er sich als Mister Eduard Flexan entpuppt hatte, nahm er nicht weit von dem Chemiker Platz, eine große Ledermappe auf den Knieen haltend.

»How is business?« (Wie geht's mit den Geschäften.)

Mit dieser, in Amerika sehr beliebten Frage begann Mister Flexan das Gespräch, wahrscheinlich, wie jeder Jankee, von dem Grundsatze ausgehend, daß, wenn das Geschäft gut geht, der Mensch sich überhaupt wohl befindet.

»Herzlich schlecht,« krächzte der Alte, mit einem Blasebalge das Feuer anfachend.

»Haben Sie schon Erfolge mit Ihren Analysen gehabt?«

Unter Analyse versteht der Chemiker das Zerlegen irgend einer festen, flüssigen oder gasförmigen Substanz in ihre Elemente, in die Urstoffe, welche nicht weiter zu zerlegen sind.

Der Chemiker schüttelte unwillig den brandroten Kopf, und seine schon fast völlig verschwindenden Augen kniffen sich noch mehr zusammen.

»Was sagt der Ingenieur zu Ihren Mißerfolgen? Will er Ihnen die gefundene Substanz nicht abnehmen und sie einem anderen Chemiker zum Analysieren geben?«

»Pah,« rief der Chemiker verächtlich, »Mister Boxter weiß recht gut, daß, wenn Kinnaird dies nicht kann, auch kein anderer Chemiker es vermag.«

»Vielleicht ist es gar nicht die betreffende Substanz?« meinte Flexan.

»Natürlich ist sie es.«

»Woraus schließen Sie dies?«

»Eben daraus, daß sie sich nicht weiter zerlegen läßt.«

»Nun, es könnte noch ein anderes Element geben, das sich durch Säuren oder Feuer nicht zerlegen läßt.«

Der Chemiker öffnete einen kunstvoll geschnitzten Wandschrank, entnahm daraus ein Holzkästchen und diesem wieder eine dünne, gummiähnliche Platte.

»Ich habe sie schon gesehen,« sagte Mister Flexan, einen Blick darauf werfend, »aber mir deuchte, das vorige Mal, als Sie mir die Platte zeigten, wäre sie größer gewesen.«

»Mister Boxter hat die Hälfte mitgenommen.«

»Sehen Sie! Er wird die andere Hälfte einem anderen Chemiker zur Analyse geben.«

»Nein,« antwortete Kinnaird bestimmt, »Ingenieur Boxter ist selbst ein scharfsinniger Chemiker, da er diese Substanz aber nicht analysieren konnte, so wandte er sich nur noch an mich. Die Hälfte, die er mitnahm, will er als Kuriosität für sich behalten.«

Mit wehmütigem Blick betrachtete der Chemiker die dünne Platte.

»Ich habe alles mit ihr angefangen, was ich nur konnte,« sagte er niedergeschlagen. »Tag und Nacht habe ich an ihr gearbeitet, keine Säure, keine Lauge unversucht gelassen, aber alles kann ihr ebensowenig anhaben, wie das stärkste Feuer. Selbst, dem Königswasser gegenüber, welches doch Gold auflöst, herhält sie sich neutral, und stundenlang habe ich sie heißen Dämpfen der Kieselsäure ausgesetzt, bis ich selbst dem Tode nahe war, ohne daß sie im geringsten davon angegriffen worden ist.«

»Haben Sie es schon mit Elektrizität versucht?« rief Flexan dazwischen.

Wieder lachte der Chemiker verächtlich über diese Zwischenfrage des Laien.

»Der stärkste Strom konnte der Substanz nichts anhaben,« entgegnete er. »Aber bei diesem Versuche ist mir doch klar geworden, daß es die Substanz ist, welche das ganze Geheimnis in sich schließt. Passen Sie auf!«

In demselben Wandschrank stand eine elektrische Batterie, von welcher zwei Drähte herabhingen. Der Chemiker nahm die Enden derselben, hielt sie an zwei verschiedene Seiten der Platte und leitete einen schwachen Strom hindurch. Sofort änderte sie die Farbe.

Die erst schwarze Platte wurde mit einem Male silbergrau, kaum aber entfernte er die Drähte, so nahm die Platte wieder die frühere Farbe an.

»Das ist sie,« rief Flexan, »ebenso kann sich auch der »Blitz« verändern. Also daher kommt es, daß der »Blitz« einmal schwarz, dann wieder grau aussieht. Nun weiß ich es: gewöhnlich ist die Färbung des »Blitz« schwarz, wird aber durch die Farbe ein elektrischer Strom geleitet, so sieht er grau aus.« »Es ist so,« stimmte der Chemiker bei, »und zu gleicher Zeit ist diese Substanz auch dasjenige Medium, was durch Reibung mit den Meereswogen Elektrizität erzeugt. Aber aus was besteht sie? Ich weiß es nicht. Ich kann das Geheimnis nicht lösen.«

»Vielleicht kommen wir auch ohne Analyse auf die richtige Spur,« lachte Flexan. »Aber Mister Boxter soll dann natürlich nicht in den Besitz des Resultates kommen, sondern wir wollen eine hübsche Summe durch den Verkauf desselben herausschlagen.«

»Wie wollen Sie das machen?« fragte der Chemiker mit gierig zwinkernden Augen.

»Ich will es Ihnen nachher mitteilen,« entgegnete Flexan und öffnete die Ledermappe, »erst wollen wir die Geschäfte erledigen, derentwegen ich hergekommen bin. Hier,« er händigte dem Chemiker zwei Schreiben ein, »sind zwei Briefe, deren Schrift Sie bis auf den untenstehenden Namenszug zu vernichten haben, wie gewöhnlich, so daß man —«

»Ich weiß, ich weiß,« unterbrach ihn grinsend der Alte, »daß man auf dem Papier wieder schreiben kann. Natürlich, so etwas versteht der alte Kinnaird ausgezeichnet. Hihi.«

Er betrachtete die Schriftstücke.

»Immer noch von den Mädchen?« sagte er. »Sind Sie damit noch immer nicht fertig? Das dauert ja schrecklich lange diesmal.«

»Ja, es ist auch eine heikle Arbeit, wir gehen sehr, sehr vorsichtig dabei zu Werke, aber nicht lange mehr wird es dauern, so sind unsere Bemühungen mit Erfolg gekrönt. So einen fetten Bissen haben wir lange nicht mehr gehabt, und es tut auch not, denn in unserer Kasse ist bereits manchmal tiefe Ebbe.«

»Wird auch etwas für mich von dem fetten Bissen abfallen?« schmunzelte der Alte.


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»Sie bekommen Ihre gewöhnlichen Prozente ausgezahlt.« »Habe aber viel Arbeit damit gehabt mit den Tintenklecksen, Stempelätzungen und so weiter.«

»Und werden Sie dafür nicht ganz ungeheuer hoch bezahlt?« sagte Flexan entrüstet. »Für jeden Brief, dessen Schriftzüge Sie verwischen, verlangen Sie hundert Dollar und für jeden Stempel das doppelte.«

»Dafür riskiere ich auch meinen Kopf, und meine Kunst muß auch bezahlt werden.«

»So, Ihren Kopf? Was soll ich denn da sagen?« rief Flexan. »Von allen habe ich doch jedenfalls die schwerste Arbeit übernommen. Ich befinde mich fast Tag und Nacht auf der Reise, auf dem Schiffe und auf der Eisenbahn, zu Wagen, zu Pferde, zu Fuß. Ich schlafe oft genug im Freien wie ein Indianer, krieche in Wildnissen herum, in Spelunken und so weiter. Keiner von Ihnen allen setzt so wie ich Leben, Freiheit und Gesundheit aufs Spiel, und ich habe auch nicht mehr, als die anderen.«

»Und die Reisespesen?«

»Die muß ich natürlich vergütet bekommen, das ist selbstverständlich.«

»Dabei wird sich wohl ein hübsches Sümmchen ersparen lassen,« kicherte der Alte,

»Jawohl, ersparen,« rief Flexan entrüstet. »Zusetzen muß ich noch oft genug. Wenn ich natürlich so wie Sie, alter Geizhals, leben konnte, der seine Geldhaufen immer vergrößert, dann ginge es wohl, aber ich muß nobel auftreten und manchen Mund mit Gold verschließen, was ich nicht mit auf die Rechnung setzen kann.«

Der Chemiker war unterdessen nicht müßig gewesen.

Er hatte aus verschiedenen Flaschen Flüssigkeiten in eine Phiole gegossen und das Glasgefäß mittels einer Holzzange über eine Spiritusflamme gehalten. Die erst helle Flüssigkeit wurde, als sie sich erwärmte, erst gelb, dann rötlich, und als sie zu kochen anfing, purpurrot, wobei sich zugleich ein Bodensatz ausschied. Der Chemiker filtrierte die klare Flüssigkeit ab und goß wieder eine Säure hinzu, wodurch die rote Färbung völlig verschwand.

Als die Substanz kalt war, nahm er das erste Schreiben und befeuchtete es mit ihr, sorgfältig aber darauf achtend, daß die Unterschrift nicht naß wurde. Dann hing er das nasse Papier, dessen befeuchtete, mit Tinte geschriebenen Schriftlichen immer mehr erblaßten, zum Trocknen auf und machte sich daran, den zweiten Brief ebenso zu behandeln.

»Wie geht es mit Tannert?« fragte der Chemiker, die Buchstaben sorgsam betupfend.

»Sie stecken hier wie ein Fuchs in seiner Höhle und können natürlich keine Ahnung haben, was draußen vorgeht,« versetzte Flexan, »Sie werden staunen, was Tannert, Ihr Liebling, alles, erlebt hat. Er hat geschrieben oder vielmehr seine Berichte regelmäßig eingereicht.«

Nun erzählte er dem erstaunten Chemiker Tannerts Abenteuer in Afrika.

»Also Nick Sharp ist auch wieder aufgetaucht und bemüht sich, diesem geheimnisvollen Meister auf die Spur zu kommen?« kicherte der Alte. »Na, dann lassen Sie sich gratulieren, Mister Flexan! Dieser Sharp ist ein pfiffiger Patron und wird schon auf die Spur des Meisters kommen. Hihi.«

»Seien Sie ohne Sorge!« sagte Flexan gleichmütig, Weiß ich erst einmal, daß wir mit Sharp zu tun haben, so ist alles schon so gut wie gewonnen, das heißt, man zählt ihn schon nicht mehr zu den Lebenden. Dieser Tage erwarte ich die Nachricht von seinem Tode.«

»Kann ich Ihnen mit einem Fläschchen Cyankali unter die Arme greifen? Hihi.«

»Nein, danke,« lachte Flexan. »Bei diesem Burschen ist ein Dolchstich oder eine Revolverkugel besser angebracht, sein Magen könnte schließlich selbst Cyankali vertragen. Aber einige Gifte und Schlafmittelchen muß ich mir nachher mitnehmen. Erinnern Sie mich daran!«

»Nun, Cyankali wird er wohl kaum vertragen können,« meinte der Alte, »ich kenne Sharp gut, dem ist nicht so leicht in den Rücken zu stechen oder zu schießen, wie Sie meinen. Aber so ein kleines Gläschen Branntwein, wie er es liebt, mit einer Spur von Cyankali darin, das wirkt, sage ich Ihnen. Keine Sekunde zappelt er mehr.«

»Will es mir überlegen.«

»Und der Seewolf ist also auch wieder glücklich an der Küste angekommen?«

»Ja, und hat sein Schiff wieder übernommen. Glückt es ihm aber diesmal nicht, den ihm befohlenen Handstreich gegen die Damen auszuführen, so muß er hängen. Es ist alles so sorgfältig vorbereitet worden, daß es ihm gar nicht mißglücken kann.«

»Wie wollen Sie denn die Damen verschwinden lassen?« fragte der Chemiker,

»Ich weiß noch nicht,« entgegnete Flexan, den kleinen auf ihn gerichteten Augen des Fragers ausweichend.

»Müssen Sie ...?«

Der Chemiker machte eine bezeichnende Bewegung nach der Kehle.

»Wahrscheinlich, ja!«

»Na, dann gibt es in Amerika wenigstens keine großen Trauerszenen. Die Damen sind ja alle ledig und ohne Anhang.«

»Darum ist es eben das beste, wenn sie für immer still gemacht werden,« gab Flexan zu. »Es ist ein Glück, daß wir keine nachspürenden Verwandten zu fürchten haben.«

»Aber die englischen Herren?«

»Die müssen wahrscheinlich auch daran glauben.«

»Könnte sich mit denen nicht auch ein Geschäftchen machen? Ich bin jederzeit bereit, auf Briefen nur die Unterschrift stehen zu lassen, alles andere aber, wegzubringen,« schmunzelte der Chemiker.

»Wollen sehen, was sich tun läßt! Verlohnen wird es sich allerdings bei ihnen.«

Der Chemiker hing das zweite Papier auf und nahm das erste von der Glasstange herunter, es war getrocknet. Jetzt brachte er eine kleine Maschine zum Vorschein, an welcher zwei Gummiwalzen durch eine Kurbel zur Bewegung gebracht werden konnten. Der erste Brief wurde zwischen die eng zusammenstehenden, rauhen Walzen gebracht und mehrmals hin- und hergedreht, wodurch das, durch die chemische Flüssigkeit glatt gewordene Papier wieder eine rauhe und faserige Fläche annahm, geradeso, wie es erst gewesen war.

So war ein völlig Weißes, wie neu aussehendes Papier entstanden, welches nichts enthielt als einen Namenszug, der nicht gelitten hatte.

»Was ist es für eine Tinte?« fragte Flexan. »Haben Sie schon geprüft, daß da nicht etwa etwas vorfällt.«

»Nehmen Sie die Tinte Nummer vier,« entgegnete der Chemiker, »es ist dieselbe wie früher. Die Vestalinnen benutzen ja alle nur einunddieselbe Tinte.«

Der Chemiker machte sich daran, auch dem zweiten Briefe sein ursprüngliches Aussehen wiederzugeben.

»Wie steht es mit den Leuten?« fragte er während dieser Beschäftigung. »Sind noch keine Meutereien wieder vorgekommen, wie damals in Australien?«

»Nein, dafür ist gesorgt. Sie werden mehr denn je in Furcht gehalten, mehr denn je ist mit dem Stempel des Meisters gearbeitet worden. Sie können nächstens einige neue herstellen, die alten sind fast abgenutzt.«

»Ist an so vielen ein Exempel statuiert worden?« rief der Kleine erschrocken.

Flexan nickte ernst.

»Auf meiner Reise habe ich allein mit eigener Hand zwei Männer aufgehängt, die ich beim Verrat ertappte, und ihnen den Stempel eingeätzt, oder, wie die Leute glauben, eingebrannt. Die Säure greift den Gummi etwas an, Alter.«

»Neulich hörte ich, in London sei ein Sträfling, der in der Tretmühle arbeitete, mit diesem Zeichen an der Stirn erdrosselt im Bett gefunden worden. Ist das wahr?«

»Allerdings,« entgegnete Flexau, »wir haben ja Harrison dort. Auf zehn Jahre lautet ja sein Kontrakt, sechs hat er nun schon hinter sich.«

»Man sollte kaum glauben, daß jemand freiwillig ins Zuchthaus geht!«

»Warum denn nicht? Kommt er nach zehn Jahren heraus, so ist er ein reicher Mann. Übrigens führt er im Zuchthaus kein schlechtes Leben, er ist Aufseher, sonst wäre es ihm wohl auch nicht gelungen, so energisch dafür zu sorgen, daß keiner unserer Leute, die ins Zuchthaus kommen, plaudern kann. Wir haben in jedem Zuchthaus und in jeder Strafanstalt solche, welche nur darum ein Verbrechen begangen haben, damit sie als Sträflinge aufgenommen werden und für uns wirken können. Die Nachfrage nach diesen Posten ist eine sehr große. Es lockt kolossal, daß sie nach einigen Jahren reiche Leute sind.«

»Ehe ich nur eine Woche in der Tretmühle arbeitete, nähme ich lieber Gift,« rief der Chemiker mit Nachdruck.

»Sie würden diese Arbeit nicht einmal eine Woche aushalten können,« meinte Flexan nachdenkend, »Es ist eine ganz höllische Beschäftigung. Zehn Minuten muß man treten. Tritt man nicht, so wird man herausgeschleudert, und fünf bis zehn Minuten kann man aussetzen, je nachdem das Strafmaß ist. Abends ist der Körper wie gerädert, früh ganz steif, und gerade früh muß man mit den lahmen Knochen schnell treten, und tut man dies nicht schnell genug, so wird das Trittrad an eine Maschine gespannt, die nachhilft. Dann heißt es entweder treten, oder dein Körper wird zerfetzt. Schrecklich!«

»Wie lange konnten Sie denn die Zwischenpausen ausdehnen?« kicherte der Alte.

»Ich?«

Flexan fuhr erschrocken vom Stuhle auf.

»Wie kommen Sie zu dieser Frage? Ich hatte noch nicht das Vergnügen, in der Tretmühle zu arbeiten.«

»So, ich dachte, weil Sie so damit Bescheid wissen und über alles orientiert sind.«

»Mir ist oft genug davon erzählt worden.«

»Hat Ihr Herr Vater Ihnen erzählt, wie es in der Tretmühle hergeht?« kicherte wieder der Chemiker.

»Mister Kinnaird, hüten Sie Ihre Zunge,« rief Flexan drohend, »denn sonst könnte Ihr Kopf Bekanntschaft mit der Retorte machen, in der es kocht.« »Es Wäre nicht das erste Mal, daß mein Kopf heiße Säure zu kosten bekommen hat,« lachte der Alte. »So — der zweite Brief ist auch fertig. Wie neu geworden, nicht? Nun operieren Sie weiter so geschickt mit ihnen, wie ich es getan habe, und Sie werden Erfolg damit haben. Wollen Sie sonst noch etwas gemacht haben? Ich stehe Ihnen zu Diensten.«

Flexan holte einen Zettel hervor.

»Hier diese Gifte und Schlafmittel,« sagte er. »Haben Sie noch Chloroform da?«

»Habe erst gestern welches fabriziert. Sie könnten es jedoch künftig in einer Apotheke kaufen. Seine Herstellung macht mir immer mehr Schwierigkeiten, als die ganze Geschichte wert ist.«

»Aber ich bekomme es in der Apotheke nicht so stark und so gut, wie von Ihnen,« entgegnete Flexan.

Der Chemiker fühlte sich geschmeichelt. Er füllte mehrere Fläschchen mit den gewünschten Substanzen und bereitete die, welche ihm fehlten, in Gläsern, Retorten und Mörsern erst zu.

»Sagen Sie mal, Mister Kinnaird,« begann Flexan wieder, »können Sie ebensogut, wie Sie analysieren, also einen Stoff in seine Substanzen zerlegen, auch ein Gemenge nach Rezept zusammenbrauen?«

»Wenn's weiter nichts ist!« lachte der Chemiker. »Das ist doch viel leichter als analysieren, das kann jedes Kind.«

»Auch etwas, was Sie nicht analysieren können?«

»Ich kann alles analysieren,« entgegnete der Chemiker stolz.

»So?« fragte Flexan spöttisch. »Etwa auch die Gummiplatte da? Sie haben doch bewiesen, daß Sie das nicht können.«

»Das ist etwas anderes,« sagte der Chemiker ruhig. »Es gibt Stoffe, welche nicht zu zerlegen sind.«

»Würden Sie aber denselben gummiartigen Stoff machen können, wenn Sie das Rezept dazu haben?« »Ah,« rief der Chemiker erstaunt, »jetzt verstehe ich, wohinaus Sie wollen. Ja, das kann ich, denn Kinnaird ist ebenso klug, wie der Mann, der den Stoff gemacht hat. Er kann aber sein Präparat selbst nicht wieder zerlegen.«

»Das ist möglich. Sie getrauen sich also, wenn Sie das Geheimnis dazu haben, die Substanz, Farbe, oder was es ist, mit welcher man Elektrizität erzeugen kann, auch zusammenzumischen?«

»Auf alle Fälle! Nur ist anzunehmen, daß ein Rezept von solcher Wichtigkeit in geheimer Schrift geschrieben ist.«

»Erstens glaube ich das nicht, und dann läßt sich doch jede Geheimschrift, und wenn sie noch so kompliziert ist, entziffern.«

»Wissen Sie, ob ein solches Rezept existiert? Es ist natürlich anzunehmen, daß der Kapitän des »Blitz« es besitzt, aber ebenso leicht möglich ist es, daß er es nicht schriftlich, sondern nur in seinem Kopfe bei sich trägt.«

»Nein, wir haben die Vermutung, daß dieser Hoffmann es schriftlich besitzt und sogar bei sich führt.«

»Hoh, das wäre einmal ein Fang,« rief der Chemiker ganz erregt. »Verschaffen Sie mir das Rezept! Ich bereite die Substanz, und ich garantiere Ihnen, wir schlagen Millionen und Abermillionen Dollar aus der Erfindung.«

»Das glaube ich auch,« lachte Flexan, »und bekommen wollen wir das Rezept schon. Es handelt sich nur darum, ob Sie es zu benutzen verstehen.«

»Ich wiederhole Ihnen nochmals,« rief der Chemiker eifrig, »ich kann alles, was ein anderer Chemiker kann.«

»Hoffmann muß aber ein ganz immens geschickter Chemiker sein, daß er solch eine Substanz, die Ihnen ganz unbekannt ist, überhaupt erzeugen kann.«


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»Das mag sein,« entgegnete Kinnaird nachdenkend, »Gewiß, er muß ein scharfsinniger Chemiker sein, aber, wie es in allen Fällen ist, so ist auch hier anzunehmen, daß er die Erfindung zufällig gemacht hat, oder daß sie ihm von jemandem anders mitgeteilt worden ist, der auch nur durch Zufall zu ihr gekommen ist. Pulver und Porzellan sind auch nur so zufällig erfunden worden. Trotzdem aber, kenne ich die Urbestandteile dieser Masse, so will ich Ihnen dieselbe sofort zubereiten, und sei dies noch so schwierig.« »Ich glaube Ihnen, ich zweifle auch durchaus nicht an Ihrer Kunst. Sie haben schon oft genug Beweise davon geliefert.«

»Wer ist nur eigentlich dieser Kapitän Hoffmann? Ein deutscher Ingenieur? Es ist ganz merkwürdig, daß solch ein Mann, der ein gelehrter Chemiker sein muß, zum Vergnügen auf einem Schiffe herumfährt. Ich würde aus einer derartigen Erfindung eine Summe herausschlagen, welche mich zum schwerreichen Mann machte, reicher als die Silberkönige von Amerika zusammengenommen.«

Flexan lächelte geheimnisvoll, als er antwortete:

»Reicher als die Silberkönige von Amerika, sagen Sie? Hören Sie mir zu, ich werde Ihnen erzählen, wer dieser Hoffmann eigentlich ist, ich habe genaue Erkundigungen über ihn eingezogen.«


37. Ein Geständnis auf den Sterbebett.

In Mgwana hatten sich, wie schon früher erwähnt wurde, Symptome von Cholera gezeigt, und die Europäer des Hafens waren mit ihrem Vorschlag durchgedrungen, daß jeder, zu Lande oder an Bord, sei er Schwarzer oder Weißer, der auch nur eine Spur dieser schrecklichen Krankheit zeige, sofort nach Borronkon geschafft werde, wo er von Ärzten und Krankenpflegern beobachtet wurde.

Als der wöchentliche Postdampfer, der die ganze Westküste von Afrika entlangfährt, von Kapstadt ankam, entstand zwischen dem Kapitän des Schiffes und einem Sanitätsbeamten von Mgwana Streit wegen eines Passagiers.

Dieser Mann war unterwegs erkrankt, und wenn auch nicht gerade an Cholera, so war sein von heftigem Fieber zerrütteter Körper doch der Ansteckung besonders ausgesetzt. Der Kapitän erklärte, der Passagier habe nach Mgwana gewollt und dafür bezahlt. Er sei im Besitze von großen Geldmitteln, und so stehe nichts im Wege, ihn an Land zu bringen, wohin, das ginge ihn, den Kapitän, nichts an. Der Arzt wollte den kranken Mann nicht an Land haben, aber es blieb ihm schließlich doch nichts anderes übrig, als sich dem Willen des Kapitäns zu fügen.

»Wissen Sie, was der Zweck der Reise des Kranken ist?« fragte der Arzt den Kapitän.

»Nein, ich konnte nichts aus ihm herausbekommen; sofort als er den Anfall des Fiebers bekam, verfiel er ins heftigste Delirium, er wird ohne Zweifel sterben. Ich gebe Ihnen sämtliche Effekten mit, darunter seine Papiere, und Sie können dann nach Gutdünken handeln. Glaube, er ist ein Gentleman.«

»Er kommt natürlich nach den Baracken und muß eine zweiwöchentliche Quarantäne (Beobachtungszeit) durchmachen. Aber auch ich glaube kaum, daß er noch einige Tage leben wird,« sagte der Arzt und ließ den besinnungslosen Kranken von einem Krankenträger in das Boot bringen, welches die weiße Flagge mit dem roten Kreuz führte, die internationale Sanitätsflagge.

Da trat ein noch junger Herr, welcher ein Billet besaß, laut dessen er die ganze Küste von Afrika befahren konnte, auf den Arzt zu.

»Gestatten Sie mir,« sagte er höflich, »daß ich diesen Herrn in Privatpflege nehme? Es ist ein Mann von Ansehen und Bedeutung, dessen Familie unglücklich sein würde, wenn sie erführe, daß er hier krank und verlassen im fremden Lande liegt.«

»Kennen Sie ihn?« fragte der Arzt mißtrauisch.

»Ich kenne ihn, wenn ich auch nicht mit ihm befreundet bin. Er ist ein Deutscher, gleich mir.«

Der Arzt sann einen Augenblick nach. »Nein, es geht nicht,« entschied er dann, »ein jeder Kranker, wer er auch sein mag, muß in die Baracken. Gestatte ich einmal eine Ausnahme, so folgen bald mehrere. Tut mir leid, mein Herr, daß ich Ihre Bitte abschlagen muß.«

Der junge Mann versuchte noch einmal, den Arzt zu bewegen, daß er die Pflege des Kranken übernehmen könne, aber schließlich mußte er seine Bemühungen als fruchtlos aufgeben.

Der Kranke wurde ins Boot gebracht und an Land gerudert, aber auch der junge Herr teilte dem Kapitän sofort mit, daß er hier das Schiff zu verlassen wünsche, und brummend mußte der Kapitän den Befehl geben, ein Boot auszusetzen, um den Passagier an Land zu bringen.

Der Herr nahm seine beiden kleinen Koffer und erreichte das Ufer, nachdem das Sanitätsboot schon längst gelandet und der Kranke nach den Baracken gebracht worden war. Bei den Krankenträgern erkundigte er sich, wo jene lägen, und eilte ungesäumt dahin, sein Gepäck dem Schütze eines Hafenbeamten überlassend.

Die Baracken, lange, hölzerne, luftige Gebäude, lagen etwa eine halbe Stunde von Mgwana entfernt, auf einem Hügel, also so gesund wie möglich. Obgleich der Kranke sicher nicht sehr schnell getragen werden konnte, gelang es dem jungen Deutschen doch nicht mehr, den Transport zu erreichen. Er sah nur noch aus der Ferne, wie sich das hölzerne Barackentor hinter der Tragbahre schloß.

Fünf Minuten später stand er atemlos vor demselben und bat den Pförtner um Einlaß, da er den soeben eingelassenen Kranken unbedingt sprechen müsse, aber die Erfüllung des Wunsches wurde ihm in unhöflichem Tone rundweg abgeschlagen.

»Außer den Beamten kommt kein Gesunder in die Baracken,« lautete die Antwort. »So möchte ich den Anstaltsarzt sprechen,« rief ärgerlich der junge Mann.

»Das hat gar keinen Zweck, er verbietet Ihnen den Zutritt erst recht, und dann ist seine Sprechzeit schon längst vorüber.«

Der Herr war sehr ärgerlich; man sah ihm an, von welcher Wichtigkeit es ihm sein mußte, den Kranken noch einmal zu sprechen, ehe derselbe die Reise ins Jenseits anträte, was auch nach Aussage des Schiffsarztes bald erfolgen mußte.

Der Pförtner musterte mit pfiffigen Augen den elegant gekleideten Fremden von oben bis unten, und dadurch fiel diesem plötzlich ein, wie er sich wohl auf diese oder jene Weise den Eingang zu den Baracken ermöglichen könne.

»Hier, guter Freund,« sagte er und drückte dem Manne ein, großes Silberstück in die Hand, »gestatten Sie mir den Zutritt zu dem eben hereingeschafften Kranken. Ich muß ihn auf alle Fälle vor seinem Tode noch einmal sehen und sprechen.«

Jetzt hellte sich das Gesicht des braunhäutigen Gesellen plötzlich auf, weniger wegen der freundlich gesprochenen Worte, als vielmehr wegen des Silberstückes.

»Ich kann Ihnen den Zutritt nicht erlauben ohne die Genehmigung des Arztes, und dieser erteilt sie nicht, aber,« fügte der Torhüter hinzu, »gehen Sie nach dem englischen Konsulat und holen Sie sich dort eine Bescheinigung, daß Sie den Kranken sehen müssen, so bekommen Sie den Zutritt, denn die Baracken stehen unter der Aufsicht des englischen Konsuls. Der Kranke hat nicht die Cholera, sonst könnten Sie ihn auf keinen Fall sehen, er hat nur einen Nervenschlag bekommen und liegt im heftigsten Fieber. Er wird wohl bald draufgehen.«

»Schon gut,« unterbrach der Fremde rasch den redseligen Mann. »Wo befindet sich das Konsulat?« Der Pförtner beschrieb ihm die Lage desselben. »Also in der Stadt selbst!« rief der Deutsche und war schon auf dem Wege dorthin.

»Der hat es ja furchtbar eilig,« brummte der Torhüter in seinen Bart, »aber ehe er den Erlaubnisschein hat, wenn er ihn überhaupt bekommt, ist der Kranke schon längst gestorben; er lebt höchstens noch ein paar Stunden.«

Der junge Deutsche eilte so schnell wie möglich nach der Stadt zurück, die Umständlichkeit verwünschend, die er erst zu besiegen hatte. Eine halbe Stunde rechnete er hin, eine halbe Stunde zurück, und eine Stunde auf dem Konsulat; wer wußte, ob der Kranke noch so lange zu leben hatte!

Aber er sollte für seine Entschlossenheit belohnt werden.

Noch hatte er nicht das Vierteil des Weges nach der Stadt zurückgelegt, als er auf einem kleinen Seitenpfade einen Spaziergänger erblickte, einfach gekleidet, einen Strohhut auf dem Kopfe.

Schon wollte er flüchtig an dem Manne vorübereilen, der eben den Weg erreicht hatte, als dieser selbst auf ihn zukam und ihn anredete.

»Oskar,« rief der Mann mit dem Strohhüte auf deutsch. »Plagt mich der Teufel, oder bist du's wirklich? Willst du dich hier in Afrika zum Schnelläufer ausbilden, daß du so unsinnig rennst?«

Erstaunt blickte der Deutsche dem Unbekannten ins Gesicht, er wußte noch nicht, wen er vor sich hatte.

»Gib dir keine Mühe, mich erkennen zu wollen!«, klang es etwas spöttisch. »Da ich sehe, daß du es sehr eilig hast, so will ich dich nicht lange raten lassen. Ich nannte mich, als ich in Deutschland mit dir zusammen arbeitete, Mister Lind aus Philadelphia.«

»Was, Nick Sharp, du bist es?« rief der mit Oskar Angeredete erfreut und schüttelte dem Detektiven herzlich die Hand. »Ich brauche nicht zu fragen, wie du hierherkommst, du treibst dich ja in aller Herren Ländern herum, manchmal sogar,« fügte er scherzend hinzu, »in einigen Ländern zur gleicher Zeit. Komm mit mir, ich will dir unterwegs erzählen, was mich hierherführt, denn ich habe wirklich keine Zeit zu verlieren.«

Oskar Bergler war Detektiv in einem deutschen Unternehmen, welches privatim die Beobachtung von Personen, die Verfolgung von Flüchtlingen und das Auffinden von Vermißten besorgte. Er hatte Sharp in Deutschland kennen gelernt, als dieser einen nach dort geflohenen, amerikanischen Verbrecher auf den Hacken saß. Beide waren Freunde geworden.

»Du willst nach dem englischen Konsulat, um dir den Eingang zu den Baracken zu verschaffen?« rief Sharp nach den ersten Worten des Freundes. »Dann brauchst du dich nicht so sehr zu beeilen, jedenfalls kannst du den Konsul heute nicht mehr sprechen, und vor Ablauf von vierundzwanzig Stunden erhältst du den Erlaubnisschein auf keinen Fall.«

»Aber ich muß einen Kranken, dessen letzte Stunde bald geschlagen hat, unbedingt vor seinem Tode sprechen,« rief Oskar halb verzweifelt.

»Das hättest du mir eher sagen sollen,« antwortete Sharp und drehte sich sofort um. »Ich kann dir den Eingang in die Baracken sofort verschaffen, und wenn der Mann von zehn Seuchen zugleich befallen wäre, kraft meiner Vollmachten, die mir überall die Tore öffnen.«

»Gott sei Dank,« rief Berger erfreut, »so erscheinst du mir ja wie ein rettender Engel!«

»Was für ein Mann ist das, den du da sprechen willst, ehe er stirbt? Hat er ein großes Geheimnis zu verraten?«

»Ich glaube, ja. Es ist ein sehr vornehmer Herr, den zu beobachten, mir vorgeschrieben ist, aber ich folge ihm nun fast durch die ganze Welt nach, ohne zu erfahren, was ich erstrebe. Jetzt oder nie ist mir also die Gelegenheit geboten, zu hören, was ich wissen will. Der Mund eines Sterbenden ist eher bereit, ein Geheimnis auszuplaudern, als der eines Lebenden. Jener Mann ist ein Freiherr, er heißt Freiherr von Schwarzburg.«

»Freiherr von Schwarzburg!« rief Sharp erstaunt.

»Kennst du ihn?«

»Ja und nein! Fahre erst fort!«

»Die Freiherren von Schwarzburg sind ein mächtiges, deutsches Adelsgeschlecht, welches —«

»Ich weiß, weiter!« unterbrach ihn Sharp,

Berger kannte den Detektiven zur Genüge, und so fuhr er fort:

»Vor etwa fünfzig Jahren fiel das Majorat nicht an den ersten Sohn, weil dieser eine Ehe mit einem verworfenen Subjekt geschlossen hatte, sondern an den zweiten Sohn. Jener nicht standesgemäßen Ehe entsprang ein Sohn, Emil von Schwarzburg, der Mann, welcher jetzt wahrscheinlich im Sterben liegt, der Ehe des zweiten Sohnes, welcher nun das Majorat besitzt und den Stammbaum führt, Rudolf von Schwarzburg. Außer den beiden Brüdern existiert noch eine Schwester, welche — merke wohl auf, Nick — von dem harten Vater auch verstoßen wurde, so daß er also zwei Kinder verstoßen hat. Später aber erkannte er, daß er unrecht gegen sie gehandelt. Es war zu spät, den getanen Schritt rückgängig zu machen, die Tochter war und blieb verschwunden. Kurz darauf starb der Erstgeborene und hinterließ den obengenannten Emil. Wir haben nun Ursache, anzunehmen, daß dieser Emil von Schwarzburg alles versucht, um wieder in den Besitz des Majorats zu kommen; denn es ist nur nötig, daß Johannes von Schwarzburg, welcher Seekadett ist, stirbt, so ist Emil wieder Majoratsherr, respektive sein Sohn Konrad. Hast du das verstanden, Nick?«

»Ja, weiter.«

»Emil von Schwarzburg hat einen bösartigen, niederträchtigen, habgierigen Charakter; es ist dem Majoratsherrn Rudolf vorgekommen, als ob derselbe Böses gegen ihn im Sinne habe, und er hat deshalb die Gesellschaft, der ich diene, beauftragt, ihn zu beobachten. Ich bin der erwählte Beobachter. Emil reist fortwährend in der Welt herum, und zwar reist er dem Schiffe nach, auf welchem sich der Seekadett, Freiherr Johannes von Schwarzburg, befindet, und so ist anzunehmen, daß er nach dessen Leben trachtet, umsomehr, als er öfters Umgang mit verdächtigen Elementen hat. Er arbeitet wahrscheinlich weniger für sich, als vielmehr für seinen Sohn Konrad, denn er selbst ist ja schon ein alter und sehr kranker Mann.«

»Was willst du aus dem Munde des Sterbenden erfahren?« fragte Sharp den Erzählenden,

»Ich komme gleich darauf. Emil war zuletzt in Neu-Seeland und begab sich dann nach Kapstadt, wo er den Dampfer wechselte und diesen nahm, den er krank verlassen hat. Ich hatte und habe auch jetzt keine Ahnung, warum er sich hierher begab, vielleicht, daß ich es nun erfahre. Eine Zeitlang hatte ich seine Spur verloren, fand sie endlich in Neu-Seeland wieder und verfolgte sie bis hierher. In Kapstadt empfing er einen Brief aus Deutschland — ich bemerkte, daß er überhaupt äußerst zerrüttete Nerven besaß — las ihn und brach dann, von einem Nervenschlag getroffen, plötzlich zusammen. Ich hielt mich, wie sein Schatten, immer in seiner Nähe, war der erste, der ihm zu Hilfe eilte, und las schnell den Erich, der solchen Eindruck auf ihn gemacht. Er enthielt die Nachricht, daß sein Konrad, ein Bengel von zweiundzwanzig Jahren, wegen bedeutender Wechselfälschungen verhaftet worden war und mehrere Jahre Zuchthaus zu erwarten hatte.«

»Aha, ich fange an zu begreifen,« brummte Sharp.

»Ich wüßte nicht, was du schon ahnen solltest.«

»Fahre nur fort!«

»Gut, ich bin gleich zu Ende. Nun möchte ich aus seinem Munde erfahren, ob er den Aufenthalt Gertruds kennt, welche durch Intrigen seines Vaters verstoßen wurde, oder ob er wenigstens weiß, was ihr Schicksal gewesen ist. Vielleicht, daß sie Kinder hat, deren sich Rudolf von Schwarzburg annehmen will!«

»Sollte Emil darüber Papiere besitzen?«

»Es ist nicht anzunehmen, daß über so etwas irgend welches Schriftliche existiert, wohl aber, daß der Vater, durch den die Tochter verstoßen, dem Sohne mitgeteilt hat, wie er dies bewerkstelligte, und zwar nur, um seinem Sohne zum Majorat zu verhelfen. Es ist dem Majorats-Herrn Rudolf nämlich zu Ohren gekommen, daß Emil seinem Vater hat schwören müssen, nicht eher zu ruhen, als bis er sich das Majorat wieder angeeignet hat.«

»Das Geheimnis, welches du erfahren willst, bezieht sich also hauptsächlich auf Gertrud, die unschuldig Verstoßene?«

»Ja, es ist aber auch möglich, daß der von seinem Sohne so schwer gedrückte Vater diesen nun gar nicht mehr als Majoratserben für würdig hält, bei einem Zuchthäusler wäre dies auch gar nicht mehr möglich, und daher die Pläne verrät, die er gesponnen hat, um dem Sohne das Majorat wieder zu verschaffen, und die eventuell auch nach seinem Tode weitergegangen wären.«

»Da sind wir,« sagte Sharp, auf eine Nebentür der unterdes erreichten Baracken deutend. »Du mußt mir erlauben, daß ich der Vernehmung beiwohne, denn ich bin mehr für die Schwarzburgschen Verhältnisse interessiert, als du glaubst, vielleicht kann ich dir später sogar eine wichtige Erklärung abgeben. Noch eins aber: hast du den Kranken nicht schon an Bord gesprochen?«

»Nein, der Arzt ließ mich niemals zu ihm, darum wollte ich ihn hier gern in Privatpflege geben.«

Sharp zog die Klingel, erhielt aber von dem Pförtner denselben Bescheid, wie vorhin sein Freund: außer den Beamten dürfe kein Gesunder die Baracken betreten.

»Hole den Arzt, aber schnell!« sagte Sharp.

»Er hat jetzt keine Sprechstunde,« war die Antwort.

Sharp nahm eine Karte aus der Brusttasche, schrieb einige Worte darauf und gab sie dem Pförtner. »Innerhalb einer Minute wird der Hauptarzt diese Karte haben,« sagte er dabei kurz und bestimmt.

Es lag etwas in seinen Worten, was den Torhüter veranlaßte, die Karte zu nehmen und sich sofort auf den Weg nach der Stube des Arztes zu machen. Unterwegs studierte er die Karte.

»Ein Kriminalbeamter,« murmelte er. »Das ist allerdings etwas anderes.«

In fünf Minuten stand Sharp vor dem Arzt, sprach mit diesem, und gleich darauf führte derselbe die beiden Freunde nach der Baracke, wo der Freiherr lag.

»Es ist ein Glück, daß du mich getroffen hast,« sagte der Detektiv unterwegs, »es soll schlimm mit ihm stehen, jede Minute kann er seinen letzten Seufzer tun.«

»Was fehlt ihm eigentlich?«

»Sein Nervensystem soll schon seit langer Zeit vollständig zerrüttet sein. Die Nachricht von dem Streiche seines sauberen Sohnes hat ihm den Rest gegeben; er geht seiner Auflösung entgegen.«

»Dann wollen wir eilen, daß wir nicht zu spät kommen!«

In dem hölzernen Gebäude lagen oder saßen wohl gegen fünfzig Personen, welche der Cholera verdächtig waren und scharf beobachtet wurden. Nur einige waren aber wirklich krank.

Der einzige, welcher schwer krank war, war der zuletzt Angekommene, Emil Freiherr von Schwarzburg.

Er lag bewegungslos auf seinem Bett. Das nervöse. Zucken hatte sein Gesicht jetzt verlassen, aber dasselbe war vollständig eingefallen, die glanzlosen Augen lagen tief in den Höhlen, und nur ein leises Stöhnen verriet, daß er noch lebte und die letzten Stunden unter heftigsten Schmerzen zu verbringen hatte. Er war so schwach, daß er sich nicht mehr bewegen und seinen Schmerz nur durch Zuckungen äußern konnte.

Neben seinem Bett standen zwei Krankenwärter mit einer Bahre, und so rücksichtslos ging es hier zu, daß sie schon Vorbereitungen trafen, den Leichnam wegzutragen. Sie warteten nur, bis der Kranke den letzten Atemzug getan hatte.

»Beeilen Sie sich!« drängte der Arzt. »Er ist gerade bei Besinnung, ein sicheres Zeichen, daß er bald sterben wird.«

Schnell trat Berger ans Bett.

»Emil Freiherr von Schwarzburg,« sagte er laut, sich über den Kranken beugend, »sind Sie im Stande, mich zu verstehen und mir Antwort zu geben?«

Der Kranke öffnete langsam den Mund, klappte ihn aber gleich wieder zu. Doch konnte man in seinen Augen, die er auf das Gesicht des Sprechenden gerichtet hatte, lesen, daß er ihn verstanden hatte.

»Ihr Vetter Rudolf fragt, ob Sie wissen, wo sich Ihre Tante Gertrud befindet.«

Da öffnete der Kranke den Mund wieder, und leise, fast unhörbar, drang es stoßweiße daraus hervor:

»Nein — ich weiß — es nicht — ich sterbe — hört Ihr mich ...?«

»Wir verstehen Sie, sprechen Sie!« drängte Berger, sich noch dichter über den Mund des Kranken beugend, wahrend Sharp auf der anderen Seite dasselbe tat. Sie ahnten, daß er wirklich ein Geständnis machen wollte.

»Ich sterbe — so hört denn — was ich meinem Vetter — sagen lasse — Johannes, der Kadett — ist gar nicht — sein richtiger — Sohn ...«

»Nicht sein Sohn?« schrie Berger fast auf. »Um Gottes willen, machen Sie nicht noch im Sterben eine Lüge!«

»Es ist keine Lüge — Johannes — ist nicht sein Sohn.«

»Wer denn? So sprechen Sie doch!«

»Still.« mahnte Sharp.


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Aber der Kranke öffnete den Mund nicht mehr. Eine Schwäche hatte ihn übermannt.

Da bog sich Sharp noch weiter über ihn.

»Ist der Mann, welcher den Namen Hannes Vogel trägt, das legitime Kind?« fragte er zum namenlosen Erstaunen seines Freundes.

Der Freiherr nickte, gleichzeitig fand er die Sprache wieder.

»Ja,« flüsterte er tonlos, »Hannes Vogel — ist Johannes Freiherr von Schwarzburg — der Kadett ist ein untergeschobenes Kind.«

»Beweise! Wo sind die Beweise?« drängte Sharp, welcher das Leben des Kranken erlöschen sah.

»Er hat — den Geburtsschein.«

»Ich weiß es, aber ich brauche mehr Beweise.«

»Die Frau, welche ihn — erzogen hat — hat sie — ich ließ — ein anderes Kind — unterschieben.«

»Sprecht Ihr die Wahrheit, Mann?« rief Sharp.

»Ich — verfluche — meinen Sohn — ich sage mich — von ihm los — Hannes Vogel — ist der Majoratsherr.«

Plötzlich richtete der Sterbende sich mit einem Ruck im Bett auf und fuhr mit seiner letzten Kraft, so schnell wie er früher gesprochen, fort, auch sein Gesichtszucken hatte sich wieder eingestellt.

»Es ist zu spät,« stöhnte er mit heiserer Stimme. »Hannes wird nicht nach Hause kommen — wenn Ihr nicht schnell ihm nacheilt — an Bord des Schiffes, auf dem er sich befindet — ist ein Mann mit dem Auftrage — ihn zu töten — von mir angeworben — eilt — sonst wird Konrad — doch noch — Erbe — des ...«

Er vollendete den Satz nicht, sank hintenüber und verschied.

Die Unterhaltung war deutsch geführt worden. Keiner der anwesenden Beamten hatte die Worte verstanden, aber Berger sah erstaunt seinen Freund an, der solche Kenntnis von dieser Sache besaß.

»Wer ist dieser Hannes?« fragte er.

»Ich kenne ihn,« antwortete Sharp, »er ist vor einigen Tagen mit der »Urania« abgefahren, und wir müssen eilen, wollen wir ihn noch am Leben finden.«

Er zog Berger eiligst mit sich aus dem Sterbezimmer.

»Aber so sprich doch, wer ist denn dieser Hannes, und wie willst du ihn retten, wenn es wahr ist, was der Mann eben gesagt hat? Wir können das Schiff doch nicht mehr einholen.«

»Komm, komm!« drängte Sharp und nötigte den Freund zum Schnellergehen. »Wir können dies doch vielleicht noch ermöglichen. Eilen wir zunächst so schnell wie möglich nach dem Hafen, dann gehst du nach den Baracken, bringst dich in Besitz der Effekten des Freiherrn und dann wollen wir sehen, was geschehen kann, um Hannes zu retten.«

Im Eilschritt erreichten sie den Hafen; Sharp sprang in ein Boot, sein Begleiter ihm nach, und beide ließen sich nach einem großen, schwarzen Vollschiffe rudern.

In aller Kürze teilte Sharp dem Kapitän Hoffmann mit, was sie aus dem Munde des Sterbenden vernommen hatten. Ohne auf Berger zu achten, fragte Sharp den Kapitän des Vollschiffes:

»Werden Sie die »Urania« noch einholen können?«

»Wann ist sie abgefahren? Vor drei Tagen, nicht wahr?«

»Ja.«

Hoffmann nahm ein Buch aus dem Schranke und blätterte darin. Es enthielt sämtliche eingetragenen Schiffe mit Angaben des Tonnengehaltes und der Schnelligkeit.

»Sie fährt nur sechzehn Knoten,« sagte er dann. »Ja, ich könnte sie in drei bis vier Tagen erreicht haben.«

»Wollen Sie helfen, Hannes, den Majoratserben, zu retten?«

»Dann müssen wir aber das andere, was wir ausgemacht haben, aufschieben.«

»Vorläufig! Das schadet nichts weiter.« »Gut, ich bin bereit, der »Urania« nachzufahren,« entgegnete Hoffmann. »Wir wollen hoffen, daß wir nicht zu spät kommen, um eine Freveltat zu verhindern. Aber, meine Herren,« fügte der bedächtige Ingenieur hinzu, »bedenken Sie, was Sie tun wollen. Johannes, der Seekadett glaubt, er sei der Freiherr. Durch Ihre Aussagen aber wird er aus seiner Position entfernt. Hannes, unser Matrose, ist ein glücklicher Mensch, und ich glaube kaum, daß ihm Ihre Mitteilung viel Freude bereiten wird — er paßt besser zum Kapitän als zum Freiherr«, Ihn zu retten, will ich wohl versuchen, wäre es aber nicht besser, Sie ließen die Verhältnisse so, wie sie sich einmal gestaltet haben?«

»Derartige Rücksichten dürfen wir nicht nehmen,« entgegnete der Detektiv, »dann dürften wir nie ein Unrecht aufdecken, weil dadurch die Ruhe einiger Personen gestört wird. Außerdem existiert Konrad, der Sohn, der sicher von den Plänen seines Vaters weiß, ferner die Pflegemutter von Hannes, vergessen Sie das nicht! Diese beiden Personen ziehen Vorteile aus der Verwechselung, und das dürfen wir nicht dulden. Nein, die Sache muß unbedingt aufgedeckt werden!«

»Und denken Sie auch an den alten Freiherrn, an seinen Schmerz, wenn er erfährt, daß er bis jetzt einem fremden Kinde seine Vaterliebe zugewendet hat!«

Diesmal nahm Berger das Wort:

»Rudolf von Schwarzburg ist zu gerecht, als daß er selbst eine solche Verwechselung dulden würde,« sagte er, »aber es ist auch nicht nötig, ihn davon in Kenntnis zu setzen. Vor acht Tagen erhielt ich die letzte Nachricht über ihn, und zwar, daß er auf den Tod krank liegt, und wenn Sie, Mister Sharp, und Sie, Kapitän Hoffmann, die Sie beide Hannes Vogel kennen, mir Ihren Beistand zusagen, so wird es mir ein Leichtes sein, Licht in diese Sache zu bringen und den eigentlichen Erben einzusetzen, womöglich ohne daß der alte Freiherr es erfährt.« »So sei es denn!« entgegnete Hoffmann. »In zwei Stunden ist der »Blitz« seebereit. Ich erwarte Sie noch kurz vorher an Bord, meine Herren.« — — —

Ein feuriges Ungetüm schoß bald nach dieser Unterredung geisterhaft durch das Meer, den Sturm nicht achtend, der es von vorn in seinem Laufe zu hemmen suchte. Schäumend stürzten die Wogen mit aller Macht über das rätselhafte Fahrzeug, als wollten sie versuchen, die im Innern brennenden Flammen zu löschen, aber so oft und so lange sie den großen Körper auch vollständig überfluteten, immer tauchte er wieder auf und sandte seine Strahlen weit hinaus aufs Meer. Die Wellen vermochten nicht einmal ihre Wut an irgend einem Gegenstände auszulassen, denn das völlig leere und öde Deck bot ihnen keinen Widerstand, und mit unverminderter Stärke beleuchteten die aus einigen Glasfenstern dringenden weißen Strahlen das tobende Meer.

Oft, wenn das Schiff, dessen Schornstein keine Rauchsäule entstieg, den Bug tief in die Wellen steckte, das Heck aber hoch in die Luft hob, gleich einer riesigen Tauchente, konnte man sehen, was dem Schiffe die ungeheure Schnelligkeit erteilte. Dann wurden zwei mächtige Schrauben sichtbar, so groß, wie sie kein Kriegsschiff, kein Passagierdampfer aufzuweisen hat, und ihre Umdrehungsgeschwindigkeit war eine rasende.

Da fiel einer der bleichen Lichtstrahlen plötzlich auf einen Gegenstand, der als Spielball der Wellen hin und hergeschleudert wurde, und so intensiv war das Licht, daß man trotz der dunklen Nacht sehen konnte, daß dieser Gegenstand lebte. Es war ein Mensch, der verzweifelt mit den Wogen rang.

Die Hilferufe dieses Unglücklichen wären vergeblich gewesen, auch wenn viele Retter in der Nähe gewesen wären, das Heulen des Sturmes hätte es keinen Meter weit hören lassen, aber auf diesem sonderbaren Schiffe mußten sich wachsame Augen befinden, die fortwährend das Meer nah und fern absuchten. Kaum war der Mensch, gerade auf einem hohen Wellenkamme schwebend, in den Bereich eines der Strahlen gekommen, so verminderte sich die Schnelligkeit des Schiffes bedeutend, die Schrauben hörten auf zu arbeiten, Und im Inneren begann ein Hin- und Herlaufen von Schritten.


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Wieder wurde der wackere Schwimmer in einen wirbelnden Strudel gezogen; lange dauerte es, ehe er wieder an der Oberfläche erschien, als er aber nochmals auftauchte, da sah er plötzlich ein graues Boot, fast wie ein Ei geformt, auf sich zuschießen, und ehe er wieder, vielleicht das letzte Mal, in den fürchterlichen Strudel gezogen wurde, fühlte er sich von einem kräftigen Arme gepackt und dem nassen Grabe entrissen.


38. Der Geist der Amazone.

Lord Harrlington stand am Bug des ›Amor‹ und blickte unverwandt hinaus in die Nacht. Noch vor einer halben Stunde hatte er die ›Vesta‹ sehen können, aber als bei Anbruch der Dunkelheit keine Seitenlichter aufgesteckt waren, da dauerte es nicht lange, und der weiße Schiffsrumpf war seinen Augen entschwunden.

Doch gab er seinen Posten nicht sogleich auf; erst nach einer Stunde verließ er ihn und entgegnete den Herren, welche ihr Bedauern darüber aussprachen, wieder einmal die ›Vesta‹ verloren zu haben, ebenso sicher wie schon oft zuvor:

»Sorgen Sie sich nicht, wir werden sie wiederfinden.«

»Haben Sie durch Ihre geheimnisvolle Verbindung den nächsten Hafen wiederum erfahren?«

»Ja, ich werde ihn erst auf der Karte suchen und dann Ihnen den Namen mitteilen,«

Die Herren wußten, daß Lord Harrlington stets von einer Dame benachrichtigt wurde, wohin die ›Vesta‹ fuhr, aber nicht, wie er die Nachricht erhielt, noch wer die Verräterin sei. Übrigens wurde auch niemals darüber gesprochen.

Ehe Lord Harrlington das Kartenhaus aufsuchte, wurde er von Williams beiseite gezogen. »Ich wollte Ihnen nur sagen,« redete ihn der immer zu Spaßen aufgelegte Engländer leise an, »das Guanosaca nahe bei Arauka liegt und dieses etwa auf dem 38. Grade an der Westküste von Südamerika.«

Lord Harrlington lächelte.

»Sie haben also gemerkt, aus welche Weise mir die Nachricht signalisiert worden ist. Nun, so bitte ich Sie nur, nicht weiter darüber zu sprechen.«

»Es soll mein Geheimnis bleiben,« versicherte Charles.

Harrlington trat ins Kartenhaus, um die Lage des bezeichneten Hafens genau zu bestimmen. Er fand in dem Häuschen schon John Davids, den zweiten Steuermann, in dem Hauptatlas blätternd.

Seit dem Abend, da sich zwischen beiden der unerquickliche Vorfall ereignet hatte, war Harrlington seinem vermeintlichen Nebenbuhler, der den linken Arm in der Binde trug, immer ausgewichen, als fühle er sich schuldbewußt, jetzt aber ließ sich das Zusammentreffen nicht vermeiden.

John Davids blickte auf und begegnete ruhig den auf ihn gerichteten Augen Harrlingtons.

»Wünschen Sie den Atlas?« fragte er, stand auf und wollte das Kartenhaus verlassen, als hinter ihm leise sein Name gerufen wurde.

»Davids,« sagte Lord Harrlington und trat mit vorgestreckter Hand auf ihn zu, »ich habe Sie noch um Verzeihung zu bitten.«

»Nein, das haben Sie nicht mehr nötig, denn wir haben uns schon gestern abend versöhnt,« entgegnete Davids, nahm aber trotzdem die dargebotene Hand und drückte sie.

»Ich gestehe, ich habe furchtbar unbesonnen gehandelt, wie ein Schuljunge habe ich mich durch meine Leidenschaft hinreißen lassen und mußte dann doch einsehen, wie grundlos meine ...«

»Ich bitte Sie, lassen Sie die Sache ruhen,« unterbrach ihn Davids herzlich. »Wenige hätten an ihrer Stelle anders gehandelt, ich selbst wahrscheinlich auch nicht. Daß ich mit Miß Peters eine Unterredung hatte, haben Sie erfahren, und auch, daß diese nur das Feuerwerk betraf. Was das Bild anbelangt, welches ich im Medaillon bei mir trug, so versichere ich Ihnen, daß Miß Petersen selbst keine Ahnung davon hat. Ich bin bereit, Ihnen zu erklären, was mich veranlaßte, das Bild malen und in Gold fassen zu lassen.«

»Nein, nein, Davids,« rief Harrlington, »lassen wir die Sache nun vollständig ruhen! Ich muß mir immer wieder zürnen, daß ich in meinem besten Freunde einen Feind gefunden zu haben glaubte. Ich nehme keine weitere Erklärung an, ich bin mit Ihrem Wort vollständig zufrieden.«

Die Sache war wirklich damit zwischen beiden abgemacht, nie wurde ihrer wieder Erwähnung getan, ja, die Folge des kurzen Streites war sogar, daß das Verhältnis zwischen beiden intimer wurde und Davids Harrlington gegenüber etwas von seiner sonstigen Verschlossenheit verlor.

Am nächsten Morgen war die ›Vesta‹ nicht mehr zu sehen, der ›Amor‹ begann zu suchen, d. h., mit Hilfe der Schraube große Bogen zu fahren. Es verging Tag um Tag, aber die ›Vesta‹ war und blieb verschwunden.

Hatten die Herren den Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit nicht vor sich, so begannen sie sich meist bald zu langweilen, denn den an Zerstreuungen gewöhnten jungen Herren gefiel es durchaus nicht, immer nur zu lesen, zu musizieren oder zu plaudern; sie dachten oft mit Sehnsucht an die Annehmlichkeiten, die sie verlassen hatten, um der ›Vesta‹ zu folgen, nur so lange diese oder die Damen in Sicht waren, tauchten derartige Gedanken nicht auf.

Trat eine solche niedergeschlagene Stimmung ein, dann war es Sir Charles Williams, welcher im Gegensatz zu seinen Freunden immer lustiger wurde, jede Gelegenheit benutzte, um sich und die Genossen zu erheitern, weil er es nun einmal sowieso abgeschworen hatte, grundlos den Kopf sinken zu lassen, und dann auch, weil er es geradezu als seine Pflicht betrachtete, jede üble Laune unter seinen Freunden durch seine witzigen Einfälle zu verscheuchen.

Einen großen Teil des Tages verbrachte er in der Kabine Chaushilms, der zwar langsam, aber sicher der Genesung entgegenschritt, las diesem vor und blieb auch des Abends bei ihm, bis der Kranke eingeschlafen war, weil derselbe während des Abends oft vom Fieber heimgesucht wurde. Die übrige Zeit verweilte Charles nur selten in seiner Kabine, um zu lesen, sondern trieb sich an Deck herum, scherzte mit seinen Freunden, erheiterte sie durch die unerschöpfliche Fülle seines Humors oder ging auch einmal in das Zwischendeck zu den Heizern, um bei ihnen, wie er sagte, Musterung abzuhalten.

Arbeit in der Takelage gab es fast gar nicht; der Kurs war direkt nach Guanosaca, und da der Wind immer gleichmäßig von der Seite kam, so blieben die Segel mit wenigen Ausnahmen so stehen, wie sie am ersten Tage gestanden, da Harrlington den Kurs angegeben.

Der ›Amor‹ war erst einige Tage von Mgwana unterwegs, als Charles eines Morgens, wie er eben seine Kabine verließ, in dem nebenanliegenden Aufenthaltsort der Heizer ein schreckliches Zetergeschrei vernahm.

Schnell sprang er durch den Gang, stieß die Verbindungstür auf und sah, wie ein großer, starker Heizer einen kleineren Kameraden nach allen Regeln der Kunst erst zu Boden boxte und dann ihn auch noch mit den Füßen treten wollte.

»Halt ein, Thomas!« schrie Charles und packte den Wütenden am Genick. »Wie kannst du hier solchen Lärm verursachen? Habe ich euch nicht oft genug gesagt, ihr sollt euch ruhig verhalten, damit Marquis Chaushilm nicht im Schlafe gestört wird? Und du bringst durch deine Hiebe deinen Gefährten zum Schreien, daß das ganze Schiff in allen seinen Fugen zittert!«

Charles war nicht nur bei den Heizern sehr beliebt, sondern stand auch wegen seiner entschlossenen Bündigkeit in großem Ansehen bei ihnen. Niemandem folgten sie so gern und ohne Murren wie ihm.

Thomas ließ sofort sein Opfer los und strich sich mit allen Zeichen der Verlegenheit durch sein vom Raufen zerzaustes Haar.

»Das ist schon wahr,« antwortete er, »aber dem Jimmy tat schon lange einmal eine Portion Prügel not.«

»Was ist denn vorgefallen?«

»Der Kerl maust wie ein Rabe, und jetzt habe ich ihn endlich dabei ertappt, wie er ein Stück Fleisch ansaß, was ich mir von gestern abend aufgehoben hatte.«

»Das ist nicht wahr,« verteidigte sich der unterlegene, ausgestandene Heizer, der sich die blutende Nase hielt.

»Was ist nicht wahr?«

»Ich habe das Fleisch nicht gestohlen, ich glaubte, es wäre meins; erst hinterher habe ich eingesehen, daß es Thomas gehörte, und habe meinen Irrtum gleich eingestanden.«

»Und darum hast du Jimmys Gesicht wie ein rohes Beefsteak behandelt, weil er sich versehentlich an deinem Essen vergriffen hat?« sagte Charles streng. »Pfui, Thomas, das ist nicht schön von dir, wegen eines lumpigen Stückes Fleisch das Ebenbild Gottes blauzuschlagen.«

»Es ist aber nicht das erste Mal, daß Jimmy stiehlt,« verteidigte sich Thomas. »Fast jeden Tag fehlt uns etwas am Essen, entweder Butter oder Fleisch oder Brot.«

»Ich bin es aber nicht gewesen,« rief Jimmy beleidigt.

»Auch die anderen Heizer sagten, daß jetzt immer Nahrungsmittel, die sie sich vom Abend zuvor aufgehoben, während der Nacht verschwänden.

»Wir glaubten anfangs, die Katze wäre es,« fügte Thomas hinzu, »aber wir hatten uns aus Mgwana ein Schock Eier mitgenommen, und in voriger Nacht sind zehn davon verschwunden. Die Katze frißt aber doch keine rohen Eier samt den Schalen.«

»Das kommt auf einen Versuch an,« meinte Charles, was die Heizer veranlaßt«, die Mäuler grinsend zu verziehen. »Jedenfalls aber fangt ihr deshalb keine Schlägerei an, sondern meldet mir, wenn nochmals so etwas vorkommt, ich werde die Sache dann näher untersuchen. Wer hier noch einmal schlägt, wird von mir mit eigener Hand gekielholt. Verstanden?«

Unter dem Lachen der Heizer verließ Charles das Logis.

Kielholen ist eine ganz barbarische Strafe, welche von Seeleuten in früheren Zeiten oft angewendet wurde, gewöhnlich auf eigene Faust und oft sogar zum bloßen Vergnügen. Der zu Bestrafende wird an ein Tau gebunden, welches unter dem Schiffe hinläuft, auf der einen Seite ins Wasser geworfen, und unter dem Kiel weg auf der anderen Seite wieder herausgezogen. Geht die Prozedur nicht schnell genug von statten, so muß der Betreffende natürlich ertrinken, jedenfalls kommt er im besten Falle halbtot an Deck zurück.

Charles begab sich zu Chaushilm und fand diesen schon wach.

Der Marquis hatte sich wahrend der Krankheit sehr verändert: er war viel stiller geworden, ging nicht mehr auf Charles' Scherze ein, und von seinem früheren Lieblingsgespräch, die Vestalinnen betreffend, wollte er nichts mehr hören. Charles hatte selbst öfters angefangen, von den Damen zu sprechen, ja, er hatte den Kniff nicht verschmäht, zu fragen, ob Chaushilm schon seine neueste Eroberung bemerkt habe. Aber der nervöse Kranke hatte sich ein für allemal dieses Thema verbeten. »Derartige Kindereien habe ich hinter mir,« hatte er heftig erklärt, und Charles nahm sich vor, nicht wieder darauf zurückzukommen. War Chaushilm erst gesund, dachte er, so wird er schon von selbst wieder auf seinem Steckenpferde reiten.

Chaushilm lag über und über mit weichen Kissen zugedeckt in seiner Koje und behielt beim Eintritt seines Freundes ein ernsthaftes Gesicht, während er Charles sonst stets mit einem freundlichen Lächeln einen Gruß zurief.

»Wie geht's, Marquis?« fragte Charles und rückte einen Stuhl neben die Koje.

»Schlecht,« flüsterte der Kranke mit schwacher Stimme.

»Ach, gehen Sie, das ist Einbildung!« sagte Charles ermunternd. »Davids, unser Arzt, sagte mir gestern, ich sollte Sie nicht mehr an Deck führen, Sie müßten jetzt schon allein gehen. Fieber haben Sie auch kaum noch, Appetit haben Sie wie ein Scheunendrescher, wie können Sie also sagen, es ginge Ihnen schlecht?«

Der Marquis schüttelte traurig den Kopf.

»Ich glaube doch nicht, daß ich aufkommen werde.«

Erschrocken sprang Charles vom Stuhle auf.

»Weisen Sie solche Gedanken von sich,« rief er. »Nichts ist einem Kranken schädlicher, als sich mit derartigen Grillen herumzutragen. Was wetten wir, daß wir beide in spätestens acht Tagen zusammen auf den höchsten Rahen herumrutschen?«

»Ich werde es nicht mehr tun, ich weiß, daß mein Ende nicht mehr fern ist.«

»Donnerwetter, Chaushilm, seien Sie ein Mann! Haben Sie Fieber?«

»Nein.«

»Haben Sie Schmerzen?«

»Nein.«

»Schmeckt Ihnen das Frühstück?«

»Ja.« »Haben Sie gut geschlafen?«

»Nein.«

»Sehen Sie, das ist es. Sie haben Fieber gehabt.«

»Nein, ich habe ganz ruhig und vernünftig mit offenen Augen dagelegen. Charles, mein guter, alter Freund, es hilft alles nichts, ich muß sterben!«

»Zum Teufel, Marquis, schwatzen Sie doch keinen Unsinn! Wie kommen Sie nur auf eine so verrückte Idee?«

»Kommen Sie her, ich will Ihnen sagen, woher ich die Nähe meines Todes so bestimmt weiß.«

Charles neigte seinen Kopf vor, so daß des Kranken Mund sein Ohr berühren mußte. Er glaubte, Chaushilm würde ihm sagen, daß er ein innerliches Leiden spüre, und wurde sehr ängstlich.

»Kasegora war diese Nacht bei mir.«

Charles Gesicht nahm mit einem Male einen ganz sonderbaren Ausdruck an; er wurde sehr ernst, sah dem Marquis besorgt in die Augen und versuchte dann, unbemerkt dessen Puls zu fühlen.

»Bemühen Sie sich nicht,« sagte Chaushilm jedoch und entzog ihm die Hand. »Ich habe nicht das geringste Fieber, sondern bin ebenso vernünftig wie diese Nacht.«

»Wer war bei Ihnen?« fragte Charles langsam.

»Kasegora, wie sie leibte und lebte.«

»Chaushilm, bedenken Sie, was Sie sprechen, und gestehen Sie dann, daß Sie geträumt haben, das ist ein gutes Zeichen. Ich habe mit eigenen Augen Kasegora sterben und unter großem Pomp begraben sehen. Glauben Sie mir das?«

»Wohl glaube ich Ihnen. Aber es war auch nicht Kasegora selbst, die mich besuchte, sondern ihr Geist.«

Charles wußte nicht, was er sagen sollte. Er fürchtete, Chaushilm hätte einen Rückfall bekommen.


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»Wie sah sie denn aus?« fragte er, um nur etwas zu sagen. »Wie im Leben; sie trug ein Tuch um die Hüften, sah aber sehr mager und elend aus.«

»Sie wollen also nicht zugeben, daß Sie nur einen Traum gehabt haben?«

»Wie sollte ich denn? Ich war so wach wie jetzt, völlig ohne Fieber, ich sah Kasegora ebenso deutlich, wie ich jetzt Sie sehe.«

»Und daraus schließen Sie, daß Sie sterben müssen?«

»Ganz bestimmt; Kasegora will mich holen.« »Um was wetten wir, daß Sie wohlbehalten in London ankommen? Besinnen Sie sich noch auf die braune Fuchsstute mit den weißen Fesseln, die Sie immer zu solcher Bewunderung nötigte?«

Des Marquis Augen leuchteten auf. Wie alle Engländer, schwärmte auch er für Pferde, und gerade für das Tier, dessen jetzt gedacht wurde, hatte er früher Charles große Summen angeboten, aber immer vergeblich.

»Nun, wenn Kasegora Sie abholen sollte, dann schenke ich Ihnen die Fuchsstute, damit Sie neben der Amazone in den Himmel reiten können.«

Nach diesen Worten verließ Charles seinen Freund und suchte John Davids auf, dem er von Chaushilms angeblichem Gespensterbesuch erzählte. Davids meinte ebenso, daß die Halluzination eine Folge des stark erregten Gehirns wäre, und bat Charles, dem Kranken nicht mehr vorzulesen, sondern ihn dafür öfter an Deck zu führen und ihn in Unterhaltung mit den Herren zu bringen.

Charles wollte diesen Rat sofort befolgen, stieß aber auf energischen Widerstand Chaushilms. Er wollte in Frieden sterben, sagte er, in der Einsamkeit.

Charles gab daher vorläufig die Hoffnung auf, ihn zur Vernunft zu bringen.

Aber am anderen Morgen war sein erster Gang wieder zu Chaushilm, und er erwartete sicher zu hören, daß der Kranke das Phantom abermals gesehen habe.

»Wie geht's, Chaushilm?« fragte er. »Haben Sie eine gute Nacht gehabt?«

»Nein, ich habe nicht schlafen können.«

»Hat Kasegora Sie wieder besucht?«

Chaushilm schüttelte den Kopf.

»Nein, ich habe sie die ganze Nacht erwartet, aber sie ist nicht gekommen.«

»Und darüber sind Sie wohl gar traurig?« fragte Charles entrüstet.

»Wenn sie mich nun einmal zu sich holen will, dann soll sie es wenigstens bald tun!« entgegnete der Marquis.

Charles wurde von tiefem Mitleid ergriffen, wie er die abgezehrte Gestalt seines Freundes sitzen sah, der sich mit solchen sinnlosen Hirngespinsten abquälte, über welche er früher gelacht hätte. Doch Charles wurde wieder von den Heizern in Anspruch genommen, diesmal beklagte sich Jimmy, daß ihm sein Tee während der Nacht weggetrunken sei, und gleich darauf erschien ein anderer Heizer, dem Zucker gestohlen war, dann ein dritter, und Charles wußte sich schließlich keinen anderen Rat, als alle sechs Mann aus seiner Kabine hinauszuspedieren. Da die Heizer aber in ihn drangen, denjenigen herauszufinden, der die Diebstähle beginge, so fällte Charles endlich das salomonische Urteil, daß derjenige, der sein Essen nicht gleich ganz aufzehre, sondern etwas für den Morgen aufhebe, auf schmalere Rationen gesetzt werden würde.

Er glaubte, daß einer der Leute ebensoviel wie der andere Schuld an den Vorkommnissen wäre, und daß alle diese harmlosen Stehlereien auf Scherz beruhten.

Wie gewöhnlich, so besuchte Charles auch am nächsten Morgen den Kranken, sobald er ein Geräusch in dessen neben der seinigen liegenden Kabine vernahm.

Chaushilm sah noch bleicher aus als gewöhnlich, seine Augen aber glänzten fieberhaft, und zugleich lag in ihnen ein Ausdruck, wie von Freude.

»Kasegora war heute nacht wieder bei mir,« rief er dem Eintretenden entgegen.

»Teufel, Chaushilm, sind Sie noch immer nicht von Ihrem Wahne kuriert?«

Jener lächelte schwermütig und überlegen zugleich.

»Halten Sie mich für wahnsinnig?« sagte er. »Ich kann Ihnen fest versichern, daß sie hier in meiner Kabine war; ich sah sie so deutlich, wie ich Sie jetzt sehen kann, und ebenso wie die Schwelle knarrte, als Sie jetzt eintraten, so knarrte sie auch bei ihrem Eintritt.«

Charles zog mit einem Male ein ganz merkwürdiges Gesicht und stieß einen leisen Pfiff aus.

»Alle Wetter,« dachte er vor sich hin, »der Geist hat also ein gewisses Gewicht, sonst würde die Schwelle nicht knarren. Hm, die Sache gibt zu denken! Doch nein, Chaushilm hat sich daran gewöhnt, daß, wenn jemand in seine Kabine kommt, die Schwelle knarrt, und träumt er nun, es öffnet jemand die Tür und tritt auf die Schwelle, so ist die unabwendbare Folge davon, daß er auch das Knarren zu vernehmen glaubt. Chaushilm hat also nur vermöge seiner aufgeregten Phantasie die Gestalt gesehen.«

»Was hat sie Ihnen denn erzählt, Herzog?« fragte er den Kranken.

»Kein Wort hat sie gesprochen,«

»So! War sie lange bei Ihnen?«

»Nur eine halbe Minute.«

»Erzählen Sie mir doch einmal, wie sie sich benimmt, wenn Sie Ihnen einen Besuch abstattet.«

»Ich weiß nicht, wann es gewesen ist, vielleicht gegen Mitternacht, als sich plötzlich die Tür leise öffnete und ...«

»Hatten Sie vorher geschlafen?« unterbrach ihn Charles.

»Etwas, aber ich wache in der Nacht stets einige Male auf und liege dann mit offenen Augen da. Da kam plötzlich eine dunkle Gestalt herein, die Augen starr auf mich gerichtet, und bewegte sich langsam, Schritt für Schritt, dort nach der Kommode zu, ohne auch nur einmal die Augen von mir zu wenden. Ach, lieber Williams, ich hätte mir so gern weisgemacht, daß ich träumte, aber es war alles Wirklichkeit, denn ich bin seitdem nicht wieder eingeschlafen. Es lag auf mir, wie ein drückender Alp, ich konnte mich nicht bewegen, ja, der Atem stockte sogar, aber endlich, als Kasegora dort die Kommode erreicht hatte, gelang es mir, einen Seufzer auszustoßen. Sofort wandte sie sich um und war verschwunden, spurlos, ohne daß ich sie weggehen sehen konnte.«

»Sie ging nicht zur Tür hinaus?«

»Nein, sie zerfloß in Nebel.«

»Brannte die Lampe?«

»Ja, Sie haben dieselbe ja erst ausgelöscht. Sie brannte niedrig, aber hell genug, um Kasegoras Züge erkennen zu lassen. Ein schwarzes, hübsches Gesicht, große Augen und wolliges Haar. Ist das nicht schrecklich, Charles, daß mich das Weib durchaus besitzen will, selbst nach dem Tode? Ich fühlte schon, daß ich wieder ziemlich gesund war, und nun kommt diese Kasegora und will mich zu sich holen.«

Wehmütig betrachtete Charles den armen Freund, der ganz von seiner phantastischen Vorstellung beherrscht wurde.

»Wissen Sie was, Herzog,« sagte er endlich, hoffend, auf diese Weise den Fieberkranken trösten zu können,«ich werde einmal mit Kasegora sprechen, wenn sie Sie besucht, was sie eigentlich von Ihnen will, und werde sie höflich ersuchen, sich nach einem anderen Geliebten umzusehen, Sie sähen Ihr Verhältnis mit ihr für gelöst an.«

»Tun Sie das, tun Sie das,« rief Chaushilm, »ich wäre herzlich froh, wenn sie sich überreden ließe, mich nicht mehr zu besuchen.«

»Sein Verstand hat doch etwas gelitten, aber es wird sich schon wieder geben,« dachte Charles, als er dem Freunde die Chinin enthaltende Medizin gab.

Am nächsten Morgen war Charles‹ erste Frage, ob Kasegora wiedergekommen wäre, und als Chaushilm verneinte, rief er:

»Sehen Sie, sie hält Wort. Ich habe diese Nacht vor Ihrer Tür gestanden, und als Kasegura kam und Sie besuchen wollte, habe ich ernstlich mit ihr gesprochen. Sie sagte, sie wollte Sie gar nicht abholen, sondern Sie nur dann und wann wiedersehen, da sie aber hörte, daß Sie noch immer sehr krank wären, versprach sie mir fest, gar nicht wiederzukommen.«

»Gott sei Dank,« seufzte Chaushilm, »so habe ich also doch noch Hoffnung, zu genesen. Ich danke Ihnen für Ihre Bemühungen, Charles.«

Dieser war wohl froh, daß er den Kranken durch seine List anscheinend von der phantastischen Vorstellung befreit hatte, aber hundertmal lieber wäre es ihm gewesen, Chaushilm hätte ihn für einen albernen Menschen erklärt, der solchen Unsinn wohl Kindern vorschwatzen könne, aber nicht ihm, Chaushilm.

Ein gutes Zeichen war solche gläubige Vertrauensseligkeit jedenfalls nicht.

Es vergingen einige Tage, und jeden Morgen erklärte Chaushilm von neuem, Kasegora hielte Wort, sie käme seit jener Zeit nicht mehr zu ihm. Wenn Chaushilm nicht immer wieder davon angefangen hätte, so hätte Charles die Geschichte jedenfalls bald vergessen, ebenso wie die anderen Herren, welche natürlich auch davon erfuhren, da aber wurde sie mit einem Male von anderer Seite aufgefrischt.

Eines Nachts vernahm Charles ein heftiges Pochen an seiner Tür. Fluchend sprang er aus der Koje, denn er glaubte nicht anders, als daß er wegen irgend einer Arbeit an Deck müsse. Zu seinem Erstaunen aber fand er vor seiner Tür zwei Heizer stehen, bleich, mit zitternden Gliedern und mit vor Angst sich sträubenden Haaren.

»Was ist denn los? Habt ihr ein Gespenst gesehen?« fragte Charles, ohne an etwas Bestimmtes zu denken.

»Kasegora,« brachte Thomas nur stammelnd hervor, und der andere Heizer nickte dazu bestätigend.

»Seid ihr verrückt, daß ihr, gesunde und kräftige Männer, auch Gespenster seht? Ihr habt wohl gestern abend zu viel Grog getrunken?«

»Kasegora war es,« wiederholte Thomas. »Wir haben nicht geträumt, Sir, wir beide haben sie ganz deutlich gesehen, so, wie sie noch auf Erden herumwandelte.«

»So,« sagte Charles trocken, wahrend er sich anzog, »wie sah sie denn aus?«

»Schwarz.« »Natürlich, weil sie eine Negerin ist, aber wie sonst? Klein, dick?«

»Ja, sie war klein und dick.«

»Seht ihr wohl, ihr Lügenbolde!« donnerte Charles die Erschrockenen an, »Kasegora war groß, sogar sehr groß und schlank. Habt ihr denn Kasegora überhaupt früher einmal gesehen?«

»Nein,« gaben die beiden Heizer kleinmütig zu.

»Ihr wäret wert, daß man euch wegen eurer Dummheit in Eisen legte,« sagte Charles und wollte sich schon wieder ausziehen.

»Aber, Sir Williams, wir schwören Ihnen, wir haben eine schwarze Gestalt gesehen, eine Negerin, die am Sirupfaß stand und mit einem Löffel daraus aß.«

Charles besann sich plötzlich anders, er zog sich völlig an und begab sich mit den Heizern ins Logis.

»Wenn Kasegora Sirup ißt, dann wird die Sache doch ernsthaft,« dachte er. »Jetzt muß die Sache näher untersucht werden, vielleicht hat Chaushilm doch kein Gespenst gesehen.«

Beim ersten Blick nach dem Sirupfaß sah Charles etwas, was mit einem Male Licht in die Sache zu bringen schien. Die Person, welche aus dem Fasse gegessen hatte, mußte mit der Hand zu tief in den Sirup gegriffen haben, denn deutlich konnte man auf dem Deckel des Fasses den Abdruck von Fingern sehen.

Auf englischen, sowie auch auf einigen deutschen Schiffen steht der Mannschaft immer Sirup zur Verfügung, mit dem des Morgens die Hafergrütze, das gewöhnliche Frühstück auf englischen Schiffen, versüßt wird.

Ohne weiteres weckte Charles die übrigen Heizer und unterzog die Hände aller einer genauen Prüfung, konnte aber keine Spur von Sirup finden, auch nicht, daß sich einer die Hände erst kurz vorher gewaschen oder abgewischt hätte.

Die Sache gab zu denken. In derselben Nacht noch durchstreifte Charles mit einer Laterne das ganze Schiff von oben bis unten, ohne etwas zu finden. Sollte sich, wie er jetzt fest glaubte, in Mgwana eine Person, vielleicht ein Neger, im Schiff versteckt haben, um freie Fahrt nach irgend einem anderen Hafen zu bekommen, was wanderlustige Individuen oft tun, so war dieselbe nicht so leicht zu finden, denn auf einem Schiffe gibt es unzählige Verstecke, jedes leere Faß bietet ein solches, an dem man des Tages über hundertmal vorübergeht, bis man durch Zufall endlich merkt, daß schon lange jemand daruntergesteckt hat.

Am anderen Tage erzählte Charles den Herren seine Wahrnehmung, und eine allgemeine Reinigung des Schiffes ward beschlossen, denn dabei konnte man den etwaigen blinden Passagier am besten entdecken.

Das ganze Schiff ward unter Wasser gesetzt, keine Ecke, kein Winkel entging dem Scheuerbesen, jedes Faß wurde umgekippt, kein Kasten und keine Kiste blieb stehen, aber alles war umsonst, kein Schwarzer wurde gefunden.

Und dennoch behauptete abermals ein Heizer, daß das Gespenst dem Logis wieder einen Besuch abgestattet habe und mit einem halben Schinken verschwunden sei.

»Aber warum hast du es denn nicht gepackt?« rief Lord Harrlington ärgerlich.

»Ich werde mich hüten, den Klabautermann anzugreifen,« rief der Heizer erschrocken.

Aus Kasegora war also bei den Heizern der Klabautermann geworden, jenes Gespenst der Seelente, welches dem Schiff, auf dem es sich befindet, immer Glück bringt. Wird es aber gesehen, wie es seine Kleiderkiste packt, als wolle es das Schiff verlassen, dann gibt es immer bald ein Unglück.

Der ›Amor‹ war nicht mehr weit ab von der Ostküste Amerikas, und da man um Kap Horn fahren mußte, um nach der Westküste zu gelangen, so mußte man südlich segeln, und zwar bedeutete dies eine Fahrt gegen den Wind. Das erste Mal wurde während derselben die Maschine benutzt, die Heizer begannen ihre Tätigkeit, karrten Kohlen aus den Bunkers (Kohlenräumen) und warfen sie dann unter die Kessel ins Feuer.

Da stürzte eines Nachmittags ein rußbedeckter Heizer an Deck und schrie Zeter und Mord — er hätte den Klabautermann in einem Kohlenbunker sitzen sehen, derselbe hätte ihn mit feurigen Augen angefunkelt und sich nicht von der Stelle gerührt, sei aber plötzlich verschwunden.

Ohne Verzug begaben sich alle Herren, die gerade an Deck waren, allen voran Charles, nach dem bezeichneten Kohlenbunker. Der Raum hatte keinen weiteren Ausgang, und der geflüchtete Heizer hatte sofort die Tür hinter sich zugeschmettert. Konnte das Gespenst also nicht in Rauch aufgehen oder durch das Schlüsselloch kriegen, so mußte es sich noch zwischen den Kohlen befinden.

Vorsichtig wurde die Tür aufgemacht — nichts war zu sehen. Nun begann ein emsiges Suchen, die mächtigen Blöcke, die erst mit der Hacke zertrümmert werden mußten, wurden umgangen oder umgewendet, die Herren scheuten sich nicht, in zufällig entstehende Höhlen zu kriechen, aber alles ohne Erfolg.

Da hörte man Plötzlich von da, wo der am weitesten vorgedrungene Charles sich befand, eine Kinderstimme weinen, und im nächsten Augenblick erschien Charles, am Kragen eine kleine, über und über mit Kohlenstaub bedeckte Gestalt haltend.


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»Was hast du hier zu suchen? Wie kamst du hierher, Schlingel?« fuhr Charles den Entdeckten an, von dem man noch nicht sagen konnte, ob er ein Neger oder nur ein vom Kohlenstaube Geschwärzter war, denn seine Haut war ebenso schwarz, wie die paar Tücher, die um seinen Körper hingen.

»O, o, Massa,« wimmerte der Kleine unter den Fäusten Charles', »Massa Pontence mich zu viel geschlagen, ich weggelaufen, ich gehen nach Amerika.«

»Hektor,« rief Charles überrascht, »das ist ja der Diener des Franzosen, der in Afrika geblieben ist.«

Hektor erzählte unter vielen Tränen, wie der Franzose trotz aller scheinbaren Gutmütigkeit ein ganz grausamer Herr gewesen sei, der ihn manchmal fast zu Tode gequält und ihn oft genug grausam geschlagen hätte.

Zuletzt habe er von einem Neger einen großen Affen gekauft, um ihn zu zähmen und Versuche anzustellen, wie weit er ihn den Menschen ähnlich machen könne. Hektor bekam das Tier zum Warten, er sollte es des Morgens waschen, kämmen und so weiter, aber der Affe hatte sich dies nicht gefallen lassen, sondern mit seiner zehnfach überlegenen Kraft den armen Hektor oftmals übel zugerichtet, und dann hatte dieser auch noch Schlage von seinem Herrn dazu bekommen.

Da war der Junge kurz entschlossen eines Tages auf- und davongelaufen und hatte sich auf dem ›Amor‹ versteckt, weil er erfahren hatte, daß die Herren bald nach Amerika segelten. Dort wollte er sein Glück probieren.

Er hatte sich während der Fahrt immer in dem Bunker aufgehalten, auf gestohlenen Decken geschlafen und sich des Nachts Essen aus dem Logis oder den Kabinen besorgt.

»Bist du einmal dabei ertappt worden, als du in eine Kabine gingst?« fragte ihn Charles.

»Nein, die Herren schliefen immer ganz fest, nur einmal, glaube ich, hat mich einer gesehen, denn er machte die Augen auf und seufzte tief, aber er schrie nicht. Er glaubte sicher, er hätte geträumt.«

Charles erklärte, da ihm Hannes entsprungen wäre, so würde er von jetzt ab Hektor als Diener annehmen und an ihm seine Erziehungskunst probieren. Die Herren waren damit einverstanden, denn Hektor schien ein guter, williger Junge zu sein.

Am meisten freute sich Charles Chaushilms wegen. Als er diesem erzählte, wer die vermeintliche Kasegora gewesen sei, brach der Marquis plötzlich in ein unbändiges Gelächter aus, er ließ sich Hektor zeigen, und als er die kleine, schmutzige Gestalt mit den verschmitzten Augen sah, da brach seine Heiterkeit nochmals los, und dann erklärte er plötzlich, er habe nun das Bettliegen satt, er wolle an Deck gehen und versuchen, ob er nicht etwas arbeiten könne.

»Hektor ist kein schöner Name für einen Neger,« meinte Chaushilm, als ihm sein Freund beim Anziehen half, »ich liebe nicht, klassische Namen auf Leute anzuwenden, die ihrer unwürdig sind.«

»Da haben Sie recht,« entgegnete Charles, »ich habe ihn auch schon umgetauft. Er heißt von jetzt ab Kasegorus.«


39. Gefangen.

Ellen stand nach wie vor auf der Kommandobrücke und leitete die Manöver der ›Vesta‹, ebenso wie früher wurde ihren Befehlen willig gehorcht, aber dieselben wurden nicht mehr mit so heller Stimme gerufen, und die Mädchen verrichteten die Arbeit nicht mehr unter Scherzen und Lachen. Beides war auf der ›Vesta‹ verklungen, der Frohsinn hatte das Schiff verlassen und einer ernsten, wenn auch nicht mißvergnügten Stimmung Platz gemacht.

Der ähnlichste Wunsch aller war, Amerika sobald als möglich zu erreichen, die befreiten Mädchen in die Heimat zu bringen und dann auf dem Landwege nach New-York zurückzukehren, weil dieser ein schnelleres Reisen gestattete. Die ›Vesta‹ mochte verkauft werden oder sich selbst überlassen bleiben. Seit der Aussetzung Johannas hatte das Schiff seinen Reiz für die Mädchen verloren.

»Ist dort nicht Land?« rief Miß Morgan, die neben Ellen auf der Kommandobrücke stand, und deutete in die Ferne. Ellen nahm das Fernruhr zur Hand.

»Es ist die erste der Juan-Fernandez Inseln, einer unbedeutenden Gruppe.« entgegnete sie,

»Sind sie bewohnt?«

»Ich glaube kaum; sie liegen zu weit ab vom Festland und sind zu klein, als daß sie irgendwelche Bedeutung erlangen könnten. Sie sollen wohl fruchtbar sein, weil sie reich an Wasser sind, ich habe aber nicht gehört, daß sie von Schiffen besucht würden.«

Die Glocke läutete zum ersten Frühstück, Ellen, wie das den Steuermann vertretende Mädchen, nahmen dasselbe auf der Brücke ein. Eine Vestalin brachte beiden ein Präsentierbrett mit Kaffee und Brot.

Ellen schenkte sich ein, hatte aber kaum von dem Kaffee gekostet, als sie sich mit allen Zeichen des Ekels nach der Bordwand wandte und den Kaffee wieder ausspucke.

»Die Köchin hat den Kaffee wohl mit Salzwasser gemacht,« rief sie halb ärgerlich, halb lustig, »dieser hier ist wenigstens ungenießbar.«

Gleich darauf machte auch Miß Morgan dieselbe Wahrnehmung, auch sie mußte den genossenen Kaffee eiligst ausspucken, wollte sie nicht in eine noch unangenehmere Lage kommen.

Bald erschienen auch die Vestalinnen, welche im Salon das Frühstück hatten einnehmen wollen, umdrängten lachend die Kombüse und warfen dem heute als Köchin beschäftigten Mädchen vor, daß es den Kaffee mit Salzwasser bereitet hätte.

Entrüstet wies das Mädchen die Beschuldigung von sich, sie hätte das Wasser nicht aus der Salzwasserpumpe, sondern aus der Faßpumpe genommen, aber beim Kosten des Kaffees überzeugte auch sie sich, daß derselbe ganz bittersalzig schmeckte.

Ellen pumpte aus dem Faß, welches die Köchin als das bezeichnete, welches sie benutzt hatte, und fand wirklich, daß das ganze Faß verdorben war — das Wasser schmeckte noch bitterer, als Salzwasser.

»Hat jemand heute morgen schon Wasser getrunken?« fragte sie die Vestalinnen.

Einige bejahten, behaupteten aber, keinen schlechten Geschmack wahrgenommen zu haben.

Ellen begab sich mit einigen Mädchen in die Wasserlast und untersuchte das Faß, aber nichts wurde gefunden, was verraten hätte, auf welche Weise das süße Wasser plötzlich ungenießbar geworden sein könnte.

»Hat jemand von Ihnen schon ein Unwohlsein verspürt?« fragte Ellen weiter.

Niemand hatte etwas davon bemerkt, sie hatten ja auch den Kaffee nur eben gekostet.

»So steht nicht zu befürchten, daß wir uns vergiftet haben. Wir müssen eben ein anderes Faß anschlagen.«

Ein volles Faß wurde entspundet, die Pumpe hineingesteckt, noch ehe aber die Mädchen an Deck kamen, wurde ihnen schon zugerufen, daß das neue Faß ebenfalls bitter sei.

»Das ist nicht möglich!« rief Ellen sofort. »In der Pumpe steckt nur noch altes Wasser. Pumpen Sie das erst einmal heraus und kosten Sie dann wieder.«

Es wurde gepumpt und gepumpt, aber das Wasser bekam keinen anderen Geschmack, es war ebenfalls verdorben. Schließlich begab sich Ellen abermals in die Wasserlast und kostete den Inhalt des Fasses direkt — es war bitter, dann prüfte sie auch die anderen Fässer und fand zu ihrem Entsetzen, daß das Wasser aller, ohne Ausnahme, selbst das in dem Tank enthaltene, salzig wie das Meer und bitter wie Galle — völlig ungenießbar war.

Ellen verbreitete diese Nachricht an Deck, und sie erregte unter den Vestalinnen nicht weniger Entsetzen, als bei ihr — wirkliches Entsetzen, denn was war ein Schiff auf dem Ozean ohne Trinkwasser? Ebensogut hätten die Damen ohne Luft leben können.

Aber wie war diese Umwandlung zu stande gekommen?

Diese Frage fand keine Antwort. Niemand konnte sich das Rätsel erklären, bis endlich Ellen ihre Meinung dahin aussprach, daß das in Mgwana eingenommene Wasser schädliche Stoffe enthalten habe, die sich nach und nach entwickelt und das Wasser zur Fäulnis gebracht hätten. Aber was nun? Die mitgenommenen Vorräte an Bier und Wein schützten die Besatzung der ›Vesta‹ wohl einige Tage vor dem Durst, aber kochen und waschen konnte man gar nicht mehr, und wenn jene ausgingen, ehe man einen Hafen erreichte, was dann? Ein ihnen begegnendes Schiff gab ihnen wohl etwas Wasser ab, aber nicht viel.

»Ist jene Insel der Juan-Fernandez-Gruppe nicht reich an Wasser?« fragte da Miß Morgan Ellen.

Man konnte noch immer das Eiland wie einen schwachen Nebelstreifen am Horizont erblicken.

»Ich dachte auch schon daran, daß wir diese Insel anlaufen müssen,« entgegnete Ellen. »Ich weiß nämlich zufällig, daß dieselbe fast nur von Schiffen besucht wird, welche Wasser brauchen. Vorhin habe ich Ihnen dies nicht gesagt. Aber es ist so, man kann dort das Wasser unter sehr günstigen Bedingungen erreichen, so daß die Übernahme desselben nicht sehr lange Zeit in Anspruch nimmt.

Die Insel lag gerade in der Richtung des Windes, man konnte also gut auf sie zuhalten. Die Raaen wurden gedreht, das Ruder gelenkt, und mit allen Segeln steuerte die ›Vesta‹ jener kleinen Insel im Atlantischen Ozean zu. Die Mädchen freuten sich sogar auf die zu erwartende Arbeit, welche gar nicht so leicht und schnell von statten gehen konnte, denn erst mußten die Fässer ausgepumpt, dann an Deck gewunden und an Land geschafft werden, wo sie gereinigt wurden. Lagen sie dann wieder in der Wasserlast, dann wurde das Wasser in Eimern von Hand zu Hand gereicht, man bildete eine Kette, bis die Fässer voll waren. Ebenso wurden die Tanks behandelt, nur daß man diese unten in der Last aufscheuern mußte. Ein Tag würde wohl vergehen, ehe die Arbeit vollbracht war. Aber immerhin — es war doch eine Abwechselung, und wieder einmal Land, und noch dazu ein schönes, unter den Füßen zu haben, darauf freuten sich die Mädchen.

Wahrend die ›Vesta‹ noch auf die Insel zusegelte, wurden schon die Fässer und Tanks leergepumpt, und das in Mgwana mitgenommene Wasser rann in Strömen über Deck. Die Sonne stand zwar noch nicht hoch am Himmel, sandte aber schon sengende Strahlen herab, und so war es nicht wunderbar, als ein Mädchen den Pumpenschwengel plötzlich fallen ließ und rief:

»Mich plagt schon seit einer halben Stunde ein furchtbarer Durst, ich kann nicht mehr arbeiten, wenn ich nicht trinke.«

»Ich auch, ich auch,« erklang es von allen Seiten; die Pumpwerke hörten auf zu arbeiten, und es wurden Flaschen mit Bier verteilt.

Eine Flasche brachte aber keine Linderung des Durstes, sie steigerte ihn nur, und Ellen wurde so lange gedrängt, bis sie weitere Flaschen zur Verfügung stellte. Sie sprach sich offen darüber aus, daß dieser nicht zu bändigende Durst von dem Kosten des Wassers gekommen wäre, und da keine der Vestalinnen das zu tun unterlassen hatte, so war der Durst bei allen gleich stark.

Ellen bat vergebens, ihren eigenen Durst soviel als möglich bemeisternd, nicht zu viel von dem spirituösen Getränk zu sich zu nehmen, in einer halben Stunde hatte man ja die Insel erreicht und könnte sich am frischen Wasser laben — der Durst ließ sich nicht bändigen, und einer Bierflasche nach der anderen wurde der Hals gebrochen. Ellen schloß sich endlich selber den trinkenden Mädchen an.

Es wurde sorgsam gelotet, um die ›Vesta‹ so nahe wie möglich ans Land bringen zu können, und glücklicherweise fand sich eine Bucht, wo die ›Vesta‹ dicht am Ufer vor Anker gehen konnte. Boote auszusetzen, war nicht nötig, ein Laufbrett stellte die Verbindung zwischen Schiff und Land her.

Es war ein schönes Eiland, welches sich ihren Blicken darbot, mit echt afrikanischer Vegetation, üppigem Graswuchs und mächtigen Bäumen, unter denen die Fruchtbäume zahlreich vertreten waren. Ein Bananenstrauch ließ seine köstlichen Früchte direkt über Deck hängen.

Wasser war zwar von Bord aus noch nicht zu entdecken, aber wo solche üppige Vegetation herrscht, da gibt es auch Quellen. Ob die Insel bevölkert war, konnte man noch nicht sagen, denn kein Mensch, keine Hütte, kein Rauch waren zu bemerken.

»Wer begleitet mich auf der Suche nach Wasser?« rief Ellen.

Es entstand ein ungestümes Drängen. Jede wollte die Kapitänin begleiten; aber die ›Vesta‹ durfte nicht allein gelassen werden, und so wurden nur zehn Damen ausgewählt, die übrigen vierzehn sollten einstweilen alle Vorbereitungen treffen, um sofort das Wasser übernehmen und die Behälter füllen zu können.

»Bringen Sie uns eine Probe des Wassers mit!« rief ein Mädchen den Abgehenden nach.

»Ich habe schon einen Eimer bei mir,« entgegnete Miß Morgan und hielt denselben in die Höhe. »Sobald wir Wasser gefunden haben, bringe ich ihn voll zurück.«

Die an Bord Gebliebenen waren fleißig damit beschäftigt, eine bequeme Brücke herzustellen, auf der man mit den schweren Wassereimern sicher hin- und hergehen konnte.

»Wenn die Quelle nur nicht weit abliegt,« sagte Miß Thomson während dieser Arbeit zu Miß Nikkerson, »sonst kann es lange dauern, ehe wir die Behälter voll bekommen. Einige tausend Eimer haben wir wenigstens nötig.«

»Wenn wir ununterbrochen tragen, dann ist diese Arbeit nicht so schlimm,« antwortete das andere Mädchen. »Vierundzwanzig Menschen können viel leisten. Aber wenn sich die Eimer nur langsam und halb füllen lassen, was leicht eintreten kann, wenn die Quelle nur spärlich fließt, was dann?«

»In diesem Falle wüßte ich ein Auskunftsmittel,« lächelte Miß Thomson, »und Ellen wird wohl auch darauf kommen. Dann wird einfach ein Loch gegraben, in das die Quelle ihr Wasser ergießt.«

Miß Nikkerson gab zu, daß sie an dieses einfache Mittel nicht gedacht hätte.

»Aber ich wollte doch, die Arbeit wäre schon vorüber,« begann sie nach einer Pause wieder, »meine Glieder sind mir schon so schwer, ich bin so müde, daß ich mich am liebsten hinlegen und für einige Stunden schlafen möchte.«

»Das Bier und der Wein sind daran schuld,« entgegnete Betty lachend, »ich fühle mich wirklich betrunken, das erste Mal in meinem Leben! Auch ich möchte lieber die Arbeit bis morgen verschieben und heute schlafen. Sehen Sie da, den anderen Damen behagt das Brettertragen auch nicht, es sieht immer aus, als wollten sie hinfallen, um nicht wieder aufzustehen.«

»Da kommt Miß Morgan schon,« rief Miß Thomson, »sie winkt, sie hat Wasser.«

Mit Freuden ward Miß Morgan begrüßt, die mit hochrotem Gesicht den Eimer hinstellte und sich die Stirn trocknete.

»Wasser ist im Überfluß vorhanden,« sagte sie. »Wir können zwei Eimer immer zu gleicher Zeit füllen. Eine himmlische Gegend ist es — — —«

Die Mädchen hörten jedoch nicht auf die Beschreibung der Naturschönheiten, sie liefen davon und kamen mit Gläsern zurück, die sie in die Eimer tauchten.

»Ich hole noch mehr,« sagte Miß Morgan und nahm einen anderen Eimer, »vergessen Sie aber die braunen Mädchen im Zwischendeck nicht, die haben auch Durst.«


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Den Vestalinnen schmeckte das frische Quellwasser köstlich. Glas nach Glas schlürften sie davon, bis Miß Thomson erklärte, der Rest müsse den Sklavinnen verabreicht werden.

Bald machten sie sich wieder an die Arbeit, aber schon nach Verlauf einer Minute warf ein Mädchen nach dem anderen den Hammer oder das Brett hin, das sie gerade in der Hand hielten, legten sich ins Gras und erklärten, nicht weiterarbeiten zu können.

Selbst die widerstandsfähige Miß Nikkerson konnte die Schwäche nicht überwinden, sie ließ das Brett plötzlich fallen, welches sie mit Betty zusammen getragen hatte, und setzte sich hin.

»Meine Glieder sind wie Blei,« lallte sie mit schon schwerer Zunge, »ich kann nicht mehr — ich muß — schlafen — sonst — — —«

Sie sank zurück und schlief ein, so wie sie lag.

»Auch ich kann mich vor Müdigkeit kaum aufrecht halten,« klagte Betty und setzte sich neben die Freundin, »das Bier, das frische Wasser, meine Augen fallen zu.«

»Mein Gott,« rief sie plötzlich und sprang noch einmal auf, »was ist denn das, alle Damen schlafen ja schon! Das geht aber nicht — wir dürfen — nicht — schlafen.«

Doch ihre Augen fielen von selbst wieder zu, sie stürzte zu Boden, einmal glaubte sie, einen Schuß zu vernehmen, gewaltsam suchte sie sich aufzurichten, dann senkte sich ein tiefer Schlaf auf sie — die Besinnung schwand. — — — — —

Die zehn Vestalinnen waren unter Führung Ellens ins Innere der Insel gewandert. Sie waren nur mit den sechsschüssigen Revolvern bewaffnet, die sie stets bei sich trugen. Munition führten sie nicht mit sich. Die Insel sah ja so friedlich aus; wilde Eingeborene gab es hier nicht, das wußte Ellen bestimmt, und im Falle der Not konnten sich die Mädchen mit ihren sechzig Schuß genügend verteidigen, außerdem wären ihnen ihre Freundinnen beim ersten Schuß sofort zu Hilfe geeilt. Gefahr war also nicht zu fürchten. In gemäßigtem Tempo drangen die Mädchen vorwärts, die Reize der idyllischen Insel bewundernd.

»Ach, wie schön wäre es doch,« rief Miß Murray, »könnten wir für immer hier wohnen! Früh mit den Vögeln aufstehen, im tauigen Grase sich ergehen, Früchte essen und Wasser trinken, gesund an Leib und Seele.«

»Warum können Sie das nicht?« fragte Miß Sargent lächelnd.

»Sie sind ja frei und unabhängig. Es liegt nur an Ihnen, so können Sie sich hier häuslich einrichten und ein Leben wie Robinson führen.«

»Warum ich das nicht kann?« erwiderte Miß Murray schwermütig. »Weil ich eben nicht so erzogen worden bin, daß ich ein solches Leben auf die Dauer ertragen könnte, leider nicht, ich weiß es sehr wohl. Es ist sehr schwer, sich in der Einsamkeit für immer glücklich zu fühlen. Ich könnte wohl ein halbes Jahr, auch ein Jahr einsam hier leben, dann aber würde sich der Wunsch wieder in mir regen, in Gesellschaft zu sein, und diese Sehnsucht würde zuletzt so gebieterisch befehlen, daß ich nachgeben müßte.«

»Aber Sie könnten ja diese Insel in Gesellschaft bewohnen.«

»Ich könnte, ja, doch würde nicht bald Disharmonie zwischen uns eintreten? Und mit der ersten wäre die Idylle für immer zerstört.«

»Ach Gott, auch ich möchte solch eine Insel bewohnen, abgesondert von aller Welt, in der man nur tagaus, tagein nach nichtigen Dingen jagt, und ist man zu der Einsicht gekommen, daß der innere Friede das wahre Glück ist, und bestrebt man sich, diesen zu erhalten, dann sieht man zugleich ein, daß in der Welt ein solcher Frieden nie zu finden ist. Miß Morgan,« wandte sich Miß Sargent an diese, »wie hieß doch gleich das irische Lied, welches diese unnennbare Sehnsucht nach einem stillen, friedlichen Lande ausdrückt?« »Meinen Sie dies?« fragte Miß Morgan lächelnd und deklamierte mit melodischer Stimme:

»O hätten ein Eiland wir, schimmernd und hehr, Verlassen und einsam in bläulichem Meer, Wo nie auf dem Baum welkt das blühende Laub, Wo die Blumen ...«

»Bitte, seien Sie still,« unterbrach Ellen die Sprecherin plötzlich und blieb stehen.

Alle Mädchen sahen erstaunt auf die Führerin, welche diese Worte heftig, ja, unhöflich hervorgestoßen hatte.

»Ich glaube, ich höre eine Quelle murmeln,« fügte Ellen, hochrot im Gesicht, hinzu und schlug eine andere Richtung ein.

Wortlos folgten ihr die Mädchen, und sie merkten bald, daß Ellen sich nicht getäuscht hatte: auch sie hörten jetzt das leise Murmeln. Bald hatten sie eine Quelle erreicht, die fröhlich ihr krystallklares Wasser zwischen grasbewachsenen Ufern dahinrieseln ließ.

»Herrlich!« rief Miß Murray entzückt. »Wir sind im Paradies!«

»Und ich werde erst die zurückgebliebenen Damen mit diesem Lebenswasser versehen,« lächelte Miß Morgan, kniete nieder und füllte den Eimer.

Sie mußte vorsichtig dabei sein, damit der Eimer nicht den Sand aufwirbelte, aber es gelang ihr doch, den Behälter bis zum Rande zu füllen.

»Wollen Sie das Wasser von hier aus tragen lassen?« fragte sie, sich aufrichtend, Ellen.

»Nein,« entgegnete diese, »es würde zu lange dauern. Einen Eimer kann man wohl füllen, aber nicht tausend, dann würden wir schlammiges Wasser bekommen. Wir müssen weiter gehen und einen passenden Ort suchen.«

»Warum dies?« fragte ein Mädchen.

»Weiterhin wird das Land hügelig, und vielleicht finden wir einen kleinen Wasserfall, wo sich's schon bequem schöpfen lassen würde, finden wir keinen solchen, dann müssen wir ein Loch graben, in dein sich das Wasser ansammelt; hat es sich geklärt, so können wir mit der Schöpfarbeit beginnen.

»So gehen Sie einstweilen,« sagte Miß Morgan, »ich komme gleich wieder, es sind nur zehn Minuten bis zum Schiff.«

Sie ging mit dem vollen Eimer davon.

»Ich finde, Miß Morgan wird in letzter Zeit immer liebenswürdiger,« meinte Jessy, als das Mädchen zwischen den Bäumen verschwunden war.

»Ist Miß Morgan nicht immer freundlich gegen uns gewesen?« fragte Ellen verwundert.

Jessy zuckte die Achseln, schwieg aber.

Das Wasser bekam wirklich ein immer stärkeres Gefälle, woraus man schließen konnte, bald auf einen Wasserfall zu stoßen, und noch nicht lange waren die Mädchen gegangen, so hörten sie auch schon das Rauschen eines solchen.

Bald erreichten sie denselben.

Der kleine Bach stürzte etwa einen Meter hoch von einem Plateau herunter, und der silberklare Strahl eignete sich vortrefflich zum Füllen der Eimer. Der Weg zum Schiffe war auch nicht sehr weit, und so konnte, wenn zwanzig Mädchen unterwegs waren, wenn eins immer für volle Eimer sorgte und die übrigen die Behälter füllten, das Schiff bald wieder mit Trinkwasser für vier Wochen versehen sein. Die noch leeren Tanks versorgte der erste Regentag mit Reservewasser.

»Erst aber will ich trinken, wir müssen das Wasser doch kosten,« rief Ellen und ließ sich auf die Kniee nieder. Mit vollen Zügen schlürfte sie das erquickende Naß. Die anderen Damen folgten ihrem Beispiel.

Da ertönte plötzlich neben Ellen ein lauter Schrei, dann noch einer, Ellen blickte auf und sah schon drei Damen in der Gewalt einiger Männer, welche lautlos hinter einem Hügel vorgeschlichen waren und die trinkenden und ahnungslosen Mädchen überrascht hatten. Immer mehr Männer sprangen hinter der Hügelkette hervor, stürzten auf die Mädchen zu, und ehe diese nur die Lage erfaßt hatten, waren sie schon in der Gewalt der Unbekannten.

Ellen war die einzige, welche noch nicht ergriffen worden war; den Händen des ersten Räubers war sie ausgewichen, und als der zweite auf sie zusprang, hielt sie schon den Revolver in der Hand, ein Schuß krachte, und der verwildert aussehende Kerl fiel zu Boden.

Wohl drangen von allen Seiten Männer auf Ellen ein, um sie zu fassen, aber geschickt wich sie ihnen aus und rannte in der Richtung davon, wo das Schiff lag.

Hinter ihr her jagte der Schwarm der Verfolger, aber keiner konnte sich an Schnelligkeit mit dem leichtfüßigen, in der Prärie aufgewachsenen Mädchen messen.

»Nach dem Schiff!« war Ellens einziger Gedanke. Dort lag die Rettung für sie und auch für die anderen. Widerstand mit dem Revolver in der Hand wäre vergeblich gewesen, sie hatte die Zahl der Piraten — für solche hielt sie die Männer — auf zwanzig geschätzt, die Freundinnen konnte sie mit ihren fünf Schüssen nicht mehr befreien; so galt es also die ›Vesta‹ zu alarmieren.

Ellen ließ die Verfolger schnell hinter sich. Gebrauch von Schießwaffen machten sie nicht, obwohl sie solche besaßen; noch ein Weilchen, dann erblickte sie zwischen den Bäumen die ›Vesta‹.

Aber plötzlich blieb sie vor Schrecken stehen.

Auf dem Schiffe war es lebendig, aber nicht Vestalinnen liefen an Deck hin und her, sondern Männer, und so nahe war Ellen schon, daß sie sehen konnte, wie diese Männer ihre Freundinnen fortschleppten.

Alles schien verloren — die ›Vesta‹ war in der Gewalt der Seeräuber.

Da deutete ein Mann an Bord nach der Richtung, wo Ellen stand, sofort rannte ein Trupp auf sie zu — sie war entdeckt worden. Vor ihr die neuen Feinde, hinter ihr die Verfolger, Ellen schien verloren, noch aber gab sie die Hoffnung nicht auf. Sie rannte, den Revolver schußbereit in der Hand, seitwärts, fest entschlossen, ihr Leben bis auf den letzten Blutstropfen zu verteidigen.

In wilder Flucht jagte sie durch die Büsche, hatte aber schon die Verfolger auf ihrer Spur.

Da sah sie plötzlich sich eine Gestalt entgegenkommen.

»Miß Morgan,« jauchzte sie förmlich auf, »sind noch mehr gerettet?«

»Nein,« schrie das Mädchen, zu ihr hinspringend, »wir sind vollständig umzingelt.«

»Dort ist der Weg noch offen,« rief Ellen, faßte die Freundin an der Hand und wollte sie nach einem Engpasse zwischen den Hügeln mit sich ziehen.

»Es ist zu spät,« antwortete Miß Morgan, einen Blick auf Ellen werfend, die mit hochrotem Gesicht und sprühenden Augen sich umschaute und den Revolver in der Hand trug. »Ist Ihr Revolver noch geladen?«

»Noch mit fünf Schuß. Ziehen Sie den Ihren, wir wollen Rücken gegen Rücken die Angreifer erwarten.«

Die Verfolger waren herangekommen, auch der vom Schiff sich nahende Trupp hatte die Mädchen erreicht, aber aus dem Engpasse kamen keine Feinde. Doch es war jetzt zu spät, dorthin zu fliehen; die beiden Mädchen waren schon rings umstellt.

»Zurück!« schrie Ellen, den Revolver emporhebend und auf die Verfolger zielend.

Die ersten prallten zurück, aber nur einen Augenblick stockten sie, staunten die beiden sich verteidigenden Mädchen mehr an, als daß sie sich vor den Revolvern fürchteten, dann aber brachen sie in ein lautes Gelächter aus.

Miß Morgan hatte sich mit dem Rücken gegen Ellen gestellt, kaum aber hob diese den Revolver und rief die drohende Mahnung, so schleuderte das Mädchen die Waffe blitzschnell weg, drehte sich um und umschlang Ellen von hinten mit beiden Armen, deren Revolver herunterdrückend.

Ellen dachte nicht mehr an Gegenwehr, sie kannte die Hände, welche fest verschlungen über ihrer Brust lagen, es waren die ihrer Freundin.


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»Da habt ihr sie,« schlug Miß Morgans Stimme triumphierend an ihr Ohr.

»Verraten!« stöhnte Ellen laut auf, dann ließ sie sich von den hohnlachenden Piraten ergreifen.

7

Miß Morgan hatte ihre Verräterrolle gut gespielt.


40. Felix Hoffmann.

Eduard Flexan und Elias Kinnaird saßen noch immer in dem Laboratorium des letzteren in der Unterhaltung über den Kapitän des »Blitz« begriffen.

»Sie wollen wissen, wer dieser Felix Hoffmann eigentlich ist,« fuhr Flexan fort, »nun, ich kann Ihnen ganz genaue Auskunft darüber geben. Alles, was Sie über ihn erfahren werden, wird Sie zu der Überzeugung bringen, daß Hoffmann ein ganz außerordentlicher Mensch ist. Es ist der größte Fehler, wenn man die Vorzüge seines Feindes unterschätzt, nur dumme Menschen tun dies und ziehen dann meist den kürzeren dabei.«

»Sehr richtig,« gab der Chemiker zu. »Wer seinen Feind unterschätzt, ist ihm gegenüber stets im Nachteil. Betrachten Sie Hoffmann aber als Feind?«

»Nicht als persönlichen. Ich hasse nur alle Menschen, denen vom Glück Reichtümer in den Schoß geworfen worden sind, oder denen es durch Verschlagenheit gelungen ist, sich in den Besitz solcher zu bringen, während mein Vater und ich von Jugend auf nach denselben gerungen haben und doch noch mit leeren Händen dastehen.

Mag diese Denkungsweise moralisch sein oder nicht, die meisten Menschen teilen sie. Aber ich begnüge mich nicht damit, sondern suche das Glück zu zwingen. Ich bin nicht als ein moralischer Mensch erzogen worden, und Gewissensbisse kenne ich daher nicht. Daß wir berechtigt sind, jeden in uns aufsteigenden Wunsch zu befriedigen, ist meine Anschauung, die mir schon in der Jugend eingeimpft worden ist.«

»Das ist auch meine Ansicht,« entgegnete der Chemiker, »nur haben sich meine Wünsche im Laufe der Jahre etwas geändert.«

»Ich weiß es, Ihr einziger Wunsch ist, Ihre Geldhaufen möglichst schnell anwachsen zu lassen, alles andere haben Sie in Ihrem Herzen ausgerottet. Warum nicht? Jeder nach seinem Geschmack! Doch nun lassen Sie uns auf Felix Hoffmann zurückkommen; der Tag wird bald anbrechen, meine Zeit ist kurz.

»Der Vater Felix Hoffmanns war ein Deutscher,« begann Flexan seine Erzählung, »und als Ingenieur in einer Maschinenfabrik beschäftigt. Einst bekam diese Fabrik den Auftrag, auf einer Zuckerplantage im unteren, spanischen Kalifornien eine Maschine aufzustellen, und obgleich Karl Hoffmann der jüngste Techniker in dem Etablissement war, wurde er doch als leitender Monteur dahin gesandt, einmal, weil er der einzige war, welcher vollkommen Spanisch sprach, und dann auch, weil der Besitzer der Fabrik ihn trotz seiner Jugend für den fähigsten Kopf hielt. Daraus können Sie sehen, daß schon dieser ein tüchtiger Mensch gewesen ist.

»Der junge Ingenieur reiste also nach Spanisch-Kalifornien, stellte dort die Maschine zur vollsten Zufriedenheit auf und wollte sich schon wieder nach der Heimat einschiffen, als plötzlich das Gerücht auftauchte, daß ein deutscher Mühlenbesitzer in Kalifornien beim Bau eines Wassergrabens auf eine ungeheure Goldmine gestoßen sei.

»Es war dies der erste Goldfund im Lande, infolgedessen jenes Goldfieber entstand, welches eine Völkerwanderung bewirkte, wie man sie selten gesehen hat.

Karl Hoffmann war als erster an dem Orte, und, im Bergbau bewandert, erkannte er sofort aus der Bodenbeschaffenheit des Landes, daß ganz Kalifornien von Goldadern durchzogen sein müßte.

»Wiederum war er der erste, der mit Spitzhacke und Schaufel hinauszog in die Berge, und dank seinem Glück und seinen Kenntnissen war er nach einem halben Jahre im Besitze eines Vermögens von rund einer Viertelmillion Dollar.«

»Was für schöne Zeiten müssen das gewesen sein!« seufzte Kinnaird, und seine kleinen Augen funkelten wie Kohlen.

»Sie sind vorüber und werden in Kalifornien nicht wiederkommen,« entgegnete Flexan gleichgültig. »Aber noch gibt es Goldadern genug in der Welt, welche der Geschickte ausbeuten kann, wenn auch nicht mit Spitzhacke und Schaufel. Karl Hoffmann war also ein reicher Mann geworden, er hielt sich damals wenigstens für einen solchen, denn eine Viertelmillion Dollar bedeutete für den armen Techniker ein unermeßliches Vermögen, während es seinerzeit in Kalifornien als eine Summe galt, die man am Spieltisch während eines Abends ohne Gewissensbisse verlor.

»Hoffmann reiste nach San Francisco, um sich von den harten Arbeiten des letzten halben Jahres zu erholen. Frisko,San Francisco wird in Amerika fast allgemein Frisco genannt. erst ein unbedeutendes Hafenstädtchen, war bereits wie durch Zauberei zu einer großartigen Stadt geworden. Die Häuser wuchsen wie Pilze aus dem Boden, und darunter waren nicht die wenigsten Vergnügungslokale, Spielhöllen und so weiter, in denen nicht nur Goldgräber und Abenteurer zusammenkamen, sondern welche auch von Plantagenbesitzern der Umgegend dann und wann besucht wurden. Es entstanden prächtige Hotels, in denen die reichen Leute von Kalifornien und Mexiko, die südamerikanischen Industriegrößen und Grundbesitzer aus den umliegenden Staaten mit ihren Familien sich monatlich einfanden, um wenigstens einmal etwas Abwechselung in ihr sonst so eintöniges Leben zu bringen, wenn sie sich auch gesondert hielten und in ihre Kreise keinem zweifelhaften Subjekte Zutritt gestatteten.

»Karl Hoffmann genoß alles, was ihm Frisco bieten konnte, aber mit der dem Deutschen eigenen Vorsicht: er wußte stets Maß zu halten, spielte, ohne viel zu gewinnen oder zu verlieren, und mischte sich in jede Gesellschaft, ohne sich näher mit ihr einzulassen. Ob er es gewollt hat oder ob es Zufall war, weiß ich nicht, aber er fand auch Zutritt in die angesehensten Kreise, und der junge Deutsche, der sich vom gewöhnlichen Goldgräber im Äußeren nicht unterschied, ward bald der Löwe des Tages. War er nicht im Salon, so stockte die Unterhaltung, und die glutäugigen Schönen hörten nicht auf die Schmeicheleien der Herren, sondern sahen nur nach der Tür, ob der Vermißte nicht bald einträte.

»Mister Kinnaird,« sagte Flexan lächelnd zu dem Chemiker, »haben Sie viel Verkehr mit Damen gehabt?«

»Ich? Nein,« rief der Chemiker erstaunt mit aufgerissenen Äuglein. »Ich habe nie Zeit gehabt, mich mit Liebelei abzugeben, und ich glaube, mein Buckel hätte mich auch sehr daran gehindert. Wie kommen Sie auf diese seltsame Frage?«

»Sehen Sie,« sagte Flexan, »Sie glauben, es gibt Substanzen, welche nicht zu analysieren sind, und doch wäre das noch eher möglich, als daß man das Herz eines Weibes analysieren kann. Wer es so weit gebracht hat, dem gegenüber halte ich den scharfsinnigsten Chemiker für ein unwissendes Kind.«

»Mag sein,« brummte Kinnaird und beugte sich auf das Holzkohlenfeuer herab, so daß sein brandrotes Gesicht wie ein Karfunkel leuchtete. »Nach allen Beschreibungen nämlich,« fuhr Flexan fort, »die ich über den Vater unseres Hoffmann bekommen habe, muß er ein richtiger Grizzlibär gewesen sein, in Gestalt sowohl als auch im Betragen. Über sechs Fuß hoch, mit ungeheuren Tatzen statt Händen, welche von Schwielen durchzogen waren, mit einem Büffelkopf, einer Stumpfnase in dem kupferroten Gesicht, einem furchtbaren Raubtiergebiß — wasserblauen Augen — so zog er in die aristokratische Gesellschaft ein, hatte schon am ersten Tage alle spanischen, amerikanischen und mexikanischen Herren in die Ecke gestellt und war der erklärte Günstling aller Damen, jung und alt.

»Weiß der Teufel, was diese an ihm so besonders anziehend fanden, das weibliche Herz ist eben ein Rätsel. Einen gröberen, flegelhafteren Gesellschafter soll es in Frisco gar nicht gegeben haben als Hoffmann. Sein Umgang hätte eher für Bären gepaßt als für zartnervige Schönen. Einem Herrn, welcher sich am ersten Abend auf dem Klavier produzierte, erklärte er ganz öffentlich, seine Leistungen seien Stümpereien, mit denen er die Zuhörer verschonen sollte. Einer Dame warf er die Geschmacklosigkeit ihrer Kleidung vor, die sie sich erst hatte aus Paris kommen lassen. Seiner Tänzerin trat er mit Vorliebe auf die Füße, und als er von einem Mexikaner gefordert wurde, weil er diesen des falschen Spiels beschuldigte, prügelte er denselben mit seinem Stocke halbtot und setzte ihn dann vor die Tür.

»Ob ihn diese Heldentaten so beliebt machten, oder ob es die Damen reizend fanden, daß er sich gern rittlings auf den Stuhl setzte, den Gebrauch der Serviette verschmähte, oder weil er die früheren Löwen der Gesellschaft ganz ungeniert ›Pomadenbengel‹ titulierte, weiß ich nicht, genug, die Damen schwärmten für diesen deutschen Grobian, und die Herren mußten ihn also nicht nur in ihrer Mitte dulden, sondern ihn sogar mit Achtung behandeln, denn das schwache Geschlecht führt nun einmal das Regiment in der Gesellschaft. »Nach einem Vierteljahr war Karl Hoffmann verlobt und, aller Sitte zum Trotz, nach drei Tagen verheiratet.«

»Wer war die Glückliche, die er als Frau in seine Bärenhohle führte?« kicherte der Alte. »Gewiß ein ähnlicher Charakter, wie er selbst.«

»Es war die Tochter des Don Pedro José Altascarez,« sagte Flexan langsam und mit Nachdruck.

Flexan hatte nicht ohne Absicht so gesprochen, er beobachtete den Eindruck dieser Worte.

Der Chemiker wollte eben aus einer, großen Flasche Säure in die Retorte gießen, aber seine Hände begannen plötzlich zu zittern, die beizende Flüssigkeit gelangte nicht in den Hals des Gefäßes, sie floß ihm über die Hände, und wären diese nicht schon total verbrannt und mit einer Hornhaut versehen gewesen, er hätte die Flasche vor Schmerz fallen lassen müssen. So aber stellte er sie langsam auf den Tisch und schaute den Sprecher an.

»Don Pedro José Altascarez,« flüsterte er. »Die Töchter des Silberkönigs?«

»Eben dieselbe,« entgegnete Flexan, »nur daß damals Altascarez diese Bezeichnung noch nicht verdiente, denn er war nur Plantagenbesitzer.«

»So ist Felix Hoffmann Mitbesitzer jener unzähligen Minen, welche unter dem Namen des Altascarez die Welt mit Silber überschwemmen?«

»Davon später! Wie gesagt, damals war Altascarez nur Plantagenbesitzer in Neu-Mexiko, aber auch schon ein sehr reicher Mann, Er besaß zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter. Letztere, Manuela, war, mit kurzen Worten gesagt, ein Püppchen, so zart und niedlich, daß ein Hauch sie umwehen konnte, aber eben zu ihr faßte der deutsche Riese eine besondere Zuneigung, und Manuela flog ihm aus Liebe an die Bärenbrust. Die beiden verlobten sich, und der Vater gab seinen Segen dazu.«

»Das wundert mich,« unterbrach ihn der Chemiker, »Don Altascarez soll ein harter, stolzer Mann gewesen sein, der einem Abenteurer nicht so leicht die Hand seiner Tochter gab.«

»Ja, aber er war auch ungeheuer geldgierig, und Hoffmann wußte ihn für sich zu gewinnen. Derselbe hatte nämlich, während er in der Gesellschaft verkehrte, sich in ein Geschäft eingelassen, wegen dessen er von aller Welt für einen verrückten Narren erklärt wurde.

»Er kaufte fast alle verlassenen Klaims auf, die kein Gold mehr lieferten — Sie wissen, die Löcher, in denen Gold gegraben wird, nennt man Klaims — nicht nur die in der Nähe von Frisko liegenden, sondern er machte auch manchmal kleine Reisen, um entfernter liegende, ausgenutzte Klaims sich anzueignen, die er für ein Spottgeld erhielt.

»Was er mit ihnen wollte, wußte niemand. Als ihm aber die Hand Manuelas von deren Vater kurz abgeschlagen wurde, weihte er diesen in seinen Plan ein mit den Worten: Entweder Sie geben mir nun Ihre Tochter, und ich mache Sie nach einigen Jahren zum reichsten Manne Amerikas, oder ich nehme Ihnen Ihre Tochter, und Sie können zusehen, wie ich die gekauften Gruben auszunutzen verstehe.

»Don Altascarez nahm ersteres an, er gab dem deutschen Ingenieur seine Tochter, und dieser hielt Wort.

»Sie haben gehört, daß damals alles, was nicht Gold war, einfach unbenutzt liegen blieb, und dies war hauptsächlich ein goldglänzendes Gestein, welches oftmals lächerliche Verwechselungen hervorrief. Man nannte es Katzengold. Hoffmann hatte es untersucht und gefunden, das es sehr viel Quecksilber enthielt, und er hatte außerdem noch eine Methode entdeckt, durch welche es leicht herausgezogen werden konnte.

»Zum Ausbeuten dieser Quecksilbergruben brauchte er aber eine bedeutende Menge Arbeiter, und diese waren in jener Zeit in Kalifornien nicht aufzutreiben, denn alles wollte in kurzer Zeit auf eigene Faust reich werden, für hundert Dollar den Tag bekam man damals keinen Arbeiter.

»Hoffmann beschloß, ruhig zu warten, bis die Goldgruben, welche offen am Tage lagen, versiegt sein würden. Er sah voraus, daß dies nicht lange mehr dauern könne,, und benutzte nun einstweilen die Zeit, alles Land aufzukaufen, und als seine Geldmittel erschöpft waren, fand er Unterstützung von dem Schwiegervater, der auf den Vorschlag des Ingenieurs einging.

»Hoffmanns Prophezeiungen hatten sich binnen zwei Jahren erfüllt: Kalifornien war von Goldgräbern überschwemmt, die geringe Ausbeute lohnte sich bei den enormen Preisen der Lebensmittel nicht mehr recht, und bald fanden Anfragen nach Arbeit von den hungernden Goldgräbern statt, sie wollten jetzt gern anderweit beschäftigt werden. Jetzt entstanden die Aktienunternehmen und Gesellschaften, von denen das unter, dem Namen Altascarez das größte wurde, dessen Inhaber nur Altascarez selbst und Hoffmann waren.

»Noch immer gebrauchte man zum Entlohnen der Arbeiter ein ungeheures Kapital; das Vermögen der Altascarez, obgleich sehr groß, reichte nicht aus, um alle Klaims auszubeuten; aber sie fingen klein an, erst mit einigen Gruben. Die Quecksilberausbeute rentierte sich kolossal, sie stießen auf Silber und Gold, Silber wurde vorherrschend. Sie kauften immer mehr Boden an, vor Nordamerika bis hinunter nach Südamerika, und während die übrigen Leute noch den sogenannten Raubbau weiterbetrieben, das heißt, die Erde nach Gold untersuchten, verstanden diese beiden, aus den für wertlos gehaltener Steinen mittels eines chemischen Prozesses Quecksilber und Silber zu ziehen. Gold fanden sie nur so nebenbei.

»Jetzt stehen die »Altascarez-Gruben« ohne Beispiel da, und daß man so wenig von ihnen hört und spricht, kommt eben daher, weil das Ganze kein Aktienunternehmen ist, sondern einem Privatmann gehört, der ganz stillschweigend seine Gruben verwalten läßt, ohne sich viel darum zu kümmern, und jährlich nur einmal Einsicht in die Geschäfte nimmt.«

»Und dieser Mann ist Felix Hoffmann, der Kapitän des »Blitz«?« fragte der Chemiker atemlos.

»Jetzt komme ich erst zu diesem,« entgegnete Flexan. »Als sich Karl Hoffmann einmal mit seiner Gemahlin zum Besuch in Deutschland befand, wurde ihm sein erster Sohn geboren, den er Felix nannte. Es soll eine richtige Bärenbrut gewesen sein, dieser Säugling, und seine Mutter, diese zarte, puppenähnliche Person, mußte bei der Geburt dieses großen Kindes ihr Leben lassen. Hoffmann reiste mit seinem Sohne nach Amerika zurück. Kennen Sie Felix Hoffmann, Mister Kinnaird?«

»Nein,« antwortete der Chemiker. »Ich habe ihn wenigstens niemals gesehen.«

»Nun, er hat die vollständige Figur seines Vaters geerbt, nur daß er etwas schlanker geworden ist, daran ist wahrscheinlich die Mutter schuld, und von dieser hat er auch ein gefälliges Gesicht mit zur Welt bekommen. Der Neid muß ihm lassen, daß er ein Mann von recht angenehmem Äußeren ist.

»Der Junge verbrachte fünf Jahre auf der Hazienda des Don José Altascarez und wurde dann von seinem Vater nach Deutschland geschickt, wo er erzogen werden sollte. Dabei muß ich eines Zuges des alten Hoffmann Erwähnung tun, der ihn so recht als einen pedantischen, närrischen Kauz charakterisiert, wie man solche besonders oft unter den Deutschen findet.

»Der fünfjährige Felix kam nämlich in Deutschland unter die Aufsicht einer Familie, von welcher er aufgezogen und in der Meinung erhalten wurde, er sei der Sohn eines nicht sehr bemittelten, deutschen Ingenieurs, der als Beamter an einer Grube von Altascarez angestellt sei, und als der Sohn eines solchen verbrachte er seine Jugend, wenn auch nicht gerade in Armut, so doch in äußerster Beschränkung. Und in dieser Meinung wurde er bis zu seinem fünfundzwanzigsten Jahre erhalten. »Was sagen Sie dazu, Kinnaird?« fragte Flexan den Chemiker. »Ein Mann, der nicht weiß, wie hoch er sein Vermögen schätzen soll, der jährlich Millionen Dollar an seine Arbeiter allein auszahlt, läßt seinen Sohn als ein armes Kind erziehen.«

Der Chemiker zuckte mit den Achseln.

»Für eine gute Erziehung wird er wohl gesorgt haben,« meinte er dann.

»Natürlich. Der Mann, von dem ich das alles zumeist erfahren habe, erzählte mir, der Vater habe bemerkt, daß in seinem Sohne ganz ungewöhnliche Talente lägen, deren Entwicklung unter kleinen Verhältnissen mehr begünstigt würde, als unter glänzenden. Meiner Meinung nach ist dies aber kein Grund, dem Menschen das zu entziehen, was zu genießen ihm vom Glück gestattet worden ist. Nun, das sind Ansichten!

»Als Felix die unteren Schulen hinter sich hatte, studierte er in Berlin auf Wunsch seines Vaters erst Ingenieurwissenschaft, warf sich dann hauptsächlich auf Chemie, machte auch sein Examen als Schiffbauingenieur und beschäftigte sich viel mit Elektrizität, Er muß ein sehr kluger Kopf gewesen sein, denn er soll zweimal Angebote als Lehrer an hohen Schulen bekommen haben, und zwar für ganz verschiedene Fächer, das eine Mal als Lehrer der Elektrizität, das andere Mal als Lehrer der neueren Sprachen. Er schlug diese Angebote aus und begann etwas, was ihm den Ruf eines überschnappten Gelehrten einbrachte.

»Felix zog sich nämlich fast auf ein Jahr an eine abgelegene Küste der Nordsee zurück, bewohnte dort eine Fischerhütte und verbrachte fast den ganzen Tag damit, ein kleines, selbstgemachtes Segelschiffchen auf dem Meere schwimmen zu lassen, so wie es Kinder zu tun pflegen.

»Wie gesagt, man hielt ihn damals für verrückt, für überstudiert; ich glaube aber, daß er sich schon damals mit jener Erfindung beschäftigte, die er jetzt beim »Blitz« angewendet hat. »Während der fünfundzwanzigjährige Mann an der Nordsee mit einem Schiffchen spielte, starb sein Vater in Kalifornien — eine von ihm selbst erfundene Maschine zerquetschte ihn zu Brei. Felix erfuhr von dem Tode seines Vaters, aber ehe er die Aufforderung erhielt, nach Amerika zu kommen und dort die unermeßliche Erbschaft anzutreten, war er spurlos verschwunden. Man sagte, er habe sich als gewöhnlicher Matrose auf einem Segler eingeschifft, einige meinten, weil er sich arm glaubte und die Kosten einer Reise nach Amerika sparen wolle, andere, er habe das Gemüt seiner Mutter ererbt — er hatte dies auch wirklich, zugleich aber auch den kalten Verstand des Vaters — und abermals andere sagten, er sei einfach verrückt.

»Viele Jahre lang blieb Felix verschollen und muß ein rechtes Abenteuerleben geführt haben, wie Sie gleich sehen werden. Der alte Altascarez ließ nichts unversucht, den Erben des alten Hoffmann, der ja eigentlich der Hauptbesitzer der Gruben gewesen war, zu entdecken, aber alle Anfragen und alles Annoncieren blieb fruchtlos. Nur soviel erfuhr man, daß Felix wirklich eine lange Seereise als Matrose gemacht habe, dann aber verlor man auch diese Spur.

»Da kamen im Bighorn-Gebirge die Crow-Indianer wieder einmal auf den Gedanken, daß das Land, auf dem die Weißen hausten, doch eigentlich ihr Eigentum wäre. Sie gruben den rostigen Tomahawk aus, und in den eben noch friedlichen Tälern erscholl plötzlich ihr Kriegsruf, Weiberzetern und Kindergeschrei — die Indianer mordeten und schlachteten alles, was einen Skalp auf dem Kopfe hatte.

»Im Bighorn-Gebirge besaß Don Altascarez nur eine schon sehr alte Mine, die nicht nur eine seiner ertragsfähigsten war, sondern — in deren Nähe auch er, sein Sohn und dessen Familie wohnten. Als der alte Altascarez einst gerade in der Mine war, überfielen die Crow-Indianer sein Haus, machten alles nieder und wandten sich nach der Mine.


Illustration

»Don José Altascarez war zu schlau, um sich in der Mine einschließen und aushungern zu lassen; er floh mit einigen seiner Leute und wurde von den Indianern hart verfolgt. Er war fast schon verloren, als er auf einen Trupp Indianer eines anderen Stammes traf.

»Nun muß ich noch erwähnen, daß damals in ganz Nordamerika die Sage ging, unter den Indianern lebe ein Weißer als Trapper, Jäger, oder sonst etwas, der unter allen Rothäuten sich des größten Ansehens erfreute. Er war innerhalb zweier Jahre durch ganz Amerika marschiert, jeder Stamm, den er verlassen hatte, sollte ihn wie einen Gott verehren und der nächste ihn schon wie einen solchen erwarten. Von dieser rätselhaften Person, deren Vorhandensein bestritten wurde — er führte einen verteufelt seltsamen Namen, den ich nicht behalten konnte — wurde jener Trupp geführt, um die aufrührerischen Crow-Indianer zu unterdrücken. Altascarez drehte mit ihnen um; unter den Aufrührern entstand ein furchtbares Gemetzel, und am Schlusse desselben erkannte Don Altascarez in dem sechs Fuß hohen, in Felle gekleideten Kerl den Sohn seines Kompagnons, seinen Enkel, Felix Hoffmann. Kurz darauf drückte dieser dem alten Silberkönig die Augen zu und war nun alleiniger Besitzer aller Altascarez-Gruben.«

»Eine Frage,« unterbrach der Chemiker den Erzähler. »Was hatte Felix Hoffmann, ein gebildeter Ingenieur, als Jäger im wilden Westen zu tun?«

»Er hatte sich zwei Jahre allerdings als solcher dort aufgehalten, kehrte aber nicht etwa arm zurück, sondern im Gegenteil, er trug allein in den Taschen seines alten, schäbigen Pelzrockes eine ganz ansehnliche Menge Goldstaub verborgen, und außerdem hatte er noch überall Verstecke, in denen er die gefundenen oder ihm von Häuptlingen geschenkten Schätze an Gold verbarg. Was jetzt dem fleißigsten, glücklichsten Goldgräber nicht mehr gelang, nämlich sich innerhalb einiger Jahre zum reichen Mann zu machen, das war ihm durch sein unstetes Wanderleben gelungen. Wahrscheinlich hatte er es verstanden, durch Experimente die Indianer für sich einzunehmen; vielleicht auch, daß die damaligen Gerüchte wahr waren, daß er wirklich ein so großer Jäger vor dem Herrn gewesen, kurz und gut, er herrschte unter ihnen, und die Indianer, die Hüter der Schätze der Ureinwohner Amerikas, teilten ihm freigebig von ihrem Golde mit.

»Jedenfalls hatte sich Hoffmann nur ein beträchtliches Vermögen sammeln wollen, um zwecks Ausbeutung seiner Erfindungen nicht auf die Hilfe anderer Leute angewiesen zu sein, weil dabei der eigentliche Erfinder stets mit fast leeren Händen das Nachsehen hat. Nicht wahr, Mister Kinnaird, das haben Sie auch schon selbst erfahren?« schob Flexan lächelnd in seine Erzählung ein.

Ein leiser Fluch war die einzige Antwort.

»Jetzt brauchte Felix Hoffmann nicht mehr nach Schätzen zu suchen. Das launische Glück hatte ihm solche in unermeßlicher Fülle in den Schoß geworfen. Er war nun der Silberkönig. Silberkönige, wie man sagt, gibt es gar nicht, sondern nur einen einzigen, und das ist Felix Hoffmann. Aber man glaubt, daß seine Direktoren, welche an der Küste, im Inneren Amerikas, in Wildnissen die Minen leiten, die eigentlichen Besitzer seien, weil sie jede Vollmacht haben. Der Gewinn jedoch fließt in Hoffmanns Kasse, und wie hoch dieser ist, kann er selbst nicht angeben.

»Der junge Silberkönig besichtigte nur schnell seine Minen, nahm einige Verbesserungen darin vor, bei denen er sich als Meister des Bergbaues zeigte, ließ sich die Rechnungen vorlegen, fügte den alten Minen neue hinzu, die er während seiner Irrfahrten entdeckt, und machte sich dann an die Erfüllung seines Lieblingswunsches.

»Für ihn begann ein Jahr der fieberhaftesten Tätigkeit. Er reiste von Land zu Land, von Amerika nach Europa und wieder zurück, besuchte alle größeren Städte und besonders viel Maschinenfabriken, ohne daß dies auffiel oder daß man sich um ihn bekümmert hätte.

»Und doch ging er mit einem großartigen Plane um, den er aber so geheim ausführte, daß der Welt wenig davon bekannt wurde.

»An der Nordostküste von Schottland wurde auf einer einsamen Insel eine Werft gebaut, und dorthin kamen nach und nach alle jene Dinge, die Hoffmann schon längst in Maschinenfabriken bestellt hatte. Panzerplatten, Maschinen und so weiter, alles nach seinen eigenen Zeichnungen und in verschiedenen Ländern angefertigt, so daß man in dem einen Lande nicht wußte, was man da eigentlich für ein seltsames Ding zu schmieden habe, ganz ohne jede Übersicht der Konstruktion, weil in dem anderen Lande nämlich das Zubehör, welches die betreffende Maschine erst ergänzte, gefertigt wurde.

»Hoffmann läßt sich eben nicht in die Karten sehen.

»Die einzelnen Teile wurden auf der einsamen Werft im Meere zusammengestellt, und der ›Blitz‹ war fertig. Dann entfernte der deutsche Ingenieur alle Leute, die er bisher beschäftigt hatte, und ging mit einigen Maschinenarbeitern, die auch jetzt noch an Bord sind, an die letzte Arbeit: Das Schiff wurde von oben bis unten mit schwarzer Farbe gestrichen, eben jene Substanz, die Sie nicht analysieren können.«

»Es kann keine Farbe sein,« behauptete der Chemiker, »eine solche müßte sich auflösen, und diese Substanz löst sich auch nicht in der stärksten Säure auf.«

»Sagte ich vorhin, er bestrich das Schiff mit Farbe,« entgegnete Flexan, »so mag ich nicht den richtigen Ausdruck gebraucht haben, ich verstehe mich nicht auf solche Sachen. Sicher aber ist, daß eben diese schwarze Substanz, mit welcher der ›Blitz‹ über und über bedeckt ist, dem Schiffe jene wunderbare Kraft verleiht, durch welche es die ganze Welt in Staunen setzt.«

Der Chemiker stimmte bei.

»So ist es, daran ist kein Zweifel,« sagte er, »denn dem elektrischen Strome ausgesetzt, nimmt sie eine graue Farbe an. Aber wie zum Teufel mag sie auf das Schiff aufgetragen worden sein?«

»Diese Frage kann ich Ihnen nicht lösen. Dieses Geheimnis wird ebenfalls das Rezept enthalten, welches ich Ihnen geben werde.«

»Wann?« fragte der Chemiker gespannt.

»Sobald ich es habe,« entgegnete Flexan einfach.

»Wissen Sie, wo er es aufbewahrt?«

»Wir nehmen an, er trägt es stets bei sich.«

»So müßten Sie es ihm also stehlen lassen! Aber nach allem, was Sie mir von Hoffmann erzählt haben, ist er nicht der Mann, der sich etwas wegnehmen läßt.«

»Durch List kann man jede Schwierigkeit besiegen,« entgegnete Flexan, »und können wir ihm das Geheimnis nicht abnehmen, so muß er sterben.«

Der Chemiker hatte das letzte Fläschchen gefüllt, versah jetzt alle sorgsam mit Glasstöpseln und stellte außerdem noch aus Guttapercha einen luftdichten Verschluß her. Dann stellte er die Fläschchen zu einem Paket zusammen und händigte dies Flexan ein.

»So,« sagte er grinsend. »Ist dieses Gebräu alles an den Mann gebracht, so leben einige Menschen weniger auf Erden. Macht nichts, sind genug vorhanden.«

»Der Tag beginnt zu grauen,« entgegnete Flexan mit einem Blick durch die Kellerfenster.

Schüttelnd hüllte Flexan sich in seinen Mantel und reichte dem Chemiker die Hand zum Abschied.

»Wohin gehen Sie jetzt?« fragte der Chemiker. »Müssen Sie wieder reisen?«

»Wo denken Sie hin, Mann, ich will schlafen, schlafen und träumen, daß ich nicht mehr Nächte zu durchwachen brauche, mein Gehirn mit Plänen martern und wie ein Flüchtling mich den beschwerlichsten Reisen unterziehen muß. Vielleicht bekomme ich schon jetzt die Nachricht, daß eine andere Zeit für mich anbricht, dann noch ein Monat mit harten Mühen, und dann, Mister Kinnaird, wollen wir die Früchte derselben genießen.«

Die Kellertür schloß sich hinter ihm.


ENDE


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Non sibi sed omnibus
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