Fügsam und stumm gehorcht die Natur dem
Menschenverstande,
Doch mit lebendigem Wort grüßt sie das fühlende Herz.
Gotha, 11.7.1905. K.L.
Heiß hatte die Sonne des langen Sommertags über dem Hochtal gebrütet. Nun krochen die ersten Bergschatten über die grüne Rasenfläche, und die bunten Blumenköpfchen schlossen ihre Blüten.
Es war schwül. Denn die Luft lag feucht über den quelldurchrieselten Matten. Dort weilte Aspira, die Wolke, ganz aufgelöst in die unsichtbaren Teilchen ihres Elements. So ruhte sie am liebsten, noch ungestaltet, regungslos, in Luft zerflossen. So schlummern die Wolken und träumen.
Aspira träumte.
Vom Firnfeld am Blankhorn zog eine wache Wolke herüber. Weiß leuchtend streckte sie ihr kugeliges Haupt in den Sonnenschein, dunkel und grau schwebte ihr breiter Fuß in dem Tale.
»Komm herauf, Aspira« rief sie hinunter. »Schon lange genug verbirgst du dich dort auf dem Wiesengrund und am Waldhang. Komm herauf und laß uns spielen. Die feurigen Bälle werfen wir hinab und lachen dazu, daß Onkel Blankhorn dröhnend den Ton uns zurückgibt.«
»Laß die Torheiten, Turgula,« antwortete es aus dem Tale. »Ich habe keine Lust zum Spiel. Soll ich mich sammeln und aufsteigen, nur um wieder herabzuregnen?«
»Du bist langweilig. Was ist's denn mit dir? Aber wenn du nicht magst—sieh, wie ich wachse, wie ich mich dehne Bald kann ich allein blitzen. Sieh dort die frechen Menschen. Sie ärgern mich schon lange mit ihrem Hämmern am Felsen. Ich will nach ihnen zielen.«
»Das wirst du nicht Ich will weiter sehen, was sie tun,« rief Aspira.
»Haha Was geht's uns an? Warte nur, bald will ich sie vertreiben.«
Da stieg's von Wald und Wiese wie leichte Nebel und zog sich empor und wurde dichter. Aspira erhob sich in raschem Schweben und breitete ihren Wolkenschleier schützend über das Tal. Schwärzer aber ballte Turgula sich darüber und warf den feurigen Ball lachend hinab. Und ihr Lachen rollte zurück von der Felswand am Langberg und hinüber bis zum Blankhorn.
Doch Aspira fing den Blitz auf, der sich in ihrem feuchten Wolkenleib unschädlich verteilte.
»Ich will es nicht,« rief sie. Und schneller dehnte sie sich und stieg, bis sie Turgula erreichte und umschlang. Die Wolken durchdrangen sich. Da entwich Turgula ihre Kraft.
»Warum hinderst du mich?« fragte sie.
Zürne mir nicht, Turgula. In deinem Spiel will ich dich nicht stören. Ziehe hinauf in die wilden Gründe oder wo es dir sonst gefällt. Aber sieh, die Menschen dort unten, gerade diese, habe ich schon im vorigen Jahre beobachtet, und nun wieder, und ich will sehen, was da wird.«
»Du willst sehen was wird? Das kommt ja von selbst, das wirst du doch sehen. Ob ich hier blitze oder nicht, es kommt irgend etwas. Und was, das ist doch gleich. Das ist eben da. Und dann kommt wieder etwas.«
»Du verstehst mich nicht. Es ist wohl so, wie du sagst; aber bei den Menschen ist es anders. Es kommt etwas, jedoch—wie soll ich es dir erklären? Es kommt etwas Bestimmtes.«
»Bestimmtes? Erklären? Ja, ich verstehe dich wirklich nicht, Aspira. Was soll das heißen?«
»Wenn ich es wüßte, so wär' ich froh. Dann zög' ich wieder umher in der weiten Welt und freute mich. Dann läg' ich nicht hier und wartete des Kommenden. Ich weiß nur dies. Die Menschen sind nicht bloß die kurzlebigen, kriechenden Wesen, deren wir lachen. Es muß etwas anderes in ihnen sein. Sie tun etwas, und damit können sie bewirken, daß etwas anderes geschieht, was sie wollen.«
»Aber das können wir doch auch?«
»Nicht so. Sieh, wir steigen jetzt empor, und die Sonne erwärmt uns, und unsere Tröpfchen lösen sich auf. Klar ist die Luft und wir schweben darin unsichtbar weiter und wollen, was wir tun. Und was wir wollen, das tun wir. Aber können wir bewirken, daß außer in uns selbst etwas geschieht, was wir wollen? Daß der Felsen dort zerbricht? Daß er sich wieder aufbaut zur Gestalt eines Hauses? Und das kann der Mensch.«
»Aber du konntest doch machen, daß ich nicht mehr blitze, wie du es wolltest. Du kannst auch den Felsen zerbrechen, wenn ihn dein Blitz trifft, und kannst die Trümmer häufen, wenn du den Gießbach anschwellst.«
»Wenn ich ihn treffe Wenn es so kommt Wollen kann ich es schon und vielleicht treffen. Der Mensch jedoch kann es bestimmt, genau so, wie er will. Eben dies Bestimmen, daß es so sein muß, das kann ich nicht verstehen. Das ist eine Wunderkraft. Höre, was ich sah. Jene Menschen hatten ein Papier bei sich, darauf war die Gegend abgemalt. Sie maßen alles nach und steckten Stangen in den Boden. Und genau, wie sie es zeichneten, geht jetzt der Weg durch den Wald, wird der Fels durchbohrt, legt sich die Brücke über den Fluß. Woher wußten sie im voraus, daß dies so kommen mußte, genau so? Das können wir nicht.«
»Haben's auch nicht nötig. Wir sind freie Wolken. Laß die Tierchen da unten. Quäle dich nicht, Aspira, mit solchem Zeug«
»Ich muß dahinter kommen. Denn es muß etwas Großes sein. Denke daran—vor tausend, tausend Jahren—nichts war hier als Schnee und Eis und drunter der Wald, den das Wasser brach im Frühjahr und den der Schutt vermurte, und immer wieder sprossen aus der Wildnis Gras und Blumen. Und jetzt sieh, wie sie uns die Berge eingeengt haben, wie sie immer näher herandrängen. Dort glänzen die hohen Häuser von Schmalbrück. Schon ist weit drüben der Mittelstein durchbohrt, und nun arbeiten sie hier am Langberg. Bald werden die schnellen Wagen bis dicht an das Blankhorn laufen. Wer sagt dir, was sie beginnen, ob sie nicht in das Blankhorn selbst hineinhacken? Und wir können nichts dagegen tun. Wir stürzen die Lawinen hinunter, aber sie errichten Mauern und Dächer, und vergebens rütteln unsre Stürme an ihren festen Bauten. Wer gibt ihnen diese Macht über die Elemente?«
»Wenn sie wirklich so etwas haben, dann wird's ihnen wohl der Hohe geben. Was geht's mich an?« sagte Turgula.
»Das denk' ich wohl auch,« fuhr Aspira fort, »was geht's mich an? Aber es ist in mir wie ein Schmerz, eine Qual, die mit den Atem nimmt, daß es eine Welt gibt, die mir fremd ist, in die ich nicht schweben und dringen kann. Über das Blankhorn steig' ich empor und bis in die Höhen des Äthers, zur Wohnung meines königlichen Vaters, dehn' ich mich in kleinster Kristalle unbegrenzter Feinheit. In die tiefsten Höhlen der Erde schleich' ich hinein und dampfe unzerstörbar in der Glut der Gesteine. Über Länder und Meere zieh' ich, ich löse mich auf und bin wieder da, ich zerteile und balle mich, unverletzlich in meiner Freiheit. Und hier gibt es ein Übermächtiges, Unerreichliches, das Vergangenheit und Zukunft zusammenbindet—— Was künftig geschieht, ist schon hier im Schoße der Gegenwart, und doch unbemerkbar für mich, die Lebendige. Die Menschen müssen das sehen können, was ich nicht sehe, die geheimen Fäden des Lichts, mit denen der Hohe die Sterne zusammenzieht, daß sie morgen gehen wie heute, daß sie dem folgen, was er sich aussinnt. Und wenn es so wäre, und wenn auch ich folgen müßte einer Bestimmung——«
»Unsinn, ich folge nicht,« rief Turgula. »Sieh, wie ich glühe im Abendstrahl—— und nun verschwimme ich. Leb wohl, auf Wiedersehen am Morgen«
Zarter und zarter wurde Turgula, ein schmaler, rosafarbener Schleier umschlang sie die höchsten Spitzen, und dann war sie verschwunden.
Von der Spitze des Blankhorns zuletzt unter all den andern Eisgipfeln des höchsten Gebirgs war der letzte Dämmerstrahl verschwunden. Über den Höhen der Erde, in den Tiefen des Weltraums schritten leuchtende Sterne den gewohnten Weg.
Aspira blickte zu ihnen empor, wie sie es immer getan, in der heiligen Scheu einer unbewußten Ehrfurcht. Aber auch unter ihr glommen jetzt helle Sterne auf. Sie waren nicht so fern, nicht so alt. Aspira konnte sie erreichen, umhüllen, daß sie nur in die Nähe hineinleuchteten. Ja früher konnte sie sogar ihr Licht ausblasen, wenn sie einherstürmte in der Nebelnacht; jetzt ging das nicht mehr.
Waren diese Sterne mächtiger geworden? Sie wußte, daß es die Sterne der Menschen waren, die sie in Schmalbrück anzündeten und überall, wo sie sich niederließen. Durfte sie auf die Sterne verächtlich hinabblicken? Oder verdienten sie auch Ehrfurcht? Waren sie nicht vielleicht den hohen Himmelsleuchten näher verwandt als sie selbst, die bewegliche Tochter der Luft, des Höhenkönigs Migro frei wallendes, schwebendes Kind? Denn das war das Wunderbare, worüber sie nicht hinwegkam, seit ihr einmal Menschenwerk die holde Freiheit des Spiels gestört hatte: Es gab etwas, das sich ganz genau im voraus bestimmte, das dann gerade so kommen mußte und nicht anders. Nur noch die Sterne waren so unbegreiflich bestimmt.
Der Fels und das Wasser stürzten und der Gletscher zerbarst, aber niemals wußte man genau, wann und wo und wie und in welcher Form. Jedes Frühjahr ergrünte das Tal und die bunten Blumenaugen schauten in die Sonne und badeten sich in den Tropfen des Taus. Aber nie konnte man wissen, wo und wieviele Augen sie im nächsten Jahre aufschlagen würden, und kein Blättchen und kein Tröpfchen war genau so groß und genau so gelagert wie vorher. Aber Menschenwerk das konnte bestimmt sein wie die Sterne.
Menschen Sollten sie wirklich den Sternen verwandter sein als sie, die freie Wolke?
Und langsam zog Aspira dem mächtigen Bergriesen zu und schmiegte sich an das Massiv des Blankhorns. Mit weichen Armen umschmeichelte sie des Schlummernden eisige Schultern. Da träumte er von warmem Sonnenschein, und von seinem Schneehaupt löste sich eine weiße Locke, die rollte abwärts, und donnernd stürzte eine Lawine in die Schwarzschlucht.
Unwillig erwachte er aus seiner Ruhe und brummte:
»Nun, nun? Was soll's? Was hat sich die Lawine zu rühren?«
»Zürne nicht,« sagte Aspira bittend, »daß ich dich störte. Ich barg mich bei dir.«
»Du bist es, Aspira? Du weißt doch, daß ich jetzt keinen Besuch empfange. Komm morgen wieder.«
Da löste Aspira ihren Wolkenarm von seinen Schultern, und große Tropfen fielen auf seinen Scheitel.
»Nun, nun« raunte der Berg sanfter. »So weine nur nicht gleich Was hast du denn, daß du jetzt nicht Ruhe hältst?«
»Mir ist so bang.«
»Dummes Zeug. Das mag ich schon gar nicht. Nur keine Aufregung. Ich bin zu breit unten. Wenn ich mich aufrege, steigt mir der Druck nach dem Kopfe.«
»Aber ich fürchte mich.«
»Nun, nun Und du willst eine Wolkenprinzessin sein? Fürchten? Das geht ja auf was Künftiges. So was kümmert doch Wolken nicht?«
»Das ist's ja eben, daß es mich kümmert. O sag mir, Gewaltiger, der du in der Erde wurzelst bis weit unter die Wohnungen der Menschen, sag mir, gibt es etwas, das über das Kommende bestimmen kann?«
»Bestimmen? Nun, nun Das gibt es vielleicht, das weiß der Hohe allein. Aber was hast du deswegen zu fürchten, du freie Wolke? Du bist, wie du bist. Was kümmert dich das Kommende?«
»Wenn's aber etwas gibt, das auch mich bestimmen kann? Wenn eine Macht wäre, in mir zu wirken, daß ich müßte, wie andere wollen? Wenn mich etwas zwingen könnte, zusammenzufließen zum See, daß ich nicht wieder hinaufzugelangen vermöchte zur Höhe? Wenn ich tun müßte, was vorher bestimmt ist und nicht anders sein kann? Wenn sie mich einsperrten in die großen Fässer, die drunten liegen, und hinwegführten in den engen Wagen?«
»Was redest du da für Zeug? Was wollten sie mit dir anfangen? Und wer denn?«
»Wer? Die Menschen.«
»Die Menschen? Glimmer und Schwefelkies Die Menschen?«
»Ich denke nur so, ich weiß nicht, was sie können. Ich möchte nur von dir erfahren, was das für eine Macht in ihnen ist, schon heute zu wissen, was sie morgen tun werden; zu wissen, was an dieser Stelle werden wird, ein Haus, eine Brücke, ein Weg, genau so, wie es dann wirklich da ist Was ist das für eine Macht?«
»Nun, nun« sagte das Blankhorn. Dann schwieg es lange. Aber am leisen Rieseln des Schnees von seinem Haupte merkte Aspira, daß etwas in ihm vorging.
»Nun, nun« sagte es noch einmal. »Die Menschen Spalten und Gletscherschliff Da könntest du recht haben. Gestern sind mir wieder drei auf dem Kopfe herumgekrabbelt. Haben auf mir herumgehackt. Sieh mal da links an der Eiswand, dicht über dem Sprung im Felsen, da müssen noch die Stufen sein. Bitte, wasche sie mir nachher ein bißchen ab. Und jetzt erinnere ich mich. Der Nachtwind sagte mir's, als er vom Gletscher heraufkam und sich bei mir empfahl. An der Hütte am Schmalstein hatte er sie sitzen sehen—es war noch Nacht—mit ihren Lichtern und hatte sie belauscht. Der Blonde war wieder dabei, der mich schon lange ärgert, weil er mir immer mit seinem Strick und Beil auf dem Leibe herumkriecht.«
»Über den Westgrat kommen wir leicht,« hat er gesagt, »aber hinter dem Kamin ist eine Eiswand, da müssen wir Stufen hauen.« »Viele?« fragte einer. »Nun, so einige vierzig können's werden.« Und sieh einmal nach, Aspira, wieviel es sind. Doch—du kannst so viel nicht zählen. Aber ich— es regt mich nur auf, das ist dumm Doch ich tu's Gleite darüber hin mit deinem Nebelhändchen, mein Aspirchen, da kann ich's zählen. So—so— noch ein paar, weiter oben Es sind zweiundvierzig Bei allen Zirbelkiefern Woher konnte diese Fleischklümpchen, diese Schmiernasen, diese benagelten Zweibeiner das wissen, das doch noch gar nicht war, als sie dort sprachen? Das ich gar nicht erlaubt hatte?«
»Du verstehst es nicht?«
»Nein, ich versteh's nicht. Aber du hast schon recht. Bedenklich ist es. Wir dürfen uns nicht alles gefallen lassen. Mir paßt das nicht. Unter meinen Beinen mögen sie meinetwegen in ihren Gruben herumzappeln, das ist ein kleiner Spaß, das ist gesund für unser einen. Aber hier oben auf mein ehrwürdiges Haupt sollen sie mir keine Mauern bauen, noch Türmchen setzen.«
»Aber was willst du tun?«
»Nun, nun«
»Du weißt es auch nicht?«
»Sieh, Aspira, wie sollen wir freien Geister der Elemente so was wissen? Nicht wahr, das brauchen wir nicht? War auch sonst nicht—das ganze Menschengesindel ist was Neumodisches.«
»Aber dann können wir auch nichts dagegen tun.«
Das Blankhorn überlegte. »Wenn es nun mal so ist, so wird es wohl von dem Hohen so bestimmt sein. Dann ist es ein großes Geheimnis, das nur der Hohe weiß. Dann weiß er vielleicht auch, was uns gegen die Menschen zusteht. Es gibt ja allerlei Mittel. Man kann Schnee und Eis und Felsen hinabstürzen. Du kannst die ganze Gesellschaft ertränken, wenn du mit deinen Geschwistern dich über sie hermachst. Ich könnte mit meinem Fuße wackeln. Aber das regt auf. Man hält's nicht lange aus. Es hilft nicht für die Dauer, das Gewürm kommt wieder. Du hast schon recht, man muß hinter ihre Kniffe kommen, man muß sehen, aus welch breiigem Stoff der Hohe sie gemacht hat. Nur der Hohe weiß es.«
»Der Hohe Was nutzt das uns?«
»Ja, der Hohe. Du mußt ihn fragen.«
Aspira schauerte zusammen und zog sich dicht um den Berggipfel.
»Wie kann ich das?« fragte sie in ängstlicher Spannung.
»Du kannst es. Nur eine Wolke kann's. Wir vermögen's nicht, die wir im Boden wurzeln. Aber du schwebst.«
»Was hab' ich zu tun?«
»Steige Steige, meine Aspira, bis du ausgedehnt bist aufs allerfeinste. Bis deine kleinsten Teilchen an der Grenze des Luftmeeres zittern, wo König Migro herrscht, dein erhabener Vater. Du allein kannst straflos sein Reich durchschweben und hineintauchen in den unendlichen Äther.«
»Und dann?«
»Der Hohe wird es dir offenbaren, wenn er will. Ich kann nichts weiter dazu tun. Es regt mich auch auf. Nun, nun Fürchte dich nicht. es ist alles, wie es ist. Laß mich noch ein wenig schlafen, ehe die Sonne kommt. Leb' wohl, Aspira. Steige Steige«
Das Blankhorn entschlummerte, und droben im Äther wandelten die Sterne.
Aspira stieg. Im Schattenkegel der Erde stieg sie hinauf in den unendlichen Weltraum. Immer weiter zerstreuten sich die feinen Eiskristalle. Die sich sonst im glitzernden Streifen der Federwolke geschart hatten, waren schon meilenweit voneinander. Aber ihre Einheit war nicht getrennt. Noch war sie Aspira, noch fühlte sie die gemeinsame Ordnung, die ihr Wolken-Ich durchzog und band. Schon lag das Reich des Vaters hinter ihr, wo Migro die Grenzen des Planeten hütete. Immer leichter und freier wurde ihr zumute. Wann kam sie zum Hohen?
Niemand kann ihn sehen, den Urewigen, den Unendlichen, dessen Wohnung der dunkle Äther ist. Würde er reden? Konnte eine Wolke ihn verstehen?
Und nun trat sie aus dem Erdschatten hinaus. Der Lichtdruck der Sonnenstrahlen trieb ihre Teilchen hinweg vom umfassenden Arm der Erde. Aufgelöst war sie in die Spannung des freien Äthers, eins mit dem unergründlichen Weltraum. Nur wer den höchsten Lüften verwandt ist vom Geschlecht der Planetengeister, vermag dahin zu gelangen. Da schwinden die Grenzen des Stoffs, da strahlt das Geheimnis des Unbegriffenen in die ungeschiedenen Seelen des Allebendigen. —
Und die heilige Sehnsucht der ewigen Frage durchschauerte Aspiras Seele. In ihrem bebenden Herzen sprach die Bitte nach Erleuchtung:
Uralte Weisheit wag' ich zu suchen.
Uralte Weisheit, fühl' ich, umfließt mich.
Uralte Weisheit künde mir, Hoher
Ehrfurchtsvoll lauschte sie auf eine Antwort.
Da klang es zu ihr mit einer Stimme, die keine Stimme war, aber unwiderleglich wie der Gang der Zeit und das Licht der Sonne:
Uralte Weisheit gibt es nirgend.
Uralte Weisheit kann man nicht fühlen.
Uralte Weisheit läßt sich nicht künden.
Und Aspira war es, als sollte sie in nichts verschwinden, niedergeschmettert vom dreifachen Nein des Unbegreiflichen. Aber wieder vernahm sie die Stimme milder:
»Habe Mut, Aspira, denn ich weiß, daß du Redliches willst. So höre Weisheit ist nicht alt, denn Weisheit ist zeitlos. Sie muß immer neu werden für jeden, der sie sucht. Weisheit kann man nicht fühlen, denn fühlen kann man nur sich selbst; Weisheit aber ist gegründet in dem, was außer dir ist und die Welt bedingt und dich selbst. Weisheit kann man niemand verkündigen, denn sie muß errungen sein und erobert mit mühevoller Arbeit, weil ein jeder sie schöpfen muß aus dem Quell der Welt.«
Aspira schwieg und versuchte das Gehörte, das ihr noch zu fremd war, anzuknüpfen an das, was sie ganz erfüllte. Dann fragte sie schüchtern: »Und diese Weisheit erringen, vermögen das die Menschen? Ist das ihre Macht, zu wissen, was noch nicht ist? Zu bestimmen, was erst sein wird?«
»Diese Macht ist noch nicht die Weisheit, aber sie ist der Weg zu ihrem Tempel.«
»Nur diese Macht der Menschen möcht' ich erkunden, nur dieser Weg ist's, den ich schauen möchte. O, wie kann man diesen Weg finden?«
»Das Wort muß man verstehen, das ihn den Menschen weist, euch freien Geistern der Elemente aber unbekannt ist. Ein Wort, das zu der Welt Geheimnis leitet, öffnet den Weg.«
»O nenne das Wort«
»Wenn ich es nenne, so wird die Sehnsucht dich ergreifen, den Weg zu wandeln. Und die Sehnsucht wird deinen leichten Wolkenleib hemmen und dein glückliches Spiel in den freien Lüften. Darum erbitte es nicht.«
»Die Sehnsucht hemmt mich schon, die Furcht ergriff mich vor der Macht der Menschen. Kann ich, eine freie Wolke, dazu gelangen, das Geheimnis des Menschen zu erfassen, so nenne das Wort«
»Das Wort weist nur den Weg, noch nicht die Weisheit.«
»Nur den Weg suche ich.«
»Es ist ein schwerer Weg und ein schweres Wort, ein heiliges Wort, das die Macht der Welt in die Seele legt —«
»Nenne das Wort«
»Aber mit der Macht auch das Leid, das erhabene Leid des Schöpfers um sein Werk, daß seine Seele erbebt in ihrer Tiefe, die zur Tiefe der Welt wird.«
»Nenne das Wort«
»Das Gesetz«
Als dieses Wort in der Leere des Raumes vernommen ward, da war kein Ton und keine Stimme, und dennoch war das Wort und schauerte durch alles Leben der Kreatur. Denn es war das Wort, vom dem gesagt ist, daß es im Anfang war— das Gesetz—die Bestimmung des Gesetzes.
Und ehe Aspira sich bewußt wurde, was ihr Neues gegeben ward, klang in ihr wieder milde die Stimme des Hohen, die keine Stimme war: »Vernimm, Aspira, das Geheimnis des Gesetzes, soweit du vermagst. Frei in deiner Seele entstand die Frage nach dem, was anders ist als das Jetzt, entstand der Zweifel. So hast du ein Recht errungen zu hören vom Gesetz. Denn nur wer zweifeln kann, der kann erkennen. Ihr Geister der Natur kennt nicht den Zweifel, darum bedürft ihr nicht der Erkenntnis. Du aber hast nun eine Macht gewonnen, die über das Wolkenreich hinausführt.
Ich künde dir die Legende.
Das Gesetz war vereint mit Zeit und Raum. Und in ihnen war die Fülle der Welt.
Da entsprossen zwei Kinder. Weil hieß der eine, und Will der andre.
Weil konnte nur rückwärts blicken und nahm alles, was gewesen war, das hielt er fest mit der Kraft seines Vaters, des Gesetzes. Denn er sah nur, wie alles Geschehene in ihm bedingt war.
Will schaute nur voran und forderte alles, was in Zukunft geschehen sollte, das bestimmte er als Ziel mit der Macht seines Vaters, des Gesetzes. Wie aber etwas geschah, das wußte er nicht. Denn er kannte nur, was geschehen solle nach dem Gebot.
Da entstand Streit zwischen den Brüdern, und sie gaben ihrem Vater, dem Gesetze, verschiedene Namen. ›Notwendigkeit‹ nannte es Weil, ›Freiheit‹ aber nannte es Will. Und jeder sagte, daß die Welt nur ihm allein gehorche. Und sie klagten beim Vater.
Der Vater schied, um den Streit zu schlichten, alles Lebendige in zwei Teile, in das Reich des Werdens und in das Reich des Sollens.
Das Reich des Werdens nannte er ›Natur‹ und gab es dem Weil, der nur das Geschehene sah, wie es ward, und nicht das Ziel, wohin es strebte. Darum nannte er das Gesetz die ›Notwendigkeit‹, und alles mußte so sein, wie es ist.
Das Reich des Sollens aber nannte er ›Idee‹ und gab es dem Will, der nur das Ziel sah, aber nicht verstand, wie es werden mußte. Darum nannte Will das Gesetz ›Freiheit‹, und alles wollte anders sein, als es ist.
Der Vater aber sprach weiter zu den Geistern alles Lebendigen: »Gehet hin und wählet das Reich, darin ihr leben möget; in jedem von ihnen findet ihr das Glück; weil nur ein Gesetz in euch ist, werdet ihr nichts vom Gesetze mehr merken. Geht ihr in das Reich der Natur, so lebt ihr nach dem Gesetze der Notwendigkeit. Aber da ihr nicht wißt, daß ihr auch anders sein könntet, so nehmt ihr das Leben ohne zu fragen hin, wie es eben kommt. Nach dem eignen Wesen lebt ihr glücklich, ohne Enttäuschung, sorglos und frei. Euer Leben ist ein Spiel, denn das Gesetz ist in euch, ohne daß ihr es wißt.
Geht ihr in das Reich der Idee, so werdet ihr euch stets erblicken, wie ihr wollt, und ihr werdet auch glücklich sein. Denn euer Ziel setzt ihr euch nach Gefallen und wißt nichts von den Hindernissen, die entgegenstehen. Eure Wünsche sind euer Leben. Ihr lebt in der Idee und seht das Gewollte als erfüllt, das Erfüllte wie ein Gewolltes. So seid auch ihr glücklich und sorglos ohne Enttäuschung. Euer Leben ist ein Spiel, denn das Gesetz ist euer Wille.
Aber wenn ihr glücklich bleiben wollt, so hütet euch, in beide Reiche zu dringen, in beiden leben zu wollen. Von einem Reiche zum andern führt der Weg der Macht, doch er ist eine Brücke. Wer sie betritt, der unterliegt dem Gesetze beider Reiche.
Wer aus dem Reiche der Natur kommt in das der Idee, der lernt die Freiheit kennen, der fordert für sich, was er nicht hat. Da strebt er nach dem Unerreichbaren. Da sieht er, daß er notwendig bedingt ist, seine Freiheit däucht ihm ein Schein, und seine Macht sinkt zusammen im Leide der Sehnsucht.
Wer aber aus dem Reiche der Idee in das der Natur tritt, dem scheint es, daß er seiner Freiheit beraubt werde. Denn will er die Macht erreichen über das, was geschieht, so muß er sich dem Gesetze der Notwendigkeit unterwerfen. Sich selbst muß er ansehen als bedingt durch das, was war, und vorausbestimmt für alles, was sein wird. Und der Stolz der Freiheit sinkt ihm zusammen im Leide der Sehnsucht.
Darum hütet euch, die Brücke zu betreten.
Die Brücke aber heißt: Erkenntnis.
Wer nur lebt in der Reiche einem, der weiß nichts vom Geheimnis der Welt. Er lebt nur unter einem Gesetz, und so weiß er nichts davon, daß es zwei Seiten hat, die Notwendigkeit und die Freiheit. Er kennt das Leben nur in einem Gefühl ohne Grund, ohne Widerstand.
Wer aber die Brücke der Erkenntnis betrat, dem hallt das Wort entgegen, das am Anfang war, dem wird die Seele erschüttert vom Zweifel und der Sehnsucht in der Wonne des Stolzes und der Macht. Das ist das erhabene Leid des Schöpfers um sein Werk.
Du stehst auf der Brücke, Aspira, du hast das Wort vom Gesetze vernommen. Aber noch steht dir frei, zurückzutreten in dein Reich.
Du weißt nicht, welches dein Reich ist? Freilich kannst du es nicht wissen, da du nur das eine kennst. Und die nur das eine kennen, sind glücklich im freien Spiel. Denn unglücklich macht nur der Zwang. Der Zwang aber entsteht für den, der beide kennt, die Notwendigkeit und die Freiheit.
So vernimm, was weiter geschah.
Die Geister des Lebendigen trennten sich voneinander, die einen zogen zu Weil, die andern zu Will.
Die zu Weil zogen, waren die Gewaltigen des Raumes. Das waren die Riesen des Äthers, die von Sonnen zu Sonnen ihre Strahlenleiber strecken. Das waren die Sonnen selbst und die Planeten. Und auf der Erde waren es die Geister der Elemente, die im Innern des Erdballs glühn und die sich in den Bergen zur Höhe steifen, die in den Schluchten rauschen und in den Lüften ziehen. Und ihr Wolken seid die feinsten, die höchsten, die beweglichsten von ihnen. Daher kann es geschehen, daß eine von euch sich über ihr Reich verliert bis zur Brücke der Erkenntnis.
Die aber zu Will zogen, das waren die Geister, die sich die kleinen, mühsamen Zellenleiber bauten. Die schwimmen im Meer und wachsen am Fels, die kriechen und summen und fliegen und klettern, und teilen sich und sterben, aber leben wieder auf in ihren Teilen. Und auch sie sind verschieden, und viele von ihnen reichen bis an die Grenze, wo die Brücke der Erkenntnis steht. Und die höchsten von ihnen sind die Menschen.«
Lange schwieg Aspira. Dann wagte sie zu sagen:
»Die Menschen Um ihretwillen kam ich zu dir, ihr Geheimnis zu vernehmen. So ist es ihr Geheimnis und ihre Macht, daß sie nicht zum Reiche der Notwendigkeit gehören, wie wir Wolken, sondern zum Reiche der Freiheit?«
»Nein, das ist es nicht. Der Menschen gibt es zweierlei. Solange sie jung sind und Kinder, ob nun die einzelnen, ob ganze Völker, so leben sie noch allein im Reiche der Freiheit und willen nichts von den beiden Reichen. Und sie sind glücklich, aber machtlos. Wenn sie jedoch älter werden —«
»So gewinnen sie die Macht?«
»Die Macht und das Leid. Denn sie treten auf die Brücke der Erkenntnis und können nicht wieder zurück.«
»Was ist Erkenntnis?«
»Das eben ist die Macht, aus dem Reiche der Freiheit in das der Notwendigkeit zu treten und das Gesetz zu verstehen, wie aus dem Geschehenen das Künftige werden muß.«
»Und das ist das Geheimnis der Menschen?«
»Das ist eines der Geheimnisse, es ist ihre Macht.«
»Ich will auf die Brücke der Erkenntnis treten. Ich will ihre Macht gewinnen. Denn das ist das Geheimnis, das ich suche.«
»Erinnerst du dich, was ich von der Weisheit sagte? Weisheit kann nicht geschenkt werden, sie kann nur erworben werden in mühevoller Arbeit. Und Erkenntnis ist ein Teil der Weisheit. Sie zu erringen kann dir nicht gelingen mit deinem geschmeidigen, dehnsamen Wolkenleibe. Dazu müßtest du ein Mensch werden.«
»Ein Mensch Ich? Kann ich das?«
»Es gibt auserwählte Geister in beiden Reichen, denen es gestattet ist, aus dem einen in das andre Reich zu tauchen. Dann enthüllt sich ihnen das Gesetz in seiner doppelten Gestalt als der eine Vater alles Lebendigen. Mitunter können auch Menschen hineinschweben in die Tiefe der Natur und das Gesetz in seiner Einheit erblicken.«
»So könne sie Wolken werden?«
»Nein. Ihr Leib muß ein Menschenleib bleiben. Denn nur die Zellenwesen haben im Bau ihres Hirns die Fähigkeit, nicht nur mitzuschwingen und mitzuerleben, was die Welt im Verborgenen durchflutet, sondern auch es nachzubilden und mitzuteilen. So könne sie mit euch schweben in allen Höhen und Tiefen und hinaus bis in die Unendlichkeit des Äthers und mitfühlen das Geheimnis der Welt. Dichter heißen sie unter den Menschen. Ihr aber, die ihr nicht schon wohnt im Reiche der Freiheit, könnt in der Menschen Gedankenreich nur hineintauchen, wenn ihr einen Menschenleib gewinnt.«
»O gibt ihn mir, Hoher, o laß mich ein Mensch werden Wie ist das möglich?«
»Der die Bewegung kennt aller Strahlen und Atome der Erde, wird es dir sagen. Schwebe zurück, Aspira, aus den Höhen des Raumes und frage deinen Vater. Will er's gestatten, so magst du ein Mensch sein.«
Noch lange zögerte Aspira, aufgelöst in den verschwindenden Weiten. Sie lebte in Erwartung des Zukünftigen, in Stolz und zagender Ungewißheit, und hoffte auf ein weiteres Wort der Erklärung. Aber die Stimme des Hohen war nicht mehr zu vernehmen.
Da zog sie ihre Teilchen zusammen und ward wieder schwer und sank hinab zur Erde. Und sie kam in das Reich des Vaters.
Wo das Atem des Erdballs sich verdünnt zur Leere des Weltraums, an den Grenzen des Luftmeers wohnt König Migro. Dort umspannt er das Rund der Erde, der Pförtner der Strahlung, die Erde und Sonne und all die Welten des weiten Himmels verbindet. Von dort wandern schwingende Boten zum dauernden Austausch der Kräfte rastlos ums Erdenrund. Tief unter ihm schweben Dünste und Wolken, unter ihm zucken von den Polen die glimmenden Lichter, ihn trifft ungeschwächt die Fülle der Sonnenbotschaft. Und er verteilt die Gaben des beherrschenden Glutballs an die Stoffe des Planeten, daß sie wallen und wandern in der Elemente Gewalt und sich einen und lösen im feinsten Gliederbau geordneter Zellen.
Der Vater empfing Aspira mit freundlichem Ernste.
»Vom Hohen kommst du«, so sprach er, »mit wundersamer Bitte, mit seltener Erlaubnis.«
»Ja, Vater, der Hohe erlaubt mir, in das Reich der Freiheit zu treten aus meinem Reiche der Notwendigkeit, wenn du mir den Menschenleib gewähren willst, dessen ich bedarf.«
»Wisse, mein Kind, was mir von den Menschen bekannt ist, das ist nur das Spiel der Stoffe und Kräfte in den Zellen ihres Leibes. So weiß ich auch nur, wie du dich mit diesem Leibe verschmelzen kannst. Dein Wolkenkörper ist durchstrahlt von einem schwingenden Äther, dessen Spannung deine Teile zu einer Einheit verbindet, und mögen sie durch die Räume der Welt verstreut sein. Ihr nennt ihn das Wolkenherz, und in ihm liegt dein Leben als Wolke. Dieses Wolkenherz kann sich verschmelzen mit dem Menschenhirn, das des Menschen Leib und Leben regiert. Und ich weiß, wie sie sich wieder trennen können, ja auch, daß sie noch vereint bleiben können, wenn dein Leib wieder die Form der Wolke angenommen hat.«
»So kann ich auch eine Wolke sein mit der Seele des Menschen?«
»Was das bedeutet, weiß ich nicht. Was in der Seele des Menschen vorgeht, kann ich nicht verstehen und es geht mich nichts an. So weiß ich auch nicht, was deine Seele fühlen mag, wenn du ein Mensch bist. Denn mein Reich ist das der Notwendigkeit und nicht der Freiheit. Und ich weiß nur, daß die getrennten Reiche verbunden sind durch die Brücke der Erkenntnis, wie der Hohe dir offenbarte. Die Menschen können sie betreten und dadurch Macht gewinnen über unser Reich. Dann zürnen ihnen unsre Geister. Was aber die Menschen dabei erleben, ist uns unbekannt. Vielleicht will der Hohe, daß auch wir erfahren von dem unbekannten Leben der Menschenseele. Dazu muß einer der Unsern Mensch werden. Das aber können nur die Königswolken. Und auch diese nur, wenn in ihnen die Sehnsucht rege geworden ist nach dem Reiche der Freiheit, wenn sie mutig genug sind die Brücke der Erkenntnis zu betreten. Es ist eine seltene Gnade, die der Hohe dir gewährt. Doch was dann an Leid oder Lust die Seele durchbebt, das weiß niemand von uns Geistern der Natur.«
»Der Hohe selbst hat mich gewarnt. Doch, Vater, wenn ich es darf, so will ich es. Ich habe den Mut.«
»Zwei Tage mußt du warten und still ruhen, um dich zu prüfen. Und beharrst du dann in deinem Entschlusse, so magst du am Morgen des dritten Tage hinabgehen als Mensch zu den Menschen.«
»Ich werde gehorchen. Doch sage mir, wie alles geschehen soll«
»Ich will es dir künden. Mit deinem Wolkenherzen wirst du hineinziehen in den Leib eines Menschen, der im Schlafe der Erstarrung dich aufnimmt. Dann wird der Leib des Menschen dein sein mit alles, was der Mensch durch sein Leben erworben hat, soweit dein Wolkenherz ihn zu durchdringen vermag. Und soweit wird auch seine Seele die deine sein. Dann bist du ein Mensch unter Menschen.«
»Und kann ich wieder zurückkehren als Wolke?«
»Du kannst es, so oft du willst, doch nur auf kurze Zeit. Dann mußt du dich niederlegen mit deinem Menschenleibe an verborgener Stelle dieses Bergreichs, das deine Heimat ist, und in den Schlaf der Erstarrung versinken. Und dein Atem wird entweichen als Wolke zugleich mit der Menschenseele. Und du wirst sein eine Wolke mit der Seele einer Wolke und dem Geiste eines Menschen zugleich. Der Leib des Menschen aber liegt inzwischen erstarrt in den Bergen. Darum hüte dich, daß du nicht zu lange als Wolke säumst, damit nicht etwa inzwischen der Leib des Menschen Schaden nimmt; sonst kannst du nicht wieder Mensch werden. Und hüte dich, daß von deinem Wolkenherzen nichts verloren geht; sonst kannst du nicht wieder eine reine Wolke werden. Denn wenn du wieder frei sein willst in unserm Reiche, so mußt du dem Menschen alles zurückgeben, was du mit deinem Wolkenherzen vermischt hattest. Kannst du das nicht, so stirbt der Mensch und du bleibst eine Menschenwolke.«
»O mein Vater, es ist ein gefährliches Wagnis.«
»Darum hast du Bedenkzeit. Und wisse noch dies: Es ist dir verboten, den Menschen zu verraten, daß du eine Wolke bist.«
»Warum das?«
»Der Hohe will's.«
»Und was für ein Mensch werde ich sein, o Vater?«
»Einer von denen, die in der Frühe des dritten Tages heraufkommen in die Berge. Ich sage dir, daß ich die Seelen der Menschen so wenig kenne, wie irgend einer von uns Geistern der Natur. Darüber vermag ich nichts. Doch seinen Leib können wir beschützen. Auch dich, meine Tochter, werden wir hüten mit unsrer Macht, solange du in Menschengestalt wandelst. Du wirst einen andern Namen haben als Mensch, uns aber bleibst du Aspira. Migros Segen geleitet dich. Und faßt dich ein Leid um der Menschen Not, so fliehe zurück in unser Reich. Und nun ziehe hin, mein Kind, und entschließe dich. Am Morgen des dritten Tages werde ich dich wieder hören.«
Da sank Aspira hinab in die Schlucht am Blankhorn und barg sich vor den ersten Strahlen der Sonne, die das weiße Haupt des Bergriesen vergoldete.
Wieder leuchteten die hohen Schneeberge im Sonnenschein.
An der dunkeln Felswand, die zum Firnfeld des Blankhorns abstürzt, erwachte der Nachtreif und begann mit feuchtem Augenaufschlag ins Tal hinabzuglänzen. Unter den Schneeresten wurde ein kleines Rinnsal lebendig; das tropfte leise auf die Streifen der gelbbraunen Flechten hernieder.
»Sehr ihr nichts?« knurrte der Fels.
»Es sind Wolken über dem Gletscher,« sagte der Nachtreif schüchtern.
»Das weiß ich selbst. Aber ob Aspira darunter ist, das kann ich nicht unterscheiden. Wozu seid ihr denn naß, wenn ihr nicht zwischen dem Wolkengewimmel hindurch sehen könnt?«
»Wen meinen Sie denn mit dem »ihr«,« tönte es von den Flechten. »Wir sind nämlich auch hier und wir sind auch naß, aber etwas mehr Höflichkeit möchten wir uns doch ausbitten.«
»Sie meine ich freilich nicht,« polterte der Fels. »Das weiß ich schon, daß Sie nichts Rechtes sehen können mit Ihrem gefärbten Zellenleibe. Jetzt tun Sie groß, aber warten Sie nur, bis die Schneereste fort sind und Sie austrocknen.«
»Das tut uns nichts, höchstens ruhen wir dann ein Weilchen. Es ist ja hier dafür gesorgt, daß es Feuchtigkeit genug gibt. Der Nebel und der Herr Nachtreif genügen uns vollständig.«
»O bitte,« sagte der Nachtreif geschmeichelt, »ich tue es gern.«
»Sieh dich lieber um,« brummte der Fels, »ob du nicht Aspira erblicken kannst.«
»Ich sehe nichts. Vielleicht ist schon alles vorüber.«
»Was soll denn vorübersein?« fragte das Rinnsal.
»Das weißt du nicht?« rief der getaute Nachtreif.
»Das weißt du nicht?« rief der Schnee entrüstet.
»Das weißt du nicht?« brummte sogar der Fels verächtlich.
»Aber ich bin doch eben erst ganz neu geboren,« klagte das Rinnsal zaghaft.
»Geschmolzen, meinen Sie,« sprachen die Flechten. »Sie scheinen ein kurzes Gedächtnis zu haben. Sie waren doch vorher Schnee, und da wußten Sie sicher, wer Aspira ist.«
»Ach, Aspira? Des Königs Migro kluge Tochter? Die kenn ich freilich. Was ist mir ihr?«
»Na, das könnten Sie doch auch wissen,« sagten die Flechten. »Das ganze Bergland redet ja darüber, vom Blankhorn bis unten zu den Maulwurfshaufen. Jeder Tropfen kümmert sich darum. Wir sind genug mit der Geschichte gelangweilt worden, und wir glauben kein Wort davon.«
»Seien Sie nicht zu vorlaut,« knurrte der Fels die Flechten an.
»Der Schnee, von dem das Rinnsal kommt, liegt noch vom vorigen Herbst hier ganz unten in der Spalte, da ist von den neuesten Geschichten noch nichts hingedrungen. Und wenn Sie's nicht glauben wollen, so können Sie mir leid tun.«
»So sagt mir doch, was mit Aspira ist,« bat das Rinnsal.
»Mensch wird sie« riefen Fels und Schnee und Nachtreif.
»Unsinn ist es, das geht gar nicht,« sagten die Flechten.
»Unsinn mag's sein, aber es geht,« entschied der Fels. »Das weiß ich genau. Der Morgenwind hat mir's gestern erzählt.«
»Da haben wir's auch gehört,« riefen die Flechten.
»Sie werden's eben nicht verstanden haben.«
»Erlauben Sie. Wir wohnen zwar schon über tausend Jahre bei Ihnen, aber Sie haben unsre Leistungen und Verdienste noch immer nicht schätzen gelernt.«
»Bitte sehr, ziehen Sie ruhig aus« brummte der Fels. »Ich brauche Ihre Zellkriecherei und die ganze Familienwirtschaft nicht.«
»Familienwirtschaft ist gut. Damit gestehen Sie eben, daß wir etwas Höheres sind. Wir sind ein wirtschaftlicher Verein. Wir sind Pilze, die Algenzucht treiben, damit wir leben können. Und dafür wollten Sie uns dankbar sein. Denn nur durch unsre gemeinsame Arbeit können wir Sie annagen und zerlegen. Und wenn wir das nicht täten, würden Sie niemals Humus werden und zu etwas nütze sein. Hätten Sie sich nicht so hoch oben plaziert mit so steilem Abfall, so könnten Sie längst eine anständige Viehweide oder gar ein Wald geworden sein.«
»Sie sind wirklich eine unverschämte Gesellschaft. Ich werde Sie mit dem nächsten Bergsturz abschieben.«
»Das ist uns eben recht, da kommen Sie Ihrem Ziele näher.«
»Ziele? Was ist das für ein Unsinn. Kenne ich nicht.«
»Das glauben wir Das verstehen nur die Zellenwesen. Sie wissen nicht einmal, daß Sie Humus werden sollen, Dammerde, fruchtbarer Talboden. Dazu wollen wir Ihnen verhelfen.«
»Ich will nichts. Ich bin hier oben und bleibe hier, das Hinab und Hinauf können die Wolken besorgen. Liegen sie denn immer noch da unten?«
»Ich kann noch nichts sehen,« sagte das Rinnsal.
»Vielleicht ist doch schon alles vorüber,« wiederholte der Nachtreif. »Aber ich werde es bald wissen. Ich werde gleich verdunstet sein, und dann kann ich hinüberfliegen.«
»Aber bei mir dauert's noch lange, bis ich hinunterkomme, und dann sehe ich nichts mehr, ich möchte doch hören, wie den Aspira Mensch werden kann.«
»Solange die Wolken unten sind, wird's noch nicht vorübersein. Der Morgenwind hat mir versprochen, sogleich heraufzukommen und mir alles zu erzählen, sobald's vorbei ist.«
»Wie soll denn eins von Ihnen Mensch werden?« riefen die Flechten. »Wir wissen doch, wie das bei den Zellenwesen ist, denn wir sind selbst welche. Der Mensch ist auch nichts als eine höhere Flechte—was man so höher nennt. Eigentlich sind wir die höheren, aber weil er herumlaufen kann, so— na, darüber will ich nicht streiten. Aber das weiß ich, daß bei ihm zwei dazu gehören, wenn ein neuer Mensch werden soll. Das ist also gerade wie bei uns. Unsere grünen Algen allein bringen keine Flechte zustande, und unsere Pilzsporen allein auch nicht. Erst wenn sie sich zusammentun, wird wieder eine neue Flechte daraus. Beide aber sind Zellenwesen. Wie soll denn von Ihnen ein Mensch kommen, da Sie gar keine Zellen haben?«
»Das mag bei Ihnen so sein,« sagte der Fels. »Wir können vieles allein, wozu Sie sich erst zusammentun müssen. Aber das muß ich zugeben: für gewöhnlich können wir keine Menschen werden. Wir Felsen und Berge, und die Gletscher und der Wind und das fließende Wasser, die können's überhaupt nicht. Nur die Wolken können's, und auch von denen bloß die Königswolken. Und der Morgenwind hat einiges gehört, wie Migro mit seiner Tochter sprach, die seit zwei Tagen in der Schlucht liegt, denn er mußte eine Botschaft zwischen ihnen tragen. Ich will es dem Rinnsalchen mitteilen, damit es Bescheid weiß. Und wenn Sie's schon einmal gehört haben, so ist mir das egal.«
Der Fels nahm eine noch steifere Haltung an und fuhr dann fort: »Ich bin zwar nur ein kleiner Teil vom Blankhorn, das alles weiß—« die Flechten räusperten sich höhnisch—»aber ich weiß doch auch allerlei. Die Wolken haben nämlich etwas voraus vor uns andern Erdgeistern, sie sind so etwas für sich, ja, na, so wie die Menschen auch sein sollen,—sie haben auch einen Namen dafür—«
»Den haben Sie aber vergessen,« mischten sich die Flechten ein. »Wir Zellenwesen sind nämlich Individuen. Sie, meine Herrschaften, sind immer nur ein Stück von etwas anderem. Sie sind ein Stück Fels, und Sie ein Stück Wasser, und der Wind ist ein Stück Luft. Wir aber, die Pflanzen und die Tiere, sind etwas für sich, jeder was Eigenes. Und das nennt man ein Individuum. So was ist der Mensch auch.«
»Das weiß ich natürlich,« rief der Fels. »Seien Sie doch schon still Also die Wolken sind solche Dinger. Sie können wachsen und können abnehmen und sich so dehnen und so, und sich auflösen und wieder sammeln, aber sie bleiben immer eins dabei. Darum kann eine zu einem Menschen werden, wenn sie einen lebendigen Menschen findet und ihr unsichtbares Wolkenherz mit dem Menschenherzen mischt.«
»Ich weiß nur nicht,« begann der Nachtreif, »was eine Wolke davon haben kann, ein Mensch zu werden. Denn sie ist doch etwas Höheres.«
»Freilich ist sie das,« fuhr der Fels fort. »Die Menschen sind eben traurige Maschinen wie die Tiere—unterbrechen Sie mich nicht, Sie Flechtenwesen—sie sind alle aus einer Form gebacken wie die Käfer. Und dabei wollen sie den Langberg anbohren, vielleicht sogar uns selbst, das Blankhorn. Ich kann ja freilich nichts dagegen tun, ich bin nur ein Felsen und kann mich wenig rühren, ich kann nur schimpfen. Aber der Gletscher, der sich fortwährend wandelt und wandert, und die Wolken, die schweben und weben in tausend Gestalten, sollen sie sich den Menschen nahe kommen lassen, der immer derselbe ist? Sieh den Toni, wenn er mit dem Strick und Eisbeil herumsteigt, immer hat er zwei Arme und zwei Beine und denselben Kopf, und der Hans und der Peter drüben auf der Alp sieht ebenso aus. Hast du jemals gesehen, daß ein Mensch sich in drei Beine gespalten hat, oder in Streifen in der Luft zerflossen ist? Ist's nicht so?«
»Das ist schon richtig,« fielen die Flechten ein. »Darin sind wir eben die Höheren, wir brauchen uns nicht so einzuschränken.«
»Na, also« fuhr der Fels fort. »Maschinen sind sie. Die Nebeltante erzählt uns ja immer, so oft sie drüben zwischen den großen Häusern in Schmalbrück liegt. Mittags klingelt es und abends wieder; dann müssen sie allerlei Zeug in sich hineinstecken, sonst können sie nicht mehr kriechen.«
»Aber,« fragte das Rinnsal, »wenn die Menschen so närrisch sind, was kümmert ihr euch um sie?«
»Närrisch sind sie wohl nicht bloß, es muß noch etwas hinter ihnen stecken. Mir kann's ja gleich sein, aber den Wolken ist's wohl nicht gleich. Sonst würde doch der Hohe Aspira nicht zu den Menschen schicken.«
»Na,« meinte der Nachtreif, »das ist vielleicht eine Art Strafe.«
»Warum denn?« fragte das Rinnsal.
»Nimm dich in acht, Kleines,« sprach der Nachtreif im Verdunsten, »daßdir's nicht auch so geht. Wegen des »Warum« wurde Aspira weggeschickt, weil sie immer diese dumme Frage hatte. Sie wollte allemal einen Grund wissen. Und ein Grund, das ist so was Menschliches, das wollen die Menschen auch überall haben. Eine richtige Wolke hat keinen Grund.«
»Es ist auch Blödsinn,« brummte der Fels wieder. »Man ist eben, und damit ist's genug. Aber Aspira fragte immer: »Warum steigen die Menschen auf die Berge? Warum macht sich der Vetter Kumulus unten so breit und oben so rund? Warum kann ich mich ausdehnen und zusammenziehen? Warum können die Menschen nicht fliegen?« Da wurde Migro einmal ärgerlich und rief: »Wenn du jetzt noch einmal Warum fragst, so kannst du unter die Menschen gehen, dann da paßt du hin.« »Warum?« fragte Aspira. Und da mußte sie fort, da mußte sie ein Mensch werden.«
»Na, na, na« riefen die Flechten. »Da reden Sie wieder einmal rechten Unsinn. Der Morgenwind hat es ganz anders erzählt. Eine Belohnung ist's für Aspira durch den Hohen selbst. Sie soll einmal erfahren, was sonst nur die Menschen wissen. Und daß die allerlei verstehen, das haben Sie ja selbst zugegeben. Da fragen Sie doch einmal den Nachtreif.«
»Wo ist denn der Nachtreif hin?« rief der Fels.
»Verdunstet Er hat sich dünn gemacht.«
»Wirklich Doch seht, da lichten sich die Wolken. Da muß es geschehen sein. Nun wird der Morgenwind gleich erscheinen. Drüben auf der Alp wogt schon das Gras. Da werden wir ja hören, was mit Aspira geworden ist.«
Klar im Sonnenschein lagen jetzt die Gletscher und das Tal mit den grünen Matten und den dunklen Fichtenwäldern und dem blauen See. Und der Morgenwind strich über Flechten und Fels.
»Kommt spät,« brummte der Fels. »Die Sonne steht schon hoch.«
»Ich mußte mich solange verweilen, wenn ich alles selbst sehen wollte. So schnell geht das nicht, wie man sonst wohl einmal einen Menschen abstürzen läßt. Sämtlichen Luftgeistern hatte es Migro selbst eingeschärft, sie mußten den Menschen aufs zarteste behandeln. Denn wenn ihm irgend ein Schaden zugestoßen wäre, so hätte Aspira darunter zu leiden gehabt.«
»Hier der Fels behauptet,« mischten die Flechten sich ein, »Aspira sei zur Strafe Mensch geworden. Wir hatten Sie aber dahin verstanden, daß es zur Belohnung sei.«
»Unterbrechen Sie gefälligst den Morgenwind nicht,« polterte der Fels. »Er spricht zu mir.«
»Lassen Sie mich darüber hinweg fächeln,« säuselte der Morgenwind. »Keins von beiden ist ganz zutreffend. Es handelte sich vielmehr um eine Bitte von Aspira. Was aber diesem etwas wolkenhaften Wunsche zugrunde liegt —« der Morgenwind zog einen kleinen graziösen Wirbel, der alles sagen sollte, was er nicht wußte—»so darf man sich darüber nicht aussprechen. Es handelt sich da um Verhältnisse, die nur den höchsten Kreisen bekannt sind. Kommen wir lieber zur Sache.«
»Das denk' ich auch,« brummte der Fels. »Wie war's denn?«
»Zwei Tage hatte Aspira Bedenkzeit, aber sie blieb dabei, ein Mensch zu werden. Heute war der Morgen des dritten Tages. Vom Blankhorn bis zum Großblick lauerte die ganze Wolkensippe schon vor Sonnenaufgang, daß ein Mensch sich blicken ließe, der König Migro für Aspira gut genug schien. Aufgelöst hatten sich alle in der Luft, daß es ganz klar war und das erste Frührot glückverheißend heraufdämmerte.«
»Werden Sie nicht zu poetisch,« murmelten die Flechten leise.
»Wenn Sie es gesehen hätten, das schöne Menschenweib Dort drüben kam sie heraufgestiegen auf dem Wege von Schmalbrück am Abhange des Langbergs. Dann betrat sie das Band über dem Gletscher, wo die weißen Blumen stehen. Kräftig schritt sie dahin, den Bergstock in der rechten, in der linken Hand trug sie eine Mappe. Und wo das Band endet, ist eine Höhle im Felsen, da drinnen ist es dämmrig und kühl. Sie aber setzte sich vor die Höhle auf einen Stein und hüllte sich in ihr Tuch. Und mit den großen braunen Augen blickte sie hinüber zum Blankhorn und den Eisriesen, ganz allein im weiten Wolkenreich. Und die Sonne ging auf und strahlte auf die Kette, und all die Gipfel leuchteten rosig, und die Augen des Mädchens glänzten noch mächtiger und herrlicher als die schimmernden Riesen der Luft.
Da winkte Migro. Und plötzlich stieg die Wolkensippe vom Gletscher herauf als ein dichter Nebel. Und mir winkte er. Da mußte ich hineinblasen mit meinem kältesten Atem und die Nebel vor die Höhle treiben, daß die Schneeflocken und das schöne Menschenkind wirbelten. Da stand sie auf und zog sich in die Höhle zurück und lehnte sich an die Steine. Aber Aspira flog ihr nach und hüllte sie ein, daß sie in Kälte erschauerte. Sie schloß die Augen und sank langsam um, ganz sanft, denn Aspira schützte sie und trug sie. So lag sie erstarrt, wie schlafend, in ihr Tuch gehüllt. Die Mappe lag neben ihr, und die schönen, dunklen Locken quollen unter dem Hut hervor, und ich habe sie bewegt, leise, ganz leise, als wären sie lebendig.
Da floß Aspira in sie hinein und mischte ihr Wolkenherz mit dem Menschenherzen.
Und Migro winkte wieder. Da mußte wir alle hinweg, eilends. Die Wolken lösten sich auf und die Sonne schien wieder klar und die Luft in der Höhle erwärmte sich.
Ich aber flog zuletzt fort und sah noch, rückwärts blickend, wie die Gestalt des schönen Mädchens aus der Höhle trat und sich umschaute. Sie sah aus wie der Mensch, der sich vorhin hineinbegeben hatte, aber ich weiß, daß es Aspira war.
Ich grüßte sie mit meinem mildesten Hauche und eilte hierher.«
»Und Aspira —?«
»Blickt dort hin Weiter unten Schon am Waldrand—da steht sie noch—«
»Sie winkt«
»Und jetzt, jetzt verschwindet sie hinter den Bäumen.«
»Horcht, horcht«
»Es schwebt von ferne wie eine Menschenstimme —«
»Es hallt wider von den Bergen—die Alten rufen Aspira den letzten Gruß— —«
»Lebt wohl Ich fliege.«
Und der Morgenwind hob sich aufwärts zum Schneehaupt des Blankhorns.
Aspira aber wandelte zu Tal.
Ein merkwürdiges Ding, so ein Menschenleib Als ich sie da liegen sah in der Höhle—mich, muß ich eigentlich jetzt sagen, Wera Lentius, denn so heiße ich ja nun—da überkam mich eine große Angst. In diesen kleinen, fest umgrenzten Körper sollte ich hinein Wie mochte ich dann über die Berge und Täler kommen? Wie sollte ich dieses regelmäßige Hin und Her der Beine erlernen? Aber als ich nun einmal darin war, seltsam, da war ich eben dieses Menschen-Ich. Da verstand sich alles von selbst.
Wie es kam, weiß ich nicht, aber ich lehnte plötzlich aufgerichtet am Höhleneingang. Nun stand ich eine Weile ganz still. Es sah alles anders aus, als ich's gewohnt war, und doch wußte ich gleich, wie alles zusammengehörte und was es war, der Gletscher und die Felsen und drüben der Wald. Aber es waren auch nicht bloß der Gletscher und die Felsen und der Wald, es war so unendlich, so verwirrend vieles, das bei dem vertrauten Anblick in mir zugleich als etwas Neues vorging. Neu nur für Aspira, bekannt mir schon als Wera Lentius. Ich wußte nicht bloß, wie ich hier geschwebt und geregnet und mich aufgelöst hatte, ich wußte auch, mit wem ich als Wera dort unten gewandelt war und gesprochen hatte, und daß ich nun nach der Pension Leberecht gehen wollte.
Freilich, wie sollte ich das machen? Aufschweben—ja da war kein Ausdehnungsorgan da, kein Schwebemittel. Aber das war nur so ein ganz flüchtiges Bedenken. Ich wollte hin, und da bewegten sich meine Glieder, zogen sich zusammen und streckten sich und—ich ging, den richtigen Weg auf dem schmalen Bande, sicheren Schritts. Was ich dabei tat, ich wußte es nicht, und als ich darüber nachdachte, begann ich zu straucheln. Nun verstand ich auch gleich, daß die Menschen das alles machen ohne selbst zu wissen wie. Merkwürdig Und doch, ist es denn bei uns anders? Wissen wir denn, wie wir es anfangen, uns aufzulösen oder zu schweben? Also in diesen einfachen Verrichtungen des gewohnten Lebens ist kein Unterschied zwischen Wolke und Mensch. Dazu brauchte ich nicht Mensch zu werden. Es versteht sich alles von selbst. Alles?
Als ich weiter hinab auf den Fußweg gekommen war, begegnete mir der erste Mensch. Es war ein altes Mütterchen mit einem Korbe. Sie sagte Worte, die ich nicht verstand, doch ich wußte, daß es ein Gruß sei. Und auf einmal klang es laut, daß ich zusammenschrak:
»Guten Morgen.«
Es war meine eigene Stimme, das wurde mir jetzt erst klar. Zum ersten Male hörte ich meine Stimme. Ich habe eine Menschenstimme Wie sonderbar Das wußte ich ja, ich wußte alles, was Wera wußte, aber doch nur als Erinnerung. Nun das wirklich zum ersten Male zu erleben in der Wahrnehmung Das war etwas unbeschreiblich Neues. »Ich will mehr hören Ich will reden Was soll ich denn sprechen?« Alles das sagte ich laut vor mich hin.
Zu meinen Füßen lag das Tal. Drüben im Grünen die hellen Häuser von Schmalbrück, zur Linken davor der sonnenbestrahlte See, und von meinen Lippen klang es:
»Auf der Welle blinken
Tausend schwebende Sterne;
Weiche Nebel trinken
Rings die türmende Ferne;
Morgenwind umflügelt
Die beschattete Bucht,
Und im See bespiegelt
Sich die reifende Frucht.«
Ich berauschte mich am Wohllaut der eigenen Stimme. Und dann rief ich jubelnd hinaus:
»Wie im Morgenglanze
Du rings mich anglühst,
Frühling, Geliebter
Mit tausendfacher Liebeswonne
Sich an mein Herz drängt
Deiner ewigen Wärme
Heilig Gefühl,
Unendliche Schöne«
Was diese Wera alle wußte Das konnte sie erklingen lassen O, es ist doch schön, ein Mensch zu sein und eine Stimme zu haben. Und das hatte ich nun alles, ich war ja Wera. Eines nach dem andern fiel mir ein, was zu den Versen gehörte. Ein großer Menschendichter hatte sie zuerst gesagt. Ich wußte, wie er hieß und wann und wo er gelebt hatte; ich wußte wo das Buch in meinem Zimmer stand und wie es aussah. Wie oft hatte ich darin gelesen Ich sagte mir die Verse noch einmal. Aber ich weiß nicht—als ich nun nicht bloß im Klange schwelgte, als ich mir überlegte, was das bedeute und sagen wolle, da war es, als stockte etwas in mir.
»Frühling, Geliebter« Gab es in Weras Seele Dinge, die mir noch nicht zugänglich waren? Daß jetzt im letzten Drittel Juni nicht Frühling war, störte mich nicht, das war Phantasie, das verstand ich. Aber »Geliebter« und »Mit tausendfacher Liebeswonne«? Das waren Worte, Klänge, zu denen mir ein innerer Nachhall fehlte. Es war mir wie mit dem See, als ich jetzt durch den Wald schritt. Ich wußte, dort hinter den Bäumen lag er, aber ich sah nicht der Welle Blinken und die tausend schwebenden Sterne—— Wera mußte etwas gesehen haben, als sie jene Worte sich einprägte, mir aber war hier eine Leitung unterbrochen. War ich noch zu sehr Aspira, noch zu wenig mit Weras Seele gemischt? Doch das mußte sich ja finden.
In meiner Weraseele wirkten die Verse fort, Erinnerungen zogen herauf, Gedichte hörte ich erklingen, die mir galten. An fremdem Ort sah ich mich Hand in Hand gehen mit einem andern Menschen, ich wußte jedes Wort, das er gesagt, und—nein, was die Menschen für seltsame Sitten hatten Es mußte vermutlich sehr schön sein, und doch—es war wie ein Bild ohne Farbe. Ich fühlte nichts dabei, ich fand keinen Sinn darin, keinen Zusammenhang mit meinem Denken. Aber das kam wohl daher, weil ich nur die Erinnerung kannte. Wenn ich's einmal erlebe in der Wahrnehmung erfasse, dann werd' ich's schon verstehen. So war's ja auch mit meiner Stimme. Erst als ich sie gehört hatte, freute sie mich.
Eins aber hatte ich doch gelernt. In Verlegenheit würde ich nicht kommen. Als Wolke hatte ich mich gefürchtet, wie das sein würde, wenn ich mit Menschen zusammenträfe, ob ich mich richtig würde benehmen können. Jetzt wußte ich, daß ich gehen kann, mich bewegen, sprechen, daß ich wohl für die Menschen genau bin wie Wera. Ich bin's ja doch auch.
Ach, ich weiß ganz furchtbar viel Vorlesungen habe ich gehört und Bücher gelesen und Versuche gemacht—was fällt mir nicht alles ein Gut, daß Wera so fleißig war, ich hätte es sicher nicht zustande gebracht.
Sollte ich jetzt gleich unter die Menschen gehen? Es war noch früh am Tage. Meine Weraseele sagte mir, daß dies die Zeit nicht sei, in der ich nach Hause zu kommen pflegte. Ich wußte, daß ich meine Zeichenmappe mitgenommen hatte und ein Buch, um mich im Freien zu beschäftigen. Alles dies floß mir als Erinnerung durcheinander, eine Vorstellung verdrängte die andre. Wir traumhaft schritt ich auf dem schmalen Fußsteige dahin. Da klang das Rauschen des Weißbachs mir ans Ohr. Immer näher ging ich hinan, schon stand ich auf einem Felsstück dicht über dem weißen Schaum. Es war mir, als sollte ich hineingleiten, ich mußte mich erst wieder besinnen, daß ich Wera sei.
Nein, so ging das nicht weiter. Ehe ich zu den Menschen hinabstieg, mußte ich mein Bewußtsein selbst in festere Ordnung bringen. Ich mußte erst einmal versuchen, die Welt mit Weras Augen anzusehen. Denn bis jetzt war mir ja alles nur wie zufällig entgegengekommen. Ich wollte in Weras Seele lesen wie in einem Buche. Sie war ja jetzt die meine.
Ich streckte mich auf das weiche Moos. Der Bach rauschte weiter. Sonnenlichter fielen durch die Zweige der alten Arven und spielten auf den zarten grünen Blättchen des Mooses neben mir. Was taten sie? Was hatten sie mit mir zu tun? Sie spielten?
Nein Plötzlich fiel es wie ein Schleier von meinen Augen. Das Menschenhirn arbeitete in mir. Was es sich erarbeitet hatte durch zahllose Geschlechter in Millionen von Jahren, auf einmal ging es in mir auf, stieg empor als Gedanke, groß, unendlich, klar und folgerecht, das Geheimnis des Gesetzes Und wußte nichts mehr von Wera noch Aspira, nichts von Menschen- und Wolkenseelen. Ich war nur ein Teil dieses machtvollen Zusammenhangs, dieses gewaltigen Werdens, das in meinem Menschenhirn sich ordnete.
Ich war die Welt, die sich selbst erkennt; der Teil der Welt, darin sie sich erkennt.
Ein Neues, ein Ungeahntes erfüllte mich.
Die Sonnenlichter spielten? Nein, sie spielten ja nicht, sie arbeiteten.
Von den fernen, fernen Sonne, wo glühende Gase wogten und sich preßten, drängten sich die Schwingungen durch den Weltraum und in die Zellen der zierlichen Blättchen. Und die grünen Körnchen des Chlorophylls schwangen mit ihnen im Takte und ihre Atome tanzten den geregelten Reigen. So erhielten sie die Kraft, die Kohlensäure zu spalten. Da riß der Zellsaft die Kohle an sich, da eroberte sich die Pflanze den Stoff, aus dem sie sich aufbaute, das kleine Moos wie die hohe Arve. Ich sah die Werkstatt des Lebens.
Hier war das Reich meines Vaters Migro zum Quell geworden alles Lebens, das auf dieser Erde erwachsen war bis zu diesem verwickelten Organismus meines Leibes. Das sangen die kleinen Körnchen des Blattgrüns leise meiner Aspiraseele, für mein Hirn aber arbeiteten sie, getrieben von den Schwingungen des Äthers, nur als Maschine, die allein auf der ganzen Erde imstande war, die Elemente zum lebendigen Plasma zu verbinden. Hier liegt der Ursprung aller Nahrung, durch die erst das wimmelnde Heer der Tiere seinen künstlichen Nervenleib sich aufzubauen vermag.
Wie oft waren meine Tropfen niedergesunken auf das Moos und hatten sich im Boden verloren. Und was der Pflanzenkörper nicht aufsog und zurückhielt, das entwich wieder in die Mutterluft und stieg als Wasserdampf empor. Und je höher ich stieg, um so dichter ward ich, bis ich in der Kühle mich wieder sammelte in feinen Tröpfchen und als Wolke über die Berge zog. So hatte ich's getrieben durch ungezählte Jahrtausende in ewigem Kreislauf. Und ich hatte gemeint zu spielen.
Eine freie Wolke war ich, König Migros Tochter Aspira. Und wenn ich zur Höhe zog und in den zierlichen Eiskristallen erstarrte, und wenn ich mich sammelte im weißen Firn und nach Jahren zu Tale glitt im schimmernden Gletscher, und wenn ich im Bache entrauschte und im See mich wiegte und wieder im Sonnenstrahl mich aufschwang zur Wetterwolke, die den Blitzstrahl entsandte, immer wußte ich nur, daß ich spielte, daß ich tat, was mir der Augenblick eingab—— Was auch sollte ich sonst sein?
Aber nun ich dich habe, du liebes, kluges Weraköpfchen, nun weiß ich's besser. Ach, ich bin ja so unendlich viel mehr Ich glaubte zu spielen, nun jedoch weiß ich's, auch ich arbeitete, arbeitete wie die leuchtenden Strahlen auf dem Moos, wie die hämmerschwingenden Männer am Felsen. Was in mir waltete, das warst du, Schöpferin Natur, war dein heiliges Gesetz zwingender Gestaltung.
Alles berechnest du wie eine weise Verwalterin in deinem ungeheuren Haushalt, auch wo du zu verschwenden scheinst. Nicht länger konnte ich unsichtbar bleiben in meiner Gasform, als Temperatur und Dichtigkeit der Luft es zuließ. Nicht eher konnte ich mich zu Tropfen ballen, bis der Raum mit meinem Dampfe gesättigt war, oder ich mich anklammern konnte an die Ionen der Luft. Dann zwang mich die Oberflächenspannung zur Kugelform. Nicht höher konnte ich schweben, als der aufsteigende warme Strom der Luft mich hob, und mit jedem Meter Steigung verbrauchte ich mein bestimmtes Maß an Wärme, um mich auszudehnen. Und nicht eher vermochte ich den Glutball zu schleudern, bis nicht die Ladung meiner Tröpfchen die vorgeschriebene Spannung erreichte. Und nicht früher durfte ich niederregnen, bis meine Tropfen zur angemessenen Größe zusammengeflossen waren——
Aber nicht zwecklos stürzt' ich hinab im geglaubten Spiele des Ergusses. Von den Felsen wusch ich das lose Gestein, den fruchtbaren Boden des Tales zu ebnen. Ich tränkte das Moos und die grünenden Matten, die Bäume des Waldes und drüben im Lande das wogende Feld. Den Druck der Schwere sammelte ich in Bach und Fluß und hob die Lasten und drehte die Räder der Menschen — ich arbeitete.
Arbeiten Versteh' ich dich ganz, du königliches Wort? Soll ich trauern, daßich nun weiß, warum ich spielte? Nein, dieses Gesetz der Arbeit ist kein Zwang, um den ich klage, es ist mein Wille, den ich achte. Wie wärest du möglich geworden, Wera, du schönes, kluges Menschenkind, wenn nicht du, wenn nicht vor dir und um dich die Millionen und aber Millionen gearbeitet hätten mit ihrem Gehirn, mit ihren Händen, um dieses große Werk weiter und weiter zu fördern, das man die Menschheit nennt? Wenn ihr nicht aufgespeichert hättet in immer neuem Mühen, was ihr saht, hörtet und faßtet?
Was ist so ein Menschenhirn doch für ein köstliches Ding Ein Ding ist zu wenig gesagt. Es ist ja die Welt, die ganze Welt, es ist ihre Einheit. Was zurückliegt in jenen Zeiten, da selbst wir Wolken noch nicht unsre Einheit als gestaltete Wesen gewonnen hatte, das vermag solch ein Gehirn heraufzuführen und zu erforschen in der Arbeit seiner Zellen. Die Geschichte des Erdballs liest es aus den Spuren des Vergangenen und aus dem ergründeten Gesetz des ewig Lebendigen. Was da war und was da sein wird, verbindet es zur mächtigen Gegenwart.
Das ist eine ganz andre Verbindung, die sich hier erlebt, als wir Wolken sie erleben in unsrer Elementenseele, in unsrer Selbstdurchdringung.
Die Welt hat sich um Menschenhirn noch einmal sich selbst gegenübergestellt. Sie liest sich darin wie in ihrem Tagebuch, geschrieben in der Sprache des Gesetzes, nicht so umfassend, wie sie lebt, aber um soviel klarer, nicht so verschwimmend, aber sich selbst bestimmend.
Nun weiß ich, warum ich in diesen festumgrenzten Leib hineinwandern mußte mit meinem Wolkenherzen, um zu lernen, was der Menschen Macht und Wesen ist. Nur ein solcher Zellenleib konnte sich diese Eigenwelt erbauen. Jede Wirkung von außen erkämpft sich ihren eigenen Weg hinein in das Zentrum, schließ sich mit allen andern zusammen und wirkt wieder hinaus in die Welt. Und all die einzelnen Menschenhirne, wie ich nun so stolz eines in mir trage, ich, Wera Lentius, die wirken ebenso eins aufs andre, alles zusammen, die bilden die große unvertilgbare Einheit, ein Volk, die Menschheit. Nun sammeln wir da alle Kräfte der Natur zu unserm Werkzeug. Durch sie arbeiten wir, denn wir allein wissen, warum wir es tun. Was auf gut Glück gelang hier und da im Spiel der Elemente, das Gehirn weist ihm die Bahn, daß es das Nützliche leiste, das gewußte Ziel bewußt erreiche.
Ein Satz fällt mir ein aus dem Buche, das dort in meiner Mappe liegt. Ich brauche es nicht aufzuschlagen.
»Die Verwandlung des blinden Naturgeschehens in bewußtes Schaffen ist nichts anderes als die Kulturentwicklung selbst. Das Mittel, sich selbst zu verwirklichen, ist der Vernunft allein in der Natur gegeben.«
Ja, das ist's. Ich trat in die Menschheit hinein, nicht um die Natur zu verlieren, sondern sie herrlicher zu gewinnen auf der höheren Stufe, die man Vernunft nennt. Ein Sinnenwesen war ich und ich bleibe es, aber nun bin ich auch noch ein vernünftiges Wesen. Bis hinein in deine unendlichen Fernen, hoher Äther, der um die zahllosen Welten wirbelt, greife ich mit den Armen der Natur, um dich zu schließen an mein mutvolles Herz, dich zu durchdringen mit dem heißen Atem meines vernünftigen Willens. Mein bist du Mit dir leb' ich, von dir fordre ich mich selbst
Ziehet hin, ihr Wolkenschwestern, ich kann nicht mehr mit euch ziehen und regnen und blitzen, aber ihr zieht und regnet und blitzt für mich als die Werkzeuge meiner Arbeit. Eure Kräfte lenke ich, daß geschehe, was dem Werke der Vernunft dient. Ihr ehrwürdigen Häupter der Berge, schaut nicht zürnend herab auf eure entflohene Tochter Wir kränken euch nicht, wenn wir den siegenden Fuß auf eure Häupter, in das Geheimnis eurer Tiefen setzen. Wir gliedern euch dem großen Ziele des Planeten nur auf eine edlere Weise an, als ihr es vermögt in eurer erhabenen Ruhe. Rauschender Bach, spiegelnder See, geliebte Gewässer, spielet weiter im Wechseltanz von Luft und Sonne Ich arbeite in euch, ich lenke euer Spiel, ich hauche heilige Schöpfung des Gesetzes in euern wirren Reigen.
Ich trat auf die Brücke der Erkenntnis.
Was warntest du, Hoher, vor dem Leide des Schöpfers um sein Werk? Das Glück soll der verlieren, der auf die Brücke tritt?
Was war mein Glück im Spiel der Elemente?
Jetzt kenne ich das Glück. Das Glück ist der Stolz, ist das Wissen um die Macht. Ich wandle auf dieser festen Erde Schritt für Schritt, und dennoch liegt die Welt zu meinen Füßen, Bergeshäupter und Wolken und ewige Sterne Denn ich umfasse euch in meines Menschenhaupts gebietendem Gesetze. Ich habe mehr als ihr alle, mehr als ihr Geister der Natur.
Ich bin glücklich, denn ich bin ein Mensch
Ich ehre die Menschen
Ich war hochgesprungen. Ein unbeschreibliches Gefühl des Glückes und des Stolzes erfüllte mich. Ich wollte zu den Menschen, zu den andern Menschen, zu meinen Schwestern und Brüdern. So schritt ich rasch durch den Wald und weiter auf dem Wege.
Da stand ein Wegweiser. Was bedurfte ich seiner? Ich war noch Aspira genug, um mich zurechtzufinden. Aber ich konnte auch lesen. Das mußte ich doch gleich probieren.
Der Wegweiser hatte drei Arme. Auf dem einen stand: »Zum Weißbachfall und Gletscherblick.« Aus dieser Gegend kam ich. Der zweite zeigte die Inschrift: »Promenadenweg nach Hotel Leberecht.« Dort wohnte ich. Ich wollte in den Weg einbiegen, da fiel mein Blick auf den dritten Arm:
»Zum Langbergtunnel. Unbefugten verboten.«
Da stutzte ich. Warum? Doch es fiel mir gleich ein. Der Weg führte nach der Stelle, wo ich als Wolke die arbeitenden Menschen beobachtet hatte. Von dort dröhnten die Sprengschüsse, erklangen die Hammerschläge. Dort sollte man nicht hingehen, weil Steintrümmer herabrollten——
Und es fiel mir noch mehr ein. Es war bei der Mittagstafel im Hotel. An meinem Tische, an der Ecke mir schräg gegenüber, sitzt ein Herr mit dunklem Haar und Bart. Er sieht klug aus, sehr ernst, aber gutmütig. Er kommt immer erst, wenn wir schon beim zweiten Gange sind, und wenn das Dessert herumgeht, steht er schon wieder auf und verschwindet. Niemals richtet er das Wort an seine Nachbarn, schweigend sitzt er da und sagt höchstens höflich »bitte« oder »danke«, wenn eine Schüssel weitergereicht wird. Fräulein Bertilde von Okeley, die neben ihm sitzt, ärgert sich darüber. Den »Schwätzer« nennt sie ihn. Es ist der Ingenieur Martin, der die Tunnelarbeiten leitet. Die Gäste wissen wohl, wer er ist, aber niemand kennt ihn näher, denn er hat keine Zeit mit ihnen zu verkehren; er hat sehr viel zu tun und ist abends ermüdet, wenn sich die andern unterhalten. So oft ich gelegentlich zu ihm hinübersah, bemerkte ich, daß seine großen, etwas träumerischen Augen auf mir ruhten.
Neulich wollte ihn Fräulein von Okeley offenbar zum Reden bringen. Sie rief ganz laut zu mir über den Tisch herüber:
»Heute war ich ein ganzes Stück auf dem verbotenen Wege nach dem Tunnel zu. Dort sollten Sie einmal hingehen, Fräulein Lentius. Da ist es wunderschön. Schade, daß man nicht weiterkann. Ich möchte so gern einmal die Arbeiten sehen.«
Ich nickte ihr nur zu, denn ich rede nicht gern mit ihr. Man kommt so schwer wieder los.
Auf einmal aber zu aller Erstaunen erhob der Ingenieur seine Stimme und sagte mit Nachdruck:
»Verzeihen Sie, meine Damen und Herren, ich bitte Sie dringend, vermeiden Sie den Weg, jedenfalls hinter der Stelle an der Barriere, wo er aus dem Wald tritt. Oben im Steinbruch hinter der Schiefklippe wird gesprengt. Darüber liegt brüchiges Gestein und es kommen manchmal ganz unvermutet Felsblöcke nachgestürzt. Auch die Förderbahn ist nicht ohne Gefahr zu überschreiten.«
Dann schwieg er wieder hartnäckig, und als das Fräulein von Okeley ihn direkt fragte, ob er ihr nicht einmal den Tunnel zeigen wollte, sagte er höflich aber bestimmt:
»Bedaure, gnädiges Fräulein, aber es ist nicht möglich.«
Seltsam, wie mir das alles so einfiel Die Leute werde ich nun alle zu Gesicht bekommen. Ich wollte also nach dem Hotel gehen. Und nun, ich weiß nicht, auf einmal fühlte ich in mir einen merkwürdigen Widerspruch. Meine Wera-Erinnerung und meine Aspiraseele wollten nicht recht stimmen. Gerade diese Arbeiten am Tunnel wollte ich doch sehen, sie hatten mich ja vornehmlich zu dem Wunsche angetrieben, die Menschen und ihr Werk genauer kennen zu lernen. Und das gerade sollte ich als Wera nicht dürfen? Und ich bekam eine unwiderstehliche Lust, nun doch hinzugehen.
Hatte ich noch Zeit vor Tische? Aber, ich besaß ja eine Uhr. Ich zog sie hervor. Sie zeigte 9 Uhr 15 Minuten. O, das war noch viel Zeit, wenn ich auch mit meinen Werabeinen bis zum Tunnel noch eine gute halbe Stunde brauchte. Um 12 Uhr mußte ich zu Hause sein, denn ich mußte mich noch umziehen—Komisch, was man als Mensch für Rücksichten zu nehmen hat Als Mensch
Wie gleichgültig sind all die kleinen Mühen gegen das große, große Glück Ich hielt die Uhr noch in der Hand. Was ist das für ein Wunderwerk Ich führte sie ans Ohr und lauschte ihrem leisen Ticken. Ich drückte die Lippen auf das kleine, glatte, glänzende Ding—— Es war mit ein heiliges Symbol der Menschenmacht Ich konnte denken, an was ich wollte, ich konnte stehen und gehen und schaffen, ich konnte schlafen—das kleine Ding an meinem Gürtel arbeitete und wachte für mich, es zählte den unaufhaltsamen Schritt der unendlichen Zeit. Den gleichmäßigen Umschwung des Erdballs trug ich in der zierlichen Kapsel, das Maß des Weltalls gehörte mir—— Losgelöst von allem Schwanken wogender Wolkenseelen und flüchtiger Menschenneigung zeigte mir der kleine unbestechliche Richter das große, milde Antlitz des Gesetzes.
Ihr glücklichen Menschen Wohin ihr blickt, was ihr berührt, die Falte des Kleides, die haftende Nadel, hier der stützende Stock—spricht euch nicht jede Kleinigkeit zu jeder Minute von eurer Größe, von dem kunstvollen Werk der gemeinsamen Arbeit, das euch entlastet von der Anstrengung der eignen Hand, euch frei macht für immer neues Schaffen? Denkt ihr nicht daran? Und ich bin ein Mensch
In meiner Seligkeit hatte ich kaum gemerkt, wie der Weg unter meinen Füßen dahinflog. Ich hatte den Ausläufer des Langbergs überquert, der Schmalbrück vom Tal der Festina trennt. Plötzlich stand ich am Ausgang des Waldes.
Ja, es war schön. Dicht vor mir stürzte der Langberg steil ab zur Schlucht, zwischen den braunen und grauen Felsen schimmerte blühendes Gesträuch, unten donnerte die Festina schäumend zu Tale. Und gegenüber aus dem Walde des Berghangs trat eine hellgraue, gerade Linie und zog sich aufwärts am Rande der Schlucht, verschwand hinter einem Felsvorsprung und lief dann ebenso glatt quer über den tosenden Fluß, getragen von einem zierlichen Bogen, dessen Gitter in der Sonne glänzte wie von Elfenbein geschnitzt. Als gäbe es für sie kein Hindernis, so drang diese Linie durch Wald und Fels und freie Luft, und unter ihr in der Tiefe brauste machtlos die wilde Festina.
Ich hatte den hellen Streifen schon oft von oben erblickt, ich war unter der Brücke hinweggerast in den Wogen des schäumenden Flusses, aber erst hier von der Seite sah ich die gewaltige Größe und die schlanke Eleganz des wunderbaren Baus—und ich sah mit andern Augen—denn du warst ja jetzt auch mein Werk, du eisernes Menschheitsband—ich bin ein Mensch
Oder bin ich vielleicht noch mehr? Was hindert mich dieser Balkenverschlag und diese Warnungstafel? Links läuft der Weg an der trümmerbesäten Berghalde talaufwärts, schräg vor mir auf dem steilen Abfall des Langbergs grüßt mich die morsche Schiefklippe. Dort, wo die Brücke an der diesseitigen Bergwand endet, sah ich Menschen beschäftigt. Hammerschläge, Maschinenklappern hallten herüber. Dort ist der Eingang zum Tunnel. Schmal nur ist der Pfad. Ich eilte ihn aufwärts. Ich hörte nicht auf den Warnruf meiner Weraseele. Ich war doch wohl mehr als ein Mensch, denn ich fühlte keine Schwere. Es war, als ob Aspira mich auf Wolkenschwingen trüge und meinen Schritt beflügelte.
Da ein schmales Schienenband, steil vom Berge kommend, quer über den Weg. Wieder eine Warnungstafel. Was tut's? Hinüber Ich schritt vor. Da sah ich, wie sich unmittelbar vor meinen Füßen zwischen den Schienen ein Draht vom Boden hob, und zugleich donnerte und rasselte es vom Berge, ein kleiner, schwer mit Steinen beladener Wagen kam herabgeschossen—ich springe noch über den Draht und will vorwärts eilen, aber das Kleid hat sich irgendwo verfangen—ich sinke ins Knie—ein Menschenschrei hallt von drüben—und sehe den Wagen unmittelbar vor mir—unvergeßlich prägt sich der Moment mir ein—ein großer, breiter Felsblock vorn auf dem Wagen, der mich zermalmen mußte—aber dieser Felsblock ——
Es mußte wohl alles in mir, was Wera war, in diesem Augenblick bewußtlos sein vor Schreck, aber ich war ganz Aspira—— Dieser Felsblock grinste vergnüglich und blies mich an wie ein Sturmwind; der riß mein Kleid los und warf mich vorwärts über die Schiene hinaus—hinter mir polterte der Wagen vorüber, es klang mir wie ein Lachen aus dem Rasseln und Knattern: »Das war ich, das war ich Dein Freund vom Langberg Gib acht, Aspira Das war ich, das war ich«
Und im Augenblick darauf hatte ich mich emporgerafft. Ich war wieder Wera und mußte mich erst besinnen, was geschehen war. Ich hatte mir keinen Schaden getan, nur ein Stück vom Saum des Gewandes war abgerissen. Der Hut lag neben mir auf dem Wege. Ich hob ihn auf.
Vom Tunnel her auf dem steinigen Pfade kam in großen Sprüngen ein Mann angerannt —unbekümmert um seine gesunden Glieder schwang er sich bergabwärts—er trug einen staubigen Arbeitskittel und einen unbeschreiblich verbogenen Strohhut—und noch ehe er mich erreicht hatte, rief er atemlos:
»Um Gotteswillen, Fräulein Lentius, sind Sie verletzt?«
»Nein, nein, ich danke, es ist gar nichts.«
Nun stand er vor mir und hatte den Hut abgenommen. Ich sah, wie er tief atmete und das bleiche Gesicht sich rötete. Jetzt erst erkannte ich in ihm den Ingenieur Martin.
»Gott sei Dank« sagte er. »Ich sah, wie Sie hängen blieben. Es ist mir fast unbegreiflich, daß Sie sich noch losreißen konnten—— Gott sei Dank,« sagte er noch einmal leise.
Nun fühlte ich mich beschämt. »Ich war sehr unvorsichtig,« sprach ich. »Es tut mir furchtbar leid, wenn ich Sie erschreckte.«
Er hatte sich gebückt und untersuchte das Gleis. Ich sah, daß er ein Stück Stoff ablöste, aber ich weiß nicht, wo es hinkam. Dann drehte er sich wieder nach mir um und begann:
»Sie sind zum Glück nicht an dem Draht hängen geblieben, sondern nur an der zweiten Schiene. Das Kleid hatte sich in dem Stoß festgeklemmt. Immerhin, es ist mir unbegreiflich, woher Sie die Kraft nehmen konnten, sich noch weit genug zur Seite zu werfen—die Wagen laden breit über die Schiene hinaus —Sie hätten mindestens gestreift werden müssen.«
Ich war wieder ganz ruhig und mußte jetzt lächeln. »Sie nehmen's mir hoffentlich nicht übel, daß ich noch hinüberkam?«
»O, gnädiges Fräulein,—ich war nur so sehr erschrocken, als ich Sie stürzen sah—man muß doch versuchen, sich klar zu machen—«
Er sah ganz rührend au, als müßte er sich entschuldigen. Ich gab ihm die Hand und sagte:
»Ich muß wirklich um Entschuldigung bitten. Sie haben uns noch neulich Mittag gewarnt, und ich habe mich eigentlich straffällig gemacht —«
»O, ich bitte, ich bin ja nur froh, daß—«
Er schwieg verlegen. Da sagte ich:
»Und wissen Sie, ich bin gar nicht durch eigne Kraft losgekommen. Wenn nicht der Langberg —« Fast hätte ich mich verplaudert, aber ich hielt noch inne.
»Wie meinten Sie?«
»Ich glaube—ich denke, es war der Luftdruck —« wie war ich froh, daß mir das einfiel—»der Luftdruck vor dem Wagen hat mich noch rechtzeitig zur Seite geschleudert.«
Ich sah seinem Gesicht an, daß er dieser Erklärung nicht beistimmte. Da er aber nichts sagte, so sprach ich weiter:
»Da ich nun doch einmal so leichtsinnig bis in Ihr Gebiet vorgedrungen bin, wollen Sie da nicht die Güte haben, mich nun auch bis an das Ziel zu lassen und mir die Arbeiten im Tunnel zu zeigen?«
Er schwieg wieder eine Weile. Es tat mir eigentlich leid, daß ich etwa verlangte, was er offenbar nicht gern tun wollte. Aber ich war hartnäckig und schwieg auch. Endlich begann er:
»In den Tunnel können wir jetzt wirklich nicht hineingelangen. Die erste Attacke ist noch nicht beendet, wir sind noch beim Schottern—d. h. beim Herausschaffen des gesprengten Gesteins—so lange ist es für Sie nicht möglich in den Tunnel zu gehen, die Förderwagen versperren den Weg. Vor Mittag werden wir mit dem Ausräumen nicht fertig.«
»Ich hätte so gern einmal die Bohrmaschinen gesehen und die ganze Einrichtung.«
»Nun,« sprach er zögernd, »bis zum Eingang könnte ich Sie schon führen. Da könnten Sie immerhin allerlei sehen, obwohl—eigentlich —«
Er machte eine Pause. Auf einmal sah er mich mit einem leuchtenden Blicke an und sagte treuherzig:
»Ich bring's halt nicht übers Herz, daß ich Ihnen schon wieder Adieu sagen soll. Aber werden Sie nicht zu müde sein?«
»Müde?« Ich lachte. »Das kenne ich nicht.«
»Aber der Sturz, der Schreck?«
»Kommen Sie nur« rief ich übermütig und sprang den Weg hinauf, den er herabgekommen war. Zum Glück fiel mir gleich ein, daß ich ein gelehrtes Menschenfräulein bin. Ich blieb stehen und drehte mich um, war aber doch ein wenig erschrocken, als ich sah, wieder hoch ich schon über ihm stand.
Er hatte inzwischen meinen Bergstock herbeigeholt und kam mir schnell nach. Ganz ernsthaft schüttelte er den Kopf und sagte:
»Sie sollten nicht so eilen. Hier ist der Stock. Geben Sie mir Ihre Mappe.«
Ich wollte nicht. Den Stock brauchte ich nicht und mit der Mappe wollte ich ihn nicht belasten. Aber ich weiß nicht—er nahm mir die Mappe aus der Hand, gab mir den Stock und schritt rüstig neben mir her, und ich — sagte gar nichts. Es versteht sich alles von selbst, dachte ich wieder— oder dachte ich gar nichts?
So gingen wir schweigend weiter. Immer lauter dröhnten die Hammerschläge am Brückenkopf und das Klopfen auf den Steinen, daneben ein tiefes Summen— —Der Weg wurde breit und zertreten. Wir schritten über Schienengeleise, zwischen Bauhütten und Schuppen hindurch, an Arbeitern vorbei, die mich verwundert ansahen—vor uns lag die Tunnelöffnung.
Plötzlich blieb der Ingenieur stehen und fragte mich:
»Kennen Sie die Körnbachschlucht?«
»Freilich,« rief ich. »Sie haben ja die ganze Schlucht abgedämmt, es ist ein See entstanden, und das Wasser kann nur noch durch den Spalt im Körnstein, wenn es nicht durch Ihr finstres Abflußrohr —«
»Sie kennen die Gegend so genau? Sie waren wohl schon häufig hier? Aber ich glaubte nicht, daß Touristen je bis an den Körnstein kämen. Von einem Spalt weiß ich übrigens nichts.«
»Er ist ja auch —« ich wollte sagen, »unterirdisch«. Doch zum Glück besann ich mich. Ich hatte mich schon wieder verplaudert. Was sollte ich über meine Lokalkenntnis sagen? Wera war ja erst seit zwei Wochen hier und noch nie am Körnstein gewesen.
»Ich hörte nur davon reden,« behauptete ich kühn. »Bitte, erklären Sie mir—«
»Am Körnstein ist unser Sammelbassin für die Druckleitung. Sehen Sie, durch dieses 110 Zentimeter starke Rohr strömt das Wasser aus dem Körnbach zu uns herab. Und hier«— er öffnete die Tür zu einem Hause—»sehen Sie die Turbinen, die dadurch getrieben werden. Diese hier erzeugt die Preßluft, die durch jene Röhrenleitung gedrückt wird. Durch die Preßluft treiben wir unsre Bohrmaschinen und lüften zugleich den Tunnel. Die Turbine im Nebenraum —hier können Sie ruhige herantreten—ist mit einer Drehstrommaschine gekuppelt und erleuchtet uns den Tunnel.«
Der Ingenieur führte mich von einer Einrichtung zur andern, durch mehrere Arbeitsschuppen hindurch, und knüpfte überall seine Erklärungen an. Und je länger er sprach, um so sicherer klang seine Rede. Ich kannte den schweigsamen Mann kaum wieder. Er lebte förmlich mit seinen Röhren und Turbinen, Hebewerken und Bohrmaschinen—nein, das alles lebte in ihm, das waren ihm Kinder und Kameraden, die bei der Arbeit halfen. Wenn mir etwas besonders gefiel, freute er sich wie ein Vater, dem der Junge ein gutes Zeugnis nach Hause bringt. Wie froh war ich wieder, daß Wera ihre Zeit auf der Hochschule so gut benutzt hatte. Ich entdeckte in mir so treffliche Kenntnisse in technischen Dingen, daß ich alles ohne Schwierigkeit verstand. Wenn ich ihn etwas fragte, oder wenn er ich etwas fragte—ich glaube, er wollte manchmal sondieren, ob ich auch seinen Worten folge—dann sah er mich ganz glücklich an, daß ich nichts Dümmeres sagte. Als ich mich nach den Sprengpatronen erkundigte, da imponierte ich ihm sichtlich. Da war ich ganz in meinem chemischen Fache und verstand mehr davon als er selbst. Ich sah ihm sein Erstaunen an, aber er war zu bescheiden, mich auszufragen.
»Wissen Sie,« sagte er dann, »wenn die Sprengschüsse krachen, das ist eigentlich mein schönster Moment.«
»Nun, ästhetisch ist es gerade nicht,« bemerkte ich.
»Nein, aber ich möchte sagen—ethisch. Das wird Ihnen sonderbar vorkommen. Sehen Sie, was wir hier tun, ist doch im Grunde eine Art Kriegführung gegen diese ehrwürdige Ruhe des Gebirges, und wenn man einmal Krieg führen muß, soll es auch ehrlich sein, mit eignen Waffen, nicht mit solchen, die wir dem Feinde heimlich gestohlen haben. Und diese chemische Energie des Sprengschusses, das ist außer dem bißchen Handarbeit die einzige Wirkung, die wir aus eignen Mitteln in den Berg hineinbringen. Die Sprenggelatine haben wir hergestellt, die haben wir nicht aus diesem Gebirge. Aber alle andre Energie haben wir ja aus dem Berge selbst entwendet. Sehen Sie, diese Turbinen liefern uns sechzehnhundert Pferdestärken zum Bohren und Transportieren. Wer gibt sie uns? Der Körnbach. Und wer gibt uns den Körnbach? Der Berg. Ohne ihn hätten wir kein Gefälle. Und so zwingen wir eigentlich den Berg, sich selbst zu durchbohren. Ist das nicht Verrat?«
»O nein« rief ich sehr lebhaft. »Das erscheint mir ganz anders. Wie kommt denn das Wasser auf den Berg? Durch die Wolke. Und wer hebt die Wolke hinauf? Die Sonne. Das Bild vom Kampfe mit den Elementen mag ich nicht hören. Die Elemente mögen freilich den Menschen als Feind betrachten, aber sie sollten es nicht. Und der Mensch darf nun schon gar nicht so denken. Nenne Sie diesen Kampf lieber eine Erziehung, eine Leitung der Natur durch den Menschen. Der Berg und das Wasser und die Wolken wissen nicht, was sie können, der Mensch weiß es, und so zwingt er sie, seinen Willen auszuführen. Er steht über diesem scheinbaren Kampfe, er vertritt die hohe Macht, um derentwillen Berg und Bach und Sonne da sind und dort dieser Zellenbau des Menschenleibes und die Vielheit der Individuen. Daß Sie den Berg durchbohren, ist doch nicht Zweck; das ist doch auch nur ein Mittel zu einem höheren Ziele, damit die Verbindung geschaffen werde von Volk zu Volk, von Geist zu Geist; damit das werde, was wir Kultur nennen und Freiheit. Der Berg weiß davon nichts. Aber er soll es lernen. Er muß es lernen—ich will—ich meine— wenn er es wüßte, würde er sich nicht beklagen. Er hätte kein Recht dazu. Wir leihen ihm nur eine neue Fähigkeit, eine neue Macht, sowie die ganze, große, unendliche Natur auch jedem kleinen Menschlein ihre Macht leiht—« Ich brach plötzlich ab. Ich hatte mich so in Eifer geredet, — es war doch die Frage, die meine ganze Existenz erfüllte. Aber was sollte er denken? Er stand da und sah mich mit großen Augen verwundert an, als fände er keine Worte. Ich wollte von dem Thema abkommen. So fragte ich ganz unvermittelt, ob der Tunnel nicht auch von der andern Seite in Angriff genommen sei.
Martin schwieg noch immer. Dann sprach er etwas von Terrainschwierigkeiten, gleichmäßiger Steigung und Wasserabfluß, und sagte schließlich, das könne er mir eigentlich nur an den Zeichnungen deutlich machen. Ob ich nicht einen Augenblick in sein Bureau eintreten wolle. Dort könne er mir die Pläne vorlegen.
Ich stand in dem hellen Zimmer eines schmucklosen Bretterverschlages, auf einem großen Tische waren Pläne ausgebreitet —— Noch vor wenigen Tagen konnte ich nicht verstehen, wie es möglich sei im voraus zu bestimmen, daßetwas gerade so und nicht anders geschehen werde, und heute lagen alle diese Entwürfe vor mir—und nun begriff ich ganz deutlich, warum dieser Mann sagen konnte: »Sehen Sie, hier kommen wir heraus.«
Ich beugte mich einige Zeit über ein Blatt, und als ich mich aufrichtete, bemerkte ich, daß der Ingenieur verschwunden war. Aber schon trat er wieder herein—jetzt in seinem Straßenrock—und fuhr fort, als wenn er sich gar nicht unterbrochen hätte:
»Im Herbst, denke ich, schlagen wir durch. Das Gestein ist günstig und wir können schnell vorstoßen. Vorausgesetzt freilich, daß eine Befürchtung nicht eintrifft —« Er brach ab.
»Was ist das für eine Befürchtung?«
»Ich sollte darüber vielleicht nicht sprechen. Es ist möglich, daß wir Erfahrungen machen, die uns noch zu einer Änderung der Tunnelachse am andern Ende zwingen. Deshalb haben wir dort erst Vorarbeiten. Doch etwas Bestimmtes läßt sich noch nicht sagen. Die Herren Geologen beruhigen uns ja. Dennoch bin ich manchmal in Zweifel—aber ich langweile Sie —«
»Nein, wirklich nicht Im Gegenteil, ich bitte Sie recht sehr —«
Er suchten einen großen bunten Bogen hervor.
»Sehen Sie,« sagte er, »das ist ein geologisches Profil. Soweit Sie hier die Farben durchgeführt sehen, beruhen die Angaben auf den Ergebnissen der Bohrungen und sind sicher. Aber dort bemerken Sie einige Stellen, wo wir nur auf Vermutungen angewiesen sind. In diesen verzwickten Bergen kommen nämlich manchmal Verwerfungen vor, auf die kein Mensch gefaßt sein kann. So ein Berg hat sich bei irgend einem Jugendübermut eine innere Quetschung zugezogen und alles ist durcheinandergedrückt.«
Ich lachte. »Sie müssen doch den Bergen auch ihr Vergnügen gönnen,« sagte ich. »Glauben Sie mir, das tut den harten Gesellen nicht weh, das ist ihnen eine angenehme Abwechslung, so als wenn Sie zwischen Ihren Berechnungen ein heiteres Märchen lesen.«
»Oder es erzählt bekommen,« antwortete er lustig. »Das freut mich sehr, daß die Verwerfungen den Bergen keine Schmerzen machen. Dann werden sie hoffentlich auch das Anbohren nicht übel nehmen und keine unangenehmen Überraschungen bereiten.«
Darüber dachten die Berge freilich anders. Ich unterdrückte aber natürlich meine Meinung.
»Ja,« fuhr er fort, »wenn ich ein Berg wäre, würde ich mir aus einer alten Schramme im Innern wohl auch nichts machen. Der Mensch darf es ja auch nicht. Aber—wenn ich nun durch einen solchen Berg hindurch soll und an eine Bruchstelle komme, und statt des festen Gesteins preßt mir der Berg einen Brei von Schlamm und heißem Wasser entgegen und ersäuft mir meine Maschinen— dagegen hilft mir keine Charakterstärke. Wie Sie hier sehen, besitzt dieser Teil des Langbergs, unter dem wir in unserm letzten Tunneldrittel hindurch müssen, die Marotte, mitten zwischen seinen Gneislagern ein Kalkgeschiebe eingepreßt zu haben. Es tritt oben zutage, wo es die bizarren Felsgruppen bildet, die man die Gamssteine nennt. Sie kennen Sie? Die Bohrungen zeigen zwar, daß die Mächtigkeit der Schicht nach der Tiefe schnell abnimmt, und so hoffen wir, daß sie nicht bis in unser Niveau herabreicht. Aber wir können nicht dahinter kommen, ob sie nicht noch allerlei Verwerfungen hat, die von unten her uns stören könnten. Schneiden wir eine solche an, so müßten wir bei dem hier herrschenden Druck darauf gefaßt sein, daß die Schicht zermalmt und mit heißem Wasser durchtränkt ist, und dann—dann kann uns der Spaß des Herrn Langberg im besten Falle ein Jahr Arbeit und ein paar Millionen mehr kosten.«
»O, nein, nein« rief ich. »Das darf nicht sein, das darf der Langberg nicht.«
Verlegen brach ich ab. Ich kannte ja das Kalkband. Wenn wir oben auf dem Langberg regneten, dann huschten wir immer durch die Spalten bei den Gamssteinen hinab und kamen unten an einer Stelle des Silbertobels wieder heraus. Und dabei hatten wir die schönsten Kanäle und Grotten ausgewaschen. Tiefer hinab hatte ich mich freilich nur einmal gelegentlich hinverirrt, da war allerdings ein grauenhafter heißer Brei von zerquetschtem Gestein. Aber ob sich dieser Teil überhaupt nach der Seite des Tunnels und wie tief er sich ins Innre des Berges hinzog, das wußte ich nicht. Ich wußte nur, wo man sich in der zerklüfteten Kalkschicht wieder ans Tageslicht hinauspressen konnte— die Stelle kannte ich—da würde ich ja jetzt wohl feststellen können, ob sie über oder unter dem Tunnelniveau läge. Ich wußte noch nicht, was zu tun sei, aber der nette Ingenieur sollte keine Not haben, wenn ich ihm helfen konnte—das nahm ich mir vor.
Während ich mir das überlegte, hatte ich gar nicht daran gedacht, wo ich saß. Ich war erst lebhaft erschrocken und dann auf einmal wieder sehr froh geworden in dem Gedanken, den Menschen vielleicht nützen zu können. Aber freilich, sagen durfte ich ja nichts. Und nun sprang ich plötzlich auf und rief ganz vergnügt:
»O, bitte, bitte, schreiben Sie mir doch einmal genau die Höhenlage des Tunnels auf.«
Ich war mit meinen Gedanken so ganz im Berg-Innern gewesen, daß ich den Ingenieur gar nicht beachtet hatte. Jetzt war ich erstaunt, daß er ein Glas mit Wasser gefüllt hatte und zu mir sagte:
»Ich freue mich, daß Sie wieder vergnügt sind. Sie waren plötzlich ganz bleich geworden, ich fürchtete, Sie hätten sich vorhin doch Schaden getan. Aber jetzt haben Sie wieder Farbe —«
Ich fühlte, wie mir das Blut ins Gesicht stieg.
»Nein, nein,« rief ich, »ich bin ganz wohl—ich war nur wirklich erschrocken bei dem Gedanken, daß Sie—daß der schöne Tunnel in den Schlamm geraten könnte. Doch es wird ja nicht sein, und da bin ich wieder froh. Aber das brauchte man mir nicht gleich anzusehen.«
»O nicht doch,« fiel er lebhaft ein. »Beklagen Sie das doch nicht. Wir Geschäftsleute müssen ja leider so oft unsre Mienen in acht nehmen, aber Sie——das ist gerade so schön, Sie sind das Leben selbst, Sie sind wie die Natur, die sich nicht verstecken kann, wie die Wolken um das Blankhorn, die in jedem Augenblick den Zauber der Beleuchtung wechseln, und das macht so froh—— ja—doch—verzeihen Sie— Sie wollten die Höhenzahlen für den Tunnel—darf ich fragen, warum?«
»Würden Sie es nicht ohne Frage tun, Herr Martin?«
Er antwortete nicht, sondern kramte in den Papieren. Er legte einen großen Bogen Pauspapier über das Tunnelprofil, skizzierte mit schnellen Strichen die Hauptlinien und schrieb ein paar Zahlen daran.
Ich stand etwas verlegen dabei und schielte nach dem Glase Wasser. Ich wußte, daß ich Durst hatte; gar zu gern hätte ich getrunken. Aber das hatte ich noch nie wirklich probiert. Wenn ich es nun ungeschickt machte? Zu dumm, daß man sich genieren kann Und doch paßte ich den Moment ab, wo er nur auf die Zeichnung sah, da griff ich schnell nach dem Glase und trank es aus wie ein richtiges Menschenfräulein—das hätte ich mir denken können, und doch freute mich's so, daß ich leise lachte.
Er war gerade fertig und blickte auf. Eigentlich mußte er mich doch für sehr dumm halten. Aber als er mit den Bogen überreichte, sah er gerade so vergnügt aus wie ich.
»Ich danken Ihnen herzlich,« sagte ich erfreut. »Ganz besonders für Ihr Vertrauen, das freut mich so. Aber wo soll ich nun mit dem großen Bogen hin?«
»Den legen wir in die Mappe. Ich darf doch?«
Und schon hatte er die Mappe geöffnet. Das hatte ich ja selbst noch gar nicht getan, und wie das aussah, was darin war, darüber hatte ich auch nur meine Wera-Erinnerung.
Er schlug die Mappe ganz auf, um das Blatt sorgfältig hineinzulegen, und dabei kam eine fast fertige Zeichnung zum Vorschein—ich erkannte gleich das Blankhorn über dem Gletscher, mit einem Wolkenstreifen, den ich auch kannte, denn—das war meine Lieblingsstellung—— Er fragte gar nicht, ob er das Blatt ansehen durfte, er betrachtete es einfach, lange, genau—Ich wagte gar nichts zu sagen.
»Sind Sie Malerin?« fragte er dann kurz.
»Nein, ich habe Chemie studiert.«
»Als Fach?«
»Ja, ich arbeite im Laboratorium von Rötelein.«
»O, da müssen Sie sehr glücklich sein.«
»Warum?«
»Daß Sie so etwas machen können. Einfach mit dem Stift. Es ist eine große Stimmung darin.«
»Und wenn ich Malerin wäre?«
»Dann hätte ich Ihnen noch Einiges gesagt.«
»Was denn?«
»Wenn ich nun auch bäte, nicht zu fragen?«
»Aber gefällt Ihnen das Blatt? Würden Sie es annehmen, wenn ich mir erlaubte, es Ihnen als Gegengabe anzubieten?«
»Sie könnten mir keine größere Freude machen.«
»Gern Ich bin Ihnen sehr zu Dank verpflichtet.«
»Ich bitte, ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll. Nun vollenden Sie Ihre Güte, schreiben Sie Ihren Namen hierher.«
Er reichte mir einen Bleistift. Meinen Namen schreiben Welche Idee Ich hatte noch nie geschrieben. Ich nahm den Stift, hielt ihn richtig und machte schnell einmal die Bewegung meines Namenzuges mit den Fingern. Dann brachte ich die Spitze auf das Papier, noch einmal dieselbe Bewegung, und da stand es: Wera Lentius.
Als ich den Bleistift hinlegte, ergriff er meine Hand und küßte sie. Und dann noch einmal. Aber anders, lange. Ich schauerte zusammen. Es war mir nicht angenehm. Und—ich weiß nicht—es hatte etwas Lächerliches für mich. Ich trat zurück.
Er sah mich erschrocken an. Ich wollte ihn nicht kränken. Er meinte es gewiß sehr gut, nach Menschenart. Und ich dachte einen Augenblick, ich müßte doch eigentlich auch das probieren, wie es weitergeht. Aber er packte jetzt seine Pläne zusammen und ich meine Mappe. Wir sprachen nichts. Dann überwand ich mich und trat auf ihn zu. Ich gab ihm die Hand und sagte etwas von gehen müssen und Dank. Er hielt sie lange fest und antwortete dann:
»Sie müssen mir erlauben, Sie bis an die Seilbahn zu begleiten. Ich fühle mich verantwortlich.«
So gingen wir hinaus. Er trug wieder die Mappe. Am Turbinenhaus kamen wir dicht an der großen Druckleitung vorbei. Ich klopfte mit der Hand auf das Rohr und murmelte: »Wackerer Körnbach.« Dann ging es schnell bergab.
An der Seilbahn hielt er mich zurück.
»Wir müssen ein paar Minuten warten,« sagte er. »Sehen Sie dort oben die Fahne? Das ist das Zeichen, daß sofort ein Wagen abgelassen werden wird. Und wenn er vorüber ist, dann muß und zurück.«
Wir setzten uns an den Rand des Weges. Ich hielt es nicht aus, daß wir so stumm waren, daß wir scheiden sollten wie in einer Verstimmung. Er gefiel mir doch so gut, und ich war so glücklich. Ich sah ihn freundlich an und sagte:
»Sie meinten vorhin, ich müßte recht glücklich sein. Ja, ich bin's auch. Nicht wegen des bißchen Talent. Das freut mich höchstens, wenn's andre freut. Ich bin glücklich, weil ich ein Mensch bin, der sich als Herr der Natur weiß und doch mit ihr lebt, wir ihr getreues Kind. Und darum bin ich Ihnen auch so dankbar für diese Stunde. Denn ich hab' es wohlgemerkt, Sie denken auch so. Lassen Sie die Elemente feindlich sein—Sie lieben Sie doch — nicht wahr? Nicht bloß Ihre Maschinen sind Ihnen ans Herz gewachsen, auch der alte Langberg und der Körnbach; und jedes Stückchen Schotter, das Sie die Halde hinunterstürzen, ist Ihnen ein Stück von dem großen Werke, an dem Sie arbeiten, und Sie lieben es, weil Sie's von einem Ort zum andern schaffen können. Und so müssen Sie doch ebenso glücklich sein? Das würde mich so freuen.«
Ich reichte ihm meine Hand hinüber, und er hielt sie fest. Er blickte still vor sich hin.
»Ja,« sprach er leise, »Sie sind glücklich, denn Sie sind beglückend. Aber ich —«
»Sie sollten es nicht sein? Ich das nicht Glück, was Sie in Ihrer Arbeit um sich verbreiten? Wie Sie Ihre Mitarbeiter führen und fördern? Wie Sie für andre schaffen und sorgen? Wie Sie heute selbst diese unvorsichtige Touristin gütig aufnahmen? Und Ihr Werk, wie es gelingt? Glück ist doch die Macht, wirken zu können, was man wirken will. Und das können Sie.«
Er lächelte schmerzlich. »Das könnte ich? O mein liebes, verehrtes Fräulein Gewiß ist das Glück, was Sie da nennen. Aber es ist nur die eine Seite. Sie sind glücklich, weil Sie die andere noch nicht kennen. Das höchste Glück des Menschen nannten Sie nicht—es ist——«
Sagte er nichts weiter oder verstand ich es nur nicht? Rasselnd erhob sich der Draht zwischen den Gleisen. Von oben kam es dröhnend herab, vorüber donnerte der Wagen. Wir blickten ihm beide nach.
Mit einem freundlichen Druck löste ich meine Hand und stand auf.
Allmählich verhallte der Lärm der Bahn. Ich überschritt die Schienen. Er folgte mir hinüber und blieb noch einmal stehen.
Was kannte ich nicht? Was lag da noch im Grunde des Menschenherzens? Meinte er es, wie der Hohe warnte? Das Leid des Schöpfers um sein Werk? Ich mußte es wissen.
»Ich habe vorhin nicht verstanden,« sagte ich. »Was meinten Sie mit dem höchsten Glück?«
Er schüttelte den Kopf. »Es gibt kein reines Glück für den Menschen. Aber das ist auch nicht einmal nötig, nicht nötig zur Zufriedenheit. Doch den Menschen bindet nicht bloß die Natur, ihn bindet vor allem der andre Mensch. Und das höchste Glück—das wissen Sie doch—das ist zugleich das größte Leid—dieweil sich Liebe doch von Leid nicht trennen läßt noch scheiden —«
Er sagte das so traurig. Aber ich konnte mir nicht helfen, ich mußte lachen.
»Wenn es nur das ist,« rief ich, »dann machen wir uns keine Sorgen. Was mit Leid verknüpft ist, kann unmöglich das größte Glück sein. Darum also braucht man sich nicht zu kümmern. Ich fürchtete ganz etwas anderes. Nochmals herzlichen Dank Wir sehen uns doch heute noch im Hotel?«
Er nickte nur mit dem Kopfe. Ich war schon einige Schritte fort, da rief er erst: »Leben Sie wohl«
»Adieu, adieu« rief ich zurück. Ich flog den Berg hinab. An der Barriere erst hielt ich still. Ich drehte mich zurück und wehte mit dem Tuche. Er stand noch immer an derselben Stelle und sah mir nach. Jetzt lüftete er den Hut. Und dann war ich hinter der Barriere und zwischen den Bäumen.
Es war Zeit, daß ich nach der Pension kam. Wie schnell verschwand der Weg unter mir Ich war selig, mehr noch als auf dem Hinweg. Ich jubelte: Ein Mensch Ein Mensch
Ich hatte gefürchtet, er würde mir ein furchtbares Geheimnis enthüllen von der Warnung des Hohen, vom Leide des Schöpfers um sein Werk. Aber davon sprach er nicht, das mußte also doch so schlimm nicht sein für den Menschen. Und so war meine letzte Angst gehoben. Ich war ein Mensch, ich kannte die Welt, und dieser liebe Mensch, den ich gefunden hatte, war gut zu mir.
Die Liebe? Mochte sie Glück oder Leid sein, was ging es mich an? Die suchte ich nicht bei den Menschen. Die brauchte ich nicht. Davon wollten auch die Wolken nichts erfahren.
Ich aber habe jetzt, was sie wollen: Erkenntnis
Da war der Wegweiser. Glückauf Zu den Menschen
Und da waren die Menschen auch schon. Sie gingen auf den Promenaden, sie saßen auf den Bänken. Unangenehm ist das Geschrei und Gequiek der Kinder, das sie bei ihren Spielen verführen. Ich eilte vorwärts. Meine Toilette war doch etwas mitgenommen, und manche von den Menschen kannte ich, einige grüßten mich, die Herren sehr höflich. Keiner sah so nett aus wie mein Ingenieur.
Zu seltsam, daß es zwei Arten von Menschen gibt, Mann und Weib. Ich weiß es natürlich, theoretisch, aber wie ich sie nun vor mir sah, verwunderte es ich doch. Und ich bin ein Weib? Warum? Wäre es nicht besser gewesen, ich wäre in eines Mannes Körper gefahren? Ist es nur Zufall gewesen? Doch ich habe es gut getroffen; es ist mir sehr klar, was es für mich bedeutet, daß ich Wera Lentius bin. Ich habe alles, was Menschen zum Glücke brauchen, ich bin gesund und jung—ach, so furchtbar jung Fünfundzwanzig Jahre Was ist das gegen mein ehrwürdiges Wolkenalter, das ich gar nicht kenne Jedenfalls lebte Aspira schon, ehe es noch Menschen gab. Und gelernt habe ich so viel, und dumm bin ich auch nicht. Das darf ich sagen, denn es ist ja nicht mein Verdienst, sondern das der schönen Wera. Wäre es irgend ein verirrter Ziegenhirt oder Holzhauer gewesen, in den ich gefahren wäre, so wäre ich jetzt der Peter oder der Hans. Und was würde ich dann von den Menschen und der Wissenschaft für einen Begriff bekommen? Höchstens der Ingenieur, der wäre ich vielleicht noch lieber—aber ich bin's nun nicht.
Es ist wunderbar, daß man überhaupt ein »Dieser gerade«, ein besonderes Ich ist. Wie steht es denn nun mit meinem Aspira-Ich? Habe ich der armen Wera ihr Ich gestohlen? Nein, das ist gewiß nicht richtig. Sie lebt ja weiter, sie ist es selbst, die hier ihre Aufzeichnungen macht. Ich muß mich nur erst ganz daran gewöhnen, daß ich Wera bin, vielmehr, daß es Wera ist, die mich aufgenommen hat. Es ist nur etwas zu Wera hinzugekommen. Ein Stück Aspira ist jetzt in ihr. Sie weiß nicht, daß es Wolkenseelen gibt und ein Reich der Höhe, eine Welt des sonnigen Spiels, wovon sich das kurzlebige Menschengeschlecht nichts träumen läßt, und daß eine Wolkenseele sich sehnt, das Menschengemüt ganz zu verstehen, und glücklich und stolz ist, nun Menschenleib und -geist zu besitzen.
Ja, ich bin Wera, und kam gerade so regelmäßig zur Mittagszeit nach Hause, wie Wera es immer tat. Ich ging sofort auf mein Zimmer und kleidete mich um. Das geschah ohne weiteres Nachdenken, ich wußte überall Bescheid. Nun konnte ich's nicht verhindern, daß mich manchmal ein komisches Staunen ankam, einen so eingekapselten Gliederleib zu besitzen. Ich weiß ja, daß ich ohne ihn nicht der denkende Herr der Natur sein könnte, aber einige Unbequemlichkeiten bringt er doch mit sich, zum Beispiel das Waschen.
Ich war kaum mit meiner Toilette fertig, als die Tischglocke ertönte. Nun sollte ich zum ersten Male das Essen aus Erfahrung kennen lernen, denn bisher kannte ich's nur aus der Erinnerung. So muß es den Menschen mit dem gehen, was sie nur in Büchern gelesen und noch nicht selbst erlebt haben. Ich freute mich auf das Essen, denn ich spürte den Hunger jetzt als wirkliche Wahrnehmung. So beeilte ich mich, in den Speisesaal zu gehen.
Da ich sehr pünktlich kam, war ich die erste an unserm Tische. Die Wirtin, Frau Leberecht, trat an mich heran und begrüßte mich sehr freundlich. Ob ich denn nicht müde wäre? Ich wäre doch so früh, schon vor Sonnenaufgang, weggegangen, als alle andern noch schliefen. Ob ich denn auch richtig Frühstück bekommen hätte? Ich sähe ja wunderbar frisch aus Und dann — ich möchte entschuldigen, es wären Herrschaften abgereist und neue angekommen, da hätte sie mein Gedeck um zwei Plätze hinaufrücken müssen.
Ich warf schnell einen Blick auf die Schildchen an den Servietten der Nachbarn und sah, daß ich jetzt Bertilde von Okeley gerade gegenüber gekommen war, links saß der Alpinist und rechts —der Ingenieur. Das freute mich. Jetzt kam auch eilig der Alpinist und begrüßte mich mit vielen Worten und Verbeugungen. Eigentlich heißt er Habendorf und ist von Beruf Arzt, speziell Zahnarzt. Im Sommer praktiziert er hier, d. h. nur bei schlechtem Wetter; bei gutem ist er höchstens gegen abend zu sprechen. Wir nennen ihn immer nur den Alpinisten. Er ist ein stattlicher Mann mit sehr hellen Haaren und Schnurrbart und einer großen Narbe über die Wange. Wenn er nur nicht so schrecklich in Liebenswürdigkeiten zerflösse Fräulein von Okeley mir gegenüber grüßte steif, als sie sich hinsetzte, und begann gleich mit ihrer Nachbarin, ihrer um mindestens zehn Jahre älteren Schwester Beate, ein lebhaftes Gespräch. Mein Nachbar zur Rechten, Herr Martin, war natürlich noch nicht da. Ich war also auf den Alpinisten angewiesen, der mich fragte, welche Tour ich heute unternommen hätte. Aber ich brauchte gar nicht zu antworten, denn er fuhr gleich fort:
»Habe großartige Traversierung des Langbergs gemacht. Gewöhnlicher Aufstieg zu den Gamssteinen, Fräulein Doktor werden wissen. Man rechnet drei Stunden. War in 1 Stunde 52 Minuten oben, hier vom Hotel. Aber dann, neuer Abstieg. Von mir heute kreiert. Großartig, aber sehr schwierig. Gefährliche Kletterei, zum Teil Felsen mit brüchigen Griffen, über Silberwand abgeseilt, dann durch den Silbertobel in die Festinaschlucht. Das heißt, bis zum letzten Fall in der Klamm. Mußte aber wieder hinauf bis zur Waldgrenze, da Klamm tatsächlich unpassierbar. Fräulein Doktor werden wissen—War keine schlechte Arbeit Aber bei meinem Fassungsvermögen«
Dabei ballte er lachend seine kräftige Hand zusammen.
Ich lachte, denn das war einer seiner stehenden Witze. Er machte ihn, wie man mir erzählte, seinen Patienten gegenüber, wenn sie befürchteten, er würde eine Zahnwurzel nicht entfernen können. Und ich wußte, daß es ihn beglückte, wenn ich ihn für geistreich hielt. Warum sollte ich das nicht?
Während ich ihn weiter so sprechen hörte und zugleich die Nachbarn, ließ ich den Blick über die Tafeln des Saales mit den essenden und schluckenden Menschen gleiten. Wie gräßlich fade kam mir doch eigentlich diese ganze Gesellschaft vor Und ich merkte zugleich wie prächtig trotz meiner Seelenmischerei der psychophysische Apparat arbeitete, der sich Wera Lentius nannte. Ich hatte ich ja auch vorher gewöhnlich bei Tische gelangweilt, obwohl ich mir nichts merken ließ. So benahm ich mich auch jetzt gewohnheitsmäßig ganz korrekt. Ich fragte den Alpinisten nach seinem neuen Abstieg aus, daß er vor Glück über meine Liebenswürdigkeit strahlte. Ich erkundigte mich nach dem Laufe des Baches im Silbertobel. Ob dort nicht eine Quelle direkt aus dem Berge bräche? Davon war ihn nichts bekannt.
Wie sollte ich jetzt als Mensch die Stelle finden, wo ich aus dem Langberg im Silbertobel herauszukommen pflegte? Ich sagte: »Können Sie mir nicht einmal Ihren Weg auf Ihrer topographischen Karte zeigen?«
Er griff sofort in die Tasche.
»Nein, nein,« bat ich, »nicht jetzt. Ich möchte mir das in aller Muße ansehen. Würden Sie mir einen großen Gefallen erweisen wollen?«
»O, Fräulein Doktor haben nur zu befehlen.«
»Wenn Sie die Güte hätten, Ihren Abstieg in die Karte einzutragen — sie enthält doch die Isohypsen?«
»Gewiß, Fräulein Doktor. Von zehn zu zehn Meter. Sie können daran alles genau sehen, auch die Stelle, wo ich mich abseilen mußte.«
»Die müssen Sie mir anmerken, und dann leihen Sie mir die Karte auf einen Tag.«
»Selbstverständlich Ich werde sogleich—wann wünschen Sie die Karte?«
»Wenn ich sie heute Abend bekommen könnte?«
»Mit Vergnügen. Fräulein Doktor beherrschen, wie ich sehe, alle Gebiete der Wissenschaft. Die Kartographie ist eine Lieblingsbeschäftigung von mir.«
Ich hörte seinen weiteren Ausführungen nur scheinbar zu. Zunächst freute ich mich über meine Schlauheit. Da hatte ich ja gleich die beste Gelegenheit, meine Erfahrungen als Wolke auf wissenschaftlichen Boden zu stellen. Ich beschloß, so lange im Silbertobel an Ort und Stelle zu suchen, bis ich den Austritt des Wassers aus der Kalkschicht,—ich nannte ihn jetzt bei mir im stillen die »Silberquelle«— gefunden und auf der Karte festgelegt hatte. Dann mußte sich ja zeigen, wie er zum Tunnel lag.
Das Tellerklappern, dabei das Schwirren der Stimmen und die etwas schreiende Rede meines Nachbars störten mich in meinen Gedanken—mein Widerwille gegen diese ganze Wirtstafel stieg aufs neue in mir auf. Der Alpinist sprach jetzt von Geologie und der Tektonik des Langbergs—und auf einmal sah ich mich in einem andern Saale, an einem ganz andern Tische, der mit Schalen und Retorten bedeckt war, ich hörte die ruhige, klare Stimme eines andern Mannes und sah zwei leuchtende Augen, die mich so seltsam anblickten—da durchzuckte mich das Gefühl einer unbeschreiblichen Sehnsucht, die ich nicht verstand. Es war, als wäre meine Aspiraseele auf ihrer Wanderung durch Weras Erinnerungen an einen verschlossenen Garten gekommen, zu dem sie noch keinen Eingang fand—und schon war das flüchtige Bild verschwunden. Das Rücken eines Stuhles weckte mich aus meinem Traume und die Stimme des Ingenieurs, der höflich »Guten Tag« wünschte. Die helle Wirklichkeit war da und leuchtete——
Warum mich Bertilde so prüfend ansah, als ich seinen Gruß erwiderte? Nun ja, ich fühlte, daß ich dabei lebhaft war—In diesem Augenblicke wurde mir präsentiert und ich hatte Zeit, mich zu sammeln.
Genieren aber wollte ich mich nicht. Ich fragte Herrn Martin ganz ruhig, ob er nachmittags wieder im Tunnel zu tun habe, und zu alles Erstaunen antwortete er ganz ausführlich.
»Nur einige Stunden. Jetzt werden die Bohrer wieder angesetzt, und ich warte nur, bis die Sprengung vorüber ist. Dann bin ich dort nicht mehr nötig, aber ich habe noch im Zentralbureau zu tun.«
Und so entwickelte sich ein ruhiges Gespräch, dem die andern mit einem gewissen Neide zuhörten. Keines von uns beiden erwähnte, daß wir den ganzen Vormittag am Tunnel zusammengewesen waren. Es war, als wäre dies unsre erste Unterredung. So hatten wir ein Geheimnis miteinander. Aber es war wohl gut so. Ich hörte ganz deutlich, wie Bertilde zu ihrer Schwester sagte:
»Du, der Mann kann ja auf einmal reden wie ein Buch.«
Und der Alpinist brummte: »Ein unerträglicher Schwätzer.«
Ich besänftigte ihn, indem ich mich wieder zu ihm wandte.
Zum allgemeinen Erstaunen blieb der Ingenieur diesmal während des Nachtisches sitzen. Erst als alle Gäste aufbrachen, verabschiedeten wir uns. Ich war schlau genug, dann den Alpinisten noch einmal an die Karte zu erinnern, was er so hoch aufnahm, daß er meine Hand an die Lippen führte.
Dann lief ich auf mein Zimmer. Ich mußte meine Erfahrungen zu Papier bringen, das war Wera-Gewohnheit. Da lagen meine Tagebücher. Ich wollte schon weiter schreiben, wo ich einmal aufgehört hatte, aber da fiel mir ein — wenn ich doch einmal wieder aufhören sollte, Wera zu sein—wenn ein Mensch dann das lesen sollte, was ich nun zu schreiben hatte—— nein, das durfte nicht sein
Bald wußte ich, wie ich's einrichte. Ich nahm nur lose Briefbogen. Und heute noch kaufe ich mir wasserdichtes Papier zum Einschlagen und eine Blechbüchse, da tu ich meine Aufzeichnungen hinein, und ich weiß schon, wo ich sie droben am Langberg verstecke, daß kein Mensch sie finden kann.
Und so habe ich den ganzen Nachmittag geschrieben—die Finger tun mir weh——
Als Wera ihre Aufzeichnungen geschlossen hatte, war es so spät geworden, daß sie vor dem Abendessen gerade nur Zeit fand, einmal durch den Ort zu gehen und einige Einkäufe zu machen. Bei Tische nahm sie die Karte von dem Alpinisten in Empfang und hörte mit Vergnügen auf seine begeisterten Schilderungen aus der Bergwelt. Der Platz des Ingenieurs war leer geblieben. Er hatte absagen lassen. So wechselte Wera nach Tische nur einige gleichgültige Gespräche mit verschiedenen Gästen und zog sich bald zurück. Eigentlich wollte sie noch die Karte für ihren Zweck studieren, aber die Beleuchtung des Zimmers war dazu nicht geeignet. Ermüdet von all den neuen Eindrücken zog sie es vor, ihren ersten Menschenschlaf zu tun.
Am andern Morgen weckte sie der helle Tag. Schnell huschte sie ans Fenster und warf einen Blick durch die Gardine. Über das grüne Tal und die schimmernden Gletscher herüber leuchtete das weiße Haupt des Blankhorns im Sonnenglanz. Wera winkte ihm grüßend zu. Ob der Alte sie sehen konnte? Aber eiligst trat sie zurück. Sie war ja keine Wolke mehr. Seltsame Seelenmischung— das war wohl ein Menscheninstinkt?
Doch die Frage interessierte sie nicht. Wie steht es im Langberg? Das war der Gedanke, der sie jetzt so ausschließlich beschäftigte, daß von den vielen Erinnerungen, die noch in ihrer Weraseele schlummerten, keine einzige irgendwie deutlich emporstieg. Hier war eine Aufgabe für ihren jungen Menschenstolz. Die Natur mit Menschenaugen zu betrachten, die Macht der Erkenntnis nun selbst zu üben, das hob und erfüllte ihre ganze Seele — alles, was weiter zurück lag, war im Augenblick nicht für sie vorhanden.
Bald saß sie am Tische und hatte das Tunnelprofil und die Karte des Alpinisten vor sich ausgebreitet. Das Kartenbild sah freilich ganz anders aus als die Landschaft aus der Wolkenhöhe. Das also war der Langberg Er trennte das Tal des Schaumbachs, an dem Schmalbrück lag, von der Schlucht der Festina, die unten bei St. Florentin den Schaumbach in sich aufnahm. Nach der Seite der Festina hin besitzt der Langberg einen starken seitlichen Vorsprung, den der Fluß in weitem Bogen umgehen mußte. Dabei hatte er eine enge Klamm ausgewaschen. Die Bahn kam von St. Florentin her im Festinatal herauf, überschritt den Fluß dicht vor der Klamm und mußte nun den Vorsprung des Langbergs in dem bewußten Tunnel durchbohren.
Dieser Vorsprung war durch eine Reihe von Gießbächen zerrissen, die in die Klamm niederstürzten. Von ihnen war der Silbertobel der tiefste und wildeste, und an einer Stelle dieser Schlucht trat die Silberquelle—wie Aspira den gesuchten Ausfluß nannte—aus dem Berge hervor. Aber wo lag diese Stelle? Lag sie tiefer als der Tunnel, so mußte der Weiterbau notwendig in die Kalkschicht geraten, und dann trat die befürchtete Gefahr ein. Die Karte konnte darüber keine Auskunft geben, denn die Menschen wußten von dem unterirdischen Zufluß nichts, weil ihn der durch den ganzen Silbertobel rauschende Bach verdeckte. Aspira kannte die Stelle nur aus den Merkmalen der Umgebung. Sie mußte sie also, um ihre Höhenlage festzustellen, selbst aufsuchen.
Aber wie dahin gelangen? In ihrem Wolkenbewußtsein war ihr das sehr einfach vorgekommen, jetzt vor der Karte sagte sie sich, welche Schwierigkeit und Gefahr darin lag, diese Berge auf ungebahnten Wegen zu durchstreifen. Wenn sie nicht wie der Alpinist den Langberg überqueren wollte, mußte sie die wilden Schluchten überklettern, die vom Langberg nach der Festinaklamm abstürzen.
Wera wurde ärgerlich und legte die Karte zusammen. Was sollte sie lange grübeln? Versuchen wir's, sagte sie sich. Sie versah ihren Handbeutel mit den erforderlichen Instrumenten, einem Taschenbarometer und einem Thermometer zur Bestimmung der Wassertemperatur. Beim eiligen Frühstück nötigte ihr Frau Leberecht noch einen wohlverpackten Imbiß auf. Vor dem Hotel begegnete ihr der Hausdiener, der eben von der Post zurückkam, und händigte ihr einen Brief und eine Drucksache aus. Sie nahm sich gar keine Zeit, die Papiere anzusehen, sondern steckte sie eilends in die Tasche ihres Kleides. Denn es war für ihre Expedition schon spät geworden.
Um die andere Seite des Langbergs zu gewinnen, schlug Wera zunächst den Weg nach dem Tunnel ein. Von dort führte sie ein schmaler Holzfällerpfad durch den Wald bis auf die Matten. Schon sah sie die Schiefklippe und den Steinbruch unter sich liegen. Nun mußte sie oberhalb der Waldgrenze bis an den Silbertobel gelangen, um ihn seiner ganzen Erstreckung nach im Walde zu verfolgen, denn sie wußte ja nicht, in welcher Höhe die Silberquelle lag. Da aber kam der erste Einriß. Sie mußte sich einen Weg durch die Felstrümmer der Schlucht suchen, über den Bach springen und auf der andern Seite hinaufklettern. Obwohl ihr das alles leichter gelang, als es einem Menschen ohne Wolkenerbteil möglich gewesen wäre, verging doch ziemlich viel Zeit darüber. Und solcher Schluchten gab es vier bis zum Silbertobel Sie sah nach der Uhr und blickte sich dann ziemlich ratlos um.
»Ach, wär ich nur auf ein paar Minuten eine Wolke, wie schnell wäre ich drüben Aber das geht nun nicht—Ich bin nur ein Mensch und will es sein Hier müssen Menschenmittel helfen. Ich will denken« Sie sammelte alle ihre Erinnerungen an ihre letzte Regenfahrt von den Gamssteinen in die Festinaschlucht. Wenn es ihr gelang, die ungefähre Höhe der Silberquelle zu ermitteln, so brauchte sie nicht den ganzen Tobel hinabzuklettern, sondern konnte ihren Weg bedeutend kürzen und zugleich die Übergangsstellen über die Einschnitte sich aussuchen, indem sie bergab stieg. Von einer ins Tal hervorspringenden Klippe gewann sie einen umfassenden Einblick in die Schlucht. Und dort, an der gegenüberliegenden Seite der Schlucht, etwa hundertfünfzig Meter unter ihrem Standpunkt, erkannte sie eine Felspartie, oben abgeplattet, und auf dieser Platte lagen die verkrümmten, dicken Wurzeln einer umgestürzten und abgestorbenen Kiefer, die wie die silbergrauen Glieder eines riesigen Drachens im Sonnenschein schillerten. Da blitzte es in ihr auf. Diese grotesken Windungen waren ihr jedesmal in dem Augenblicke aufgefallen, wenn sie aus dem Berge hervorquellend das Licht wieder erblickt hatte. Aber sie erinnerte sich deutlich, daß der Fels ausgesehen hatte wie ein Tierkopf, der dieses wunderliche Gehörn auf dem Scheitel trug. Die Platte und der untere Teil des Holzes waren nicht sichtbar gewesen. Also hatte sie den Felsen von unten gesehen, und die Silberquelle mußte somit tiefer liegen als jener Felsen.
Sie konnte von hier auch den nächsten Einschnitt überblicken und erkannte, daß er ein Stück tiefer unten zu einer schmalen Spalte wurde. Also dorthin Sie sprang den Berg hinab. Dabei bemerkte sie zu ihrem Entzücken, daß sie mit voller Sicherheit wie von der Luft getragen über die Steine und durch das Gestrüpp des Bodens flog. Und so setzte sie auch mit einem kühnen Sprung über den Spalt. Nun kam sie in den Wald, der aber hier nur aus vereinzelten, verkümmerten Bergkiefern bestand.
Sie glühte in Lebenslust und Kraft. Es war ihr, als summte es um sie: »Wohin, Aspira, wohin so geschwind?« Und übermütig rief sie: »Zur Silberquelle« Plötzlich ein breiter Riß, den sie nicht zu überspringen wagte. Ärgerlicher Aufenthalt Mußte sie hier wieder klettern?
Da kam's hinter ihr von oben polternd herab, ein großer Felsblock. Sie erschrak nicht, sie wußte, daß er sie nicht trifft. Er sauste vorbei in den Einschnitt und riß dabei einen schon halb entwurzelten größeren Stamm um, daß er sich über den Erdriß wie eine Brücke legte. Jauchzend lief sie ohne Besinnen hinüber. Ein Stück des Kleides blieb an einem Aste—was tat's? Ihre Freund vom Berge schützten sie. Unter ihr verbarg das Moos Löcher und Spalten des Gesteins, lagen Trümmer von Ästen und Wurzeln, aber ihr eilender Fuß traf stets den festen Boden, die sperrigen Zweige der Bäume wichen zurück, der letzte Wildbach ward übersprungen, noch ein Stück Wald durch hochstämmige, bemooste Fichten—sie stand am Silbertobel.
Und im Augenblick erkannte sie die Stelle. Da aus jenem Spalt rauschte eine Quelle direkt im Bette des Bachs. Und drüben durch die Wipfel der Bäume blickte von der andern Talseite der Widderfelsen mit seiner Schlangenkrone.
Sie kletterte bis hinab an das Wasser, von dem sie schlürfte. Dann saß sie ausruhend auf breitem Felsstück. Schnell waren Barometer u Notizbuch hervorgeholt. Das Tunnelniveau stieg bis 1952 Meter. Was würde sich ergeben? Wie hoch war sie hier?
Sie mußte einen Augenblick die Augen schließen. Das Herz pochte. Dann las sie das Instrument ab.
Neunzehnhundert und—siebzig Die Korrektion betrug noch 6 Meter. Also zwanzig Meter über der Tunneldecke Die Angaben des Instruments konnten um zehn Meter nach oben oder unten ungenau sein. Aber im schlimmsten Falle blieb doch immer noch ein Mehr von zehn Meter, und im Innern des Berges mußte der Unterschied viel größer sein. Freilich—es konnten auch noch tiefer Verwerfungen liegen, aber von diesem Zweige des Kalkbandes drohten jedenfalls keine Störungen. Um sicher zu gehen, nahm Wera noch eine Bestimmung oberhalb des Zuflusses und in diesem selbst vor. Letztere war nur um 4 Grad höher als die des Baches. Kein Wunder, daß noch niemand auf diese warme Quelle aufmerksam geworden war. Der geringe Unterschied bewies, daß dieser Wasserlauf mit dem tiefer liegenden, zerdrückten und schlammigen Teile im Innern des Berges nicht zusammenhing.
Nun atmete Wera auf. Sie war glücklich und stolz. Ihre Freunde vom Berge hatte sie nicht verlassen, sie fühlte, wie sie rings umher für sie sorgten. Und doch hatte sie sich ihres Menschenseins würdig erwiesen. Ihr Denken hatte ihr geholfen, die Mittel der Natur hatte sie zu benutzen gewußt. Sie hatte die erste Probe abgelegt, daß sie sich einen Menschen nennen konnte, der auf der Brücke der Erkenntnis stand. Sie hatte eine wichtige und erfreuliche Feststellung gemacht.
Es litt sie nicht in der düstern Schlucht, sie wollte ins Licht, ins Freie. Aber wie? Nach dem Tunnelausgang, der in nahezu gleicher Höhe lag, wäre es nicht weit gewesen, aber da hätte sie über sämtliche, kaum zugängliche Einschnitte klettern müssen. Die Festinaklamm selbst war unpassierbar. So blieb ihr nichtsübrig, als, wie der Alpinist, den Berg wieder hinaufzuklimmen. Nach zwei Stunden war die Höhe am Flügel des Berges gewonnen, von wo sie auf beide Täler und weit hinaus über den See und die Bergzacken jenseits blicken konnte. Von hier vermochte sie bequem nach Schmalbrück hinabzusteigen.
Wera lagerte sich behaglich auf dem grünen Rasen und stärkte sich an dem willkommenen Imbiß.
Und nun konnte sie träumen. Kühl war die Luft, und doch ruhte sich's so warm im leuchtenden Sonnenglanz. Wie wundervoll still und einsam lag die blumenbunte Alpenwiese Die dunklen Nigritellen durchdufteten die Luft, um die gelbe Arnika, den orangelichten Senecio summten leise die Hummeln. Sonst kein Ton als mitunter der Pfiff eines Murmeltiers. Und weit, ganz weit, ein verhallendes Herdengeläut.
Ihre Hand strich leise über die dunkelblauen Sterne des Enzians an ihrer Seite.
Da—in der Ferne ein dumpfer Knall, noch einmal, und dann schwächer und schwächer der rollende Widerhall an den Bergwänden.
Das ist der Mensch, der felsensprengend in die Stille der Berge bricht. Der Ton stört sei nicht. Er ist ihr ein froher Gruß einer befreundeten Macht. Wie töricht, darin den Feind der Ruhe, des heiligen Friedens der Natur zu sehen Donnert nicht auch die blitzende Wolke, stürmt nicht der Bergsturz zerschmetternd ins Tal, rauscht nicht der Wildbach vernichtend hernieder? Und sie wissen nicht, warum sie schädigen. Der Mensch aber zerstört, um Höheres aufzubauen. Aspira weiß es jetzt. Die Elemente sträuben sich vergebens. Ihr Frieden ist ein Schein. Es gibt einen höhern Frieden, es gibt einen Zweck des Schaffens, denn es gibt Menschenherzen. Ihrem Frieden die Stätte zu bereiten müssen die Elemente zum Dienste gezwungen werden. Sie wollen sich sträuben, den Menschen vertreiben—deshalb sollte sie ihn ja studieren. Aber nun hat sie erkannt, daß der Mensch im Rechte ist. Und sie, die Tochter der Natur, sie wird den Menschen schützen, sie wird ihm helfen bei seinem Werke. Denn sie beide, Natur und Mensch, haben ein gemeinsames Ziel—— der Mensch kennt es, er ist ihr Führer; so darf er herrschen, so darf er zwingen
Und warum zwingen? Wera richtete sich empor. Warum zwingen? Warum nicht bloß führen?
Warum konnte sie die Frage beantworten, die den Ingenieur bedrängte? Warum hatte sie in die Kalkschicht blicken können? Weil sie Aspira war, die Wolke, die durch die Klüfte zu rauschen vermochte und ins Innere des Berges mit Leichtigkeit zu schauen. Aber freilich, als Wolke wußte sie nichts von den Beziehungen der Natur zum Menschen. Erst da sie ein Mensch geworden, konnte sie die Frage verstehen und mit besonnener Überlegung die Mittel ergreifen, sie zu lösen. Auch der Mensch mochte schließlich das Innere des Berges ergründen, wenn er Arbeit und Kosten und Zeit erschwang. Aber wie umständlich und langwierig war dies Beginnen Jetzt, da sie ein Mensch geworden, konnte sie dem Menschen direkt helfen. Sie verband das unmittelbare Leben der Natur mit dem mittelbaren Erkennen des Menschen. Sie ersparte ihm unsägliche Mühe, wie heute auf ihrem Wege befreundete Geister des Berges sie großer Anstrengung überhoben hatten. Wieviel Zeit hätte ein gewöhnlicher Mensch zur Auffindung der Silberquelle verwenden müssen
Und nun stieg es in Wera auf wie ein neues, heiliges Licht, und wie ein unendliches Glück.
Nein, nicht zwingen mehr sollte der Mensch die Elemente. Etwas Größeres noch gab es als diese Arbeit. Helfen sollten sich beide gemeinsam. Wie sie ihr freies Naturleben heute willig in den Dienst der Menschenzwecke gestellt hatte, so sollten ihre Geschwister alle, so sollten die Geister der Erde, des Wassers und der Luft sich vereinen aus freiem Entschlusse mit den Menschen. So sollte der Mensch unmittelbar in die Natur hineinschauen und in raschem Fluge von ihr gewinnen, was ihm, dem Erforscher des Gesetzes, sonst erst in der Arbeit der Jahrtausende gelang.
Das war ihre Aufgabe Versöhnen die Reiche der Natur und des Menschen, die sich getrennt hatten. Mitarbeiten sollten die Elemente am Kulturzweck aus eignem Trieb. Dazu war sie aufgestiegen zum hohen Äther, dazu war sie herabgestiegen aus dem Reiche der Luft zu den Wohnungen der Menschen. Diese Einsicht mußte sie den Elementen wie den Menschen vermitteln. Das war die Aufgabe ihres Daseins, ihre Arbeit. Das war das Glück auf der Brücke der Erkenntnis
Und nun an das Werk Sie mußte damit beginnen, dem Ingenieur ihr Wissen mitzuteilen. Aber wie? Was durfte sie ihm sagen?
Doch es würde sich schon ein Weg finden. Hier eben mußte der Menschenverstand einsetzen.
Da war es ja Die beiden Gewässer, das von oben kommende und das aus der Kalkschicht, mußten sich chemisch unterscheiden. Die brauchte also nur— wozu hatte sie denn so viele——
Damit dachte sie zum ersten Male klar zurück an ihre Arbeit als Wera. Und ein innerer Schauer, eine dunkle Angst lief durch ihre Seele und zerriß den einfachen Gedanken——
Warum hatte sie so viele—Quell-Analysen gemacht?
Mit der Erinnerung an ihre Arbeit tauchte eine zweite auf—ein unbestimmter Schreck durchzuckte sie, wie ein dumpfer Schrei klang ein Name— —
Paul Paul
Sie griff an ihr Kleid und fühlte das Knittern des Papiers. Sie riß die Postsendungen heraus. Zuerst fiel ihr die Drucksache in die Augen. Jetzt wußte sie sogleich, was es war. Die Korrektur eines kleinen Artikels aus dem Journal für Geologische Chemie—ihre letzte Arbeit vor ihrer Abreise aus der Universitätsstadt in die Alpen. Und die erste, die sie mit Paul zusammen gemacht hatte und hier veröffentlichte. Da stand es ja: Über den Gasgehalt der Quellen von Hellborn. Von P. Sohm und W. Lentius.
Paul Sohm O wie hatte dieser Name ihr auch nur auf einen Tag entschwinden können Der doch seit Monaten ihr alles war, ihr ganzes Leben erfüllte Ach, nicht seit Monaten, im stillen schon viel länger——
Ihre zitternden Finger öffneten den Brief. Von ihm
»Meine geliebte Wera——«
Sie konnte nicht weiter lesen. Es wurde so dunkel. Die Sonne, die Eisgipfel, die Wiese verschwanden—— alles so wirr und leer in ihr—wer war sie?
Die freie Wolke, die vom Äther kam, die Weisheit der Menschen in sich aufzunehmen, das Gesetz zu ergänzen durch die Fülle des Lebens und den Schritt der Kultur zu beflügeln durch die Schwingen den Natur?
Oder der mühsam tastende, langsam fortarbeitende Einzelmensch, gefesselt durch zahllose Bande an die andern, gehemmt durch unbekannte Gewalten rings umher und im Innern der Menschenbrust?
Wer war sie?
Noch immer ruhte Wera auf dem sonnenwarmen Rasen in der Stille der Alpenwiese. Noch immer war ihr das weite Bild der leuchtenden Bergwelt hinweggesunken. Ihre Augen waren geschlossen. Noch einmal suchte sie in ihrer Weraseele zu lesen. Nicht mehr die große Frage nach dem Gesetz der Erkenntnis, das die Menschenherrschaft gewährt über die Reiche des Lebendigen. Sie war auf ein Kapitel gestoßen, das den Menschen allein anging, und das so viel schwerer für sie zu verstehen war——
Wohin sie in die letzten Jahre zurückblickte, überall fand sie den Namen Paul Sohm, überall fühlte sie ihr innigstes Leben daran geknüpft, und dennoch lag es jetzt darüber wie ein lichtloser Fleck, ein undurchsichtiger Schatten, der sie den eigentlichen Sinn dieses Seeleninhaltes, dieses Lebensmittelpunktes nicht begreifen ließ. Es gab eine Stelle in Weras Bewußtsein, wohin Aspiras Verständnis nicht zu dringen vermochte. Alle Vorgänge, alle gemeinsamen Erlebnisse, was sie taten und sprachen, konnte sie klar ins Gedächtnis rufen, und immer wieder fragte sie: Warum? Warum mußte ich das tun? Warum war ich so glücklich?
Seit dem ersten Tage, an dem sie Sohms Vorlesung über Meteorologie gehört hatte, fühlte sie sich von diesem Manne gefesselt. Zuerst, ja lange nur, von dem Lehrer. Da war alles so klar und einfach gesagt und doch nicht trocken; selbst in den mathematischen Entwicklungen verschwand nie der Endzweck des Ganzen; überall eröffnete sich ihr der Blick in die gesetzliche Einheit der Naturerscheinungen. Die Strömungen der Luft, der Kreislauf des Wassers, die große Arbeit der Sonne an der Atmosphäre enthüllten sich in strengem Zusammenhang, und doch lag in allem, was er sagte, ein so feiner, freier Geist, von dem sie zuerst lernte, wie ein ernsthafter, kritischer Gelehrter den Inhalt seiner Forschung zugleich mit warmem Herzen umfassen und an den lebendigen Weltzusammenhang knüpfen konnte. Und das verstand Aspira wohl, wie der Einfluß dieses Mannes Wera begeistern und in ihrer Arbeit fördern und beglücken mußte.
Später waren sie im Hause von Geheimrat Rötelein gesellig zusammengetroffen, wo sie als Freundin von Suse und Else Rötelein viel verkehrte. Warum sie nur immer so heiter war? Und warum sie mitten zwischen ihren ernsthaften Untersuchungen so fröhlich lachen konnte wie ein Kind? Denn damals hatte sie mit ihren Analysen der natürlichen Gewässer begonnen — sie wußte wohl, daß ihre chemischen Studien diese Beziehungen zur Geologie gerade durch Sohm gewonnen hatten.
Und dann, als Sohm seine große Arbeit über die geologische Bedeutung der Gase plante—— Sie sah ihn vor sich auf dem Spaziergang mit Röteleins nach dem Erdsturz am Klippberg, wie er mit ihr so vertrauensvoll über seine Grundgedanken sprach und sie fragte, ob sie nicht einen Teil der Analysenübernehmen wolle. Wie sie zögerte—— Es war keine falsche Bescheidenheit von ihr, daß sie sich bedachte. Sie wußte genau, was sie damals gesagt und getan hatte, sie wußte, daß sie der Aufgabe gewachsen war und daß jede kleinliche Ziererei ihr fern lag. Und welches ehrenvollere Anerbieten konnte ihr gemacht werden, als von einem so bedeutenden Gelehrten zur Mitarbeiterschaft aufgefordert zu werden, welche bessere Einführung in die wissenschaftliche Welt konnte sie, die junge Doktorin, gewinnen? Und dennoch hatte sie gezögert? Sie verstand sich nicht. Ganz deutlich sah sie sein ernstes, männliches Gesicht vor sich und den traurigen Blick der treuen Augen, mit dem er die Verlegene anschaute, und wieder verstand sie sich nicht, warum dieser Blick auf einmal alle ihre Bedenken umwarf, und sie ihm die Hand entgegenstreckte und dankte. Und wie glücklich er nun aussah, und wie warm er von seiner großen Freude sprach, daß sie annahm, während doch sie allein es war, die ihm zu danken hatte——
Und dann weiter, wie die Arbeit sie täglich zusammenführte—Sie wollte an etwas andres denken, aber es lag ein Zwang in dem Namen Paul Sohm— sie mußte in Weras Gedächtnis nachlesen Woche für Woche, wie die Arbeit fortschritt, gemeinsam beiden bald im Zweifel, bald in der Freude des Erfolgs—wie jede längere Unterbrechung ihr fast unerträglich schien——bis jener Abend kam, da sie einander gegenüberstanden und such ansahen und nichts sagten, und er auf einmal ihre Hände faßte und sie an sich zog, und sie in seinen Armen lag—— Und diese Küsse und diese heißen Worte—— Wie war das möglich? Wie konnte sie das dulden und erwidern? Was war das?
Wer war sie?
Und schluchzend warf sich Wera auf den Rasen, und Träne auf Träne rann aus ihren Augen. Sie kam sich so namenlos elend vor, so ganz vernichtet, zerrissen in ihrem innersten Wesen.
Gewiß, das war die Liebe, ja, das hatten sie sich ja tausendmal glückstrahlend gestanden—aber was war das jetzt? Ein Wort, ein leeres Wort, das ihr nur von unverständlichen Handlungen, von unglaublichen Erlebnissen sprach, die sie vor sich selbst erniedrigten—Sie verstand es nicht und konnte es nicht verstehen, daß sie das gesagt und getan und versprochen hatte —
Versprochen hatte Wera hatte versprochen, und Aspira, die unglückliche, mußte sich mit dieser gebundenen Seele verschmelzen—mußte gefesselt sein an ein Menschenschicksal, das sie nicht verstand—das sie nicht wollte. Nein, nicht wollte
Ja, er war ihr Freund, dem sie ihr Bestes verdankte, den sie hochhielt in einem aufrichtigen Gefühle der Verehrung—im übrigen konnte sie sich nur vorstellen, daß er ihr gefiel wie—wie der Ingenieur. Aber die Liebe? Sie hatte eine einzige Erfahrung, den Handkuß des Ingenieurs, und das war ihr wie ein körperliches Unbehagen—die Erinnerung an all die Stunden, die Wera so glücklich gemacht hatten, hätte sie jetzt aus dem Gedächtnis reißen mögen——Und doch—Sie war Wera, sie hatte diesen Leib und diese Seele auf sich genommen, sie hatte mit Stolz und Seligkeit dieses Menschenwesen erfaßt, sie verdankte ihm ihre Erhebung, ihre Erkenntnis, ihre Macht, sie konnte diese Lebenseinheit nicht entbehren— sie war Wera und mußte es bleiben.
Was hatte sie gestern von der Liebe geschrieben? Mochte sie Glück sein oder Leid, was ging es sie an? Sie suchte sie nicht bei den Menschen, sie brauchte sie nicht. Und wenn die Wolken etwas von Aspira wissen wollten, so war es nicht dies.
Und wenn nun Liebe Leid war? So mußte sie es wohl auf sich nehmen um ihrer großen Aufgabe willen? Diese Aufgabe war ihr heute, hier, in diesem wundersamen goldenen Lichte einer erhabenen Sendung aufgegangen. Sie suchte ja auch nicht das Glück. Sonst hätte sie nicht auf die Brücke der Erkenntnis treten dürfen. Da aber stand sie nun, da wollte sie stehen. Würde sie das jetzt noch vermögen?
Sie raffte sich empor und schritt langsam ihren Weg nach Hause. Die Sonne glänzte und die Nigritellen dufteten und die Eisgipfel grüßten, bis der dunkle Wald seine Schatten über ihr Haupt breitete. Ach, es war doch schwer, so schwer ein Mensch zu sein Aber sie war es nun und wollte es sein — Wera Lentius Ja, wenn es nur das wäre Aber Wera—Sohm Das—o Gott—wie würde das sein? Freiheit und Macht wollte sie erringen, und nun gab es nur diesen Weg durch Sklavenfesseln?
Sie setzte sich auf eine einsame Bank, denn sie war inzwischen bis auf den Weg in der Nähe von Schmalbrück gekommen. Die Pfade waren jetzt verlassen, alle Welt befand sich schon bei der Toilette zum Mittagessen—nur sie hatte die Zeit versäumt.
Doch noch ein anderer—sie vernahm rasche Schritte.
Es war der Ingenieur Martin, der nach seiner Gewohnheit so spät zu Tische ging. Jetzt erkannte er sie.
»Sie noch hier, Fräulein Lentius?« rief er fröhlich. »Guten Tag« Sie versuchte freundlich zu danken. Aber jetzt sah er sie in der Nähe. Erschrocken trat er auf sie zu und blickte sie teilnehmend an.
»O,« sagte er, »was ist Ihnen? Sie haben geweint? Sie sind nicht wohl?«
Die Tränen traten ihr wieder in die Augen, aber sie zwang sich zu einem Lächeln.
»Es ist nichts,« sagte sie. »Vielleicht habe ich mich doch etwas überanstrengt. Wissen Sie, wo ich war? Bei der Silberquelle.«
»Silberquelle? Wo ist das?«
»Das—das nenne ich nur so. Ich habe sie nämlich heute entdeckt, und Entdecker können doch den Namen geben, nicht? Die Stelle liegt im Silbertobel über Ihrem Tunnel. Und die Quellen stammen wahrscheinlich aus Ihrem Kalkbande, natürlich dort, wo es aufhört, wo wieder undurchlässiges Gestein darunter lagert. Ich wollte sehen, ob das hoch genug über dem Tunnel liegt. Und ich glaube es bestimmt. Morgen will ich eine Probe holen, da wird ja die Analyse ergeben, ob das Wasser aus dem Kalk kommt —«
Sie sprach, wie es ihr einfiel, um ihre Gedanken zu betäuben. Er hörte verwundert zu.
»Verstehe ich recht?« sagte er. »Sie sind dort gewesen? Das ist ja eine halsbrecherische Partie Gestatten Sie, daß ich mich einen Augenblick hersetze. Das müssen Sie mir noch erklären. Aber Sie sind in der Tat angegriffen.«
»Es wird schon vergehen. Ich wollte doch wissen, ob Ihr Tunnel wirklich in Gefahr ist.«
Er kam aus seinem Erstaunen nicht heraus.
»Wie gütig Sie sind Und wie umsichtig«
Er wollte eigentlich von dem Tunnel und der Kalkschicht sprechen. Aber er konnte nicht anders als sie ansehen. Die tiefe Erregung ihrer Seele verklärte ihr Antlitz, und die Augen leuchteten so wunderbar in dem verhaltenen Schmerze. Wie schön sie war, und lieb, und klug Und Martin sprach nicht vom Tunnel und der Silberquelle, er sprach von ihr und von sich, und wie er mit seinen Gedanken ohne Unterlaß bei ihr gewesen wäre, und wie er im stillen hoffe——
Sie hatte eigentlich nur halb auf seine Worte gehört. Sie wußte schon, das war wieder die Liebe, von der er sprach, und die sie nichts anging. Und doch wieder, es ging sie an. Sie mußte ja nun doch sehen, ob denn diese Liebe wirklich so unerträglich ist, wie sie ihr schien. Sie mußte sich abfinden mit ihrem Menschenschicksal. Wer sollte ihr raten? Wen konnte sie fragen? Niemand.
Auf einmal hörte sie seine Frage:
»Wera, geliebte Wera, können Sie mir keine Hoffnung geben?«
Sie fühlte, wie er ihre Hände faßte und sie an sich zog. Was in ihr vorging, bildete ein undurchdringliches Gewirr von Gefühlen und Vorstellungen. Sie wollte nicht nachgeben, sie konnte nicht—aber was da geschah, war ein so Fremdes, Neues, das sie doch erfahren mußte, das doch wieder instinktiv in ihr wirkte —
Sie wollte sagen: »Ich liebe einen andern.« Aber das war ja nicht wahr.
Sie wollte sagen: »Ich bin Braut.« Aber sie brachte es nicht über die Lippen.
Sie fühlte die Küsse des Mannes auf Wange und Mund—und es war wieder dieses Abstoßende, Unerträgliche —
»Ich kann nicht,« stöhnte sie sich ihm entziehend. »Es kann nicht sein, es ist unmöglich«
»Wera«
»Ich kann nicht dafür Ich bitte Sie Es darf nicht sein«
»Wera Mein Glück Mein Leben«
»Nein, nein Nicht so Ich kann Ihnen nicht zürnen, nein Aber ich, ich kann nicht—nicht Ihnen gehören—nein—niemand«
Es war ein Stammeln, nicht in Entrüstung; es war wie eine Klage. Sie hatten sich beide erhoben.
»So muß ich gehen,« sagte er mit erstickter Stimme.
Die Tränen traten wieder in ihre Augen. Sie raffte sich zusammen und schüttelte den Kopf. Martin wußte nicht mehr, was er denken sollte.
»Sie sind mein lieber Freund,« sagte sie. »Ich möchte Sie begleiten. Ich bin so unendlich traurig, daß ich Ihnen wehe tue. Aber ich kann nicht — fragen Sie mich nicht.«
»Ich weiß nicht, ob ich das versprechen kann. Wenn du nicht mein sein kannst,« rief er leidenschaftlich, »dann ist es besser, ich sehe Sie nicht wieder. Von gleichgültigen Dingen kann ich jetzt nicht reden.«
»Dann muß ich allein gehen,« sagte sie zurücktretend. »Aber gehen Sie voran. Ich habe Zeit. Gehen Sie«
Er blieb unschlüssig stehen. Er wußte, wenn er sie jetzt nicht verließ, würde er doch wieder von seiner Liebe sprechen, und das würde heute vergeblich sein. Und ach, es war doch so unendlich schwer, sich zu trennen
»Bitte, gehen Sie« sagte sie noch einmal.
»Leben Sie wohl,« sprach Martin traurig. »Zürnen Sie mir nicht, wenn ich jetzt fliehe. Wie kann ich Ihnen Ruhe versprechen, wenn ich weiß, daß ich sie jetzt nicht halten kann? Sie würden mich verstehen, wenn Sie wüßten, was Ihre Nähe bedeutet und was—was Liebe ist.«
»Nein, das weiß ich allerdings nicht,« rief sie bitter. »Das ist ja—« Sie brach ab. Aber ihre Augen flammten, ihre Brust wogte. Der Zorn über ihr Schicksalüberwältigte sie. So trat sie auf ihn zu, hochaufgerichtet, auf den unschuldigen Repräsentanten der Menschheit——
»Liebe Ich habe niemand, dem ich sagen kann, was mich quält, niemand, den ich fragen kann, was in meiner Seele Not ein warmes Menschenherz mir raten würde. Und der einzige Mensch, den ich hier für meinen Freund hielt, der verläßt mich in dem Augenblick, in dem ich nach ihm greife, und — warum? Warum? Aus Liebe? Weil er mich liebt« Sie lachte höhnisch und streckte den Arm gegen ihn aus. Da donnerte es dumpf über den Bergen. Eine dicke graue Wolke war unbemerkt über den Kamm herübergequollen, und die Sonne verschwand hinter ihr. Weder Wera noch Martin achteten darauf.
»Liebe Das ist das schöne Wort, hinter dem ihr euch versteckt, ihr klugen Menschen Auch ein Gesetz, aber nicht von denen, die euch die Herrschaft geben— nein, die euch in die Sklaverei werfen—die euch feig und klein machen Aus Liebe müßt ihr quälen und hemmen und vernichten, was wonnig und frei und groß in euch emporgeglüht ist, was ich suchte und fand. Aber ich will nicht diesem törichten Worte weichen—ich will den Kampf aufnehmen —«
Plötzlich ein krachender Donnerschlag. Drüben am Berghang stürzte eine Fichte im Blitzstrahl. Martin schrak zusammen. Er hatte auf Weras leidenschaftliche Worte gehört ohne recht zu verstehen, warum sie so empört war—sie, der er alles, sein ganzes Ich geboten hatte, die ihn fortschickte—jetzt klagte sie ihn an?
Wera aber stand unerschüttert. Sie warf nur einen Blick nach dem qualmenden Baum und nach der Wolke. Dann schüttelte sie leicht abweisend den Kopf, als wollte sie sagen: »Laß das, Turgula.«
Auch Martin sah nach dem Wetter aus. Aber schon gehorchte die runde Haufenwolke dem Wink. Sie schrumpfte ein und zog sich zurück. Über den Rand lugte die Sonne, und der Himmel klarte auf.
»Es kommt nicht herauf,« sagte Wera ruhiger. »Leben Sie wohl«
Aber Martin ging nicht. Wera machte eine Bewegung, als wollte sie sich wieder auf die Bank setzen. Da begann der Ingenieur:
»Verzeihen Sie mir, wenn ich jetzt nicht gehe, wenn ich bitte, Sie nun begleiten zu dürfen. Ich kann Sie so nicht verlassen. in Trauer konnte ich wohl von Ihnen scheiden, nicht unter Ihrem Zorn. Sie standen da wie eine zürnende Göttin, die über Blitz und Donner gebietet. Und so sprachen Sie zu uns Menschen, als gehörten Sie nicht selbst zu uns. Es ist da ein Geheimnis in Ihrer Seele, das ich nicht verstehe. Ich habe kein Recht Sie zu fragen. Aber darin tun Sie mir Unrecht, wenn Sie glauben, ich könnte Ihnen versagen in Teilnahme, in Freundschaft, in Hilfe, falls ich es vermag—dann verkennen Sie meine Liebe. Vielleicht drückte ich mich in meiner Erregung nicht richtig aus. Ich wollte nur offen sein. An Ihrer Seite zu gehen in konventionellen Gesprächen, die Ruhe zu bewahren neben Ihnen Wera, die ich— Verzeihung Gemütlich mit Ihnen plaudern, das kann ich jetzt so wenig, wie Sie—das andre können. Aber wenn Sie eines Freundes bedürfen, wenn Ihnen ein Leid widerfahren ist, wenn es eine Möglichkeit gibt, Ihnen zu dienen, glauben Sie mir, dann können Sie auf mich vertrauen.«
Wera antwortete nicht. Sie schritt den Weg hinab. Martin ging an ihrer Seite.
»Wenn ich noch eines sagen darf —« begann er wieder. »Ich bin gewiß nicht der Ansicht, daß die Menschen zu andern über das reden sollen, was sie im tiefsten Herzen bewegt. Vieles läßt sich nur in der Stille und im schweigenden Kampfe der Seele bewältigen. Aber wenn zwei Menschen, die sich sonst verstehen, an eine Stelle gekommen sind, wo sie merken, daß eine Scheidewand sich zwischen ihnen aufrichtet durch ihr Schweigen, dann sollen sie nicht in stolzem Trotze verharren. Ich meine, daß uns die Sprache gegeben ist, Klarheit zu schaffen. Sie sagten mir, daß Sie mich nicht leben — nicht lieben können —«
»Ich kann es nicht,« sagte Wera, ihn unterbrechend. »Und so wehe es mir tut, ich muß es Ihnen sagen, weil ich es Ihnen schuldig bin—hoffen Sie nicht, daß die Zeit daran etwas ändern könne. Wenn jemals das, was Sie Liebe nennen, in mir lebendig werden könnte, so würde auch das uns nichts helfen.«
Martin zuckte schmerzlich zusammen. Und doch gab ihm ihr Wort auch eine Ermutigung—— Es konnte ja doch lebendig werden. Und dann konnte es sich doch nur um ein äußeres Hindernis handeln. Und ein äußeres Hindernis kann überwunden werden—er würde es überwinden.
Aber durfte er sie fragen? Er suchte nach einem Worte. Und schließlich sagte er nur halblaut:
»Äußere Hindernisse kann man überwinden.«
Wera schüttelte den Kopf.
»Sie sagten mir auch,« fuhr Martin fort, »daß Sie des Rates eines Freundes bedürften —«
»Ich hätte es nicht sagen sollen. Raten kann mir eigentlich niemand. ein Verhängnis, von dem ich nicht sprechen kann, hat mich in einen Zwiespalt gebracht, den ich nicht zu lösen weiß. Und wenn ich, gegen mein Schicksal mich empörend, Ihnen gegenüber mich zu einer Klage hinreißen ließ, so war es eben deshalb, weil ich keiner Menschenseele mich offenbaren kann. Und dennoch, das Eine muß ich Ihnen sagen, Sie würden es ja doch hören, sobald Sie fragten, wer ich sei. Denn—das wissen Sie ja gar nicht.«
»Mir genügt zu wissen, wie Sie sind. Das andere ist ja jetzt gleichgültig. Und wenn Sie eine Prinzessin wären —«
»Sie haben Recht,« sagte Wera. »Es ist jetzt gleichgültig. Und wenn ich eine Prinzessin wäre,—wenn ich wollte, würde ich aufhören, es zu sein. Das kümmert mich nicht.«
Martin blickte sie von der Seite an. Sie sah so stolz und ernst aus, daß er fühlte, in ihren Worten lag mehr als ein Bild, da lag ein Erlebnis. Und er wußte nicht, was er denken sollte. Er schauderte in dem Gedanken, daß in diesem klaren Geiste ein Punkt sein könnte—nein, nein—das war nicht möglich
Plötzlich blieb Wera stehen und sagte unvermittelt:
»Kennen Sie Paul Sohm? In Weidburg?«
»Den Geologen?« fragte Martin erstaunt. »Ich kenne einige seiner Schriften.«
»Und ich—ich bin seine Braut.«
Wenn ihm Wera gesagt hätte, ich bin eine Prinzessin, ich bin Aspira, die Wolke, König Migros Tochter, des Beherrschers der Erdstrahlung,—er hätte nicht überraschter dastehen können. Wera gehörte schon einem andern,—daran hatte er noch nicht gedacht. Endlich stammelte er:
»Sie sagten doch—ich verstand, Sie kennen die Liebe nicht, Sie liebten niemand —«
»Aber ich habe sie einst gekannt. Ich habe sie nur verlernt —«
Ein Hoffnungsstrahl zuckte durch Martins Züge. Wera fühlte, was in ihm vorging.
»Hoffen Sie nichts,« sagte sie schnell. »Das eben war's, was ich vorhin meinte, was Sie auf ein äußeres Hindernis deuteten. Ihnen kann es nichts helfen. Könnte ich meine Liebe wiedergewinnen, so müßte sie dem gehören. Ich will, ich muß es versuchen. Denken Sie nichts Falsches. Keinen von uns trifft eine Schuld. Noch weiß Paul nichts davon, daß ich—— Haben Sie je Ritterromane gelesen? Da gibt es wundersame Quellen in den Wäldern; wenn die verliebte Dame dahin kommt und trinkt von dem klaren Bronnen, so verwandelt sich plötzlich ihr Herz, alle Liebe verschwindet, Gleichgültigkeit und Kälte tritt an ihre Stelle. Ich ging, nur um mich von angestrengter Arbeit zu erholen, glücklich und liebend hier hinauf in die Berge. Paul war mein Gedanke, Paul meine Hoffnung. Gestern am frühen Morgen noch stieg ich, das Herz von seligen Träumen erfüllt, hinauf zum Gletscher. Dort muß ich wohl vom Zauberbronnen getrunken haben—— Seitdem vergaß ich ihn— nein, ich weiß ja alles, aber ich verlor mein Gefühl, ich verstehe mich nicht mehr. Schon gestern, ehe ich Sie traf, war es geschehen. Ich sehe, Sie verstehen mich auch nicht. Niemand kann mir helfen. Ich habe nur die Bitte—ich mußte zu einer Menschenseele sprechen—wenn ich Ihnen etwas gelte, vergessen Sie, war ich sagte, verraten Sie es niemand—«
Wera schluchzte tief auf und brach in Tränen aus.
Martin stand ratlos.
»Mein Schweigen versteht sich von selbst,« murmelte er nur. Aber er dachte, sie ist doch krank, das unglückliche schöne Weib. Er ergriff ihren Arm und führte sie sanft weiter.
»Weinen Sie doch nicht, teuerste Freundin. Das kann ja nur Einbildung sein. Das muß vorübergehen. Sie werden bald wieder glücklich sein.«
Wera löste sich sanft von ihm und trocknete ihre Tränen. Sie schüttelte den Kopf. Sie konnte ihm ja nicht sagen, warum sie keine Hoffnung habe. Sie fürchtete, daß das Wolkenherz in ihr nicht Menschenliebe lernen könne, daß ihres Verlobten Glück daran scheitern werde. Aber das Wolkenherz ausreißen, das hieß die Sendung vernichten, zu der sie sich erkoren fühlte; und Paul aufgeben, hieß ihr Menschentum mit einem Wortbruch beginnen.
Martin redete tröstend zu ihr: »Gönnen Sie sich Zeit. Es kann sich nur um eine nervöse Überreizung handeln. Schonen Sie sich. Und beschäftigen Sie sich mit Ihrer Liebe. Lesen Sie seine Briefe, schreiben Sie. Halten Sie sich ruhig, wahrscheinlich schadet Ihnen dieses Bergsteigen in der dünnen Luft. Sobald Sie sich kräftiger fühlen«— er seufzte leise—»kehren Sie nach Weidburg zurück—— Und—glauben Sie, daß ich stets nicht anderes will als Ihr Glück, Ihr Glück —«
Sie reichte ihm die Hand.
»Sie sind ein Mann,« sagte sie, »ich danke Ihnen. Ich will es versuchen. Verzeihen Sie mir—ich war egoistisch. Es kam so über mich, so erdrückend, es war mir so neu—ich kann Ihnen ja nicht alles sagen. Aber ich mußte sprechen—Es ist mir jetzt leichter.—Und was tun wir nun?« fragte sie schwermütig lächelnd. »Dort ist das Hotel.«
»Jetzt gehen Sie voran,« antwortete er. »Sagen Sie, Sie fühlten sich nicht wohl. Gehen Sie auf Ihr Zimmer, lassen Sie sich dort servieren. Vergessen Sie ja nicht, sich ordentlich zu pflegen. Und dann—lesen Sie, schreiben Sie —«
»Und Sie?«
»Ich—ich komme später.«
Sie sah ihn ängstlich an.
»Ich habe zwei Tröster—Gott und die Arbeit. Gehen Sie, geliebte Freundin«
Er wandte sich schnell um und schlug einen Nebenweg ein.
Wera saß in ihrem stillen Zimmer. Sie las in dem Tagebuch aus Weidburg, sie las Sohms Briefe. Und nun nochmals die Gedichte, die sie längst auswendig wußte——
So fühlte er, ehe sie es ahnte——
Sohm an Wera.
Ausgelöscht in Dämmerungen
Liegt mein Leben, liegt mein Denken.
Nimmermehr vom Glücke fordr' ich
Neue Tage mir zu schenken.
Und doch glühn durch meiner Seele
Rätselvolle schwüle Nächte
Wundersame Mädchenaugen
Wie geheime Schicksalsmächte.
Ob mir goldne Zukunftssonnen
Nahes Morgenrot verbreiten?
Ob nur fern die Wetter leichten
In den unnahbaren Weiten?
Diese lieben dunkeln Sterne,
Ach, ich weiß nicht, was sie sagen——
Ob sie Schweigen mir gebieten?
Ob sie mich verstohlen fragen?
Das holde Glück, bei dir zu weilen,
Zwei Stimmen ruft es in mir wach —
Nur eine darf dein Ohr ereilen,
Doch heimlich tönt die andre nach.
Die eine wird dir höflich sagen,
Wie deine Nähe mich erfreut, —
Die andre stürmt in wirren Fragen,
Vom Herzen tausendfach erneut.
Die eine spricht von weisen Dingen,
Und klug und freundlich stimmst du zu, —
Die andre möchte jauchzend klingen:
Geliebtes Weib, wie hold bist du!
Und muß die erste plötzlich stocken,
Wenn mich dein Auge leuchtend mahnt,
Frag' ich im stillen tief erschrocken,
Ob du die zweite wohl geahnt?
Auf meine Hand stütz' ich das heiße Haupt
Und achtlos laß ich die Minuten rinnen.
Wieviel der Stunden hast du mir geraubt,
Wieviel der Tage, träumerisches Sinnen!
In Plänen, schon verworfen beim Entstehen,
In Wünschen, die ich auszudenken schaudre,
So muß das Leben nutzlos mir vergehn,
Und ach, so leb' ich nur, indem ich zaudre.
Von diesem Haupte nimm die Last der Jahre
Und was sie lehrten nimm mir, Herr der Zeit,
Daß ich den Frühlingssegen ganz erfahre,
Mit dem ihr Atem meine Tage weiht.
Nimm all die Zweifel, die das Herz berauben,
Nimm mir das Wissen um die neue Qual,
Laß mich noch einmal an die Liebe glauben
Und an ihr Glück—noch dieses eine Mal!
Ich kenne dich und die verborgnen Wege,
Wo deine Seele wandert——
Durch die Höhn
Des eisigen Äthers, wo den irren Schein
Die letzten Sterne wärmelos versprühn,
Führt ihre Straße sie empor ins Reich
Des ewigen Traumes. Eine Fremde Welt
Durchstrahlt mit seltsam mildem Eigenlicht
Die Seele, die sich durch die Nacht gewagt.
Doch einsam schwebt sie, ach, unendlich einsam.
Tief unter ihr verloren liegt die Erde,
Wo Menschen wohnen—Menschen, die sie rufen,
Und die sie flieht——
Ich aber kenne dich
Und die verborgnen Wege deiner Seele.
Ich bin sie selbst gewandert, endlos, stumm —
Denn keine Sprache dringt aus Menschenmund
In jene Götterhöhn,—und Götter schweigen.
Nur der ist frei, den niemand fragen kann.
Es ist so süß zu leben ungefragt,
So hingegeben ganz dem eignen Herzen
Und dem Gefühl, das seine Wege sucht.
Und weil die Menschen fragen, immer fragen,
Floh ich hinauf, wo keine Neugier wohnt,
Und eine Welt nichts weiß von andern Welten——
Dort traf ich dich, und darum kenn' ich dich.
Die Stunde des Schaffens, die segnende, schwebt
Leisatmend durchs stille Gemach,
Und der Schein ist wahr, und der Traum, er lebt,
Und das Schweigen des Ewigen sprach.
Wenn die Fessel des Endlichen klingend zerspringt,
Wenn das lösende Wort von der Seele sich ringt,
Und die Erde vergeht, und der Himmel ist mein —
In der heiligen Stunde gedenk' ich dein.
Wenn die Göttin des Sieges den seltenen Kranz
Auf die Stirn dem Zögernden drückt,
Und das Aug' erglüht in kühnerem Glanz
Und der Mut den Verzagten beglückt,
Wenn der Funke gezündet im weiten Land
Und freudiger Dank mir die Geister verband,
Dir möcht' ich den Lohn, den errungenen, weihn——
In der Stunde des Stolzes gedenk' ich dein.
Und der Tag entschläft, und der Abend naht —
Von den Gärten duftet es weich,
Und zärtliche Pärchen auf dunkelndem Pfad
Durchwandeln ihr glückliches Reich.
Und es legt sich der Neid um die irdische Lust
Mit Sehnsuchtsqual auf seufzende Brust,
Und die Schatten flüstern: Allein—allein——
In der Stunde der Tränen gedenk' ich dein.
Wenn im letzten Dämmerlichte
Näh' und Ferne matt verschwimmen,
Klingt es nicht
Dir ins Ohr wie leise Stimmen?
Dann in meinem wachen Traum
Sehn' ich mich zu deinen Füßen——
Durch den Raum
Schweben Schatten, uns zu grüßen.
Aus den Höhen, erdenfern,
Wo sich unsre Seelen finden,
Fällt ein Stern,
Und ein Lied zieht mit den Winden.
Ein Tag, da ich dich nicht gesehn,
Ist wie ein Aug' in tiefer Nacht,
Das starr in wesenlosem Spähn
Durch müde Finsternisse wacht.
Ein Tag, da ich dich nicht gesehn, Ist wie der atemlose
Gang,
Umblendet von der Nebel Wehn,
Auf wegverlornem Felsenhang.
Ein Tag, da ich dich nicht gesehn,
Ist wie des Büßers frommer Tod
Im Glauben an ein Auferstehn
Zu neuem, seligem Morgenrot!
Oft in Mühen des Tags, wenn die engen Gewalten des
Lebens
Unmut senken und Zorn in die bewegliche Brust,
Dein gedenk' ich, und ob du mich siehst; und die düsteren Falten
Glätten sich über der Stirn, und es bezwingt sich das Herz.
Leicht umfächeln mit segnendem Hauch mich freundliche Geister,
Boten der Liebe, von dir ohne dein Wissen entsandt,
Leuchtende Blicke, ein deutsames Wort, ein leichtes Berühren —
In der Erinnerung Glanz schließt sich der Reigen des Glücks.
Auf dem lichten Gebild entschwebt die getröstete Seele
Mit der deinen geeint über die Erde hinaus.
Hand in Hand, so steigen wir auf zum Reiche der Freiheit,
Und die Herrscher der Höhn neigen sich freundlich herab.
Denn den Göttern vertraut zu leben ist einziges Vorrecht
Dem belächelten Mann, der von der Menge sich schied. —
Hohe Gewalten, die ihr wohl sonst den Bittenden hörtet,
Sinne und Wort mit geschenkt, wenn ich euch ehrlich gesucht,
Heißt sie willkommen, die teure Gestalt, in der ewigen Schönheit
Wunderpalast! Nicht fremd geht sie die Stufen hinan.
Nimmermehr nun komm' ich allein; in ihrem Geleite
Meinem zagenden Fuß öffnen die Tore sich weit,
Öffnen dem kühneren Blicke sich tief die unendlichen Fernen,
Und in reinerem Glanz schau' ich die heilige Form.
Durch die herbstgebräunten Bäume
Fließt der graue Nebel hin.
Nasse Tage, kalte Räume —
Sagt, warum ich fröhlich bin?
Still die Blicke senk' ich nieder,
Und die fremde Störung fällt,
Und durch die geschlossnen Lider
Rosig leuchtet mir die Welt.
Nicht mehr schwebt es wirr vorüber
Was der rasche Traum erfand,
Denn ein holdes Gegenüber
Hält die Bilder festgebannt.
Leiser Wünsche Spiel und Regung
Blitzt ein Auge hell zurück,
Und die stürmische Bewegung
Löst sich in gewährtem Glück.
Traute Sonne meiner Träume,
Weile an des Winters Tor,
Und mit deinem Golde säume
Wettergrau und Nebelflor.
Träume steigen zur Gestalt
Wieder auf aus dunklem Schwanken —
All die formende Gewalt
Hab' ich deiner Huld zu danken.
Was in fahlem Abendgrau'n
Mir für immer schien verloren,
Hat dein rettendes Vertraun,
Glück und Welt, mir neu geboren.
Hingegeben deinem Bann
Flehen meine Lippen leise:
Schütze mich, mein Talisman,
Im Geheimnis deiner Kreise.
Da draußen aus grauer Wolkenschicht
Eintönig rieselt die Regenflut,
Doch hell aus seliger Augen Licht
Strömt mir die goldene Himmelsglut.
Von deinen Lippen entgegenlacht
Verschwiegene Wonne der Lenzeszeit.
Mit Rosenwangen das Glück erwacht
Verschämt zu leuchtender Wirklichkeit.
Wohl sind im Weltenschoß der finstern Nacht
Viel tausend Sonnen rings im Raum erwacht,
Doch eine nur zieht machtvoll zu sich hin
Den Erdenball als stille Herrscherin.
Nur eine leuchtet, daß der Tag erglüht,
Nur eine wärmt, daß neu der Frühling blüht.
Und zu der einen nur vertrauend fleht
Der ferne Träumer selig im Gebet.
Lauscht sie der Stimme dann im weiten All,
Vernimmt sie ihres Namens Widerhall,
Und schickt sie suchend ihre Strahlen aus,
Der eignen Farbe Licht kennt sie heraus,
Das Sonnengold, das seine Welt verklärt,
Der Wärme Glut, die seine Lieder nährt.
O Tag des Findens, siegend wirf herein
In dunkle Herzen deine Flammenzeichen!
Groß wie der Morgen, dem die Schatten weichen,
Groß laß und klar das neue Leben sein!
Nicht jenen Halben, die so arm und klein
Um das Geheimnis heiligen Feuers schleichen,
Darf die Geliebte, die ich kenne, gleichen;
Denn ihre Liebe haßt den eitlen Schein.
Ich will in spielerischem Zeitvertreib
Um Worte nicht, um Küsse nicht mehr werben,
Ein Stückchen Seele und ein Stückchen Leib —
Sei es die Rettung, sei es das Verderben!
Nichts oder alles—Leben oder Sterben!
Gib, lichter Tag, mein alles, mir, mein Weib!
Wera legte die Blätter beiseite. Alles stand so deutlich vor ihren Augen, der ganze glückliche Winter, von jenem ersten unausgesprochenen Bewußtsein bis zu jenem Tage des Findens, da er ihr noch abends die Lieder sandte—— Und dieses Frühjahr Aber das Glücksgefühl selbst, das Glück, das wollte die Erinnerung nicht mit sich bringen
Daß sich all dies Nehmen und Geben wiederholen sollte, immer enger und heißer wiederholen sollte Wie sollte sie das ertragen Nicht jenen Halben wollte sie gleichen, sie wollte ihm schreiben——
Nein, das ging nicht an. Wie sollte er das ertragen? Sie wußte doch, was sie ihm war. Sie wußte, wie eng nun auch sein Schaffen mit ihrem gemeinsamen Erlebnis verknüpft war. Mit welchem Rechte durfte sie das stören, was sich in der freiwilligen Hingabe ihrer Persönlichkeiten aufgebaut hatte zu einem neuen, mächtigen Menschendasein?
Und sie selbst, wie stolz war sie auf diesen Mann, den sie den ihren nennen durfte. Mußte denn dies alles zusammenbrechen um dieses eines Mangels willen, der durch Aspiras Eintritt in ihre Menschenseele geschaffen war? Wera, der freie Mensch, empörte sich in ihr, sie zürnte Aspira, der Wolke, und ach, das war ja wieder sie selbst Sie war nicht imstande, völlig in Weras Seele zu dringen. Ein unlöslicher Widerspruch in ihrem Innern
Der Kampf mußte ausgestritten werden. Aber das sah sie jetzt ein, da die ganze Fülle ihres Lebens mit Sohm wieder in ihr wirksam geworden war, auf diese Probe zweier Tage durfte sie keinen entscheidenden Schritt tun. Wer kennt die wunderbare Wirkung solcher Seelenmischung? Wer weiß, wie mit der Zeit eine Anpassung des Gefühls sich gestaltet? Das ist keine reine Gehirnarbeit, wie ihre Erkenntnis, das ist eine Inanspruchnahme des ganzen Organismus——
Gewiß, sie war zu vorschnell in ihrer Verzweiflung. Zwei Tage und eine Nacht erst war sie Mensch, und da wollte sie sogleich ergriffen haben und beherrschen, was die Menschen als ihr tiefstes Geheimnis preisen, die Liebe?
Und sie hatte in ihrer neuen Gestalt den Mann selbst noch nicht einmal gesehen und gesprochen, den sie als Wera liebte—— Das war doch ihre erste Pflicht, nun zu versuchen, Weras Erbteil auch nach dieser Seite mit gutem, ehrlichem Willen auf sich zu nehmen
Ja, Martin hatte Recht: »Sobald Sie sich kräftiger fühlen, kehren Sie zurück nach Weidburg.«
O, kräftig fühlte sie sich. Das war ja wohl eine Wirkung dieser Seelenmischerei. Von der nervösen Abspannung, die sich Wera durch ihre angestrengte Arbeit und durch die seelische Erregung ihres Brautstandes zugezogen hatte, war vom ersten Augenblicke an nach ihrem Erwachen am Gletscher nichts zu spüren gewesen. Nur die Angst vor der Liebe, die sie nicht verstand, die ihr Widerwillen einflößte, hatte sie heute in Verwirrung gesetzt. Aber nun war sie ruhiger. Sie mußte versuchen, auch diese Schwierigkeit zu überwinden.
Und wieder leuchtete vor ihr groß und strahlend das hohe Ziel. Menschendenken und Gewalt der Elemente wollte sie vereinen, nicht so, daß die besiegte Natur dem Gesetze gezwungen diene, sondern so, daß sie es verstehe als eine wohltuende Macht und sich dem Menschen willig offenbare, damit sie beide eins werden im Schauen und Schaffen der ewigen Bestimmung alles Seienden.
Nun glaubte sie zu verstehen, was es heißt: Das Leid des Schöpfers um sein Werk. Der Schöpfer sieht sein Werk als ein Ideal, aber der spröde Stoff hemmt den bildenden Willen. Das Werk sträubt sich gegen sein Werden, und der Schöpfer erfährt das Leid seiner Ohnmacht—bis er doch endlich die Macht gewinnt. Sie wollte sie gewinnen. Mit Weras Leben war ihr das Mittel gegeben, das große Versöhnungswerk von Natur und Menschheit zu vollbringen. Aber dieses Mittel war zunächst hier im Gebirge nicht anzuwenden. Sie mußte suchen, Menschen für sich zu gewinnen. In jedem Falle mußte sie nach Weidburg, zu ihrem—Verlobten.
Wie leer klang dieses Wort. Es mußte Leben gewinnen
Sie nahm einen Briefbogen und schrieb:
»Geliebter Paul.«
Da stand es. Sie wollte das Blatt wegwerfen. Das konnte sie ja doch nicht schreiben, das war ja eine Lüge. Noch einmal überkam sie der ganze Jammer ihrer Doppelseele. Doch sie überwand sich. Es sollte ja keine Lüge sein, denn es sollte Wahrheit werden. Also weiter
»Du erhältst nur diese Zeilen, doch ich hoffe, Du wirst mir nicht zürnen, denn übermorgen bin ich selbst bei Dir. Ich habe mich so prachtvoll erholt, und es geht mir so vorzüglich, daß ich mich zu Tode langweile. Ich halte es nicht mehr aus und reise morgen. Auf Wiedersehen Mit tausend Küssen Deine Wera.«
Den Schluß hatte sie ganz mechanisch hingeworfen, wie ihn Wera schon so oft geschrieben. Als sie ihre Zeilen durchlas, begriff sie ihn selbst nicht. Aber sie ließ es dabei. Mochte doch Wera das Mögliche tun
Sie traf ihre Vorbereitungen zur Reise. Den morgigen Vormittag brauchte sie noch, um ihre Aufzeichnungen als Aspira an sicherm Orte draußen zu verbergen. Deswegen wollte sie erst am Nachmittag abreisen. Und in der Nacht war sie in Weidburg.
Es war Anfang September. Ein warmer Abend senkte sich über die ausgedehnten Parkanlagen von Weidburg. Das neue, schloßartige Gebäude, worin das geologische und das chemische Institut untergebracht waren, stand verwaist. Die Studenten befanden sich in den Ferien, auch die Assistenten hatten sich jetzt auf die Reise begeben. Nur im zweiten Stockwerk, wo Professor Sohm, der Leiter des geologischen Instituts, wohnte, gönnten die geöffneten Fenster der Abendluft freien Zutritt.
Sohm lehnte an dem Eckfenster seines Studierzimmers. Die kräftig gebräunte Farbe seines Antlitzes, der flotte Schnurrbart und der freie Blick seiner grau-blauen Augen ließen ihn jünger erscheinen, als seinem Alter entsprach. Schon als er vor fünf Jahren nach Weidburg berufen wurde, hatte er gehofft, sich hier eine Häuslichkeit zu gründen. Aber eine schwere Enttäuschung in der Person seiner erwählten Braut, einer Ausländerin, die er auf seinen wissenschaftlichen Reisen im fernen Osten kennen gelernt hatte, warf einen tiefen Schatten auf die ersten Jahre in Weidburg. Erst allmählich hatte er sich wieder zur Ruhe durchgearbeitet und die alte Heiterkeit seines Gemüts zurückgewonnen. Da lernte er Wera Lentius kennen. Das junge, schöne Mädchen, das, nach dem Verlust ihrer Eltern ganz alleinstehend, still und zurückgezogen sich mit eisernem Fleiße ihren Studien widmete, hatte bald seine aufrichtige Wertschätzung errungen. Seitdem er dann Gelegenheit gefunden, ihr persönlich näher zu treten, eroberte die Liebenswürdigkeit ihres harmonischen Wesens sein ganzes Herz. Es lag über ihm wie ein stilles Glück, das er sich nicht auszumalen wagte. Und als er ihr einen Anteil an seiner Arbeit anbot, wußten beide, daß dies zu einer Entscheidung führen mußte.
Nun erblühte sein Leben in einer neuen Jugend. Neben der besonnenen Strenge seines theoretischen Schaffens barg sein Inneres ein warmes Poetenherz. Das bewahrte ihn vor der Einseitigkeit, die dem Gelehrten in seiner notwendigen Beschränkung auf spezielle Aufgaben so leicht droht. Das glühte in einem unaussprechlichen Glücksgefühl auf in der holden Zärtlichkeit, die ihm Weras Nähe gewährte. Und die Beobachtung, wie bei dieser leidenschaftlichen Liebe sie zugleich eine gemeinsame Lebensarbeit selbstlos verband, erfüllte ihn mit tiefem Vertrauen in ihre Zukunft. Im Herbst wollten sie sich in ihrem gemeinsamen Heim vereinigen.
Und nun war doch wieder eine unklare Sorge in seiner Seele aufgestiegen.
Sohm spähte über den freien Platz, über den Wera kommen mußte. Es war die Stunde ihres gemeinsamen Spazierganges, der sie fast regelmäßig durch die Anlagen zu Geheimrat Röteleins führte. In der am Hügelabhang reizend gelegenen Villa, die Rötelein mit seiner Familie bewohnte, pflegten sie als ständige Gäste die Abende zuzubringen.
Sohm sah nach der Uhr. Dann setzte er sich in den Lehnstuhl ans Fenster und stützte den Kopf in die Hand. In den letzten Tagen hatte sich seine Besorgnis um Wera ernstlich gesteigert.
Es war ihm unbegreiflich—seit zehn Wochen, seitdem Wera von ihrem kurzen Erholungsaufenthalt in den Alpen körperlich gekräftigt zurückgekehrt war, hatte er in ihrem Verhalten eine eigentümliche Veränderung bemerkt.
In dem ersten Augenblick des Wiedersehens, als er sie leidenschaftlich in seine Arme zog, war es ihm aufgefallen, wie sie seine Liebkosungen erwiderte. Fast als wenn sie sich einen Zwang antun müßte Es ließ sich nicht definieren, es ließ sich nur fühlen.
Er hatte sie mit ihrer Schwerfälligkeit geneckt. Sie hätte wohl zu viel Gletscherluft geschluckt? Die müßte wieder herausgekocht werden.
»Ach, wenn wir das könnten« hatte sie einmal lächelnd gesagt. Aber in diesem Lächeln lag ein Hauch von Schwermut. Und dieser Zug, der ihr sonst fremd gewesen war, kehrte von Zeit zu Zeit wieder, ja er war immer stärker geworden. Wenn er mit Fragen in sie drang, ob sie etwas beschwere, wich sie mit Scherzen aus. Er bemerkte, daß sie es möglichst vermied, mit ihm unbeobachtet allein zu sein. Und doch konnte er nicht einen Augenblick daran denken, daß ihr Liebe gegen ihn erkaltet sei. Im Gegenteil, durch hundert kleine Aufmerksamkeiten bewies sie ihm, daß sie nur ihm zum Gefallen und zur Freude leben wollte. Sie war liebenswürdiger und freundlicher wie je, ihre geistige Regsamkeit und Lebendigkeit hatte sich noch gesteigert, und in Gesellschaft erregte sie das allgemeine Entzücken. Wie unbeschreiblich anmutig war sie bei jenem Reigen gewesen, an dem sie mitwirkte, als Röteleins ihr kleines Sommerfest gaben. Das war ein Schweben, das fast schwerelos erschien. Und dann wieder—an andern Tagen erschien sie hastig und unstet, als ob sie von einer geheimen Unruhe umhergetrieben würde ——
Aber alles dies, sagte sich Sohm zum Troste, war ja wohl nur eine vorübergehende Erregung des Brautstandes, das wird sich wohl geben. Eine andere Veränderung in Weras Gedankenleben verursachte ihm viel ernstere Bedenken.
Ihrer chemischen wissenschaftlichen Arbeit zwar widmete sich Wera mit voller Hingabe, und ihre Analysen schritten glücklich vorwärts. Daneben aber hatte sie sich jetzt mit philosophischen Spekulationen beschäftigt, die nicht selten zu lebhaften Debatten zwischen den Verlobten führten. Sie las mit Vorliebe naturphilosophische Schriften, die Sohm zu stark in das Gebiet der Phantasie hinüberzuschweifen schienen. So hatte sie sich ganz in Fechners »Zend-Avesta« hineingedacht. Und wenn Sohm mit seinem wohlwollenden Humor über die Belebung und Beseelung der Erde scherzte und sie nur als einen tiefsinnigen poetischen Einfall gelten lassen wollte, so vertrat Wera hartnäckig den Standpunkt, daß die ganze Natur in Wirklichkeit lebe, fühle und empfinde.
Jetzt, während Sohm auf Wera wartete, zogen viele ihrer kühnen Behauptungen an seiner Erinnerung vorüber. Wollte sie ihn mit ihren Aufstellungen nur necken, wenn sie allen Ernstes davon sprach, daß in Fels und Berg, in Fluß und Meer, in Wolken und Wind nicht bloß ein allgemeines Naturleben webe, sondern daß ein individuelles Bewußtsein diese Natureinheiten beseele? Aber warum kam sie so oft und eigensinnig auf diese phantastischen Vorstellungen zurück, denen sie doch früher nicht nachgehangen hatte? Er konnte sich eines Unbehagens bei dem Gedanken nicht erwehren, daß sie nicht mehr so vollständig in allen Fragen eines Sinnes seien. Und bei aller Achtung vor der Freiheit der Überzeugung fürchtete er doch eine Gefahr für ihr gegenseitiges Verständnis, wenn sich Wera wirklich in jene mystische Gedankenwelt mehr und mehr einspinnen sollte.
Seine Stirn verdüsterte sich.
Da schlug die Klingel zweimal an. Weras Zeichen an der Haustür.
Sofort hatte Sohm seinen Hut ergriffen und war die Treppen hinabgeeilt.
Als er die anmutige Gestalt erblickte, als die leuchtenden dunkeln Augen unter dem großen Hute hervor ihn freundlich grüßten und er die zierliche Hand in der seinen hielt, waren alle verdrießlichen Grübeleien verflogen. Wie konnte man ihr zürnen?
Das Brautpaar schlug den gewohnten Weg zur Röteleinschen Villa ein, wo es schon von der Familie zur Abendtafel erwartet wurde.
Nach Tische, die Dunkelheit war längst angebrochen, saß die kleine Gesellschaft auf der Veranda am Ende des Gartens. Der Blick reichte über die Anpflanzungen der Vorstadt und den Fluß bis an das ferne Gebirge, das die weite Ebene begrenzte. Darüber am Horizonte hatten sich Wolken getürmt, in denen das Wetter leuchtete. Mitunter sprang ein stärkerer Blitz mit feuriger Spur blendend hervor.
Das muntere Gespräch war verstummt. Man beobachtete das wunderbare Feuerwerk der Natur und die langsam sich verändernden bizarren Formen der Wolken. Wera hatte ihren Platz verlassen und sich dicht an das Geländer gestellt. Ihr Schattenriß hob sich deutlich von dem Hintergrunde des Himmels ab. Bei jedem Blitze bewegte sich ihr Kopf wie mit einem leichten Gruße.
»Schauen Sie nur, wie entzückend Ihre Braut aussieht,« bemerkte Frau Rötelein leise zu Sohm.
Er nickte glücklich, während seine Augen auf Weras Gestalt ruhten. Ein doppelter Blitz züngelte mächtiger als die früheren aus der dunkeln Wolkenmasse.
»Geduld, Geduld« murmelte Wera leise vor sich hin. »Wartet nur, ich besuche euch wieder. Dann sollt ihr merkwürdige Dinge hören.« Sie hob unwillkürlich den Arm, wie man jemand Lebewohl winkt, und schritt zur Gesellschaft zurück.
Sohm ergriff ihre Hand und zog sie auf den Stuhl an seine Seite. Alle saßen still und warteten auf einen neuen Blitz. Aber die Erscheinung wiederholte sich nicht. Die hochgetürmte Wolke wurde sichtlich kleiner.
»Ich glaube, Fräulein Lentius,« sagte Rötelein scherzend, »Sie haben das Wetter beschworen. Mir war es gerade, als wenn Sie vorhin etwas geraunt hätten, gewiß einen Wetterspruch.«
»Halten Sie mich für eine Hexe, Herr Geheimrat?« fragte Wera lachend.
»Wer weiß?« neckte Rötelein weiter. »Natürlich im besten Sinne. Vielleicht sind Sie so ein Elementargeist, eine Sylphide oder eine Undine.«
»An so etwas glauben Sie ja gar nicht,« antwortete Wera.
»Aber Wera glaubt daran,« rief Suse Rötelein dazwischen. »Denke Papa, neulich hatte sie gesagt, die Berge und Flüsse und Wolken und so weiter hätten auch Seelen. Nicht wahr, Herr Sohm?«
Wera schwieg, da sie wußte, daß Paul das Thema nicht liebte.
Sohm hätte auch die Frage lieber überhört, aber da die lebhafte Suse sie nochmals wiederholte, so sagte er:
»Ich meine, Wera denkt nur an eine Allgemeinbeseelung der Natur im Sinne Fechners, dagegen läßt sich doch höchstens einwenden, daß sie Sache des Glaubens bleibt.«
»Nein, nein, sie sprach von Elementargeistern. Nicht wahr, Wera? Weißt du, ich komme nur darauf, weil Papa dich eine Undine nannte. Es war neulich, als du dazu kamst, wie ich Fouqués Undine las.«
»Und da habe ich gerade gesagt, daß diese Undine eine ganz unhaltbare Figur ist und daß es solche Elementargeister gar nicht gibt.«
»Ja, aber andere,« behauptete Suse hartnäckig.
»Ach,« sagte Frau Rötelein, »schelten Sie mir nicht die Undine, ich mag das Büchlein so gern.«
»Verzeihen Sie, Frau Geheimrat, ich will weiter nichts gegen das Buch sagen, obwohl es nicht mein Geschmack ist. Der Dichter mag meinetwegen auch solche Produkte des Volksaberglaubens beleben. Aber diese Art Romantik kann uns doch heute nicht genügen, wir leben nun einmal alle in einer ganz andern Naturauffassung, wir wissen zu viel von der Natur und den physischen Bedingungen des Menschen. Ich wiederhole, das Märchen braucht sich darum natürlich nicht zu kümmern. Wenn wir aber von Elementargeistern sprechen, an deren wirkliche Existenz wir glauben sollen—und ich will gar nicht leugnen, daß ich es tue —«
»Aha«
»Ja, aber doch nicht an Sylphiden und Undinen, nicht an Wesen mit menschlichen Leibern, die im Wasser leben sollen, und so weiter. Solchen Koboldspuk gibt es nicht in der Natur. Und dann diese unmögliche Psychologie Undine soll keine Seele haben Was soll man sich darunter vorstellen? Das Wesen lebt und denkt und will und fühlt doch, es ist eine Bewußtseinseinheit, also muß es auch eine Seele haben, wenn man dem Worte überhaupt einen Sinn geben will. Meine Elementargeister haben selbst Seelen, aber sie haben keinen Menschenkörper. Sie sind mehr oder weniger einheitliche Naturformen, wenngleich anders organisiert als unser Nervensystem. Aber dadurch bedeuten ihre Veränderungen auch für sie ein bewußtes Erlebnis. In diesem Sinne rede ich von Elementargeistern als von einem Bewußtsein der Existenz bei elementaren Gewalten. Und da sollte auch der Dichter einsetzen. Da könnte er die Natur, die wir in Erkenntnis und Technik entgöttern müssen, wieder im Gefühle lebendig machen.«
»Nun,« sagte Rötelein, »wenn Undine behauptet, sie hätte keine Seele, so müssen Sie ihr diesen Verstoß gegen die psychologische Terminologie nicht so übel nehmen. Sie hatte doch keine Reifeprüfung abgelegt. Sie versteht eben unter Seele nur das, was sie eine unsterbliche Seele nennt, und was sie bei den Menschen gewinnen will.«
»Und was ist das für eine Seele? Wie zeigt sich das? Daß sie recht mitfühlsam und zärtlich und geduldig und gehorsam ist, so recht unterwürfig fügsam und so recht langweilig—dazu lohnt es sich ein Mensch zu werden mit einer unsterblichen Seele? Diese ganze mittelalterlich-kirchliche Auffassung vom Seelenleben kann mich nicht interessieren.«
»Sie können doch,« erwiderte Rötelein, »vom Dichter nicht mehr verlangen, als der Zeit entspricht, in die er sein Märchen verlegt. Wenn Ihnen aber die Auffassung dieser konventionellen Ritterzeit nicht zusagt, so hindert Sie nichts, sich diese sogenannte unsterblichen Seele als das zu deuten, was wir uns heute darunter denken. Ich meine als das, was das Menschenbewußtsein über alle Natur hinaushebt, jene zeitlose Bestimmung, ein Selbstzweck zu sein, eine sittliche Idee zu vertreten.«
»Eine Persönlichkeit also,« sagte Wera nach kurzem Schweigen. Sie nickte langsam mit dem Kopfe und fuhr dann fort: »Das läßt sich hören. Ein Wesen, das sich selbst bestimmt, das sich seiner Selbstbestimmung und Verantwortung bewußt wird. Das wäre freilich eine herrliche Aufgabe für einen Elementargeist, eine höhere Stufe, die zu erreichen ich ihm gönnen möchte.«
»Na, Schatz,« sagte Sohm lachend, »werde nur nicht gar zu feierlich. Ich bekomme schon Angst. Bei der nächsten Analyse redet am Ende das Quellwasser aus deiner Flasche: Erlauben Sie mal, was destillieren Sie mich da? Ich bin eine freie Persönlichkeit und wünsche meinen Selbstzweck in flüssigem Zustande zu erfüllen.«
»Das brauchst du gar nicht zu befürchten,« antwortete Wera ernsthaft. »Als Wasser oder Dampf bleiben die Elemente eben Elementargeister; wenn sie Persönlichkeiten werden sollen, müßten sie erst einen Menschenleib erwerben.«
»Aber ich bitte Sie,« sagte Rötelein, »was wir am Menschen seine Persönlichkeit nennen, kommt doch nicht den Elementen zu, die seinen Leib zusammensetzen, sondern daß ist die Bestimmung, um derentwillen dieser Leib eine Einheit bildet.«
»Ja,« verteidigte sich Wera, »aber diese Einheit ist an die physische Einheit des Nervensystems gebunden und kann sich nur in dieser als Selbstbestimmung bewußt werden. Die Elemente erleben sich freilich selbst und mögen dabei in ihrer Art Gefühle und Vorstellungen haben, die nur der Märchendichter in unsre Sprache übersetzen kann. Sollen sie aber nicht bloß symbolisch, sondern in Wirklichkeit zum Verständnis des Menschenwesens kommen, so gehört dazu ein Zellenleib mit seinem Gehirn —«
»Aber Wera,« fiel Sohm ein, »nimm mir's nicht übel—man darf doch diese Phantasien nicht zu ernsthaft nehmen. Ich fürchte, du verlierst dich da in Spekulationen, die wir als Naturforscher besser beiseite lassen.«
Wera schwieg verstimmt.
»Stören Sie doch Ihr Fräulein Braut nicht,« sagte Rötelein heiter. »Sie wollen sicherlich nicht sagen, Fräulein Lentius, daß so ein Quantum Wasserdampf sich in unser Nervensystem schleichen und an unserm Bewußtsein teilhaben könne, und sich dabei doch noch erinnern, daß es einmal eine Wolke gewesen sei? Vorausgesetzt,—was ich ja für meine Person zugebe— daß diese Naturgebildeüberhaupt ein Bewußtsein besitzen.«
»Verzeihen Sie, Herr Geheimrat,« entgegnete Wera, »das will ich gerade sagen. Ich meine, daß so ein Elementargeist unter besondern Umständen wirklich einmal zur Vernunft gelangen könne, ohne seine Zugehörigkeit zum Reiche der Naturgewalten zu verlieren.«
»Um Himmelswillen, Wera« rief Sohm entsetzt. »Da riskiert man schon eher, daß der Mensch seine Vernunft verliert«
»Paul«
»Schatz, sei nicht böse—aber aus deinen Worten kann man wirklich nicht entnehmen, daß du uns zum Besten haben willst.«
»Das will ich auch nicht. Ich spreche im Ernste—Paul, du brauchst kein so finsteres Gesicht zu machen. Denn sieh mal, das weißt du ja, daß wir im Ziele einige sind. Wir alle betrachten die Natur als ein Mittel, die unendlichen Zwecke der Vernunft mehr und mehr zu verwirklichen. Wir wollen die Natur unterwerfen, damit Kultur herrsche; wir wollen die Naturnotwendigkeit in den Dienst der Freiheit stellen. Nicht wahr?«
»Gewiß, Wera. Aber dazu brauchen dir deine Elementargeister nicht. Der Weg geht durch die Naturwissenschaft und Technik. Das einzige Mittel ist die Erkenntnis der Gesetze.«
»Siehst du, Paul,« sagte Wera und faßte seine Hand, »auch darin sind wir völlig einig. Aber nun kommt das, was du nicht leiden kannst—und da wage ich augenblicklich gar nicht mehr, es zu sagen.«
»Nun haben Sie mich aber neugierig gemacht,« mischte Rötelein sich ein. »Jetzt müssen Sie schon Farbe bekennen Ich weiß nämlich nicht, wozu Sie noch Ihre biedern Elementargeister brauchen, wenn Sie das Recht der Naturwissenschaft voll anerkennen.«
»Wenn sie nun aber einmal da sind —«
Sohm machte eine ungeduldige Bewegung.
»Na, na,« sagte Rötelein gemütlich, »wir glauben ja freilich nicht daran. Vielleicht meine Frau manchmal so ein bißchen, wenn's gerade paßt. Aber wir können ja einmal ganz hypothetisch sprechen. Angenommen, es gäbe solche geheimnisvollen Naturseelen—was wollen Sie damit erreichen?«
»Eine Abkürzung des Weges zur Kultur.«
Röteleins sahen sie erstaunt an. Sohm wußte, worauf Wera hinauswollte. Er spottete:
»Abrichten will sie Wera zu wissenschaftlichen Haustierchen, Kultureseln«
»Nenn's, wie du willst,« erwiderte Wera heftig. »Ich sage, warum soll das Wissen um die großen Ziele der Kultur allein im Menschen lebendig sein, warum sollen nicht auch Geister andrer Art daran teilnehmen und die Arbeit fördern lernen?«
»Aber, liebes Fräulein,« entgegnete Rötelein ernsthafter, »das ist eigentlich gar nichts so Neues, sondern nur ein modernisierter Ausdruck für einen längst überwundenen Standpunkt aus der Kinderzeit der Naturforschung. Das geht in die Zeit vor Paracelsus zurück, etwa in die Magie des Agrippa von Nettesheim. Und alles, was wir errungen haben, verdanken wir den Männern des 16. und 17. Jahrhunderts, die uns gezeigt haben, daß die Erkenntnis nur von außen ansetzen kann und sich mit psychologischen Träumen nicht abgeben darf. Sie werden uns doch nicht um vier Jahrhunderte in der Kulturgeschichte zurückschrauben wollen.«
»Nein, Herr Geheimrat. Damals wäre meine heutige Idee nur ein Traum gewesen wie der der Magie. Damals wagte man sich an das Beginnen, ohne eine Ahnung, wie es durchzuführen sei. Aber ganz ebenso unfruchtbar tastete man damals auf experimentellem Wege. Man setzte vertrauensvoll einen Blumentopf auf die Waage, um die Nahrungsaufnahme der Pflanze zu beobachten, ohne zu wissen, daß die damaligen Mittel der Messung in keiner Weise für die erforderliche Präzision ausreichen konnten. Man wußteüberhaupt nicht, was man messen sollte; und wenn man imstande gewesen wäre, die Elementargeister in Dienst zu nehmen, man hätte nicht gewußt, was man ihnen auftragen sollte. Aber heute wissen wir Bescheid und können ein Erkenntnismittel zu Hilfe nehmen, das damals unbrauchbar war. Heute haben wir die experimentelle und mathematische Naturwissenschaft und laufen nicht mehr Gefahr, der Mystik in die Arme zu fallen. Wir können uns aber neue Hilfsarbeiter für die Erkenntnis heranziehen.«
»Nun sagen Sie mir bloß, verehrtestes Fräulein, wie Sie das machen wollen?«
»Nun, beschwören lassen sie sich nicht, weder von Faust noch von sonst jemand. Auch als Intelligenzen sind sie nicht über- sondern untermenschlich. Daß man Kommendes vorausberechnen kann, verstehen sie nicht. Aber sie sind individuelle, bewußte Wesen und vermögen dabei rein physisch vieles, was der Mensch nicht leisten kann. Wenn ihnen nun der Mensch einen direkten Auftrag gäbe, z. B. einer Luftströmung, ihren Weg über unzugängliche Landstrecken zu beschreiben —«
Jetzt brach Rötelein in ein herzliches Lachen aus. Sohm hatte, um sich durch seinen Unwillen nicht zu einer unfreundlichen Unterbrechung hinreißen zu lassen, seinen Platz verändert. Jetzt trat er wieder hinzu.
Rötelein rief lustig:
»Sie sind wirklich kostbar, Fräulein Lentius Jetzt möchte ich bloß noch wissen, in welcher Sprache Sie den Wind befragen wollen.«
Wera erhob sich und sagte trocken: »Dazu brauche ich natürlich einen Dolmetscher. Das wird eben der Elementargeist sein, der ein Mensch geworden ist. Und der wird sich finden.«
Rötelein lachte noch immer.
Sohm bezwang sich und ergriff Weras Hände.
»Weißt du, Schatz,« sagte er, »bis dahin wollen wir doch lieber Frieden schließen, denn so lange kann ich unmöglich mit dir schmollen, obwohl du uns gründlich zum Besten gehabt hast. Und ich fürchte, wir werden auch hier nicht auf deinen Dolmetscher warten können, denn es ist ziemlich spät geworden.«
Wera stand stumm. Sie hatte sich zu weit hinreißen lassen—und dennoch, sie mußte doch einmal die Menschen zu überzeugen suchen ——
»Nein, nein,« rief Fräulein Rötelein. »So dürfen Sie noch nicht gehen. Auf Ihre Geister lassen Sie uns noch ein menschliches Gläschen trinken. Wir sind ja ganz von unsrer Undine abgekommen.«
Suse streichelte der Freundin die Hand. Wera zwang sich zu einem Lächeln. Sie sah ein, daß es vergeblich war, von dem zu sprechen, was sie im Innersten bewegte.
»Ach,« sagte sie, indem sie sich wieder setzte, »ich wünschte, wir wären gar nicht auf diese unglückliche Wassertante geraten.«
»O, im Gegenteil,« rief Rötelein, indem er Wera sein Glas entgegenhielt, »ich möchte Ihre köstlichen Fingerzeige nicht vermissen. Es wäre doch nett, wenn heutzutage so ein Elementargeist der Undine nachahmte, um, falls nicht zu einer unsterblichen Seele, so doch zu einem Menschenhirn zu kommen.«
»Nun laß einmal unsre Wera zufrieden,« sagte Frau Rötelein, indem sie Wera zärtlich die Wange klopfte. »Wenn jetzt eine Undine käme, würdest du sie doch nicht als Elementargeist anerkennen, und einen Ritter können wir ihr auch nicht zum Gemahl verschaffen.«
»Na, heutzutage,« scherzte Rötelein weiter, »würde ihr der Ritter auch nichts nutzen; es müßte mindestens ein Professor sein. Sie soll ja wissenschaftliche Erkenntnis gewinnen. Am besten wäre ein Geologe. Aber freilich, unsrer ist schon vergeben.«
»Wenn Sie mich meinen,« sagte Sohm jetzt ebenfalls heiter, »ich habe Gott sei Dank mein Elementargeisterchen; um des Gehirns willen braucht das nicht zu heiraten.«
Er drückte Weras Hand und sah sie zärtlich an. Wera erwiderte den Druck mechanisch. Es durchzuckte sei ein Gedanke, der sie im Augenblick alles vergessen ließ. Mit Gewalt versetzte sie sich wieder in ihre Umgebung. Und halblaut sagte sei vor sich hin:
»Es ist ja doch Unsinn.«
»Das Heiraten?« neckte sie Frau Rötelein, die ihre Worte verstanden hatte.
»Ja, von der Undine, meine ich.«
»Ach so« sagte Sohm lachend.
»Wie soll sie dadurch zu einer Seele kommen? Das könnten doch höchstens—« Wera brach ab.
»Ihre Nachkommen, meinen Sie?« rief Rötelein. »Das sollte ich auch meinen. Der Romantiker hat natürlich an irgend eine mystische Einwirkung durch die Ehe gedacht.«
»Da will ich doch einmal den Dichter in Schutz nehmen,« mischte sich die Hausfrau ein. »Mann und Frau leben sich eben ineinander ein. Manchmal kann es ziemlich lange dauern. Aber nach und nach stellt sich durch die Gewohnheit eine Übereinstimmung des ganzen Seelenlebens ein, und eine solche Anpassung ist sicherer als eine Vererbung. Man lernt sich verstehen.«
»Und Sie glauben,« fragte Wera etwas zögernd, »daß sich in der Ehe manche Fähigkeit, ich will sagen, ein Verständnis für gewisse Tiefen des menschlichen Bewußtseins erst ausbildet, das nur durch eine solche Verbindung zu gewinnen ist?«
»Ganz sicher.«
»Es ist ein zu kompliziertes Ding, so ein Menschenhirn. Schlimmer als alle Schluchten des Hochgebirgs. Man denkt, man hat in jedes Winkelchen geguckt, und dann gibt's immer noch Windungen, wo man doch nicht hineinschlüpfen kann.«
Sie erhob sich und reichte Rötelein die Hand.
»Ja, Schatz,« sagte Sohm, »wir wollen gehen. Du bist heute dunkel wie unser Heimweg.«
Und der Heimweg war nicht nur dunkel, er war auch schweigsam. Arm in Arm schritten sie dahin und wechselten doch nur wenige Worte. Beide waren mit ihren Gedanken beschäftigt.
Sohm war unzufrieden mit Weras lebhaften Auseinandersetzungen. Ihn ängstigte die eingehende Hingabe Weras an diese Vorstellungen, die sie sichtlich zu einer ganzen Theorie ausgesponnen hatte. Er wollte es vermeiden, darauf zurückzukommen.
Wera rang innerlich schwer mit ihrer Aspiraseele. Sie fühlte, daß sie binnen kurzem eine Entscheidung treffen müsse. Aber wie?
So waren sie bis an Weras Haustür gelangt.
Sohm öffnete und neigte sich dann zu Wera zu einem Abschiedskusse.
Da schlang sie plötzlich beide Arme um seinen Hals und küßte ihn heiß und leidenschaftlich wie noch nie seit ihrer Rückkehr aus dem Gebirge.
Sie lehnte das Haupt an seine Wange und schluchzte:
»Sei nicht traurig, Geliebter, behalte mich lieb«
Noch ein inniger Kuß, und sie war im Hause verschwunden.
Vergeblich suchte Wera den Schlummer.
Sie war ratlos. Sie schämte sich dieser Liebkosung beim Abschiede, — das war eine Willensanstrengung, aus langem inneren Ringen hervorgegangen, und doch, sie fühlte es, ein leeres Spiel, ein künstliches Feuer, das ihr keine innere Wärme gab. War es nicht ein Betrug?
Sie wußte ja genau, wie glücklich er jetzt sein würde. Und wie gönnte sie ihm dies Glück, wie innig wünschte sie, es ihm so zu geben, wie sie es früher als Wera gekonnt hatte. Aber nun Es war ja doch eine Verstellung. Würde sie es durchsetzen können, um seines Glückes willen sie zu üben? Durfte sie das?
Nein Nein So oft sie sich diese Frage vorgelegt hatte, immer zwingender schien ihr dieses Nein zu werden. Hinweg von hier, hinweg klang es in ihr.
Sie war nahe daran gewesen, ihn zu bitten: »Gibt mich frei« Aber warum? Was sollte sie ihm sagen? Daß sie sich in ihrer Liebe getäuscht habe? Um seinetwillen konnte sie den Mut nicht finden. Und sie selbst?
Zehn Wochen täglichen, vertrauten Zusammenseins, und doch keine Spur in ihren Adern, kein Hauch in ihrem Herzen von der Glut der Leidenschaft, von der verzehrenden Seligkeit, die Liebeswonne heißt—— Gebärden ohne Gefühl
Und trotzdem hatte sie heute noch einmal den Versuch gemacht —— Eine neue Hoffnung hatte sich in ihr geregt. Woran sie gezweifelt hatte, daß sie die Liebe gewinnen konnte, die er verdiente, das erschien ihr nun nicht mehr unmöglich; das war der Gedanke, der ihr bei der letzten Wendung des Gesprächs über Undine aufgeblitzt war. Vielleicht konnte dieser Teil der Seele Weras wirklich erst von ihr errungen werden, wenn sie Pauls Frau geworden war. Vielleicht gehörte dazu dieses unverständliche Zusammenleben, das die Menschen Ehe nannten. Und wenn es Jahre dauerte— was sind Jahre für ein Wolkenleben? Sie mußten daran gegeben werden, wenn sie dadurch ihrer Aufgabe leben konnte, ohne sein Glück zu zerstören. Und wenn es dann gelang, wenn sie sich beiden nun wirklich ganz finden lernten, auch noch in diesem Innersten des Menschenseins, dann war es ja kein Unrecht, keine Lüge, keine Entwürdigung mehr, wenn sie bis dahin sich zwang, das zu scheinen, was sie werden wollte, werden würde. Sie mußte den Schmerz der Zärtlichkeit darangeben, bis er sich in Lust und Glück verwandle, solange noch eine Hoffnung des Gelingens war.
Und darum hatte sie ihn heute so glücklich gemacht. Und sie barg das Gesicht in ihre Hände und weinte.
Auf dem stummen Heimwege hatte sie sich das ausgedacht. Aber nun — nun kamen ihr doch wieder Zweifel, und sie fuhr empor von neuen Fragen durchwühlt. Die Unwahrheit Was halfen da Beschwichtigungen Selbst in dem Vertrauen, Paul alles zu werden, was er von Wera erhoffte, durfte sie diesen Bund eingehen, wenn sie ihrem Manne das Geheimnis ihrer Herkunft für immer verschweigen mußte? Menschen können sich ja lieben und ein gemeinsames Leben führen und doch ganz verschiedene Ansichten über Welt und Dinge haben, aber sie müssen es voneinander wissen, sie müssen sich verstehen, sie müssen es sich sagen können und ihre Gründe achten. Sie aber konnte niemals sagen: »Du hast eine Wolke geheiratet.«
Warum nicht? Es war ihr verboten. Dennoch, wenn sie sich entschloß, ein Mensch zu bleiben und nie wieder mit dem Wolkenreich in Verkehr zu treten, so war sie auch an das Verbot des Vaters nicht gebunden. Aber das durfte sie nicht eher, bis sie ihre Sendung erfüllt hatte, bis den Elementen das Verständnis für die Aufgabe der Menschen erschlossen war. Das konnte sie nur durch diese Seelenmischung erreichen. Sonst verlor sie die Macht des Zusammenhangs und der Vermittlung. Also mußte sie hinaus zu den Geistern der Berge, ehe sie das Band der Menschheit unauflöslich um sich legte.
Aber wenn es wirklich einmal dazu käme, daß sie die Wahrheit sagen durfte um ihrer Aufgabe willen—würde denn das jemals möglich sein um der Menschen willen? Das hatte sie eben vorläufig erproben wollen. Und heute hatte sie ja deutlicher wie je gesehen—man würde ihr nie glauben. Diese Menschen konnten sie nicht verstehen. Man würde sie für geistesgestört halten, für wahnsinnig
Und Paul O Gott Auch für ihn wäre sie die Unzurechnungsfähige, die sich an eine fixe Idee klammert. Ja, das war die Angst, die manchmal leise in seinem Auge, in seinen verständnislosen Mienen zuckte, wenn sie von den Elementargeistern sprach. Und diese Angst, diese Qual—würde sie ihn nicht vernichten? Zum mindesten ihr gemeinsames Leben würde sie zerstören. Er würde sie ertragen, wie man einen unheilbaren Kranken erträgt—aus mitleidiger Liebe—doch das war kein Leben. Dazu wird man nicht ein Mensch. Und das durfte sie um seinetwillen nicht tun.
Sie grübelte verzweifelt. Gab es keinen Ausweg?
Nur dann, wenn sich Paul von der Wahrheit überzeugen ließ, daß ihre Sendung zu den Menschen kein Spiel wahnwitziger Phantasie sei, wenn er begriff, daß es Elementargeister gibt, daß ein Verkehr zwischen ihnen und den Menschen möglich ist. Aber das wußte sie schon jetzt, das würde bei ihm niemals eintreten.
Sollte sie ihr Menschsein aufgeben, ihre Sendung verleugnen? Statt des Leides lieber das freie, sorglose Spiel der Wolke wieder wählen? Das durfte sie doch nicht, ohne zuvor sich den Rat des Vaters geholt und versucht zu haben, die Geister der Berge für ihr Werk zu gewinnen.
Ja, sie mußte hinauf in die Heimat. Vielleicht konnte sie von dort mit neuen Hoffnungen zurückkehren.
Aber eines mußte vorher noch hier geschehen. Noch eine Hoffnung mußte sie verfolgen. Sie war es auch ihm schuldig, dem sie so vieles zu rauben drohte. Wenigstens die Sorge sollte er nicht haben, daß seine Braut ihres klaren Verstandes nicht mehr mächtig wäre. Die Liebe, die sie ihm gab, sollte ihn nicht nur zur mitleidigen Duldung ihres Glaubens führen, er sollte ihr Recht anerkennen, er wollte gewiß werden, daß sie bewußt und pflichttreu wie er selbst eine geprüfte Überzeugung vertrat.
Und dann, dann mochte die letzte Entscheidung fallen nicht hier, sondern dort, wo ihre letzte Zuflucht war——
Aus angstvollen Träumen durch ihre Gedanken immer wieder aufgeschreckt, versank Wera erst gegen Morgen in einen wohltätigen Schlaf. Später als gewöhnlich erwachte sie.
Auf dem Frühstückstisch fand sie einen Brief mit dem Poststempel »Schmalbrück«. Neugierig öffnete sie. Von Martin, dem Ingenieur. Sie war von Schmalbrück abgereist, ohne ihn seit ihrer Unterredung im Walde wiedergesehen zu haben. Von Weidburg aus hatte sie ihm einen Abschiedsgruß geschickt, aber nichts mehr von ihm gehört.
Sie las:
»Hochverehrtes Fräulein Das Interesse, das Sie bei unserer letzten Unterredung über den Tunnelbau bekundeten, und die wichtige Anregung, die ich durch Ihre Bemerkung über die Quelle im Silbertobel empfing, geben mir den Mut, mich in dieser Angelegenheit an Sie zu wenden. Auch fühle ich mich verpflichtet, Ihnen meinen innigsten Dank auszusprechen und zugleich über den Verlauf der Angelegenheit zu berichten.
Die genauere örtliche Untersuchung und die chemische Prüfung des Wassers an verschiedenen Stellen des Tobels haben Ihre Vermutung durchweg bestätigt. Doch hat sich gezeigt, daß in einer kleinen Parallelschlucht etwa 200 Meter weiterhin eine zweite, schwächere Quelle ähnlicher Art auf ein nochmaliges Auftreten von Kalk hinweist. Bedenklicher sind gewisse Erscheinungen beim Fortschritt des Tunnels, die es wahrscheinlich machen, daß noch andere Verwerfungen in der Tiefe bei weiterem Vordringen von unten her unsere Arbeit bedrohen. Obgleich wir alle technischen Vorsichtsmaßregeln getroffen haben, um einem etwaigen Einbruch heißer Quellen sofort zu begegnen, hat sich die Direktion doch entschlossen, noch ein geologisches Obergutachten einzufordern, und beabsichtigt, sich zu diesem Zwecke an Herrn Professor Sohm zu wenden.
Dieses Ansuchen und der Bericht mit den erforderlichen Zeichnungen ging heute früh an Ihren Herrn Bräutigam ab. Vielleicht darf ich hoffen, daß Ihre Teilnahme an dem Schicksal des Tunnels dazu beitragen könnte, Herrn Professor Sohm zur Annahme des Antrages der Direktion geneigt zu machen.
Möchten Sie, hochverehrtes Fräulein, in erwünschter völliger Wiederherstellung Ihres Befindens diese Zeilen empfangen, mit denen sich Ihnen empfiehlt Ihr aufrichtig ergebener Theodor Martin.«
Die Nachricht konnte Wera nur halb befriedigen. Sie fühlte sich aufs neue beunruhigt, und ihr Entschluß erstarkte nur um so mehr, das Innere des Berges so bald wie möglich selbst in Augenschein zu nehmen, wenn—ja wenn sie wieder die Macht dazu hatte.
Sie beeilte sich, in das chemische Laboratorium zu kommen, wo sie jetzt die einzige noch Arbeitende war. Kaum hatte sie ihre gewohnte Beschäftigung aufgenommen, als Sohm bei ihr eintrat. Er legte schnell einen Stoß Papiere aus der Hand und zog Wera in seine Arme. Von gestern sprachen sie nicht mehr.
»Ich weiß schon, was du da bringst,« sagte sie endlich. »Ich habe auch einen Brief erhalten.«
»Von der Direktion?«
»Nein, von dem Oberingenieur am Tunnel. Ich habe dir ja erzählt, daß ich dort war und dann die Silberquelle aufgesucht habe.«
»Ja, und deine Vermutung war richtig, wie die Analysen in Zürich zeigen. Da weißt du wohl schon, daß ich zu einem Gutachten aufgefordert bin?«
»Tu's doch« sagte sie, seine Hand ergreifend und sich an ihn lehnend.
»Wenn du's willst, so wird wohl nichts anderes übrig bleiben,« antwortete er glücklich. »Aber es müßte dann sofort sein. Bekomme ich denn so leicht Urlaub von dir?«
»Es ist ja nicht auf lange.«
»Siehst du,« sagte er lächelnd, »das kommt nun davon. Wärest du schon mein Frauchen, wie ich eigentlich wollte, so könnten wir jetzt zusammen hingehen.«
»Wer weiß, wo wir da jetzt wären,« sagte sie. »Aber«— sie stand nachdenklich—»vielleicht—vielleicht könnte ich dich einmal besuchen. Ich könnte ja auf ein paar Tage nach St. Florentin gehen, da kommst du leicht hinüber —«
»Abgemacht« rief er fröhlich. »Das muß besiegelt werden, du geliebtes—«
Auf dem Arbeitstisch zischte etwas.
»Himmel, mein Apparat« rief Wera und sprang hinzu, um zum Rechen zu sehen.
Sohm holte die Papiere. »Ich habe mich schon so ziemlich orientiert,« sagte er, während Wera sich vor den Tisch setzte. »Ich werde heute telegraphieren und den Nachtzug benutzen.« Er blätterte in den Plänen.
»Und was denkst du denn über den Fall?« fragte Wera gespannt.
»Soweit ich sehe, glaube ich eigentlich nicht an eine Gefahr. Nach der Stärke deiner Silberquelle muß der Gneis das brüchige Kalkband ganz abschließen. Die zweite Quelle ist schwach und viel weniger kalkhaltig, sie kann also garnicht mit der ersten zusammenhängen. Dort liegt wohl nur ein versprengtes Stück der Schicht. Aber freilich—die Temperaturzunahme macht Bedenken—da muß ich erst einmal an Ort und Stelle sehen, wie die Schichten liegen.«
»Es würde mich wirklich sehr freuen,« rief Wera, »wenn alles gut ginge«
»Wohl um des Herrn—wie heißt er?«
»Martin. Ja. Er würde mir so leid tun. Und er ist so nett.«
Sohm drohte lächelnd mit dem Finger. »Da muß ich schon einmal hin, um mit den Mann anzusehen. Übrigens—so sicher ist die Sache keineswegs. Da der Kalk offenbar in der Tiefe zermalmt ist, kann von dort aus irgendwo ein Schlammerguß nach oben gedrückt werden. Kein Mensch kann so einem Berge in den Leib sehen.«
»Ein Mensch freilich nicht, aber —«
»Wera, du willst doch nicht wieder von dem unglücklichen Thema anfangen? Lassen wir das doch nun —«
»Aber Paul, du siehst doch, hier ist einmal ein Fall, wo der Geologe fast machtlos ist. Wenn es jedoch ein Wesen gäbe, das nun wirklich durch die Kalkschicht in ihren verschiedenen Teilen hindurchstreichen könnte—«
»Das gibt's auch. Wasser oder Luft.«
»Ja. Wenn dir aber dann das Wesen genau sagen könnte, wie die Schicht verläuft und in welchem Zustande —«
»Hm Ja Das wäre ganz schön. Das Wasser brauchte nur Kompaß, Barometer, Thermometer und Geschwindigkeitsmesser mitzunehmen und seine Route kartenmäßig festzulegen, und dann müßte es sich etwa noch ein menschliches Sprachorgan anschaffen—oder meinst du, daß eine Schreibmaschine genügen würde?«
»Du bist unausstehlich«
»Aber, lieber Schatz, du kannst doch nicht verlangen, daß ich solche Reden ernst nehme?«
»Warum nicht? Wenn das Wasser oder die Luft nun Bewußtsein besitzt und ein so feines Orientierungsvermögen, daß es seinen Weg ohne Instrumente kennt, und wenn es dann sein Bewußtsein in das eines Menschenhirns umsetzen könnte—«
»Wenn und wenn Wenn du nichts Gescheiteres weißt, so schließe wenigstens deine Waage ab, damit man dir einmal in die nichtsnutzigen Augen sehen kann.«
»Du sollst sehen, daß ich ganz vernünftig bin,« sagte Wera, indem sie den Glasverschluß der Waage zuschob und aufstand. Dann trat sie dicht an Sohm heran und legte die Arme um seinen Hals.
»Nun sieh mir in die Augen,« rief sie, »und sage, ob ich verrückt bin.«
»Die Pupillen sind groß—«
»Weil ich in deine schwarze Seele schaue. Aber die Lippen sind ganz kühl, nicht wahr? Bist du mir noch böse?«
Er war machtlos. Sie lehnte sich an ihn und flüsterte:
»Weißt du, was ich heute Nacht geträumt habe? Wir waren irgendwo zusammen, und du—so wie jetzt—und auf einmal war ich ein kleines, ganz kleines Wölkchen, und mit einem Atemzuge sogst du mich ein, ohne es zu wissen. Und nun war ich in dir, ganz, in diesem furchtbar klugen Kopfe, und wußte alle deine Gedanken. Aber auch du—du kanntest mich nun ganz und verstandest, warum ich an die Beseelung der Elemente glaube. Und da sagtest du: Da hat die Wera in ihrer Art doch auch recht, und sie ist wirklich nicht verrückt. Das will ich ihr doch gleich sagen. Da sahst du dich nach mir um und suchtest mich überall, aber ich war nicht mehr da, ich war ja in dir, ganz in dir. Und ich sah, wie du dich um mich ängstigtest und dich quältest, und deine Qual war mein Qual, und ich fühlte ich so namenlos elend, daß ich laut aufschrie: Zu spät Da wachte ich auf und war so froh, daß es nur ein Traum war.«
»Du mein geliebtes Glück, du bist ja meine gute, verständige Wera Aber wenn du immer diesen mystischen Gedanken nachhängst, so darfst du dich nicht wundern, wenn sie dich schließlich bis in den Traum verfolgen und ängstigen.«
Sie schüttelte traurig den Kopf. »Meine Gedanken ängstigen mich ja gar nicht, nur die Sorge, daß ich dich kränken, daß du um meinetwillen dich beunruhigst. Das ist es, was mich quält. Was der Traum zeigt, ist sinnlos, aber die Stimmung, aus der er kommt, ist echt. Und Sorgen wollen wir uns doch nicht machen. Deshalb bitte ich dich, Paul, vertraue mir, glaube mir, daß ich weiß, was ich denke, daß meine Gedanken nicht verworren sind, wenn sie dir auch wunderlich erscheinen, und—ängstige dich nicht um mich und mein bißchen Verstand«
»Um Gotteswillen, Wera, was sagst du da«
»Sei gut. Ich weiß doch, daß es dich beunruhigt, wenn ich solche Ansichten äußere. Ich will sie ja auch möglichst unterdrücken. Aber ich kann mich doch nicht selbst verleugnen. Meinen Glauben mußt du mir schon lassen.«
»Aber Herz, das versteht sich doch von selbst, daß du deine Freiheit hast, und daß ich sie achte. Glauben magst du ja, was du willst. Und ich bin auch sicher, daß wir in dem Wege übereinstimmen, den unsere Arbeit zu nehmen hat; wir wissen beide, daß es keine andere Erkenntnis gibt, als durch die Erforschung des Gesetzes.«
»Ja, Paul.«
»Und durch die Mittel der Wissenschaft.«
»Ja, aber diese Mittel können erweitert werden unbeschadet der wissenschaftlichen Methode.«
»Unbeschadet? Siehst du, Wera, das eben ist die Frage. Das ist die Stelle, wo wir auseinandergehen. Der Weg, den du im Auge hast, ist ein Phantasma, ein subjektiver Glaube, ich sage eine Illusion. Und wer sich solchen Einbildungen hingibt, dem droht eine ungeheure Gefahr. Der überschreitet die Grenzen der Wissenschaft, der gewöhnt sich an eine spielende Beschäftigung des Geistes, die ihn verführt, den langsamen, mühsamen Weg aufzugeben und sein Glück auf seinem Sprunge ins Leere zu versuchen.«
»Nein Liebster. Was ich im Auge habe, ist nichts anderes, als es die Erfindung eines neuen Instrumentes wäre, ein neues Mittel, das wir noch nicht kennen.«
»Eben das ist die Gefahr. Mit diesem Suchen nach unmöglichen Erfindungen haben schon Unzählige ihr Leben vergeudet und —«
»Sprich es nur aus«— rief Wera, sich aus seinen Armen lösend.
»Nein, Wera Ich will dich nur bitten, spiele nicht mit deinen Phantasien. Oder ja, spiele, aber eben nur da, wo dieses freie Spiel sein Recht hat, in der Dichtung. Doch in der Forschung, wo wir handeln müssen, wo wir nicht Gefühle formen, sondern Schlüsse, da bringe nichts hinein von dem, was im Reiche des schönen Scheins seine ewige Wahrheit hat, aber im Reiche der Wahrheit ewiger Schein bleibt und darum verwerflich ist. Wera Wenn dir unser gemeinsames Werk heilig ist, so rühre nicht an dem Grunde, worin wir wurzeln.«
Wera ließ sich auf einen der hölzernen Schemel fallen und stützte ihre Arme auf den Arbeitstisch, das Gesicht in ihre Hände vergrabend. Sie hätte es hinausschreien mögen: Aber es ist keine Phantasie, ich weiß es besser Ich bin selbst das Instrument, von dem ich rede. Ich bin das Wasser, das durch die Kalkschicht fließen kann. Und doch kann ich denken und reden wie die Menschen Doch sie mußte sich bezwingen. So saß sie zusammengebrochen am Tische.
Sohm machte einige Schritte durchs Zimmer. Er konnte nicht verstehen, was Wera so heftig bewegte. Wie konnte sie so eigensinnig sein? Wie konnte ihr eine solche Marotte so tief gehen? War er denn unfreundlich gewesen? Hatte er etwas Heftiges gesagt?
Er trat an ihre Seite und legte den Arm um sie. Er versuchte ihren Kopf aufzurichten. Sie bewegte sich nicht.
»Habe ich dir wehe getan, Liebste?« fragte er sanft. »Sei doch nicht traurig. Du weißt doch, daß ich dir nur meine ehrliche Ansicht sagte, wie du mir. Und ich bin dir dankbar für dein Vertrauen. Ich habe dir gesagt, warum ich deine Ansicht für gefährlich halte,—weil sie nämlich bloß auf dem Gefühle beruht. Hast du ernste Beweise, so teile sie mit. Gründe kann man erwägen, Gefühle beweisen hier nichts. Kannst du mir etwas Faßbares sagen?«
»Ich will nicht,« murmelte sie.
Sohm stand ratlos, verzweifelnd. Er durchmaß das Zimmer und trat wieder neben sie. Er streichelte ihr Haar und küßte es.
»Wera,« begann er wieder, »es ist doch gar kein Grund, so trostlos zu sein. Es hat sich doch nichts zwischen uns geändert. Ich wollte dich nur warnen. Ich glaube ja an dich«
Da richtete sie sich auf und sah ihn groß an.
»Du glaubst an mich? Und dieser Glaube genügt dir für unser Leben? Warum dann nicht der meine für unsre Arbeit? Kannst du Gründe angeben, die beweisen?«
»Ich könnte sagen, daß es sich hier um etwas ganz anderes handelt. Hier gilt es das Vertrauen zwischen Personen, und das beruht allein auf dem guten Glauben. Die Liebe ist kein Erkenntnisproblem. Aber ich kann dir auch Gründe angeben. Ich kenne dich seit Jahren. Ich weiß, wie sich deine wissenschaftliche Überzeugung gebildet hat, ich weiß, wie gewissenhaft und umsichtig deine Arbeit ist, ich kenne ihren Wert und den ehrlichen Ernst, der sie leitet. Diese Gründe beweisen mir, daß du deines Weges sicher bleiben und die Lockung der Phantasie überwinden wirst.«
»Nun denn,« antwortete Wera, indem sie sich erhob, »wenn du diese Überzeugung hast, dann mußt du auch wissen, daß ich ebenfalls Gründe für meine Ansicht besitzen werde. Dann mußt du wissen, daß ich, deine Wera, eine von der deinen so stark abweichende Anschauung nicht auf einem phantastischen Einfall werde gebaut haben, nicht auf ein Spiel der Einbildungskraft, und daß sie nicht eine Ausgeburt des Wahnsinns ist —«
Sie wehrte seinen Versuch, sich ihr zu nähern, mit einer hoheitsvollen Bewegung ab. Noch nie hatte er sie so gesehen, in stolzem Selbstbewußtsein, in heiligem Ernste, ihr Ich gegen das seine.
»Diese Gründe sind so gewiß,« fuhr sie fort, »wie ich hier vor dir stehe. Du aber verlange nicht, sie zu hören. Das mußte ich sagen. Mehr kann ich nicht. Und nun—ich bitte dich—sorge dich nie wieder um mich. Ich weiß, was ich tue.«
Beide sahen sich in die Augen. Vergeblich hoffte Sohm auf ein milderes Wort, auf einen versöhnenden Schluß. Wera schwieg.
Er fühlte sich verletzt. Er konnte nicht begreifen, warum sie ihm so feierlich begegnete.
»Aber ich glaube ja an dich,« sagte er endlich befremdet.
»Und ich wollte nur sagen,« antwortete sie ruhig, »daß an mich glauben nichts anderes bedeuten darf, als an den Ernst und die Klarheit meiner Überzeugung zu glauben.«
Er schüttelte den Kopf. Aber ihr Blick wurde so finster, daß er sie nicht aufs neue erzürnen wollte. Er schwieg.
Nun trat sie langsam auf ihn zu. Sie streckte ihm die Hand entgegen und sprach:
»Wir wollen uns Lebewohl sagen, Paul. Reise glücklich und hilf dem Tunnel.«
»Jetzt Lebewohl? Und so? Wir sehen uns doch noch am Nachmittag? Holst du mich denn nicht ab?«
»Ich glaube nicht. Ich bin müde, ich habe schlecht geschlafen und du hast noch viel zu tun. Laß mich lieber jetzt allein.«
»Aber heute abend bei Röteleins? Mein Zug geht erst um halb zwölf.«
»Ich kann es nicht versprechen.«
»Ich werde dich schon noch finden. Und es bleibt dabei, du kommst nach St. Florentin?«
»Wir können uns ja schreiben oder telegraphieren.«
»Ich rechne bestimmt auf dich. Also auf Wiedersehen.«
Sie waren inzwischen bis an die Tür gelangt. Er hielt ihre Hand fest und sah ihr angstvoll in die Augen, denn es war ihm, als wolle sie sich ihm entziehen.
Da fühlte er sich plötzlich wieder heiß umschlungen.
»Lebewohl«, flüsterte sie noch einmal und riß sich los.
Die Tür hatte sich geschlossen. Sohm stand auf dem Korridor. Er hatte seine Papiere liegen lassen. Sollte er noch einmal umkehren? Schon griff er nach der Klinke, da hörte er die Klingel, durch die Wera den Institutsdiener rief.
Sohm ging weiter. Er wollte später noch einmal nach ihr sehen.
Wera war auf einen Stuhl neben der Tür gesunken. Mit Gewalt hatte sie sich aufrecht gehalten. Jetzt war ihre Kraft gebrochen. Wie hatte sie sich zu dieser zärtlichen Hingebung überwinden müssen, um ihn nicht in seinem Glücke zu kränken, auf das er so volles Recht hatte. Und wie wenig hatte es doch genügt, ihn über das Recht ihrer eignen Überzeugung zu beruhigen War das die Achtung vor der inneren Klarheit ihres Wesens? Wo war die Hoffnung ——?
Da vernahm sie die Schritte des Dieners.
Sie raffte sich zusammen und erhob sich. Sie wußte, was sie wollte.
»Guten Morgen, Fräulein Doktor.«
»Guten Tag, Herr Walter. Ich wollte Ihnen nur sagen, daß ich jetzt gehe und in den nächsten Tagen nicht herkommen kann. Sie können die Sachen dort forträumen. Und dann—Herr Professor Sohm hat diese Papiere liegen lassen. Sie sind wohl so gut und tragen sie nachher hinüber. Und einen freundlichen Gruß von mir, bitte.«
»Sehr wohl, Fräulein Doktor.«
Wera verschloß ihren Schrank, setzte den Hut auf und verließ noch vor dem Diener das Zimmer.
Durch den regnerischen Tag, in engen Kurven an schwindelnden Abgründen entlang, auf kühnen Viadukten über schäumende Wildwasser, in langen Tunneln die Berge durchsetzend, wand sich der Schnellzug zur Höhe und donnerte seinem Ziele entgegen, dem Endpunkte der Bahn in St. Florentin. In zwanzig Minuten mußte es erreicht sein; eben war die letzte Station vorüber. Das graue Licht des herannahenden Abends mischte sich mit dem Lampenschein in den Wagen.
Allein in ihrem Abteil erster Klasse hatte Wera das Fenster geöffnet. Kalt sprühte ihr der Nebel entgegen, der Wind preßte ihr den Schleier gegen das Gesicht. Sie schlug ihn zurück und atmete mit Wohlbehagen die frische Bergluft ein. Hinauf hinauf Bald wollte sie dort oben bei den Geschwistern sein. Sogleich vom Bahnhof hinan zum Gletscher Und dann——
Sie vernahm das Geräusch der Schiebetür, die zum Seitengange des Wagens führte, und wandte sich um. Ein Herr war eingetreten und verbeugte sich. Im Augenblick erkannten sich beide.
»Herr Martin?«
Das bleiche Antlitz des Ingenieurs färbte sich leicht.
»Wenn ich störe—gnädiges Fräulein sind allein? Oder —«
Wera war in Verlegenheit. Was sollte sie sagen? Sie wollte sich ja gar nicht mehr sehen lassen—und doch—hier war der einzige Mensch, mit dem sie noch reden konnte——
»Ich will Bekannte besuchen,« sagte sie. »Mein Bräutigam kommt morgen nach Schmalbrück, wir werden uns später treffen. Sie werden sein Telegramm erhalten haben? Herzlichen Dank übrigens für Ihren Brief.«
Sie reichte ihm die Hand, er nahm Platz.
»Ja,« antwortete er. »Es ist sehr liebenswürdig, daß der Herr Professor unsern Antrag annahm. Gerade in diesen Tagen muß sich die Frage entscheiden. Ich hatte heute Nachmittag hier zu tun, wo ich eben einstieg, und erwartet in St. Florentin Nachricht über das Ergebnis der heutigen Sprengung —«
Er sprach unsicher. Seine traurigen Augen ruhten auf Wera mit einer Frage, die er nicht auszusprechen wagte. Sie fühlte es. Nach ein paar Bemerkungen über den Tunnelbau stockte das Gespräch.
Endlich begann Wera, ohne ihn anzublicken:
»Sie sehen nicht so froh aus, wie—wie ich es Ihnen wünschte. Macht Ihnen die Arbeit so viel Sorten? Ich denke, es wird doch alles glücklich ablaufen —«
Martin schüttelte leise den Kopf. »Sorge um die Arbeit gehört zum Kampfe, sie greift an, aber sie fördert auch und stählt. Es gibt ein andres Leid— ach, und Sie kennen es ja selbst, teuerste Freundin Verzeihen Sie mir— auch um Sie sorge ich mich, um Ihr Glück—das ist es, was mich jetzt so—befangen macht. Ich weiß nicht, ob ich fragen darf, ob Sie es wiedergefunden haben.«
Wera atmete tief. Dann sagte sie leise: »Ich weiß es selbst nicht.«
Jetzt schlug sie die Augen voll zu ihm auf:
»Die Zeit drängt. Wir werden bald voneinander scheiden. Mein lieber Freund, wir werden uns wohl nicht mehr wiedersehen. Sie sind der einzige Mensch, dem ich damals mein Leid verriet, und Ihnen danke ich großherzigen Rat, den ich befolgt habe. Darum verdienen Sie Offenheit. Mit aller Macht des Willens bekämpfte ich die Störung, die mich hier in den Bergen überfiel, noch habe ich sie nicht überwunden. Noch aber gebe ich es nicht auf, mein Gefühl wiederzugewinnen. O, wenn es auf mich ankäme Ich wollte verzichten auf alles Menschenglück, nichts mehr sehen von den Menschen, hinausfliehen in die Einsamkeit, in die Berge—dahin treibt es mich jetzt—und ich kehrte am liebsten nimmer zurück. Aber ich gehöre ja nicht mir allein. Ich vernichte ja zugleich das Glück, das Leben eines anderen.«
»Nicht nur des einen,« murmelte Martin stöhnend.
Wera schlug die Hände vor ihr Gesicht. »Ich weiß es Ich weiß es«
»Doch der zweite ist nicht zu retten,« sagte Martin gefaßt. »Aber sich selbst müssen Sie retten und damit den einen.«
»Meine Hoffnung ist gering. O dieses Abscheuliche, was Sie Liebe nennen Was den Menschen so elend macht und klein«
»Nicht immer klein, auch groß, am größten«
»Sie dürfen das sagen. Aber elend sind Sie doch Ich sah es Ihnen an, als Sie hereintraten. Was werden Sie tun, mein Freund, sagen Sie es mir. Ich will es wissen Was kann ein Mensch tun, dem jede Hoffnung verloren ist?«
»Fragen Sie um meinetwillen?«
»Ich will es wissen Sagen Sie nicht wieder, die Arbeit Nein, nein, die täuscht die Zeit fort, aber das Elend kommt, und wenn es nur Sekunden findet, es quält für Jahre. Sagen Sie mir, gibt es für den Menschen eine Erlösung vom Leide?«
»Das hängt von der Art des Menschen ab, das wissen Sie ja.
»So gibt es Menschen, die verloren sind —«
»Der Mensch kann sterben.«
Wera lachte bitter. »Ha Sie glauben an den Tod? Ja, wenn es der Hohe will Wenn die Natur diesen Leib zerstört, da verfließt der Schmerz in nichts, der an diesem zeitlichen Zellenbau hängt. Aber der Wille des Menschen, der seinen Leib bewußt vernichtet, glauben Sie, daß der das Leid mittrifft, das im ewigen Leide wurzelt? Kann der freiwillige Tod töten? Dann müßte sich der Mensch auch freiwillig das Leben geben können. O, Sie wissen nicht, wie das einzelne Leben im unendlichen Zusammenhange verknüpft ist—der Schmerz, der aus den unzugänglichen Tiefen des Weltleibes hervor in das Bewußtsein zuckt, den kann der Eigenwille nicht erreichen—denn der Weltleib lebt weiter —«
»Nun denn, wer diesen Glauben hat, was ist dem der Tod, was ist ihm dieses Leben? Wer teil hat am Weltleibe, der hat auch teil am Weltwillen. Der wird das Leid aufnehmen willig und groß als seinen Anteil, der ihm im ewigen Weltprozeß geworden ist, und seinem Gott gehorchend vertrauen, daß er ein Größeres hinaufführen will, um dessentwillen dieses Menschen-Ich leiden muß. Wer diesen Glauben hat, um den mögen Sie nicht sorgen, den mögen Sie beneiden. Er wird seine Pflicht tun und sagen: Herr, Dein Wille geschehe.«
Wera sah ihn mit großen, leuchtenden Augen an. Dann sprach sie: »Der sind Sie Der sind Sie O, ihr großen, reichen Menschen Das ist die Erlösung, die euch gegeben ist. Ja, ihr könnt auf die Brücke der Erkenntnis treten, denn ihr habt noch eine andere Macht, die selbst das Leid des Schöpfers um sein Werk bezwingt«
Sie brach ab, denn sie las in Martins Augen, daß er nicht wußte, was ihre letzten Worte bedeuten sollten. Sie war nahe daran, ihr Geheimnis zu verraten. Aber sie mußte schweigen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie sagte:
»Und dennoch—es muß etwas Schönes sein um das Glück O, daß Sie es noch gewinnen möchten«
Er lächelte wehmütig. »Das ist zunächst mein Wunsch für Sie.«
»Um mich sorgen Sie sich nicht. Ich werde danach streben, aber — wenn es anders bestimmt sein sollte, es gibt noch ein anderes Glück, als es die Menschen kennen—und ich——«
Sie hatten gar nicht bemerkt daß der Zug hielt. Die Fahrgäste drängten sich im Gange. Wera sprang auf und ergriff Martins Hände.
»Leben Sie wohl, mein teurer, lieber Freund« rief sie. »Zürnen Sie mir nicht, daß ich in Ihr Leben getreten bin —«
Ein Schaffner öffnete die Tür. Sie trat zurück. Martin griff mechanisch nach ihrem Gepäck.
»Haben Sie weiter nichts?« fragte er. »Wo wollen Sie wohnen?«
»O fragen Sie nicht,« bat sie. »Dies kleine Bündel nehme ich selbst. Lassen Sie mich allein—ich weiß meinen Weg. Leben Sie wohl«
Er folgte ihr aus dem Wagen, aber er kam nicht mehr zu Worte. Ein Beamter trat an ihn heran. Wera hörte noch, daß Martin rief: »Im Tunnel? Ich komme sofort.« Er wandte sich Wera zu. Sie verschwand im Gedränge.
Eilig wand sie sich in der Bahnhofshalle durch das Gewühl der Reisenden, Bahnbediensteten und Hoteldiener. Sie kümmerte sich nicht um die Angebote der Träger, nicht um die Verweisung auf die Gepäckausgabe. Ihr Koffer mochte dort stehen, bis sie ihn brauchte. Fürs nächste—ah Sie trat aus dem hellen Vorplatz in den dunklen, rauschenden Regen. Das war Luft Das war Heimat Nun hinein in die sinkende Nacht Schnell schritt sie an der Reihe der Hotelwagen vorüber und bog in einen schmalen Gang ein, der nach dem See hinabführte.
Sie hatte ihren Weg abkürzen wollen, aber es sollte ihr nicht sogleich gelingen. Wo der Weg die Fahrstraße wieder kreuzte, hatte sich zum Unglück ein mit langen Baumstämmen beladener Wagen festgefahren, und nun stockte dort die ganze Reihe der Hotelwagen, die vom Bahnhofe kamen. Wera konnte nicht hinüber. Sie stand dicht an der Straße unter dem Dunkel eines Baumes, bald sammelten sich noch andere Passanten des Weges. Auf der Straße versuchte ein mit einem Herrn und zwei Damen besetzter Einspänner sich an der Wagenburg vorbeizudrängen, wurde aber bald durch den allgemeinen Unwillen zum Halten gezwungen, unmittelbar vor Wera, die weder vorwärts noch zurück konnte.
Unter dem Verdeck des Wagens hervor klang eine schneidende Stimme, die ihr bekannt vorkam, und vom Rücksitz unter einem Regenschirm erwiderte eine ebenfalls laute Männerstimme. Und jetzt glaubte Wera ihren eigenen Namen zu vernehmen, so daß sie aufmerkte.
»Hättest du dich nicht solange nach der Lentius umgeguckt, so wären wir hier noch rechtzeitig vorbeigekommen.«
»Aber sie war's ja gar nicht, wie soll sie jetzt hierhin kommen?«
Das waren Bertile von Okeley und der Alpinist, die sich da stritten— kein Zweifel. Und jetzt erinnerte sich erst Wera, daß sie vor einigen Wochen die Verlobungsanzeige von Haberdorf erhalten hatte.
»Sie war's ganz bestimmt,« klang eine dritte Stimme, in der Wera diejenige Beatens erkannte. »Ich hab' sie ja vom Gange aus in der ersten Klasse mit dem Ingenieur allein sitzen sehen.«
»Der ist ja erst auf der letzten Station eingestiegen,« sagte der Alpinist.
»Ja, und gerade in das Abteil. Merkwürdig«
»Das ist doch ein Zufall.«
»Natürlich, du wirst sie auch noch verteidigen Das war natürlich auch ein Zufall, damals auf der Bank im Walde, wo sie gesehen worden sind —— Und die Person soll verlobt sein«
»Und wie sie dann plötzlich verschwunden ist«
»Aber was soll sie denn hier? Was ihr immer redet«
»Das wird der Martin schon wissen, wenn du's nicht weißt«
»Bertildchen«
»Du hast dich doch auch mit ihr kompromittiert Es war eigentlich ein Skandal Nun, sie soll sich nur nicht in Schmalbrück sehen lassen«
»O Gott, o Gott Nun werdet ihr euch noch zanken« jammerte Beate. »Und euertwegen sind wir so schrecklich eingeregnet. Ich war ja dagegen, daß wir heute die Partie machten. Und nun soll uns noch die gräßliche Person dazwischen kommen«
Wera hatte sich gleich bemerkbar machen wollen, aber das Geräusch des Regens und das Rufen der Fuhrleute hatten ihren Versuch vereitelt. Dann dachte sie daran, lieber unbemerkt zu verschwinden, nur sah sie keinen Ausweg. Neben dem Wege zwar rauschte das Regenwasser gewaltig bergab dem See zu, und es lockte ihre Aspiraseele nicht wenig, einfach hineinzuspringen und auf dieser ungewöhnlichen Bahn dem Gedränge zu entfliehen. Aber das wäre doch aufgefallen, sie wäre erkannt worden und durfte Wera nicht durch einen solchen Geniestreich unmöglich machen. Länger aber hielt sie es nicht aus, hier zuzuhören. Sie entschloß sich, in den Straßenschlamm an die Wagentür heranzutreten, und die Hand darauf legend sagte sie laut:
»Guten Abend, meine Herrschaften Kennen Sie mich noch?«
Beate brach in ihrer eben neu angefangenen Rede ab, und die Insassen des Wagens sahen sich einen Augenblick starr an. Aber sofort faßte sich Bertilde und rief:
»Ach, Fräulein Lentius Das ist aber eine reizende Überraschung Sie sind wohl auch eingeregnet.«
»Wie Sie sehen. Doch es tut mir nichts.«
»Ich habe mich schrecklich erkältet,« fiel Berta ein. »Wir waren drüben in Passurn, wir haben meine Tante, Excellenz Wieden, besucht—aber wollen Sie nicht in unsern Wagen kommen, liebes Fräulein? Sie müssen ja klatschnaß sein. Wir rücken ein Stückchen zusammen.«
»Emil, du kannst dich auf den Bock setzen« sagte Bertilde. »Nein, wie ich mich freue, Sie wiederzusehen. Wie entzückend Sie in der Kapuze aussehen Natürlich fahren Sie mit uns.«
»Ich danke sehr,« lehnte Wera ab. »Ich will gar nicht nach Schmalbrück. Und der Regen tut mir nichts. Ich konnte nur nicht weiter, weil der Weg gesperrt war. Aber jetzt scheint es ja vorwärts zu gehen.«
In der Tat kam Bewegung in die Masse, Wera trat an ihren Platz zurück. Der Wagen rückte an.
»Aber Sie werden uns doch besuchen? Nicht wahr?« rief Bertilde zurück.
»Wir haben Sie so vermißt, jeden Tag haben wir von Ihnen gesprochen. Auf Wiedersehen, auf Wiedersehen«
Wera sah dem Wagen achselzuckend nach. Sie runzelte die Stirn.
»Das sind auch Menschen« murmelte sie. »O, fort Fort«
Bald war die Straße passierbar. Wera eilte vorwärts.
Jetzt hatte sie das unmittelbare Bereich der Häuser verlassen, der Blick ging ins Freie. Aber sie sah nichts als einen Kranz von Lichtern, der sich allmählich im Dunkel der Regennacht verlor, während nur hier und da die Glasveranden der großen Hotels hindurchschimmerten. Bald lag der erleuchtete Fußweg am Seeufer hinter ihr.
Sie trat in die Finsternis des Waldes. Der Pfad, obwohl hier noch ein sorgfältig gepflegter Promenadenweg, war nicht zu erkennen. Dennoch zögerte ihr Fuß keinen Augenblick. Der unfehlbare Raumsinn Aspiras leitete sie.
Spärlicher wurde der Wald. Der Wind warf den Regen von der Seite rücksichtslos gegen die unbekannte Nachtwandlerin. Er heulte um die Felsecken und knarrte und klapperte in den dürren Ästen der Kiefern. Der Gießbach tobte neben ihr in der Seitenschlucht der Festina zu, und wilde Sturzwässer benetzten hier und da ihren Fuß. Immer dichter hüllten die Wolkenmassen sie ein, je höher sie kam. Ihr Mantel triefte. Sie kümmerte sich nicht darum.
»Nur zu Nur zu« klang es in ihr. »Bald bin ich bei euch im Wettertanz«
Nacht, wohin sie blickte, Nacht, Wasser und Wind. Wo waren die Menschen und ihrer Wohnungen Lichterglanz? Verschwunden drüben im Dunkel. Doch nein. Vorübergehend teilt sich der Nebel. Da drüben schimmert noch ein trübes Leuchten von fern—dort liegt die Arbeitsstätte am Tunneleingang— ein Abschiedsgruß Verschwunden. Wieder Nacht und Nebel
Und es war gut so Hui Heulte der Wind—es gibt keine Naturgeister— ich bin Bewegungsenergie der Luft—Krrr prasselte der Regen— ich fühle nichts, ich bin kondensierter Wasserdampf.—Weh, Weh seufzte die Wolke—ich kann nicht denken, ich habe kein Menschenhirn
»Sollst es lernen, sollst es lernen,« rief es in Weras Seele. »Ich komme, ich komme Sei gegrüßt, umfassende Nacht, nimm mich in den bergenden Arm deines Dunkels Ich wandle gehüllt in den schwarzen Schleier der Verneinung. Nein riefen sie mir zu drunten im Tale, du bist nicht, du lebst nicht. Nein riefe sie, du kannst nichts beweisen. Nein und immer nein Und ich stand ohnmächtig und durfte nicht rufen: »Hier bin ich, Aspira Seht ihr mich nicht? Und ich denke, ihr liebt mich?« »Wer ist Aspira? Wir kennen nur Wera Lentius, der Philosophie Doktorin, die schöne, kluge Braut——«
»Ach Aber ich komme«
Der Wald liegt unten. Über die Halde fliegt der eilende Fuß. Der Wind saust vom Rücken, muß treiben, muß heben. »Ja, ich bin Wera, ich zwinge die Kräfte der Natur. Doch ich bin auch Aspira, ich verbünde mir ihre Gewalten. Vorwärts Hinauf Wie er rasend geflogen kommt, Bruder Sturm. Erkennst und mich noch nicht? Ich kenne dich. Kommst vom Wirbel her, den Vetter Drehbold ansaugte über der Biskayasee. Ich lehne mich an deine starken, weichen Schultern, und du hebst mich, trägst mich. Ja, ich komme
Hab's euch gestern hinübergerufen vom milden Abendgarten unter den Kastanien, doch ich dachte nicht, daß ich so bald kommen würde. Heute schon, nach vierundzwanzig Stunden. Was sollt' ich noch dort? Wieder und wieder verhandeln, ohne sich zu verstehen? Gegenseitig sich kränken? Nein, ich muß Gewißheit finden hier droben bei den Meinen——
Liebe Ich suchte sie nicht. Doch da ich sie fand, hab' ich sie ehrlich gegrüßt mit leuchtendem Menschenauge. Aber sie zerknirscht mir den Körper, sie verzittert in Schmerz—— Wußt' ich denn, daß einer mich schon liebte, ehe ich hinabstieg ins Menschenreich? Gestern, ach, wie er mich umfaßte Und heute Und nun wird er mich suchen im Arbeitssaal, er wird durch den Draht klingeln und sprechen, er wird draußen fragen bei den Freunden im Gartenhaus. Jetzt hat er meine Botschaft, doch ich bin fort. Und nun sitzt er geängstet im rasenden Wagen und saust über dieselben Schienen, die mich hergeführt haben. Ach, ich will nicht, daß er leidet Auch der andre nicht——Ich werde sie wiedersehen. Und dann? Dann—wird eine Tat geschehen—doch wie? Er soll doch glücklich sein, nicht wahr, Wera? Zürne deiner Aspira nicht. Gedulde dich noch ein wenig.
Nun? Ist dir der Atem ausgegangen, mein wackerer Träger? Du läßt mich fallen? Ach, ich bin über die Höhe. Was leuchtet da droben? Ein Stern? Verwaschen sieht er aus, doch ein Stern ist's. Es wird heller, die Luft ist still. Und dort, ein silberner Streifen. Sei mir gegrüßt, alter Mond
Sieh doch, die leuchtende Zacke drüben Bist du es nicht, getreuer Oheim, Blankhorn, der alte? O wie herrlich Das weite, weite Nebelmeer zu meinen Füßen Unter mir alles eine einzige, weiße Decke. Und nur darüber die höchsten Spitzen der Freunde. Ja, ich komme
Glück? Ich suchte es nicht, so miss' ich es nicht. Bleib' es drunten bei euch, ihr glücklichen Menschen O daß i es keinem zu trüben brauchte Fand ich doch das Glück bei euch, das Wissen und die Macht—sollt' ich euch nicht danken?
Und ihr, geliebte Geschwister im hohen Äther, ihr weißen Eiszacken, ihr ragenden Berge, du fliehende Luft, du rieselnder Bach, ich komme, komme und bringe euch, was ihr noch nicht kennt, ein Glück, da die Macht ist Ich komme.
Erkenntnis Mitwirken sollt ihr am gemeinsamen Glück der Menschen und Elemente, zu treten auf die Brücke der Erkenntnis. Versöhnen will ich euch, ihr scheinbaren Feinde. Und das wird auch meine Versöhnung sein
Hinab in die weißen Nebel, die den Gletscher verdecken Kommst du wieder, fliegender Wind? Ah, du schaffest mir Bahn. Die Nebel weichen vor meinem niedersteigenden Fuß. Da ist die Moräne—da liegt der weiße, bläulich schimmernde Riese—im Mondlicht glitzern die eisigen Glieder. Sieh doch, Neuschnee, wie eine frischweiße Hülle, den Nachtgast zu empfangen.
Ja, ich komme, bei dir ich zu bergen. Willkommen, zerklüfteter Kristall— willkommen, Phosphorglanz der Spalte Ich bin da
Nun mögt ihr mich kennen Ich bin da. Aspira ist da. Doch leise, leise. Ruft's noch nicht hinaus. Nur die Nächsten sollen mich hören. Da, ihr gespenstigen Nebelstreifen, die ihr noch träge am Grunde der Spalte hinschleicht, bleibt hier, ihr sollt mich herausheben. Ich suche mein Lager. Da, wo der ausgewaschene Sand die Ecke füllt, da ist gut ruhen. Haltet brav Wache, daß mir der Gletscher die Tür nicht sperrt. Unversehrt muß ich dich finden, Weras Körper, wenn ich zurückkomme und wieder davon gehen will als Mensch, du, Wera, oder ich, Aspira.
Einmal darf ich's schon wagen, den Wolkenleib wieder mit dem Menschenleibe zu vertauschen. Nicht auf lange, dann kehr' ich zurück. Dann werd' ich wissen, was werden soll.
Eiswand, die du so geheimnisvoll schillerst im verirrten Mondstrahl, sickerndes Wasser, und ihr, unsichtbar spielende Ionen der Luft, ich rufe euch, ich banne euch im Namen Migros, des mächtigen Strahlenkönigs Wahret den Schatz, den ich euch hier niederlege, Weras Menschenleib Und empfanget mich, daß ich euch versammle und dehne zur alten, freien Wolke Aspira«
Wera kniete nieder in der Ecke der Nebenspalte. Sie öffnete ihr Bündel und hüllte sich in die dichte Decke, dann streckte sie sich auf dem Boden aus. Sie faltete die Hände über der Brust und atmete langsam. Nur nichts versäumen von den Vorschriften des Vaters, dachte sie, damit das Wolkenherz nichts zurücklasse von allem, was es durch Wera gewonnen hat. So lag sie still und regungslos wie ein schönes Wachsbild mit geschlossenen Augen. Ein matter Reflex des Mondlichts spielte um ihr Antlitz.
»Ich komme.« Das sprach sie nicht mehr, sie dachte es nur. Immer langsamer und schwächer wurden die Atemzüge. Jetzt bewegte sich nichts mehr. Ein leichter Nebel legte sich über sie und wurde dichter und dichter.
Und nun hob es sich lautlos empor und stieg in die Höhe und erreichte den Rand der Spalte.
Und da schoß es heran von allen Seiten, unsichtbare Teilchen, und wandelte sich zu kleinsten Tröpfchen, und es quoll in die Gletscherluft hinaus im Mondlicht schimmernd und sich dehnend weiter und weiter, Aspira, die lebendige Wolke.
Weras Leib aber lag eisig und starr in der Gletschergruft.
Höher und höher stieg Aspira, eine einsame Wolke in der lichten Mondnacht. Denn hier droben war jetzt alles klar. Deutlich strahlten die Eishäupter der ragenden Gipfel, und die feuchten Felsenschroffen der mittleren Berghöhen, an den flacheren Stellen silberbestäubt vom Neuschnee, schimmerten im Widerschein des Mondes. Nur drunten in den Tälern zogen noch schwere Wolkenmassen und verhüllten die Wohnungen der Menschen.
Wie wohlig sie sich dehnte in der Freiheit des lange entbehrten Schwebens Sie blickte ringsum und freute sich der vertrauten Höhen. Sie nickte ihrem eigenen Schatten zu, der am Firnfelde des Blankhorns emporstieg. Sollte sie hinüber und den Alten aus seinem Schlummer wecken?
Ach nein, sie hatte zunächst Dringenderes zu tun.
O, es war schön, eine freie Wolke zu sein, aber—es war doch alles anders als zuvor. Es war eine andere Freiheit als die frühere des spielenden Kindes. All ihre Würde und all ihr Wissen, das sie in Weras Seele gefunden, hatte sie nun mit hinaufgebracht und, ach, auch ein Neues war ihr dazu erstanden—das Leid Eine denkende Wolke Sie wußte um sich selbst. Wie sie wuchs und sich bewegte, begleitete sie ihr eignes Sein mit dem Interesse der Erkenntnis. Es reizte sie, über alle diese atmosphärischen Veränderungen Studien zu machen, wie menschliche Wissenschaft sie erheischte.
Und mit dem Menschenwissen war auch der hohe Menschenwille ihr eigen geblieben. Jenseits von Gut und Böse spielen die Geister der Elemente, das ist ihre Freiheit. Der Menschen Freiheit aber ist die Bestimmung über ihre sittliche Aufgabe. Und dieser Aufgabe war sich nun Aspira bewußt.
Dort lagen die mächtigen Glieder, die der Erdball in den Äther streckt. Über ihnen wogten ihre Schwestern, die ewig hastenden und umschaffenden Wolken und Winde. Drunten im Boden schlugen die Pulse des Erdkörpers. Dazwischen aber arbeitet der Mensch mit einem höheren Bewußtsein, diese Kreatur zu zwingen und zu wandeln zu einem Werkzeug der Kultur. Es genügt nicht, daß die blauen Wasser spielen im Lichtgewog, daß die holden Blumen blühen und duften, daß die Falter kosen und die millionenfältige Kreatur sich des Daseins freut und in tausend Schmerzen sich aufzehrt und vernichtet. Dieses unendliche Leben ist mehr als sein Dasein, es hat eine Aufgabe. Ein Höheres soll werden. Und das weiß auf diesem Planeten nur der Mensch. Das weiß jetzt Aspira. Darum trat sie auf die Brücke der Erkenntnis.
Seitdem zerfloß ihr in nichts das sorglose Spiel des Wolkenseins, und es wob sich in ihr das Geheimnis des persönlichen Willens, der Plan. Und mit dem Plan das Gefühl der Verantwortung und Furcht und Hoffnung um das Gelingen.
Noch war sie nicht wieder erkannt von all den Freunden in Luft und Boden. Wie sollte sie ihnen begegnen? Wie sich ihnen entdecken, eine denkende Wolke? Was ihr als Mensch so leicht erschien, das den Genossen zu sagen, was sie selbst in Weras Seele gelesen hatte, was sie bei den Menschen so leicht verstanden, wie sollte sie es denen verständlich machen, die nicht wie sie der Menschen Denkart in sich aufgenommen hatten? Und riesenschwer erschien ihr das Werk. Doch es mußte gewagt sein.
Hier streckte der Langberg seinen massigen Leib in die Luft, den die zerklüfteten Gamssteine krönten. In ihm lag das Rätsel, das sie zunächst interessierte. Eine deutlich begrenzte Aufgabe verband diesen Ort mit dem Schicksal der Menschen, die sie kannte. Da mußte sie beginnen, zu beobachten und auf die Elemente zu achten. Der alte Langberg mit seinen Kalkschichten und die verborgenen Wasser darin, die mußten verständigt werden. Die sollten zuerst Vernunft annehmen
Aspira erhob sich über die Gamssteine und zog aus der gesamten Umgebung die Nebeltröpfchen zusammen. Sie wollte als starker Regenguß herabfallen und in flüssiger Gestalt sich durch das zerklüftete Gestein verteilen.
Als sie so von oben auf den Berg herabschaute, dessen Vorsprünge und Schroffen, Schluchten und Wälder im Mondlicht mit scharfgezeichneten Schatten dalagen, kam ihr eine recht menschlichen Erinnerung. Sah er nicht ganz aus wie eine riesige Karikaturzeichnung des Professor Strümpler, des Dekans der Fakultät, als sie mit ihm wegen ihrer Promotion unterhandelte? Der große viereckige Kopf, aus dessen Gesicht die Gamssteine als gewaltige Nase ragten? Der breite Vorsprung nach der Festinaschlucht mit seinen Einrissen glich den über die Brust verschränkten Armen, wie er, das Kinn auf die Hand gestützt, mit äußerster Wichtigkeit dazustehen pflegte. Den Rücken bildete der Abfall ins Tal von Schmalbrück, und nach unten verjüngte sich die Figur immermehr, bis sich die dünnen Beinchen in den Nebeln des Tales verloren.
Und es war ihr, als hörte sie seine etwas gequetschte Stimme heraufklingen: »Wenn ich allerdings Ihre Auffassung nicht ganz zurückweisen kann, so muß ich doch immerhin sagen, ja betonen, daß ich die allgemeinen Gesichtspunkte bei der Aufrechterhaltung der Bestimmung zwar in Betracht zu ziehen, den Wortlaut der Vorschrift aufs gewissenhafteste zu wahren aber verpflichtet bin, wiewohl ich persönlich immerhin nicht abgeneigt wäre, einer Auffassung mich anzuschließen, die mit der Ihrigen im Prinzip übereinkommt, mich indessen zu einem gerade entgegengesetzten Schlusse führt.«
Wie kamen diese unendlichen Einschränkungen aus dem Amtszimmer in ihre Höhe? Oder sprach gar nicht der Dekan Strümpler? War es nicht der eintönige Aufprall der Tropfen auf das nasse Haupt des Langbergs? Ja, sie regnete gründlich in den Langberg hinein. Jetzt war sie im Innern. Das war also die Kalkschicht. Noch nie hatte sie sich die Zeit genommen, genauere Umschau zu halten. Der nächste Ausweg ins Freie war ihr der liebste gewesen. Jetzt achtete sie auf alles, hier als sickerndes Wasser, dort als aufsteigender Dampf, hier zog sie durch enge Spalten, dort durch ausgewaschene Höhlräume.
Eine breite Höhle tat sich auf. Von Decke und Boden wuchsen sich phantastische Tropfsteingebilde entgegen. Alles war von Feuchtigkeit bedeckt. Am untern Ende der Höhle stürzte das Wasser in einer Kaskade zur Tiefe. Hier war der Kalk fortgewaschen, der geglättete Gneis bildete einen festen Untergrund. Allerlei enge Gänge verloren sich nach oben. Von dort vernahm Aspira jetzt deutlich eine Stimme. Sie klang weinerlich und etwas keifend dabei:
»Wenn ich dir's sage, an drei Stellen So ein hohles stählernes Ding bohren sie mir in den Leib. Du müßtest es längst gemerkt haben, sind sie doch auch ein Stück durch dich hindurchgegangen. Aber natürlich, in deinen alten Knochen spürst du so was gar nicht mehr. Aber ich Ich kann mir das nicht gefallen lassen. Ich hab' es nicht nötig.«
»Aber erlaube, mein liebes Atollchen, diese kleinen Dinger sind doch gar nicht der Rede wert, sie können dir unmöglich Unbehagen verursachen. Da hab' ich schon ganz anderes erlitten, wenn man auch immerhin in Zweifel sein könnte, ob eine dringende Notwendigkeit für diese Operation vorliegt.«
»Ach was, Notwendigkeit Ich verlange, daß du dafür sorgst, die Bohrnadeln aus meinem Rücken fortzuschaffen. Gerade in meine schönsten Strukturen stechen sie mir hinein. Ich bin doch kein gewöhnlicher Bergklotz, ich bin organischen Ursprungs, ich bin ein echtes Korallenriff.«
»Aber erlaube, das stelle ich durchaus nicht in Abrede. Immerhin bist du durch langjährige Gewöhnung in gewissem Sinne umgestaltet und dadurch in uns verschoben worden, so daß es schwer sein würde, für dich eine Ausnahmestellung zu konstruieren —«
»Ich bin ein Korallenriff und bleibe es —«
»Gewiß, gewiß, obwohl bei deinem etwas zerdrückten Zustande Zweifel an deiner Struktur auftreten könnten, die mich jedoch nicht abhalten würden, deiner Beschwerde eine gewisse Berechtigung zuzugestehen, insofern nämlich—«
»Insofern nämlich hier überhaupt niemand hineinzustechen hat —«
»Das könnte noch nach den Bestimmungen der Schichtlagerung erwogen werden—«
»Gar nichts ist zu erwägen. Du bist nur rücksichtslos gegen mich geworden. So was hättest du nicht gesagt, als du noch horizontal lagertest und die blauen Fluten des Korallenmeeres an deinem Ufer spielten. O, wie schön war es, als meine süßen Polypchen Röhrchen auf Röhrchen in ihren feinen Kalkmustern aufsetzten Wäre nicht dieser abscheuliche Granit gekommen«
»Erlaube, mein Atollchen Das ist noch in keiner Weise sicher gestellt, ob wirklich der Granit uns in diese schiefe Lage gebracht hat. Es wäre erst zu erwägen —«
»Nanu Fünf Millionen Jahre liegen wir schon so schief, und du wirst noch erwägen Kein Sonnenstrahl ist in der ganzen Zeit bis hier herabgedrungen. Wo sind die bunten Nautileen hin, die mich umschwammen und meine Schönheit priesen? Ach, sie starben schon, als die ersten Strömungen unsern lieblichen Meerbusen erschütterten. Ich armes Korallenriff Soll ich in meiner Zurückgezogenheit auch noch durch diese frechen Sticheleien meine große Vergangenheit erniedrigen lassen?«
»Immerhin könnten ja diese sich einbohrenden Wesen eine neue Botschaft der Außenwelt sein. Vielleicht sind wir wieder einmal Meeresboden, und es handelt sich um eine neue Art Bohrmuschel. Dann wäre allerdings zu erwägen—«
»Dummes Zeug. Ich habe doch meine Gamssteine oben am Langberg. Soviel kann ich damit immer noch sehen, daß von Meer keine Rede ist. Das könntest du doch auch wissen, wozu hast du denn deine Schichtenköpfe? Hast du noch nicht gemerkt, daß die neuen Kriechtiere da oben hausen, die sich Menschen nennen?«
»Erlaube, mein liebes Atollchen, diese Felsen und Steine und Verwitterungen habe ich als unsolide aus meinem innern Bau ausgeschlossen. Was sie da draußen anfangen, ist ihre Sache. Leider höre ich, daß sie mit Wolken, Luft, Wasser und sogar den neuen organischen Individuen kokettieren und Kindereien treiben. Ich habe mich ganz auf mein Innenleben zurückgezogen. Ich bin einer der ältesten Gneise, die es gibt, und habe so viel erlebt, daß ich es kaum noch zu fassen vermag. Was die draußen tun, ist mir ganz gleichgültig, natürlich, vorausgesetzt, innerhalb der Grenzen, die durch die allgemeinen Erwägungen immerhin gezogen sind.«
»Wenn du nicht so ein alter Zaudergneis wärest, müßtest du doch sagen, daß diese stählernen Bohrspitzen etwas ganz Neues sind, die dich möglicherweise in deiner Ruhe stören wollen. Hast du denn vergessen, daß sie da unten schon ein großes, tiefes Loch in dich gebohrt haben?«
»Erlaube, dieses Loch hat, meiner Ansicht nach, mit der Frage gar nichts zu tun. Ich habe dir das schon öfters erklärt. Nach meinen sorgfältigen Erwägungen ist dies durchaus eine spontane Bildung meiner Natur. Indem nämlich aus deinem leicht zerstörbaren Kalkleibe größere Höhlungen ausgewaschen werden, dringen die atmosphärischen Gase auch in mein Inneres, und es ist daher sehr wohltuend, daß sich für diese eine Abzugsöffnung bildet. Die kräftigen Explosionen, die ich jetzt täglich wahrnehme, sind offenbar eine Folge der angesammelten Luft, die sich damit Bahn bricht. Du siehst, meine Erwägungen sind geeignet, mein harmonisches Weltbild befriedigend abzurunden. Immerhin könnte man jedoch zweifeln —«
»Still Still« schrie auf einmal die Kalkschicht in die Rede des Gneises hinein. »Au, au, au Was ist denn das? Da zwickt mich auf einmal etwas ganz unten. Das ist doch noch gar nicht dagewesen. Au Und da zieht etwas von unten hinauf, etwas Beißendes. Findest du nicht, daß es hier höchst unangenehm riecht?«
»Hahaha« lachte da eine fremde Stimme. »Kommt nur alle her, Kinder Ganz famos hier, da kann man sich doch ordentlich ausdehnen. Es riecht etwas, meinen Sie? Das tut nichts, das verliert sich. Guten Abend übrigens, oder guten Morgen meine Herrschaften Wir stören doch nicht? Paßt auf Kinder Da redet der höchst ehrwürdige Herr Gneis und das reizende, graziöse Kindchen, die Kalkschicht.«
»Was ist denn das? Wer seid ihr? Was wollt ihr hier? Ich kenne euch gar nicht.«
»Tut nichts. Man darf doch mitreden? Wir stellen uns vor. Wir sind nämlich die Sprenggase.«
»Die Sprenggase?«
»Ja, haben endlich das Vergnügen, beim letzten Schusse ein Stück Kalkschicht angesprengt zu haben. Früher konnten wir durch den Herrn Gneis nicht hindurch nach oben, mußten immer zum Abzugsloch hinaus. Aber heute ist's uns geglückt, durch die feine poröse Gegend zu kommen, und da sind wir. 's ist riesig gemütlich hier. Dehnt euch aus, Kinder, das tut wohl«
»Aber was sind Sie denn eigentlich?«
»Eigentlich sind wir ein Kunstprodukt, Dynamit, Sprenggelatine—d. h. das waren wir. Da kamen wir endlich zur Explosion, und nun sind wir wieder Natur, aber zivilisiert, so zu sagen. Freie Sprenggase Freuen uns kräftigst Kollegen zu treffen, mit denen man einmal reden kann. Hörten schon unten, daß der Herr Gneis mit dem Tunnel zufrieden ist. Ja, wir haben tüchtig gearbeitet.«
»Aber erlauben Sie,« sagte der Gneis, »Sie haben—«
»Ja natürlich, wir. Haben Sie uns nicht knallen hören? Sie sprangen ja vor Freuden auseinander, daß es eine Lust war.«
»Immerhin wäre doch erst zu erwägen, mit welchem Rechte —«
»Ach was Recht Expansion, das ist die Hauptsache. Volumenentwicklung. Das haben wir weg. Das gibt eine Geschwindigkeit, der nichts widerstehen kann.«
»Mit welchem Recht, muß ich doch fragen, auf Grund —«
»Auf Grund der freiwerdenden Energie. Ja, wir sind nun so. Wir können ja nichts dafür, aber wenn uns der Mensch nun einmal entzündet —«
»Der Mensch?«
»Na, das wissen Sie doch? Wir sprengen Sie hier auseinander auf Ansuchen des Menschen.«
»Ha Siehst du?« rief die Kalkschicht. »Sie sprengen uns auseinander Ahnte ich es nicht? Mich auseinander Ein Korallenriff Durch mich hindurch, von unten kommen sie Wissen Sie, daß das eine Unverschämtheit ist? Da stecken Sie wohl auch in den Bohrern?«
»Nein, die probieren bloß so ein bißchen, wo wir hinsollen.«
»Entsetzlich Und das sollen wir uns gefallen lassen?«
»Aber warum nicht? Nach und nach werden Sie eben abgetragen. Dann kommen Sie wieder an die frische Luft. Hier ist es ohnehin etwas dumpfig.«
»Das will er Mensch? Mich abtragen? Hilfe, Hilfe Gneis, du mußt etwas tun Der ganze Langberg muß zusammenhalten. Zu Hilfe«
»Was gibt's? Was gibt's?« tönte es dumpf vom Wasserfall.
»Was gibt's? Was gibt's?« pfiff die Luft in der Höhle. »Ich kam von draußen. Ich wittre fremdes Gesindel.«
»Gesindel? Was? Wir haben mehr Kohlensäure als Sie Wie haben einen chemischen Kursus durchgemacht« schrieen die Sprenggase.
»Was gibt's?« zischte es von unten. »Hier sind noch mehr Leute. Ich bin die Erdwärme. Wenn ihr was braucht, ich will's euch weich sieden.«
»Ruhe, Ruhe« gebot der Tropfstein. »Bitte mich nicht zu stören.«
»Aber sie wollen uns sprengen«
»Wer?«
»Die Menschen«
»Das wäre Man läßt sich viel gefallen, aber schließlich sind wir auch noch da.«
»Ich komme von draußen,« pfiff die Luft wieder. »Ich weiß es, das Blankhorn hat's selbst gesagt. Der Mensch feindet uns an. Er will uns zersprengen, zerstören, unterjochen«
»Der Mensch muß hinaus aus dem Berge«
»Ich will ihn verbrühen,« zischte die Erdwärme.
»Ich will ihn ersäufen,« rauschte der Wasserfall.
»Wir zerquetschen den Tunnel«
»Aber erlauben Sie,« rief da der Gneis. »Das ist mein Tunnel. Und da wäre doch erst zu erwägen, ob ich zu der Entschließung kommen kann, meine Einwilligung zu geben. Immerhin muß ich gestehen, daß nach der Aussage der Sprenggase ein gewisser Eingriff seitens des sogenannten Menschen nicht ganz zu leugnen ist, jedoch —«
»Was jedoch« schrie die Kalkschicht. »Das ist gar keine Frage. Das ist geradezu empörend. Das ist rohe Gewalt. Hinaus mit dem Menschen«
Da quoll es aus der Ecke, wo sich Aspira verborgen hielt, als ein dichter Nebel, der die finstere Höhle mit einem phosphoreszierenden Schimmer erfüllte.
»Was ist das? Was ist das?« fragte die Kalkschicht erschrocken.
»Vielleicht sind wir's?« sagten die Sprenggase.
»Nein, nein« pfiff die Luft. »Das ist eine starke elektrische Ladung. Ich fühl's Ich werde leitend. Es muß eine echte Wolke hier sein.«
»Ja,« sprach Aspira. »Es ist so. Ich bin hier, Aspira.«
»Aspira, Aspira« Tönte es von allen Seiten. »Aspira ist wieder hier, die ein Mensch war.«
»Ein Mensch?« fragte der Gneis. »Das ist mir neu.«
»Er weiß es nicht Unglaublich« pfiff die Luft.
»Er weiß es nicht« sagte die Kalkschicht. »Die Gamssteine haben doch davon gesprochen Sie war doch auch an der Silberquelle«
»Hört mich« sagte Aspira.
»Was ist das für eine Geschichte mit Aspira?« zischelten die Sprenggase.
»Pst Pst« pfiff die Luft. »Wenn sie nur von den Menschen erzählte Das muß eine gefährliche Gesellschaft sein. Mich hätte beinahe einmal einer eingeatmet.«
»Ruhe« gebot der Tropfstein. »König Migros Tochter spricht.«
»Hört auf mich, ihr Geschwister aus Luft und Wasser, aus Feuer und Erde Und ihr vornehmlich, Stützten des Langbergs, ehrwürdiger Gneis, zürnender Korallenkalk, all ihr Geister der Elemente, hört mich
Ja, es ist wahr, ein Mensch war ich, noch vor wenigen Stunden. Gestern noch weilte ich in der großen Stadt unter den Menschen und dachte und sprach mit ihnen in ihrer Sprache. Und wie kam ich so schnell hierher? Nicht langsamer, als wenn ich im Wirbel als Wolke gezogen wäre, nicht die Füße rührte ich und kam doch herauf in die Höhe unserer Berge, schlummernd auf weichen Kissen trug mich der Menschen Werk durch unsre Felsen, über unsre Klüfte.«
»Wie? Wie geschah das? Wie können das die Menschen? Haben sie einen Zauber?« so flüsterte es rings in der Höhle.
»Ja, sie haben einen Zauber. Damit können sie bestimmen, was werden soll. Seit Jahrtausenden bereden sie sich und teilen einander mit, was sie von euern Kräften und Wirkungen wahrnehmen. Und dann stellen sie es zusammen nach ihrem Willen.
Aus der Erde graben sie die Kohle und das Eisenerz und mischen sie und glühen sie im Feuer und blasen die Luft hinein, und sie gewinnen das Eisen und den harten Stahl und geben ihnen die Form, die sie brauchen. Das Wasser schließen sie in den festen Kessel und wandeln es in Dampf durch die brennende Kohle. Und der Dampf dehnt sich aus und schiebt ihre Kolben und dreht damit ihre Räder. Auf den glatten Eisenstangen, die sie über Tal und Berg legen, wollen ihre Wagen mit der Eile des Windes. Was zehntausend Menschen nicht zusammenbrächten mit ihren Zwergenarmen, das tut für sie eure Riesenkraft, die sie sich leihen. Das ist die Macht der Menschen.«
»Und die unsre, vergessen Sie das nicht,« riefen die Sprenggase. »Wir sprengen nicht bloß Felsen, wir können auch Maschinen treiben.«
»Wenn der Mensch euch leitet.«
»Seid ihr immer noch da, Gesindel?« pfiff die Luft. »Ihr habt hier gar nichts zu suchen, ich will euch hinausblasen.«
»Na, na, na,« klang es von den Sprenggasen, aber schon schwächer, denn sie hatten sich bereits stark zerstreut. »Wir sind doch auch Elementargeister.«
»Gar nichts seid ihr Bildet euch doch nicht ein, lebendige Luft zu sein. Elende Reste seid ihr von Kraftprodukten. Ein kurzes Weilchen seid ihr noch munter, weil ihr solange zusammengepreßt waret und nun die Bewegung in euch gekommen ist. Auflösen könnt ihr euch, aber nicht wieder zusammenziehen. Versucht's doch. Ich zerstreue euch, und das Wasser saugt euch ein, und gewesen seid ihr Nahrung für neues Leben, weiter nichts. Habe ich nicht recht, Aspira?« fragte die Luft.
»Du hast recht. Es gibt auch solche vorübergehende Gebilde in unserm Reiche. Aber ihnen fehlt die Einheit der lebendigen Natur, sie schaffen nicht am eigenen Leibe. Doch ihr, Elemente, die ihr im dauernden Wechsel kreist und euch immer wieder zusammenschließt, ihr haltet die mächtigen Kräfte des Erdballs und leiht sie dem Menschen. Er braucht sie zu seinen Zwecken und gibt sie dann an euch zurück, wie die Sprenggase. Ihr nehmt sie wieder in euern Kreislauf auf, doch ihr wißt nicht, was aus ihnen wird. Ihr lebt dahin, wie es gerade kommt. Der Mensch aber weiß eure Kräfte zu ordnen, er sucht sich aus euch heraus, was ihm dienlich ist. Und so vermag er euch zu zwingen nach seinem Willen. Aus euern Bestandteilen zog er die Kraft, mit der er jetzt den harten Felsen zersprengt.«
»Das ist sehr gut, daß du uns das sagst,« fiel die Kalkschicht ein. »Jetzt wissen wir erst recht, woran wir mit dem gefährlichen Menschen sind. Wir kennen seinen Zauber. Es fällt mir gar nicht ein, ihm meine Bestandteile zu leihen, damit er mich auseinander sprengt. Da wäre ihm wohl mein feiner Kalk gerade recht. Du weißt ja, daß ich ein Korallenriff bin.«
»War —« brummte der Wasserfall.
»Warum willst du ihm den Kalk nicht leihen, den du entbehren kannst?« fragte Aspira. »Den Kalk braucht er nicht zum Sprengen, sondern gerade zum Festhalten und Aufbauen.«
»Das konnte ich mir denken,« bemerkte der Kalk. »Ich halte mich gut. Aber eben darum muß ihm das Zerstörungswerk gelegt werden.«
»Jawohl,« dröhnte der Wasserfall. »Ganz gleich, was er tut. Ich habe keine Lust ihm zu dienen. Wer weiß, was ich ihm dann zerklopfen muß.«
»Und hier im Berge hat er gar nichts zu suchen. Hinaus mit ihm« sprach der Tropfstein.
Aspira gab die Hoffnung noch nicht auf.
»Aber liebe Freunde,« begann sie wieder, »ihr kennt den Menschen nicht. Ihr beurteilt ihn falsch. Ich habe auch so gedacht. Darum bat ich den Hohen, mich zu den Menschen zu schicken, damit ich erfahre, wie wir uns gegen sie verhalten sollen.«
»Sag' es uns, sag' es uns« klang es im Chorus.
»Nicht bekämpfen sollt ihr ihn, ihr sollt ihm helfen.«
»Was? Wie?« schrie es von allen Seiten.
»Wenn das nicht Aspira sagte, so pfiffe ich darauf,« meinte die Luft.
»Hört mich in Ruhe Der Mensch will uns ja nicht zerstören, um euch zu schaden. Er will Nutzen stiften, er will etwas Höheres aus uns aufbauen.«
»Etwas Höheres?« schnaufte die Luft. »Etwas Höheres als die Berge und die Wolken und die Luft gibt es ja gar nicht.«
»Vielleicht eben den Menschen,« keifte der Kalk. »Natürlich, zum Aufbauen braucht er mich. Sich selbst will er ausstaffieren mit meinen feinen Korallen. Aber dazu bin ich nicht zu haben.«
»Ja, ja, wir sollen ihm dienen Aspira hat's ja gesagt.«
»Nicht ihm allein, sondern euch selbst. Der Mensch ist nicht euer Feind, und ihr sollt nicht seine Feinde sein. Bundesgenossen sollt ihr werden, damit ihr ihm an seinem Werke helft und gemeinsam das Höhere errichtet.«
»Immer das Höhere,« zischte die Luft. »Was soll das sein? Wir brauchen nichts Höheres Wir brauchen nicht den Menschen Was wir brauchen, das haben wir, und was wir nicht haben, darauf pfeifen wir.«
»Aber es gibt ein Höheres, wozu ihr dem Menschen helfen sollt.«
»Dem Menschen? Sollt? Das eben wollen wir nicht. Der habt seinen Zauber.«
»An diesem Zauber könnt ihr teilnehmen. Ich sage euch, es gibt ein gemeinsames Ziel, wozu ihr da seid und auch der Mensch. Um es zu erreichen, bedarf er euer. Darum sollt ihr ihm freiwillig eure Kräfte leihen und ihn nicht an seiner Arbeit hindern.«
»Das Ziel, das Ziel, höre ich immer,« dröhnte es unten von der Erdwärme. »Was ist das, ein Ziel? Was meinst du? Ist es vielleicht das, was kommen soll? Dann helfe ich nicht. Denn mir ist gesagt vor namenlosen Zeiten, als ich noch auf der Sonne war, es wird etwas kommen am Ende, das ist die Kälte.«
»Nein, nein, das meine ich nicht,« rief Aspira jetzt verzweifelt. Wie sollte sie diesen Geistern sagen, was sie wollte? »Das Ziel, zu dem ihr alle helfen sollte, das ist das Gute.«
»Das Gute?« sagte die Kalkschicht. »Was ist das Gute? Das Gute war da, als meine Polypen im blauen Meeresgolf ihre Fangärmlein bewegten.«
»Das Gute?« dröhnte der Fall. »Das Gute ist, daß immer frisches Wasser hier herabläuft Dazu brauche ich die Menschen nicht.«
»Das Gute,« pfiff die Luft, »ist überall. Das brauchen wir nicht, das haben wir.«
»Das Gute ist die Ruhe,« bemerkte der Tropfstein. »Alle Achtung vor unserem hohen Besuche, aber ich bin etwas ermüdet.«
»Was das Gute ist, wie soll ich's euch sagen?« seufzte Aspira. »Das Gute, meint ihr, sei das, was ihr seid. Nur der Kalk hat eine Ahnung, daß es auch etwas andres geben kann, als was gerade ist. Das kommt wohl daher, weil er von einem Zellenwesen stammt.«
»Das will ich meinen,« sagte die Kalkschicht geschmeichelt.
»Ihr müßt aber wissen, das Gute ist das, was werden soll. Es ist das, was die Menschen suchen, die Macht, sich zu verbinden und zu helfen auf der ganzen Erde, damit alle Wesen Freunde sind. Dann sind sie gut. Ihr könnt es noch nicht verstehen, weil ihr den Menschen noch nicht kennt. Aber versucht nur, ihm nicht feindlich zu sein, so werdet ihr schon merken, was gut ist.«
»So sind also die Menschen gut?« fragte die Kalkschicht, um ihr höheres Verständnis zu zeigen. »Ist das ihr Zauber, daß sie gut sind?«
»Sie wollen es werden. Manche sind es auch.«
»Nun,« pfiff die Luft, »warum bist du denn nicht bei den Menschen geblieben?«
»Weil ich auch euch das Gute bringen wollte.«
»Wir brauchen es nicht,« dröhnte es aus der Erde.
»Ihr wißt nicht, wie es um euch steht,« klagte Aspira. »Ihr meint, was ihr tut, das Strömen der Luft, das Rauschen des Wassers, das Ruhen des Steins, das Glühen des Erdinnern, Das Wogen der Wolken, das sei weiter nichts, als daßihr lebt, wie es euch gefällt. Ihr wißt nicht, daß ihr so sein müßt. Doch es gibt ein Reich, wo es anders ist, wo die Wesen nach einem Ziele des Lebens streben —«
»Schweig' von deinem Ziele,« dröhnte es jetzt stärker von unten. »Ich habe nun lange genug davon gehört. Wir wollen nichts wissen von dem andern Reiche. Schwebe zu deinen Menschen, Aspira. Sie sollen sich an der Sonne wärmen, von mir haben sie nichts zu erwarten. Kommen sie aber zu mir herunter, so will ich ihnen einen Brei kochen, der ihnen nicht schmecken wird. Ich kann nämlich auch wollen.«
»Nimm es der Erdwärme nicht übel, Aspira,« sagte der Kalk. »Aber sie ist nun einmal auf die Oberen nicht gut zu sprechen. Sie will nichts von sich abgeben. Und das muß ich gestehen, für den Menschen habe ich auch nichts übrig. Er sticht von oben in mich hinein, und von unten—es ist eine Schande—hat er mich angesprengt. Und wir wollen es uns nun einmal nicht gefallen lassen.«
»Nein« brüllte der Wasserfall.
»Nein« zischte die Luft.
»Nein« brummte der Tropfstein.
Aspira glühte auf in Zorn und Trauer, daß von den Zacken der Höhle die Elmsfeuer leuchteten.
»O ihr Toren« rief sie. »Wenn ihr mich auch nicht versteht, so glaubt mir doch, was ich sage. Ich will ja nichts von euch, als daß ihr den Menschen nicht stören sollt. Laßt ihn in Frieden in seinem Tunnel arbeiten, was schadet es euch? Tut nur gar nichts, dann ist es schon gut. Was zu tun ist zu des Menschen Heil, das will ich selbst besorgen. Ich gleite jetzt hinab— laß mich hindurch, Kalkschicht.«
»Ich kann dich nicht hindern.«
»Ihr könnt überhaupt nichts hindern. Nützen könntet ihr, aber das wollt ihr nicht. Den Zauber des Menschen wollt' ich euch bringen, aber ihr wollt nicht.«
»Nein, nein, nein Wir wollen nichts von dem Menschen. Aus dem Berge soll er Zerdrücken werden wir ihn Kochen Vernichten« So rief es im Chorus durcheinander.
»Das werdet ihr nicht« drohte Aspira. »König Migro wird es euch verbieten Fürchtet seinen Zorn«
»Hahaha« höhnten die Geister durcheinander. »Das werden wir abwarten. König Migro hat uns noch nie etwas vom Menschen gesagt.«
Aspira bezwang sich. Die Höhle versank wieder im Dunkel.
»Übrigens,« begann sie noch einmal ruhiger, »ihr seid gar nicht maßgebend. Ihr seid nicht der Langberg. Hier bestimmt der ehrwürdige Gneis, und der hat noch nicht gesprochen.«
»Erlaube,« sagte der Gneis bedächtig, »ich habe mich von der Außenwelt zurückgezogen, lange bevor von Menschen die Rede war, ich kann mich daher in diese Angelegenheit nicht mischen.«
»Aber, ich bitte, der Langberg hat mich doch so freundlich unterstützt, er hat mich vor dem herabrollenden Wagen gerettet, er hat mir den Weg nach der Silberquelle erleichtert —«
»Erlaube, davon weiß ich nichts. Indessen können die Felsen und Wälder an meiner Außenseite selbständig gehandelt haben. Immerhin wäre zu erwägen, ob die Beteiligung des sogenannten Menschen an der Öffnung meines Tunnels eine berechtigte ist. Da ich nun der Ansicht bin, daß dieser Tunnel ein freiwilliges Erzeugnis meiner innern Natur im Interesse meines Wohlbefindens ist, so liegt von meinem Standpunkte aus in der fördernden Tätigkeit des Menschen keine Veranlassung, ihm feindlich gesinnt zu sein.«
»Gneis« rief die Kalkschicht.
»Jedoch,« fuhr der Gneis fort, »kann dieser Gesichtspunkt nicht allein maßgebend werden. Es ist vielmehr auch die Schädigung meiner lieben Kalkschicht durch den sogenannten Menschen zu erwägen, die unter Umständen Veranlassung geben könnte, ihr im Interesse des gesamten Berges entgegenzutreten. Bei dieser nach beiden Seiten hin wohl zu erwägenden Gegensätzlichkeit scheint es mir den allgemeinen Bestimmungen meiner Organisation zu entsprechen, wenn ich, wie bisher, die Existenz des Menschen als nicht in Betracht zu ziehen erachte und bei meiner wohlbewährten Neutralität verharre, wobei ich immerhin nicht abgeneigt bin, mich der Ansicht von Prinzessin Aspira anzuschließen, aber meinerseits mich den Wünschen des Korallenkalks nicht entgegenzusetzen denke.«
»Strümpler« murmelte Aspira, indem sie sich zusammenzog und mit dem Wasserfall in die Tiefe stürzte.
Nach allen Richtungen verteilte sie sich durch die feinen Risse der Kalkschicht, um dem Wege nachzuspüren, auf dem die Sprenggase in die Höhle gelangt waren. Denn hier mußte eine Verbindung mit dem Tunnel sein, von der die Gefahr drohte.
Lange irrte sie so durch die ausgedehnten und verschobenen Schichten. Dann stieß sie auf eine zweite geräumige Aushöhlung, von der aus sich die Kalkschicht in zwei Hauptteile spaltete. Durch welchen waren die Gase gekommen? Sie wußte, daß der obere, weniger geneigte Teil nach der Silberquelle führte, der andere aber tief hinab in jene heiße und zerdrückte Region, wohin sich Aspira bisher nicht gewagt hatte.
Sie entschloß sich, zunächst den oberen Teil der Kalkschicht zu untersuchen. Auch hier galt es, genau zu prüfen. Aber immer schmaler wurde die poröse, unten wie an den Seiten von undurchlässigem Gestein eingeschlossene Schicht, ohne daß sich irgendwo die Möglichkeit gezeigt hätte, daß Wasser oder gar Schlamm eine Verbindung nach dem Tunnel finden könnten. Zugleich hatte sie sich überzeugt, daß es keinerlei Anzeichen gab, die auf einen Zusammenhang dieser Hauptschichten mit der neu entdeckten Quelle hinter der Silberquelle, von der sie der Ingenieur benachrichtigt hatte, hinwiesen. So gelangte Aspira nach dem Ausgange am Tobel und sprudelte als Silberquelle ins Freie.
Aber was war das? Morgendämmerung? Das hatte sie erwartet. Doch schnell erkannte sie, daß es die Nacht war, die hereinbrach. So hatte sie nicht nur die Nacht, sondern auch den ganzen Tag im Berge zugebracht. Es waren vierundzwanzig Stunden seit ihrer Ankunft in St. Florentin vergangen.
Wo mochte Paul sein? Was mochte er im Tunnel gefunden haben? Von hier aus, so viel war wenigstens festgestellt, drohte keine Gefahr. Aber um so sicherer schien es, daß die Sprenggase durch die tiefe, zerdrückte Schicht gekommen waren und daß dort ein Einbruch drohte.
Nachsinnend ruhte Aspira als Nebel in der Festinaschlucht. Der Himmel war mit Wolken bedeckt, das Wetter war regnerisch und unfreundlich im Tale wie bei ihrer Ankunft. Sie mußte jetzt in den Berg zurück, um den tieferen Zweig der Schicht zu erforschen. Sollte sie wieder durch die Gamssteine als Wasser? Oder sollte sie von der Silberquelle bergauf? Das konnte sie nur in Dampfform, und auch das nahm längere Zeit in Anspruch. Doch sie entschloßsich dazu. Es mochte wohl draußen im Lande schon der Morgen angebrochen sein, als sie sich wieder in der Höhlung befand, von der sie sich nun in die unbekannte Tiefe hinabwagte.
Je weiter Aspira abwärts kam, um so höher stieg die Temperatur. Gewaltige heiße Wassermassen erfüllten die Kalkschicht, die sich tief unter die Talsohle von Schmalbrück hinabsenkte. Dann bog sie sich wieder steil nach oben und bildete so eine Art Heber, dessen Inhalt in der Tiefe erhitzt wurde. Nach unten zu war kein Ausgang. Eine dünne Tonschieferlage über dem Gneis schloß den großen Hexenkessel fest ab, dessen größerer Teil eine schlammige Masse enthielt. Die obere Grenze des aufsteigenden Armes zog sich nach Aspiras Schätzung ungefähr wieder bis zum Tunnelniveau hinauf. Wenn die Sprengungen oder die Gewalt der Bergeslasten zwischen diesen Schlammassen und dem Tunnel eine Verbindung herstellten, dann mußte der Druck, unter dem sie standen, den Brei in den Tunnel drängen und diesen verwüsten.
Wo lag der Tunnel, genau genommen? Aspira mußte an die spöttischen Worte Sohms denken von dem Elementargeist, der sich Barometer, Kompaß und Geschwindigkeitsmesser mitnehmen sollte. Es war doch etwas anderes, gedankenlos durch Luft und Erdreich zu ziehen, als behaftet mit der Aufgabe der Erkenntnis, die Dinge nach Zahl und Maß festzustellen. Und diese dummen Berggeister
Während Aspira sorgenvoll nachsann, vernahm sie wieder, und allmählich immer deutlicher, die Stimmen der unterirdischen Gewalten, die noch weiter beratschlagten, was sie dem Menschen antun wollten. Von unten polterte die Erdwärme: »Kochen Kochen Kochen«
Sollte sei noch einmal versuchen, ihren Einfluß geltend zu machen?
Ungeduldig ließ sie ihre Stimme vernehmen:
»Warte doch einmal noch ein wenig mit dem Kochen Ich bin hier noch im Berge, ich kann nicht so schnell durch eure breiigen Kanäle hindurch. Da könntest du wohl so liebenswürdig sein, dein Kochen aufzuschieben, bis ich hinaus bin.«
»Bin kein Freund von Rücksichten,« klang es von unten. »Muß heizen, heizen, heizen. Wir wollen den Menschen im Tunnel kochen.«
»Aber was hast du denn davon? Du weißt ja gar nicht, ob er darin ist?«
»Haha, das werden wir wissen.«
»Wie denn? Wie kommst du darauf?«
»Hast es ja selbst gesagt, wie wir es machen müssen. Oben in der Höhle Die Luft hat's uns erklärt und die Kalkschicht und die neuen Sprenggase, die gekommen sind. Wie der Mensch machen wir's. Bereden uns unter einander. Das ist der Zauber. Das können wir auch. Denkst wohl, die Wolken sind allein klug?«
»Ja,« sagte Aspira, »da seid ihr freilich sehr klug. Wie mögt ihr das nur machen wollen?«
»Haha Das möchtest du wissen? Kennst du die Schiefklippe draußen? Die Luft hat uns gesagt, sie hat früher einmal gehört, daß die Menschen Angst haben, die Klippe könnte herabstürzen. Das soll sie nun tun. Gerade dahin wird sie fallen, wo es in den Tunnel hineingeht. Die Sprenggase berichten uns, wann die Menschen darin sind. Und die Luft sagt es der Schiefklippe. Dann fällt sie herab, und die Menschen können nicht heraus. Und wir drücken gegen den Tunnel, und ich koche, koche, koche Haha Das hättest du nicht gedacht?«
»Nein« antwortete Aspira innerlich erschauernd. »Was du da erzählst, das ist ja ein Plan. Und ein Plan hat ein Ziel. Das freut mich, daß du nun auch für Ziele bist, da wirst du dich schon noch mit mir vereinigen, daß alles gut wird.«
»Das ist ein Ziel? Ist das gewiß?«
»Freilich.«
»Hm Hm Aber kein höheres Gekocht wird doch.«
»Wenn ich nun aber selbst im Tunnel bin?«
»Gekocht wird doch. Dir kann es ja nichts schaden.«
»Wann soll denn das sein?«
»Das wird wohl nicht mehr lange dauern. Wir werden's schon merken, wenn die Schiefklippe herabsaust.«
»Aber wenn ich dich bitte —«
»Gekocht wird doch«
Aspira schwieg. Es war ja völlig vergebens zu verhandeln. Was sollte sie tun?
Da ein Knall, ein Zittern des Gesteins. Es kam aus dem Innern des Berges. Man sprengte also weiter im Tunnel. Und es konnte nicht fern sein. Und jetzt, jetzt merkte sie ganz deutlich den Geruch der Sprenggase, die bis hierher drangen—— es mußten demnach Spalten im Gestein sein —
Aspira spürte wieder umher. Dort aus jenem Seitengang mußten die Gase kommen. Ja, da stiegen sogar kleine Blasen auf.
Aspira drängte sich durch die Spalten, die unregelmäßig hier das einschließende feste Gestein durchsetzten. Sie hatten sich wohl erst durch die neuen Sprengungen so erweitert, daß auch das Wasser hindurchkonnte; wenigstens hatte sie bisher nichts davon bemerkt. Und jetzt, Aspira erschauderte ängstlich—jetzt vernahm sie durch den Fels den Schlag von Hacken, das Scharren von Schaufeln—— Da trifft sie auf eine zweite Spalte, durch die ein Wasserstrahl quillt, sie fühlt sich mitgerissen und wie ein Springbrunnen schießt das Wasser in einen weiten Raum, den eine elektrische Lampe erhellt. Wilde Gesteinstrümmer werfen zackige Schatten in der grellen Beleuchtung, in der eine Anzahl Männer den Schutt in eine Karre schaufelt —
Angstvoll späht Aspira in den Tunnel, worin an der Seitenwand, nahe am Boden eine lebhafte Quelle entspringt.
Sie sammelt sich im Schutt des Bodens, sie verdampft und hält sich in der Luft,—sie will sehen, was im Tunnel vorgeht——
Die Arbeiter hatten aufgehört zu schaufeln. Zwei Männer traten heran und beleuchteten die Wand, sie maßen die Temperatur und die Wassermenge der Quelle. Aspira kannte sie nicht. Balken, Röhren, eisernes Gerät wurde herangebracht. Aspira mußte weiter in den Tunnel hineinschweben, denn an der Wand wurde gearbeitet.
Also drang wirklich Wasser in den Tunnel, warmes Wasser, das wußte sie wohl. Wenn es nun doch den Gewalten der Tiefe gelang, mit ihren Schlammassen sich den Eingang zu erzwingen? Wenn der Plan der Erdgeister zur Ausführung kam?
Martin und Sohm konnte sie nicht erblicken, sie waren nicht hier. Aber sie konnten jeden Augenblick kommen, und dann—— Sie fürchtete, den Donner der stürzenden Felsmassen vom Tunneleingang her zu vernehmen. Dann waren die Menschen eingeschlossen, dann hatten die Erdkräfte Zeit, in den Tunnel einzubrechen —
Was sollte sie tun? Momentan dachte sie daran, so schnell wie möglich aus dem Tunnel zu eilen, nach dem Gletscher zu stürzen, wieder Weras Gestalt anzunehmen und Sohm zu warnen—aber das dauerte viel zu lange, und— was hätte sie auch sagen sollen? Wer hätte ihr geglaubt?
Und als Wolke konnte sie nicht eingreifen. Ihr Plan den Berggeistern gegenüber war gescheitert. Ja sie hatte nur Unheil angerichtet. Was den Menschen zunutzen gereichen sollte, das wurde ihnen nun zum Verderben. Ihre Lehren waren es, die von den Berggeistern in ihrer täppischen Manier ausgenutzt wurden. Und sie, sie war ohnmächtig.
Verzweifelnd zog Wera langsam durch den Tunnel.
Sohm hatte bestimmt erwartet, Wera noch am Abend bei Röteleins zu treffen, nachdem er nachmittags vergeblich an ihrer Wohnung angeklingelt hatte. So lebhaft ihn der Gedanke an ihr wunderliches Lebewohl beschäftigte, fand er doch keine Zeit, ihm lange nachzuhängen. Es gab noch vielerlei zu ordnen, die Pläne zu studieren, Fachwerke nachzuschlagen, Mitzunehmendes zu bestimmen. Er hatte sich nach einem neuen Verfahren Apparate bestellt, um atmosphärische Luft an den Stellen, wo er ihre Beschaffenheit untersuchen wollte, aufzufangen, ohne daß die unmittelbare Nähe des Beobachters auch nur die geringste Verunreinigung verursachen konnte. Die Einsaugung der Luft in die Glasflasche und der momentane Abschluß konnten dabei aus einigen Metern Entfernung bewirkt werden. Diese Apparate wurden ihm nachmittags gebracht.
Anfänglich wollte er die Kiste unbeachtet stehen lassen. Dann fiel es ihm ein, daß sein Aufenthalt in den Alpen, der sich möglicherweise länger ausdehnen konnte, die beste Gelegenheit gebe, die Apparate zu erproben, und daß er so den Zufall, der ihn ins Gebirge führte, für seine gegenwärtige Untersuchung fruchtbar machen könne. Er freute sich, die neue Einrichtung Wera zu zeigen, der er erst eine flüchtige Andeutung darüber gegeben hatte. Also beschloß er, diese Kiste seinem Gepäck beizufügen.
Es war schon spät geworden, als er, eben im Begriff sich zu Röteleins zu begeben, ein Telegramm erhielt:
»Ängstige dich nicht um mich. Hatte keine Ruhe, mußte ins Freie. Ich bleibe einige Tage im Gebirge, möglichst einsam. Nachricht erhältst du nach Schmalbrück, Hotel Leberecht. Auf Wiedersehen. Wera.«
Das Telegramm war unterwegs von Wera aufgegeben. Er hoffte nun, um so eher wieder mit ihr zusammenzutreffen. Die Einsamkeit würde sie beruhigen.
Am nächsten Morgen gegen neun Uhr traf Sohm in St. Florentin ein. Martin und ein Vertreter der Direktion erwarteten ihn am Bahnhof. Der Ingenieur, der sofort nach seiner Rückkehr am Abend vorher in den Tunnel gerufen worden war, hatte dort bis spät in die Nacht zu tun gehabt. Jetzt berichtete er noch in der Bahnhofshalle in seiner kurzen, sachlichen Weise über den neuesten Befund. Danach war man bei der letzten Sprengung auf eine warme Quelle geraten, die aber so schwach war, daß sie keine weitere Beachtung erforderte. Er erwartete, daß man auf noch mehr Wasser stoßen werde; es seien aber alle Vorbereitungen getroffen, auch eine stärkere Quelle sofort zu fassen, so daß er die Arbeit vorläufig weiter fortsetzen lasse.
Sohm wurde nachdenklich.
»Könnten wir nicht sogleich hingehen?« fragte er.
»Wenn Sie nicht zu ermüdet sind, Herr Professor.«
Sie standen vor der Gepäckausgabe. Sohm warf einen Blick auf die Koffer, um sich von der Ankunft seines Gepäcks zu überzeugen. Da fiel ihm ein Koffer auf, den er kannte. Ein deutliches W. L. und der Ortsname Weidburg auf dem Deckel ließ keinen Zweifel aufkommen, daß er Wera gehörte. Er stutzte.
»Eine Frage, entschuldigen Sie,« sagte er zu Martin. »Sie kennen ja meine Braut, Fräulein Lentius. Sie wollte zu Freunden in der Nähe; nun sehe ich aber dort noch ihren Koffer. Wissen Sie vielleicht, ob sie noch hier ist?«
»Ihr Fräulein Braut,« erwiderte Martin, indem er fühlte, daß ihm das Blut in das Gesicht stieg, »ist gestern abend hier angekommen. Ich hatte die Ehre, sie zu sprechen. Sie ist zu Fuß fortgegangen und wird wohl ihr Gepäck noch holen lassen. Da ich sofort in den Tunnel gerufen wurde, konnte ich ihr leider nicht weiter behilflich sein und vermag keine Auskunft zu geben.«
»Ich erwarte Nachricht in Hotel Leberecht in Schmalbrück.«
»Da wünschen Sie natürlich zunächst nach Schmalbrück?«
»Ich hätte freilich gern gewußt—jedoch die Arbeit geht vor, selbstverständlich. Nur—eine Kleinigkeit zu frühstücken müssen Sie mir erlauben.«
»Wir haben für alles gesorgt, Herr Professor. Der Bahnhofswirt ist schon angewiesen. Während Sie sich restaurieren, werde ich bei Leberecht telephonisch anfragen, ob Fräulein Lentius dort ist, oder Nachricht für Sie.«
»Das ist sehr gut, ich danke Ihnen herzlich. So sparen wir Zeit.«
Als Martin nach einer Viertelstunde zurückkam, hatte er zu berichten, daß bei Leberecht keine Nachricht für Sohm eingetroffen sei und daß man von Fräulein Lentius nichts wisse. Es wurde bestimmt, daß Sohm in St. Florentin Quartier nehme, weil der Tunnel jetzt von hier am schnellsten auf der Maschine zu erreichen war. Auch Martin wohnte deshalb nicht mehr in Schmalbrück, wo ihm die Tischgesellschaft ohnehin verleidet war.
Sie müssen es sich freilich gefallen lassen, ein wenig gerüttelt zu werden,« sagte Martin entschuldigend zu Sohm.
»Kommen Sie, kommen Sie, meine Herren«
An der Brücke über die Festinaschlucht stieg man aus. Sohm betrachtete aufmerksam die Gegend. Vor sich, jenseits der Schlucht, hatte er den steilen Abfall des Langbergs, der die hinter ihm liegenden Schneeberge verdeckte, talabwärts blickte man nach St. Florentin hinab und auf einen Zipfel des schönen Sees.
»Darf ich fragen,« sagte er zu Martin, »warum Sie nicht gleich hinter dem Ort die Festina übersetzt haben und am Langberg selbst hinaufgegangen sind? Sie hätten da dabei diesen kostbaren Viadukt sparen können. Oder hatten Sie dann nicht Raum genug, um die Höhe zu gewinnen?«
»Wir hätten es gern getan, die Steigung wäre auch herauszubringen gewesen. Aber auf diesem kahlen Abhang des Langbergs ist es nicht geheuer. Wir wären nicht bloß der Lawinengefahr und Steinschlägen ausgesetzt, die ganze Unterlage ist so unsicher, daß uns die Mauer- und Schutzarbeiten mehr gekostet hätten als der Viadukt. Wir mußten hier auf diesem Ufer entlang gehen und zwar bis in den Wald hinein.«
»Und das ein ganzes Stück, wie ich sehe.«
»Nur bis hinter die Schiefklippe, so heißt der Felsen dort drüben.«
»Ah, das sieht seltsam aus. Das ist Kalk, offenbar. Sie trauten ihm wohl nicht? Geht die Schicht tiefer hinein?«
»Nein. Wir haben natürlich aufs genaueste untersucht. Es ist nur ein stehen gebliebener Rest von ein paar tausend Kubikmeter. Er liegt aber so gefährlich auf geneigtem Gneise und ist so stark unterwaschen, daß die Klippe eines schönen Tages herabkommen wird. Durch die fortgesetzten Sprengungen im Steinbruch ist sie merklich erschüttert worden. Jetzt brauchen wir glücklicherweise den Steinbruch nicht mehr. Vor ein paar Wochen habe ich die Seilbahn abbrechen und den Weg vollständig sperren lassen. Wären wir weiter unten über das Tal gegangen, wie ja zuerst geplant war, so wäre der Tunneleingang gerade unter die Schiefklippe gekommen, so daß sie uns vorkommendenfalls darauf gestürzt wäre.«
»Aber sie kann Ihnen auch so noch den Fluß abdämmen.«
»Das ist nicht zu befürchten. Das Gestein ist so brüchig, daß es bei einem etwaigen Abgleiten sich in Trümmern über den ganzen Abhang zerstreuen muß und nicht sehr viel bis in das Flußbett gelangen würde. Aber natürlich haben wir auch dort Vorsorge getroffen, daß der Abfluß auf jeden Fall gesichert ist.«
Man überschritt die Brücke und fuhr auf einer Draisine in den Tunnel bis an die Arbeitsstelle. Der Wasserzufluß hatte zugenommen, doch war das Wasser durchaus klar und die Menge in keiner Weise bedenklich.
»Wegen des Wassers,« erklärte Martin, »habe ich überhaupt keine Sorge. Es ist ja bei uns nicht wie beim Simplontunnel, wir haben keinen Fall nach dem toten Ende zu, sondern unser Tunnel steigt fortwährend, bis wir durch sind. Deswegen brauchen wir gar keine Pumpen, das Wasser läuft von selbst ab. Die Gefahr liegt nur darin, daß wir einen Schlammeinbruch bekommen. Aber meine anfänglichen Besorgnisse sind auch geringer geworden, da unser Versuchsstollen genügend vorgetrieben ist, um zu zeigen, daß das Gestein weiterhin wieder ganz fest ist.«
Stunden vergingen mit der sorgfältigen Untersuchung aller Einzelheiten in der Beschaffenheit der Gesteine und ihrer Lagerung. Sohm war mit dem Ergebnis sehr zufrieden.
»Soviel sich vom geologischen Standpunkte aus sagen läßt,« faßte er seine Ansicht zusammen, »können Sie unbesorgt weiter arbeiten. Es ist zweifellos, daß eine zerdrückte Stelle, aus der ein Schlammeinbruch erfolgen könnte, nicht über oder vor Ihnen liegen kann. Wenn sie vorhanden ist, liegt sie tiefer, und Sie sind entweder schon darüber hinweg oder sind wenigstens im Begriff, darüber hinwegzukommen. Es kann sich dann nur darum handeln, daß durch eine Spalten von unten her breiige Massen heraufgedrückt würden. Aber wie ich sehe, haben Sie ja für alle Eventualitäten gesorgt.«
»Das freut mich sehr zu hören,« sagte Martin. »Wenn wir nicht in den Brei hineinkommen, sondern der Schlamm nur zu uns hereingepreßt wird, so wird er kein Glück haben. Sie sehen, daß wir jetzt vorsichtshalber sofort die eisernen Rahmen einbauen, bis sie durch Mauerwerk ersetzt werden können. Außerdem können wir durch dieses Tor im Notfalle jederzeit die Arbeitsstelle absperren. Gegen die Rahmen kann der ganze Langberg drücken, sie würden nicht nachgeben. Solche einzelne Spalten können uns also nichts tun. Nur in einen ganzen Breikessel hinein können wir nicht bauen, dann müßten wir ausweichen.«
»Nun, in dieser Hinsicht dürfen Sie diesmal der Geologie trauen.«
»Dann, darf ich sagen, können wir uns auf die Technik verlassen.«
Am Nachmittage fand noch eine Besichtigung der später entdeckten sekundären Quelle statt, die zu keiner Besorgnis Anlaß gab. Abends konferierte man in St. Florentin und beschloß, den Bau ohne Aufenthalt fortzusetzen. Am nächsten Morgen wollte Sohm den Ingenieur noch einmal bis zur Arbeitsstelle begleiten, um zu sehen, welche Veränderung etwa infolge der neuen Sprengungen eingetreten wäre.
An diesem Morgen war es, an dem Aspira mit einer neuen, stärkeren Quelle in den Tunnel gedrungen war und, geängstet von dem Vorhaben der Berggeister, das Schlimmste fürchtete, falls Sohm mit den Ingenieuren im Tunnel erscheinen sollte. Sie hatte ja die Absicht, hinaus ins Freie zu schweben und bei ihrem Vater in den Höhen des Äthers Trost und Rat zu holen. Aber ihr Menschenherz hing noch zu sehr an Menschenwerk und Menschenschicksal, als daß sie sich entschließen konnte den Tunnel eher zu verlassen, bis sie den nächsten Erfolg der drohenden Pläne beobachtet hatte.
Jetzt vernahm sie vom Tunneleingang her das Rollen der Draisine. Bald war der Wagen an der Arbeitsstelle angelangt, wohin auch Aspira sich wieder zurückgezogen hatte. Martin, Sohm und einige andere Herren stiegen ab und näherten sich der Stelle, wo Arbeiter, nachdem die neue Quelle gefaßt war, durch Einsetzung weiterer Rahmen die Verlängerung des Tunnels sicherten.
In diesem Augenblick fühlte man ein leichtes Zittern des Bodens, dann kam vom Tunneleingang her ein prasselndes und rollendes Geräusch, das alle aufhorchen ließ.
»Ist das Donner?« fragte Sohm.
»Nein, den pflegt man hier kaum zu hören. Es müßte denn direkt vor dem Tunneleingang eingeschlagen haben. Aber es klang eher wie ein Einsturz. Ich werde sofort fragen.«
Er ging ein Stück zurück bis an das Telephon, das zum Tunneleingang führte, Sohm und die andern betrachteten die Arbeitsstätte.
Aspira zitterte in ohnmächtiger Furcht für die Menschen, für ihr Werk. Sie wußte, was geschehen war—die Schiefklippe war niedergegangen. Der Eingang verschüttet Lebendig begraben Rettungslos dem schrecklichsten Tode verfallen alle diese Männer, darunter Martin und er, ach, um dessentwillen sie diese Sorge und Qual auf sich genommen hatte, dem sie sein Glück wiedergeben wollte—— Und was gab sie ihm mit all ihrer klugen Überlegung, mit ihrem Mute der Erkenntnis? Das Verderben Sie, ja sie trug im Grunde die Schuld an dem Komplott der Elemente Und sie wußte, was nun geschehen würde. Wohl würden die Menschen an den Eingang eilen, von innen wie von außen würden sie ihre Schaufeln ansetzen um den Durchgang zu erzwingen, aber schneller als ihre Arbeit würde die der Erdwärme sein und der gewaltige Druck der innern Massen. Zermalmen würden sie diese Gesteine, und hereinquellen wird der heiße Schlamm, wird den Tunnel erfüllen und die Menschen ersticken—o Gott
Und sie konnte nicht helfen? War sie nicht König Migros mächtige Tochter? Konnte sie nicht die Wassermassen zwingen, einen Ausgang zu öffnen? Aber was nutzte dies? Auch die Hilfe wäre dem Menschen todbringend O daß sie nie in Menschenwerke sich eingemischt hätte
Kurze Minuten waren es, in denen sich die angstvollen Gedanken in ihr jagten. Da scholl es von der Arbeitsstelle her wie ein dumpfes Dröhnen, und gleich darauf rief die Stimme eines der Ingenieure:
»Hier unten am Boden quillt heißer Schlamm hervor«
»Wo?«
»Unter dem letzten Rahmen drängt er sich heraus. Es muß sich ein Spalt im Boden gebildet haben. Weiter vor uns ist nichts zu sehen.«
»Die Abdichtungen her Gleich den nächsten Rahmen Wir zwingen es«
Die eiserne Platte senkte sich auf den Boden. Kalte Wasserstrahlen säuberten die Stelle.
Martin kam vom Telephon zurück. Er sprach nichts, er beugte sich nur herab.
»Es schließt luftdicht,« sagte er, als er sich aufrichtete. »Hier kommt nichts mehr durch. Wir können ruhig weiterarbeiten.«
Aspira lauschte erstaunt. War das möglich? Mit welcher Ruhe konnte er das sagen? Und wußte er denn nicht, daß draußen —
»Hing diese Pressung mit dem Geräusch draußen zusammen?« fragte Sohm.
»Ich weiß es nicht,« antwortete Martin. »Draußen ist allerdings etwas passiert.« Alle horchten auf und Martin fuhr fort, so daß es alle vernahmen:
»Durchaus nichts Schlimmes Die Schiefklippe hat das Zeitliche gesegnet, sie ist den Langberg hinabgestürzt. Aber zum Glück, ohne irgend einen Schaden anzurichten, außer an etwas Wiese und Brombeersträuchern. Niemand ist getroffen worden, die Trümmer sind genau die Bahn gegangen, die wir vorausgesehen haben. Wir wollen nun hinausfahren und zum Rechten sehen,« wandte er sich an Sohm und die Herren, die mit ihm gekommen waren, »hier kann alles ruhig weitergehen. Ich komme nachmittags wieder.«
»Ich gratuliere Ihnen,« sagte Sohm. »Der Tunnel ist gerettet, und das dürfen Sie Ihrer Voraussicht zuschreiben.«
»Das war nur selbstverständliche Arbeit. Glück haben wir aber dabei gehabt, daß der Schlammkessel in der Tiefe liegt und nicht im Niveau. Die Beruhigung danken wir Ihnen.«
Der Wagen entfernte sich.
Aspira zog durch den Tunnel, dem Ausgange zu, an den festen Gewölben entlang. Dumpf vernahm sie im Berge die Stimmen der Geister, das »Kochen, Kochen, Kochen« der Erdwärme und das Schelten der Kalkschicht. »Es gibt nicht nach Es gibt nicht nach Wir können nirgends hinein Sie haben das Loch ausgepanzert« »Warum ist auch die Schiefklippe so dumm heruntergestürzt«Sie hörte die Luft durch den Tunnel pfeifen: »Nichts zu machen, nichts zu machen«
Und sie selbst, mußte sie nicht froh und glücklich sein, daß die Gefahr abgewendet, daß der täppische Plan der Berggeister an der klugen Vorsicht der Menschen gescheitert war? Gewiß, eine entsetzliche Angst, eine quälende Sorge war von ihr genommen. Gewiß, stolz war sie auf den Sieg der Menschenmacht, auf die Erkenntnis, die da weiß, was kommen wird. Sie selbst aber fühlte sich gedemütigt——
Ihre Hilfe war machtlos gewesen—die Menschen hatten ihrer gar nicht bedurft
Auf dem Berggebiet lag wieder die Nacht. Dichter Nebel verstärkte die Dunkelheit. Darüber aber in König Migros Reich leuchten die Sterne in ungestörtem Gleichmaß am tiefschwarzen Himmel, und um die Wölbung liegt's wie ein schimmernder Schleier; denn ringsum strahlt das unendliche All.
Aspira war beim Vater.
»Was führt dich herauf in die eisige Nacht, mein liebes Kind, so früh schon zurück von ersehnter Ausfahrt? Reut dich der Weg in der Freiheit Reich? Fandest du nicht bei den Menschen das Geheimnis ihrer Macht? Kränkte dich das Leid um der Menschen Not?«
»O Vater, ich fand Groß und gewaltig fand ich das Reich der Notwendigkeit, mutig stand ich auf der Brücke der Erkenntnis.«
»So willst du berichten, was freut und taugt?«
»Ich weiß nicht, Vater, wie mir's gelinge. Ich fand zu viel, und ich fand zu wenig. Und ich komme um Rat, vielleicht um Hilfe.«
»Sprich deutlicher, Aspira.«
»Mit dem Menschenleibe, den ich gewann, war mir ein unendliches Glück gegeben. Ich sah den Zusammenhang der Dinge, soweit irgend Menschenverstand ihn zu durchdringen vermag. Ich sah den Weg, der die Menschen zur Macht führt. Vergeblich ist der Kampf der Elemente, der Mensch wird sie bezwingen, muß sie bezwingen, denn er kämpft für das Ganze der Welt, damit wir alle aufsteigen ins herrliche Reich des Gesetzes, auf zu jener Freiheit, die sie die Idee nennen, die Idee des Guten.«
»Das hilft uns nichts, meine Tochter. Für die Kinder der Natur sind das Worte ohne Sinn. Das kann nur verstehen, wer selbst Teil hat an einem Menschenleibe.«
»Höre mich weiter, Vater. Weil ich sah, daß die Geister der Berge und des Wassers, der Luft und der Tiefen den Kampf gegen die Menschen vergeblich kämpfen; weil ich sah, daß sie dem großen Ziele besser dienen würden, wenn sie die Feindschaft in Beistand verwandelten; weil ich meinte, daß sie an der Arbeit der Kultur teilnehmen können, wenn sie sich ihr nur nicht entgegenstemmen,—so fand ich mehr, als ich suchte. Ich fand eine neue Aufgabe. Wir freilich können des Menschen Werk nicht verstehen, wir können ihm auch nicht helfen. Aber wenn, so wie ich, noch viele von den Wolken zu den Menschen hinabstiegen, so könnten wir Dolmetscher werden zwischen beiden Reichen, wir könnten die Unsern belehren und die Menschenarbeit unterstützen. Das ist das Ziel, das ich mir setzte, zu vermitteln —«
»Aspira, das neu gewonnene Licht berauschte dich und blendete dein scharfes Auge. Was dir aufging als junger Tag in wenigen Stunden, das fiel dir zu als die glückliche Erbschaft des Menschenleibes, in den du einzogst; die Menschheit aber hat es erarbeitet in vielen Jahrtausenden ohne unsere Hilfe, wenn anders du wahr berichtet bist über ihre Macht. Meinst du, daß sie den erprobten Weg verlassen wird und dir glauben die neue Kunde? Meinst du, daß meine Geister dir glauben werden? Sie hoffen, du würdest ihnen ein Mittel bringen, sich des Menschen zu erwehren. Druck und Gegendruck mögen sie verstehen. Beistand und Unterstützung sind ihnen unverständliche Forderungen.«
»O mein Vater, es ist wahr, was du sagst. Ich versuchte es. Die Menschen verlachen meinen Rat und halten mich für wahnwitzig. Die Elemente verlachen meine Bitte und nützen meine Worte zum Gegenteil, soweit sie vermögen. Darum bin ich hier und suche deine Hilfe.«
»Wie kann ich sie gewähren, Aspira? Den Elementen kann ich wohl gebieten durch meine Mittel, aber nur in ihrem Treiben untereinander. Was sie mit den Menschen tun, reicht über die Grenzen meiner Macht. Ich bin der Pförtner dieses Planeten. Nichts kommt herein von den Himmelsräumen, nichts geht hinaus, das nicht durch mein Gebiet strömte und strahlte. Darum konnte ich dir einen Menschenleib verschaffen. Von da ab warst du auf die Mittel der Menschen gestellt für Macht und Glück. Die Wolkenseele, die du mit dir führtest, mochte dir nützen, mochte dir schaden; sie verband dich mit uns, aber mit den anderen Menschen kann sie uns nicht verbinden. Du magst erzählen den Wolken von den Wundern der Menschen. Doch Menschenwillen und Menschenkönnen zu verpflanzen in das Reich der Elemente über dich selbst hinaus, das vermagst du nicht, das vermag niemand.«
»In schwere Zweifel werde ich durch dein Wort versetzt, schwerer noch, als es durch meine Tat schon geschehen ist. Denn ich gestehe es, ich versuchte dem Menschen zu helfen, und ich erkannte, daß er meiner nicht bedurfte. Aber vielleicht war dieser Versuch nur nicht richtig angestellt, vielleicht könnte ein anderer besser gelingen. Darum wollte ich an meiner Aufgabe noch nicht verzweifeln, darum hoffte ich auf dein Wort. Denn siehe, Vater, wäre mir nicht eine solche Aufgabe gestellt, die ein Neues in die Welt bringt, was kein geborener Mensch vermag, wozu brauchte ich dann ein Mensch zu werden, deren es so viele gibt? Nur, weil ich darum bat? Weil ich es wollte? Dann wäre ich's nur geworden um meinetwillen, um für mich den Stolz zu gewinnen, ein Mensch zu sein mit der Macht der Erkenntnis. Dann aber, o Vater, verzeihe mir, daß ich es sage, dann hast du deine Wahl schlecht getroffen Dann habt ihr mich in den falschen Menschenleib gesandt«
»Was sprichst du da, Aspira? So faßte das Leid dich aber nicht um der Menschen Not, sondern um deine eigene?«
»Das meinte ich, als ich sagte, ich fand zu wenig Zu wenig für mich und für den, dem ich zugehöre.«
»Wie versteh' ich das? Wem gehörst du zu?«
»Ich ward ein Weib, und das gehört nach Menschensitte zu einem Manne in gegenseitiger Liebe. Wohl fand meine Wolkenseele in allem sich zurecht, was des einzelnen Menschen Leben ausmacht. Aber zwischen Mann und Weib ist noch ein Band, ein Gefühl, das mir fremd blieb, das ich nicht gewann, das ist: Liebe zu geben und Liebe zu nehmen nach Menschenart. Weil es mir fehlt, raube ich dem Manne Glück und Vertrauen des Lebens. Damit stürzte ich in den Zwang des Leides.«
»Ich verstehe dich nicht, Aspira.«
»Ich glaube, daß du das nicht verstehen kannst. Ich aber sage dir, ich will das haben, was mir mangelt. Ein ganzer Mensch will ich sein, wenn ich ein Mensch bleiben soll, nicht ein halber, dem die Gabe fehlt, sich zu ergänzen. Wenn ich nicht alles Menschliche haben kann, nicht auch das, was die Menschen das Mächtigste nennen in Wonne und leid, so will ich gar nichts haben. So wandle Wera zurück in des Menschen Arm, ich aber will vergessen des leidvollen Trugs—So schwebe Aspira durch die Jahrtausende um die eisigen Höhen, und hinter ihr fern stürze die Brücke der Erkenntnis«
»Mein liebes Kind, das sind Geheimnisse, die ich nicht kenne; doch mich erschüttert deine Klage. Ich weiß keinen Rat als den des Hohen, der dich begnadete mit dem seltenen Vorrecht der Königwolken. Ihn magst du suchen, ob er zu dir rede in der Enge deines Herzens oder in der Ferne seines unendlichen Reiches.«
Da klang aus der unerschöpflichen Nacht die Stimme, die keine Stimme war:
»Ich vernahm deiner Tochter Klage. Sende sie herauf, Migro, in die Leere des Raums über dein Erdenreich. Denn nur zwischen den Sternenwelten, wo die Sonnen versinken wie Atome, redet das Geheimnis des Unbegreiflichen.«
Aspira flog durch ungemessne Weiten mit einer Geschwindigkeit, die ihr nicht bekannt war. Denn sie wußte nicht um die Zeit. Bis die Stimme erklang, die keine Stimme war:
»Blicke um dich, Aspira. Wo ist die Sonne?«
Sie schaute auf. Ringsum strahlten die Sterne. Wohl erkannte sie noch die alten Sternbilder, doch manches hatte sich verändert. Und ein Stern schimmerte mit besonders hellem Glanze, den sie noch nie gesehen hatte. Zögernd sagte sie:
»Die Sonne—sie ist ein Stern unter Sternen geworden. Ich vermute, daß sie dort drüben glänzt.«
»So ist es. Nun bist du fern genug von der Heimat, um sie mitten zwischen zahllosen Welten zu sehen, die gleiche zwischen gleichen und ähnlichen. Hier ist die Stätte, zu blicken auf das Leid des Schöpfers um sein Werk.«
Aspira schwieg, und der Hohe sprach weiter:
»Die Legende habe ich dir gekündet vom Reiche der Notwendigkeit und der Freiheit. Du wolltest die Reiche versöhnen, die auf der Brücke der Erkenntnis zusammenstoßen. Wohl ist es bestimmt, daß das Reich der Natur ein Mittel werde für die Idee des Guten. Darum eben ist der Mensch. Ihm ist die Aufgabe gestellt, das Reich der Notwendigkeit umzuwandeln zum Reiche der Freiheit. Dies aber kann nur geschehen von der Arbeit des Menschenhirns her. Daran teilzunehmen ward dir gestattet. Du aber hast deine Sendung verkannt. Das Reich der Notwendigkeit kann niemals frei handeln aus sich heraus. Du kannst es nicht belehren, du kannst es nur erobern.«
»So hab' ich vergeblich nach Erkenntnis gerungen?« klagte Aspira. »So war ich nicht würdig auf die Brücke zu treten?«
»Wer sagt das? Du bist jetzt im Reiche der Freiheit. Nicht mehr nimmst du wahllos das Gegebene hin, wie es kommt. Ein Wille lebt in dir, zu erstreben, zu verwerfen. Dafür aber kann dir auch niemand helfen als du selbst. Denn Freiheit ist Selbstverantwortung. Du allein hast zu entscheiden, was du willst und wollen kannst, du allein bestimmst, was du hoffen darfst, du allein aber trägst auch die Folgen des Irrtums. Du bist nicht mehr bloß Geschöpf, du bist ein Schöpfer und hast nun teil am Leide des Schöpfers um sein Werk. Das ist es, wo vor ich dich warnte. Du kennst nun dieses Leid. Und wisse, es heißt: Unvollkommenheit Die Freiheit fordert stets, die Notwendigkeit kann nicht immer geben. Daher erfährst du das Leid im Streben nach Dingen, die unerreichbar sind.«
»Unerreichbar? Unerreichbar?« stammelte Aspira zitternd.
»Unerreichbar ist nur das Ziel, nicht das Streben danach. Willst du freiwillig das Leid auf dich nehmen, so bleibt dir das Streben, wenn du dadurch ein Höheres zu gewinnen glaubst als in der Lust des Besitzes. Des Menschen Leben ist nicht Erfüllung, sondern Bemühen, und auch sein Leiden ist ein Mittel zum letzten Ziele. Bei dir aber steht es, zu wählen, wie dein Weg sich schlinge, durch enge Gärten mit süßen Früchten oder durch weite Steppen mit ferne leuchtenden Bildern des Ziels. Und griffst du einmal fehl in deinem Entschluß, so kannst du einen anderen erfassen. Zahllos sind die Aufgaben, die den Menschen gestellt sind.«
»Welch eine arme Welt«, begann Aspira klagend, »ist dann dies große All, wenn der Erde mächtigste Wesen sich begnügen müssen mit dem Genusse des Unerreichbaren Warum empören sie sich nicht gegen diese Trennung der Reiche? Ich aber, Hoher, ich klage, denn das Unerreichbare ward mir nicht nur hingestellt, wie den Kindern der Freiheit, als lockendes Ziel meines Ringens Mir ist auch versagt, was der Menschen Geringstem sonst als Besitz geschenkt ward, auch der engen Gärten süße Früchte vermocht' ich nicht zu finden— —«
»Sprich nicht weiter, Aspira Liebe willst du geben nach Menschenart—«
»Ja, und ich will es lernen, ich will es erarbeiten—ich will mich fügen den Gebräuchen und Gewohnheiten der Menschen, ich will mich unterwerfen fremdartigem Verlangen und geforderten Diensten Aber das will ich wissen, wenn ich mich in der Menschen Recht begebe, ob ich dann auch den Besitz gewinne, nicht für mich, aber für ihn Wissen will ich, ob ich das Glück ihm rette, das ihm geraubt ward, als des Weibes Körper für meine Wolkenseele gewählt ward. Denn damals war ich noch nicht im Reiche der Freiheit.«
»Still, still, Aspira. Empöre dich nicht—du wolltest ein Mensch werden, schon mit dieser Bitte standest du auf der Brücke zur Freiheit. Aber du kamst aus dem Reiche der Notwendigkeit. Und nimmer in Raum und Zeit läßt sich Notwendigkeit ganz in Freiheit auflösen. Irgend ein Rest deines Wolkenerbes bleibt bestehen. Keine Verbindung mit dem Menschen kann dir das letzte geben, was Weib und Mann im Zellenreiche bindet, denn du kannst die Entwicklung des Lebendigen nicht beginnen vom Anfang der Erde an. Alles vermagst du nachahmend zu erringen, nur nicht das Gefühl selbst. Der Menschen Rechtsbund mag dir äußerlich alles ebnen und die Umgebung täuschen, in dir und in ihm schafft er nicht, was du suchst. Dies sollst du wissen, damit du nicht vergeblich hoffst«
»Du schmetterst mich nieder, du raubst mir die letzte Hoffnung. Warum verließ ich dann mein Reich, wo ich frei war, um eine Freiheit einzutauschen, die nichts ist als Unvollkommenheit?«
»Und doch ist diese Freiheit die einzige Macht, die auch Vollkommenheit gewährt. Nur nicht als Besitz eines Teiles der Welt, denn das ist ein Widerspruch, aber im Wollen, das sich auf das Ganze richtet. Denn nur eines gibt es im All, das vollkommen ist, das ist ein reiner Wille. In deiner Freiheit kannst du ihn dir schaffen. Erhöhe dein Streben zum Wollen des Gesetzes Was du unbewußt tatest als Wolke, tu es bewußt im Reiche der Freiheit. Das ist die ewig neue Schöpfung neuer Welten«
»Mir aber scheint es, diese Freiheit bedeutet nur—Entsagung.«
»Entsagung ist nur Verzicht auf das Unerreichbare. Sie ist die Freiheit des endlichen Geistes, eins zu werden mit dem Unendlichen. Das ist die Befreiung vom Zwange des einzelnen, das ist die Schöpfung des Ganzen.«
»O, daß ich keine ganze Welt sein kann«
»Du bist es Im Reiche der Freiheit ist jeder eine ganze Welt, weil er das Gesetz des Ganzen sich selbst gibt. Blicke um dich Diese zahllosen Sonnen, die Planeten, die sie umkreisen, sind lebende Wesen, auf ihnen wohnen lebende Wesen, sind Arten des Gefühls und des Bewußtseins, von denen kein Mensch sich eine Vorstellung machen kann. Aber soweit sie dem Reiche der Freiheit angehören, sind sie alle Welten für sich und bestimmen sich nach ihrer Verantwortung. Sie alle sind begriffen, sich ineinander zu spiegeln und damit Welten zu formen zur eigenen Welt. Und du magst auf den Strahlen des Lichtes reisen durch Millionen und Abermillionen von Jahren, immer wieder wirst du auf Gruppen leuchtender Milchstraßen treffen, wie du sie hier schimmern siehst. Und doch ist das nicht das Ganze. Und dennoch ist das Ganze überall in jedem. Du staunst? Ich habe dir die Legende gekündet. Nun magst du das Geheimnis erblicken im Schema.
Du weißt, das Menschenhirn setzt sich zusammen aus zahllosen Zellen, in denen Molekeln sich aufbauen und umschwingen und zerfallen. Und dieser Prozeß erlebt sich als ein Bewußtsein. Du weißt, dort in den Räumen, die dein Auge nicht mehr durchdringt, bauen Sternsysteme sich auf und schwingen um und zerfallen. Auch dieser Prozeß erlebt sich als ein Bewußtsein. Was sind Sonnen, was sind Atome? Mittel der Freiheit
Sieh her Ich will für deinen Blick diese Weltsysteme und Milchstraßen zusammenziehen in viel trillionenfacher Verkleinerung, daß du sie hier von außen anschaust, so wie das System der schwingenden Atome einem Menschenauge erscheint. Was erblickst du?«
»O Hoher, ich schaudere. Das ist ein lebendes, zuckendes Organ, das ist ein Gehirn«
»Und wieder will ich deinen Blick schärfen und will dich versetzen in das Gehirn des schlummernden Mädchens dort in der Gletschergruft, daß du es von innen erschaust in viel trillionenfacher Vergrößerung. Was erblickst du?«
»Gewaltiger, wie wag' ich es zu sagen? Und sehe den Sternenhimmel über mir, ich sehe Sonnen kreisen und Milchstraßen schimmern.«
»Und doch ist es nur ein Menschenhirn. Und jene Sternmassen, die du im Raume leuchten siehst, sind selbst nichts anderes als ein Organ, das Hirn eines höheren Wesens, deren es unzählige gibt. Überall formen sich die Gebilde, in denen Vernunft sich ihren Leib und ihre Mittel schafft. Überall sind Welten, alle dienen einander. Willst du noch klagen, daß es Grenzen deines Besitzes gibt?«
»Was mögen jene Überwelten sinnen? Was bin ich gegen sie? O du machst mich so klein, so klein —«
»Nein Aspira. Ich mache dich so groß, so groß Auch dein Hirn ist ein Weltsystem. Gleich stehst du den Wirbeln der Sonnenmächte. Jene Sonnenwesen sind nur reicher, nicht freier. Die Freiheit, die im reinen Willen sich offenbart, hat keine Steigerung, keine Einschränkung. Sie ist das Vollkommene und sie ist dein. Wandelbar und begrenzt ist nur das Glück.
Und nun lebe wohl, Aspira. Ich wende deinen Flug wieder sonnenwärts und rufe den Vater, daß er dich zurücknehme in das Bereich der Erde.
Du aber wähle Prüfe dich, was du verantworten kannst. Danach bleibe ein Mensch, oder kehre zurück ins Spiel der Elemente
Lebe wohl.«
Durch den Raum flog Aspira auf Schwingen der Weltenstrahlung, und als sie in den Schatten der Erde gelangte, fing sie der Vater auf in seinem Arm und zog sie zurück in das Blau seines Erdenhimmels.
Auf der langen, langen Fahrt aber, allein ihren Gedanken überlassen, kämpfte sie in ihrer Seele den harten Streit des Zweifels.
Darfst du es wollen, ein Mensch zu bleiben?
Die Elemente kann man nicht bereden, die Menschen kannst du nicht überzeugen, und deiner Hilfe bedürfen sie nicht in ihrer Klugheit. Aber mußt du denn gerade dieses wollen? Blüht dir nicht anderes an fruchtender Arbeit? Unendlich sind die Aufgaben der strebenden Menschen.
Köstlich ist das Bewußtsein der Freiheit, herrlich ist die Macht der Erkenntnis. Wohlbekannt ist dir des Menschenwissens reiches Gebiet und gegeben sind die dir Mittel, es zu erweitern in ernster Arbeit. Und wenn du die Elemente nicht bestimmen darfst als dienende Geister, so kennst du doch der Tiefen Geheimnis und manche Lagerstätte unerschöpflicher Schätze, um den Reichtum zu gewinnen, den sonst kein Sterblicher besitzt. Und du stillst die Träne des Elends und du schaffst gewaltiges Werk, wie es noch keiner vermochte—— Lockt dich nicht die Fülle der Macht?
Aber darf ich das? Für Menschenwerk die Mittel entnehmen aus dem Reiche der Natur, die nicht gewonnen sind durch die sinnvolle Arbeit, die ich nur kenne aus meiner Wolkenseele? Bringe ich nicht auch so in das Menschenwerk eine unlautere Gabe, die der Geisterwelt entstammt? Wird nicht auch sie zerrinnen wie Spielgewinst, da sie vom Reiche des Spiels entwendet ist? Wer sagt mir, ob nicht gerade solches Tun den Weg stört, der den Menschen doch nur durch ihres Denkens Macht auf ihre Weise gestattet ist? Würde ich solchen Erfolges mich rühmen können, würde ich ein Mensch sein, der auf seiner Arbeit steht? Und wieder nur ein Mensch sein, wie die ehrlichen Forscher alle, könnte mich das befriedigen? Wozu noch der eine zu den vielen? Soll ich darum das Wort der Freiheit erlernen, das quälend erlösende: Lerne entsagen?
Warum nicht lieber zurückfliehen in das ungetrübte Reich der Wolken, wo keine Verantwortung mich ruhelos umhertreibt? Wo das sorglose Spiel des Elements mich in ewigem Wandel durch Höhen und Tiefen holde Freuden genießen läßt? Leuchtet mir nicht auch dort im Herzen die wärmende Sonne der Ehrfurcht vor den hohen Gewalten der lebendigen Natur? Süßes Vergessen aller erlebten Not, ich grüße dich, meine befreiende Hoffnung
Und wenn ich trotzdem das Leid auf mich nähme? Wäre das nicht größer? Wäre das nicht stolzer, Aspira? Ein Mensch sein in seiner freien Würde, unbekümmert um des Glückes Blütenkranz, der meine Denkerstirne flieht? Lerne entsagen
Doch nein, nein Ich darf es nicht Meinem Glücke entsagen, ja Mein Leid wollt' ich ertragen Aber ich bin ja nicht allein Es ist nicht nur mein Leid. Das Glück rauben, das dem andern gehört—ein andres Menschenleben zerstören, um das meine dafür zu setzen—darf ich das? Da liegt mein Verhängnis Liebe zu nehmen und Liebe zu geben nach Menschenart, das ist mir versagt Das kündete mir der Hohe. Und damit vernichte ich ihn, den ich lieben soll Darf ich das wollen? Ist das die Aufnahme des Gesetzes in meinen Willen? Mich gegen ihn O, das wäre nicht das Vollkommene, das einzige, was es gibt, der reine Wille. Das wäre nicht gut, das kann ich nicht wollen—nein Nein
So strömte sie zurück zum Vater und ruhte aufgelöst am klaren Azur des Erdenhimmels.
»Nimm mich zurück, Vater, nimm mich zurück in das weite Reich deines leuchtenden Gewölbes Ich will bei dir bleiben, Aspira, die Wolke«
»O meine Tochter, so konnte der Hohe dein Leid nicht stillen? Zu schwer ist es, was das Menschenherz dir kränkt«
»Nicht so, mein Vater. Nicht was ich leiden würde, ist mir zu schwer, aber was andre leiden würden durch mich, das kann ich nicht wollen. Der Hohe belehrte mich, daß jene Hoffnung vergeblich ist, die ich hegte, einem Menschen das wieder zu geben, was ich ihm raubte, als Weras Menschenleib mein eigen wurde. Darum will ich den Menschenleib zurückgeben. Behalte mich bei dir«
»Besinne dich«
»Frei will ich sein im Spiele des Traumes, nicht im Ernste der Würde. Als Mensch bin ich zu schwach zur Vollkommenheit des Guten, aber als Wolke gut zu sein, genügt, daß ich bin. Behalte mich bei dir«
»Du bist willkommen, die Rückkehr steht dir offen. Aber in deinem Wolkenherzen, das sich als verbindende Einheit durch deinen Nebelkörper verbreitet, ist ja der Menschenseele Grundkraft mit verhaftet. Die mußt du zurückgeben, willst du frei werden im Wolkenreich. Fließe hinab in die Gletscherspalte, ziehe ein in den Menschenleib, damit alles sich binde und löse nach den Gesetzen der Natur. Dann ströme wieder heraus mit dem Wolkenherzen allein. So wird der Mensch aus der Erstarrung aufstehen und wandeln wie zuvor, ehe du in ihn einzogst. Du aber wirst rein sein von allem, was Menschensinn umnachtet.«
»Ich will es tun.«
»Aber hüte dich, Aspira. Ganz und ungeteilt mußt du in den Menschenleib zurückführen, was du ihm einst entzogen hast. Nichts darf draußen bleiben von dem Wolkenorgan, das jetzt deines Menschenbewußtseins Träger ist. Noch bist du Mensch durch diese Seelenmischung, wie du des Denkens und Redens der Menschen kundig bist, so bist du auch menschlichen Neigungen und Lockungen unterworfen. Sorge, daß du alles zurückzugeben vermagst, sonst bleibt der Mensch erstarrt liegen für immer in der Eisgruft, dir aber, der Wolke, bleibt Kummer und Leid trotz deines Nebelleibes, und unselig bist du im sonnigen Reich der Lüfte.«
»Ich höre, Vater, und schwebe hinab.«
»Und weißt du wohl, wie lange du fern warst droben beim Hohen im weiten Äther?«
»Ich weiß es nicht, mir war keine Zeit bestellt.«
»Zum zweiten Tage, seit die Schiefklippe stürzte, stieg die Sonne empor.—So schwebe hinab, gedenke der Warnung, und sei dann wieder willkommen im Reiche der Luft«
Aspira senkte sich hinab zu den Bergen. Unruhiger ward die Luft. Im Wirbel vorüber stürmte die Bö, und die Geschwister warfen Schneekristalle hinab aufs verdeckte Land. Dann wieder kam auf kurze Zeit leuchtend die Sonne hervor und glänzte auf den blitzenden Schneehäuptern und grünenden Matten. Dem weißen Blankhorn winkte Aspira einen freudigen Gruß:
»Bald komme und zu dir, bald schmieg' ich mich um deine treuen Schultern. Warte nur, warte«
Und sie freute sich des freien Schwebens und fühlte sich erlöst in ihrem Entschluß. Übermütig stürzte sie sich in das Treiben der Wolken und blickte flüchtig hinab auf Wald und Flur. Doch da leuchteten die Häuser von Schmalbrück herüber, da streckte sich die Spur der gestürzten Schiefklippe, da dampfte drüben von St. Florentin ein Zug heran—da waren Menschen— —Und sie? Zwei Tage war sie fort vom Menschenreiche, was mochte inzwischen geschehen sein? Da lag der Dekan Strümpler—nein, der Langberg, der den Tunnel zerdrücken wollte—doch Martin war stärker gewesen—und sie konnte sich noch freuen? Sie möchte ihn noch einmal wiedersehen. Und Sohm, wo war Paul? Seit vier Tagen hatte er keine Nachricht von ihr, wie mochte er sich um sie Sorge machen
Drum schnell, schnell Fort mit Menschenwerk und Menschenhoffnung Sie wollte scheiden von ihnen. Statt Aspira wollte sie Wera schicken zu Paul. Emporsteigen sollst du, Wera Lentius, mit dem warmen Menschenherzen aus deiner Eiskluft, sollst den Geliebten umarmen, der sich nach dir sehnt und um dich ängstigt. O wie selig wird er sein, daß er dich wiederfindet, wie du vordem warst, wie anders werden deine Küsse glühen als der Wolkenlippen kühle Berührung, und wie ein unverständlicher Traum wird dir's manchmal in der Seele klingen, daß du glaubtest, eine Wolke zu sein——
Da durchschauerte sie ein Schreck. Wenn Weras Leib entdeckt wäre in der Gletscherspalte, wenn ein umherschweifender Hirtenbub, ein verirrter Tourist zufällig—o Gott Wenn Paul hörte, glaubte, daß sie tot läge in der Spalte—gewiß hat er nach ihr suchen lassen—Was die Menschen für Rettung hielten, wäre das Verderben
Schneller, schneller hinab Da ist der Gletscher. Und dort, nahe am Firnfeld, am obern Rande des Gletschers, wo der schwarze Firnblock hervorragt, dort sind zwei Männer. Ein bißchen Platz, ihr Nebel, hellt euch auf, daß ich sie sehen kann Näher heran Der eine ist ein Träger, er hat einen Apparat ausgepackt und stellt ihn auf, der andre hilft ihm—jetzt richtet er sich auf—es ist Sohm
»Paul« möchte sie rufen. Ach, es ist noch soviel Menschliches in ihr.
Was tut er da? Nun umhüllt sie ihn ganz in leichtem, fast durchsichtigem Nebel. Diese Glasflaschen mit den Hähnen und Schläuchen, diese Form der Pumpe hat sie ja noch gar nicht bei ihm gesehen. Was hat das mit dem geologischen Gutachten zu tun? Sie kann es sich nicht erklären—aber das muß sie doch beobachten. Jetzt ist die Eile wohl nicht so dringend, er lebt ja, er arbeitet ruhig, wie immer, vorsichtig, sorgfältig. Ihr ganzes Wolkenherz, jetzt das Organ ihrer menschlichen Wahrnehmungsfähigkeit, zieht sich um den Beobachtenden und seinen Apparat zusammen. Sollte das die neue Saugpumpe sein, von der er sprach? Jetzt entfernt sich Sohm vom Apparat —
Was ist das? Woher diese plötzliche Strömung, die ihr fremd ist? Wohin wird sie gerissen—— hier ist kein Ausgang—— was soll's?
»Aspira ist wieder da,« sauste ein Windstoß am Blankhorn. »Habt ihr's schon gehört? Aspira kommt zurück von den Menschen und will bei uns bleiben.«
»Aspira ist wieder da?« rief das Rinnsal, das am Felsen munter hinabschoß. Der Neuschnee hatte es frisch gekräftigt. »O, nun werde ich sie auch kennen lernen.«
»Das ist doch eine alte Geschichte,« brummte der herabgleitende Nebel. »Habe sie schon vorhin am Firnfeld gesehen.«
»Was gibt's schon wieder?« murrte der Felsen, der ein wenig geschlummert hatte. »Was ist los?«
»Aspira ist wieder da«
»Wo, wo? Ich sehe sie nicht. Es ist zuviel Wolkenzeug hier herum.«
»Sie will bald zum Blankhorn kommen,« sprach der Nebel. »Im Vorbeiwehen hat sie's schon gegrüßt. Sie bleibt jetzt hier und will nicht wieder Mensch werden.«
»Aha« sagten die Flechten befriedigt. »Aspira ist wieder da Wir haben es ja gleich gesagt, daß es Unsinn war, was sie wollte. Sie paßt nicht zu den Menschen. Das sind Zellenwesen. So was werden sie hier oben nicht richtig verstehen lernen.«
»Ruhe bei Ihnen« knurrte der Fels. »Was wissen Sie von ihren Angelegenheiten? Die Menschen sollten ihr auch gar nicht gefallen. Das ist uns gerade recht. Nun werden wir bald mit den Zweibeinern aufräumen.«
»Wie werden wir denn das machen?« fragte das Rinnsal.
»Nun,« sauste der Wind, »das könnt ihr ja so machen, wie drüben der Langberg, der ihnen einfach die Schiefklippe auf die Köpfe gestürzt hat.«
»Wer hat dir das vorgeredet?« rief der Nebel. »Ich hab's selbst gesehen, daß nicht einmal ein Eichhörnchen dabei verunglückt ist.«
»Na ja, der Langberg« rief der Fels. »Der ist auch dumm genug. Würde mir gar nicht einfallen, mich hier hinabrollen zu lassen. Aspira wird uns schon was Besseres sagen.«
»Glaubt's ja nicht, was sie euch sagt. Tut's ja nicht, was sie euch rät« klang es von unten her.
»Was ist denn das? Wer mischt sich hier in unser Gespräch? Das paßt uns nicht« riefen die Flechten.
»Pfui«brummte der Fels. »Diesmal haben die Flechten recht. Das paßt uns nicht. Das kommt drüben vom Langberg. Das ist die Luft, die so fatal riecht.«
»Pfui« sagte das Rinnsal. »Blast sie doch weg«
»Haha, sie ist schon fort« dröhnte der Fels. »Wie sie Angst hat, die freche Langbergluft«
»Seht, seht, wer da kommt Mach besser Platz, Nebel«
»Aspira Aspira Willkommen Aspira« hallte es von den Felswänden und den Wasserstürzen und dem Neuschnee rings umher.
Und von den Eishöhen des Blankhorn rief es vernehmlich herab:
»Willkommen, Aspira Nun, nun Glimmer und Schwefelkies Was haben die dir Zweibeiner getan, daß du schon wieder hier bist? Komm herauf und erzähle mir. Du siehst, wie wir alle uns freuen«
Vom Firnfeld her hatte sich's zusammengeballt und wuchs herauf, eine wallende Wolke. Es legte sich um die Abstürze des Blankhorns und zog höher und höher am Berge hinauf. Es war Aspira.
Und sie schmiegte sich an den alten Freund, den gewaltigen Riesen der Berge.
All die kleinen Geister aber lauschten aufmerksam, ob sie nichts vernehmen könnten; denn sie meinten, Aspira werde nun dem Blankhorn von den Menschen erzählen.
»Nun, nun?« sagte das Blankhorn. »Was ist denn das, Aspira? Siehst ja auf einmal so bestürzt aus? Und warst doch vorhin so fröhlich, daß du wieder bei uns bist? Denke dir, den ganzen Sommer haben sie wieder auf mir herumgehackt. Nun werden wir aber von dir hören, wie wir die Nagelfüßler herunterbringen. Werdens gescheiter machen als der Langberg. Nicht wahr? Das ist recht, daß du wieder bei uns bleiben willst.«
»Ja,« seufzte Aspira. »Vorhin glaubte ich, daß ich sogleich zu dir zurückkommen würde als freie Wolke. O, ich war glücklich Alles Leides hatt' ich vergessen, das drunten bei den Menschen wohnt, wiedergeben wollt' ich ihnen ihre Herrscherseele und all ihre Macht und ihr Wissen, und wiedergewinnen wollt' ich mir der Höhen ungetrübtes Spiel. O dieses wonnige Dehnen und Schweben, das unbegrenzte Gestalten und Überallsein —— Und nun? Mein hoher Freund Es ist verloren Es ist nicht möglich, jetzt nicht möglich«
»Nun, nun Bei allen Steinrutschen Du erschreckst mich. Was ist denn geschehen?«
»Sie haben ein Stück von mir gefangen, ein Stück von dem Menschenherzen, das noch in mir war«
»Wer? Was? das versteh' ich nicht.«
»Du weißt doch, daß ich mein Wolkenherz mit einem Menschenherzen mischte. Als ich nun wieder Wolke ward, hatte ich die Absicht, später nochmals in den Menschenleib zurückzukehren, der inzwischen drunten erstarrt in der Gletscherspalte ruht. Darum mußte ich einen Teil seines Menschenwesens in meinem Wolkenherzen mitnehmen. Ich sprach mit dem Vater und mit dem Hohen, ich sann nach und entschloß mich, dem Menschen wiederzugeben, was sein ist, und frei vom Menschenwesen dauernd eine Wolke zu werden. Und nun —«
»Nun was?«
»Du sahst vorhin drunten die Männer über dem Gletscher. Als ich hinabschwebte, dem Menschen in der Spalte seine Seele zurückzugeben, bemerkte ich sie. Ich kenne den einen. Ich wollte sehen, was er treibe. Er sammelte Luft in Gefäße, die er fest verschloß. Ich kam zu nahe. Unvermutet schloß sich das Gefäß, als ich dort mein Herz in der Nähe verdichtet hatte, und ein Teil meines Herzens wurde gefangen—ich habe es nicht mehr.«
»Haha, Aspira, das tut doch einer Wolke nichts. Laß es ruhig dort, bist auch so noch mächtig genug.«
»Wenn es nur mein Herz wäre Wir können uns teilen und erneuern. Des Wolkenherzens verlorenen Teil kann ich freilich entbehren, ja durch ihn bin ich sogar noch mit dem geraubten Teile verbunden. Aber es ist ja vom Menschenwesen ein Teil dabei. Und der Mensch, der festgefügte Mensch mit seinem ins Feinste gegliederten Nervenleib—o, du weißt nicht, wie wunderbar die Menschen gebaut sind—er muß alles, alles wieder haben, was ich von ihm empfing, nichts darf fehlen, nichts Jetzt darf ich auch jenen kleinen Teil des Herzens nicht missen, sonst bleibt der Mensch starr und tot liegen in der Eisgruft.«
»Laß ihn liegen Es liegen noch mehr Menschen in unsern Schluchten.«
»Das darf ich nicht. Der Vater verbietet's und der Hohe, und —«
»Und?«
»Etwas, das du nicht verstehen wirst.«
»Nun, nun das ist wohl gar so was Menschliches?«
»Ja, das Beste am Menschen—das Gewissen.«
»Gewissen? Wo sitzt das? Aber als Wolke braucht dich doch nicht zu kümmern, was die Menschen haben. Du bist ja hier, du ballst dich und schwebst und verdunstest, wie dir's paßt, was geht dich als der Menschen Werkzeug an?«
»Du vergißt, daß mein Wolkenherz noch ganz mit dem Menschenwesen gemischt ist. Ich bin eine Menschenwolke. Hätte ich vorhin, wie ich es wollte, dem Menschen drunten all sein Eigentum wieder zustellen können nach den Vorschriften des Vaters, so wäre ich jetzt bei dir als freie Königswolke. Solange ich aber den Menschen nicht wieder zum vollen Menschen machen kann, behalte ich auch seine Seele in mir mit allen Menschensorgen und Menschengeboten—und ich bin eine denkende Wolke O ich arme«
Und Aspira schmiegte sich enger an das Blankhorn und weinte, weinte.
»Nun, nun,« brummte der Alte. »Nur keine Aufregung Was ist denn da so Schlimmes dabei? Du wolltest ja doch Mensch werden.«
»Ich will es aber nicht bleiben, denn ich weiß jetzt, daß ich es nie in voller Echtheit sein kann. Ein Mensch mit einem Stück Wolkenherzen, das wollte ich nicht. Aber nun—eine Wolke mit einem Stück Menschenherzen,— das ist schrecklich«
»Na ja, armes Ding, das mag ja wohl schäbig sein.«
»O du weißt nicht, was es bedeutet. Der Leib des Riesen mit der Kraft des Zwerges Frei sich bewegen, und erkennen, daß alles Zwang ist. Wissen um die Macht und ohnmächtig sein im Handeln Schweben in den Höhen der schönen Welt mit dem Leide um das Unerreichliche Willenlos wollen, befohlen spielen, namenlos-elend unsterblich sein«
Das Blankhorn erzitterte von einem geheimnisvollen Schauer ergriffen. Lawinen donnerten von seinen Wänden. Bäche stauten sich und stürzten mit neuer Gewalt zu Tale. Wirbelwinde brachen aus den Schluchten. Erschrocken lauschten die Geister des Bezirks. Von allen Seiten stürmten Winde und Wolken heran, dichter Schnee raste über die Täler.
»Was willst du?« rief Aspira. Sie bebte um Sohms Schicksal, den sie noch auf dem Gletscher wußte. »Schnell stille die Geister Jetzt können wir den Aufruhr nicht brauchen. Bitte, bitte, errege dich nicht«
»Zerschmettern will ich den Menschenwurm mit seinem Gefäße und befreien dein gefangenes Herz.«
»Nein, nein,—nicht so Er darf nicht zugrunde gehen, das will ich nicht Zerstreut euch Wolken Ruhe, Ruhe ihr Wetter. Aspira gebietet — hellt euch auf«
Und schnell, wie sie gekommen waren, verzogen sich die Wetter. Es ward heller über dem Tale.
»Nun, nun« brummte das Blankhorn. »Man kann dir doch nichts recht machen. Muß schon Nachsicht haben mit meiner kranken Aspira. Ha Kranke Wolke Gar nicht zum Lachen Aber was willst du denn nun?«
»Ich sann schon lange nach. Dem Menschen darfst du nichts tun. Aber wenn er seine Flaschen im Hause geborgen hat, dann will ich es versuchen mit Menschenlist, ob ich ihn nicht bewege, sie zu öffnen, daß ich frei werde.«
»Kannst du denn zu den Menschen reden?«
»Verstehen kann ich alles, was sie sagen und tun, aber zu ihnen reden, das kann ich nur in der Stille der Nacht, wenn sie schlummern. Ach, wenn ich im Tunnel hätte zu ihnen sprechen können Doch das vermochte ich nicht. Wenn aber ihr Gehirn ruht, so vermag ich mit dem Wolkenherzen, das mit dem Menschenherzen gemischt ist, auf sie zu wirken, daß sie mich hören und verstehen. Und das will ich versuchen.«
»Und wenn es dir nicht gelingt?«
»Wehe mir Dann bin ich verloren Laß mich jetzt ziehen, Blankhorn, den Abend will ich erwarten drunten in einsamer Schlucht, bis die Menschen schlummern——«
»Geh, mein Liebling. Aber wenn—nun, nun das Blankhorn ist auch noch da«
Nachdem die Tunnelfrage in befriedigender Weise gelöst und der Fortgang der Arbeiten gesichert war, hatte Sohm sich in Schmalbrück im Hotel Leberecht eingemietet. Hier hoffte er, die sehnlichst erwartete Nachricht von Wera baldigst zu erhalten. Die größere Nähe des Ortes am Gletscher war ihm der Versuche wegen erwünscht, die er mit seinem neuen Apparat anstellte. Dieser hatte sich vortrefflich bewährt. Zwar das Wetter war fortwährend ungünstig, kalt und windig. Doch gestattete es immerhin das Herumsteigen auf den Bergen.
Heute hatte er bestimmt auf eine Botschaft von Wera gerechnet, aber wieder war er enttäuscht worden. Er begann, sich zu beruhigen, doch er tröstete sich mit Weras Telegramm: »Ängstige dich nicht um mich.« Er nahm an, daß sie sich in einen jener einsamen Orte, vielleicht auf eine der Klubhütten, zurückgezogen hätte, von denen die Verbindung mit der Außenwelt nur durch Boten möglich ist. Aber jedesmal, wenn der Sturm einhersauste, der jetzt mehrfach Schneefälle mit sich brachte, erwachte in ihm der Gedanke, daß Wera ein Unglück zustoßen könne. So heute Abend, als nach leidlichem Tage plötzlich ein Unwetter über Schmalbrück hernieder gebraust war, das die Fremden, deren Zahl sich schon gelichtet hatte, in Ärger und Schrecken versetzte.
Von der Hotelgesellschaft hatte sich Sohm ganz ferngehalten. Auch jetzt, ermüdet von seinem Umhersteigen auf dem Gletscher, war er zeitig auf sein Zimmer gegangen, um die Ruhe zu suchen.
Der Sturm hatte sich gelegt. Dennoch fand Sohm keinen erquickenden Schlaf. Er dachte an Wera und fuhr mitunter erschrocken empor, wenn er im Halbschlummer ihr Bild vor sich sah, als riefe sie ihn—Wo mochte sie sein? War er ungerecht gegen sie gewesen? Doch nein, jetzt nicht grübeln Schlafen, schlafen
Um seine Gedanken abzulenken, richtete er sie auf den Erfolg seiner heutigen Tätigkeit. Er konnte zufrieden sein. Eine stattliche Anzahl Flaschen, sorgfältig etikettiert und in Watte verpackt, lagen in den Fächern seines Kastens verwahrt. Das gab eine interessante Analyse für Wera ——
Wieder Wera Schlafen, schlafen
Auf einmal war es ihm, als klänge es ganz leise aus seinem Kasten wie ein Seufzer. Noch einmal Und dann glaubte er eine feine Stimme zu vernehmen— deutliche Worte:
»Laß mich heraus Bitte, laß mich heraus«
»Spricht da jemand?« stieß Sohm hervor. »Wer denn nur? Ist jemand hier?«
»Ich bin's, die Wolke.«
»Wolke? Kenn' ich nicht. Aber wenn sich jemand hier einen schlechten Witz machen will, so ist jetzt nicht die Zeit. Wo steckt denn der Störenfried?«
»Hier im Glase, im Kasten.« Ganz deutlich klang es jetzt aus der Richtung, wo die Kiste stand. »Eine Wolke bin ich, König Migros Tochter.«
»Verrückter Traum Muß ich doch einen Moment eingenickt sein«, brummte Sohm und drehte sich auf die andere Seite.
Aber aus dem Kasten klang es weiter, leise, doch vernehmbar:
»Eine Wolke bin ich. Gefangen ward ich durch meine Neugier. Ganz aufgelöst zog ich oben am Firnfeld, unsichtbar ausgebreitet zum leichtesten Hauch. Da erblickte ich dich und den andern und das glitzernde Rohr. Und wissen wollt ich, was der fürwitzige Mensch anhebt in unserm Reiche. Ich schwebte näher an die Dinge, die ihr aufgestellt hattet, und da ihr nicht nahe dabei standet, glitt ich mit der Luft hindurch und spähte durch die lichte Wandung. Und auf einmal war die enge Tür geschlossen, ich konnte nicht fort. Du aber packtest mich ein, und finster ist es seitdem—ich will hinaus aus dem Dunkel«
»Eine dunkle Sache ist das freilich«, sagte Sohm und richtete sich auf. »Aber man soll alles objektiv betrachten. Dann muß sich's ja zeigen, daß ich bloßsubjektiv träume. Also eine Wolke bist du?«
»Ja.«
»Du wirst mir doch nicht einreden wollen, daß eine Wolke in einem Glase von 300 Kubikzentimeter Inhalt Platz habe, bei dem mäßigen Druck, den das Glas aushält?«
»Ich bin ja auch nicht die ganze Wolke, die du gefangen hast. Noch schweb' ich droben um den Fuß des Blankhorns frei in der Weite, noch kann ich als Nebel durch die Ritzen des Hauses dringen, aber nicht durch das Glas. Zum Unglück war es gerade ein Teil meines Herzens, den ich in der Flasche gesammelt hatte. Und den will ich wieder haben, denn ich brauche ihn.«
»So? Also Wolken haben Herzen. Ist mir als Meteorologe sehr interessant. Aber nun ist's genug Wolken sind überhaupt nur Ansammlungen von kleinen kondensierten Wassertröpfchen, ihre Gestalt ist ganz abhängig von den äußeren Wirkungen der Umgebung, sie haben keine individuelle Einheit; sie sind selbstverständlich keine organisierten Wesen, haben also auch kein Herz, noch viel weniger, wie du es zu verstehen scheinst, Leben und Seele; sie haben kein Bewußtsein, keine Freiheit, keine Könige und Prinzessinnen, und du bist weiter nichts als ein Spiel meiner Einbildung. Und somit laß mich jetzt in Ruhe.«
»Ich denke,« erwiderte Aspira, »man muß alles objektiv betrachten. Das ist nun zwar sonst nicht gerade Wolkensache, aber mit mir ist es etwas Besonderes. Mein herz nämlich kann mitschwingen mit allen Regungen deines Nervensystems, und so kann ich deine Gedanken verstehen und kann in deiner Sprache mit dir reden.«
»Unsinn«
»Etwas höflicher könntest du schon mit einer Wolkenprinzessin reden.«
Ein gewaltiger Windstoß erschütterte das Fenster. Sohm fuhr auf.
»Laßt es gut sein draußen« ertönte Aspiras Stimme. »Mit Gewalt ist nichts auszurichten, das Haus ist zu fest. Ich muß mit dem Menschen gütlich verhandeln.«
Sogleich schwieg der Sturm. Sohm lauschte eine Weile, und da sich nichts regte, streckte er sich wieder hin und dachte: »Das kommt nun davon, du böse, geliebte Wera, von deiner Geistertheorie Nun träume ich auch schon von Wolkenseelen«
»Willst du mich nicht herauslassen?« klang es wieder aus dem Kasten.
»Ich denke gar nicht dran. Aber wenn ich einmal den Traum nicht los werden kann, so rede meinetwegen weiter. Ich schlafe ja.«
»Wenn ich dir aber beweise, daß ich eine Wolke bin?«
»Beweise muß man achten. Immer zu«
»Du behauptest, Wolken seinen nur Anhäufungen von Tröpfchen und keine lebenden Wesen? Was bist du denn? Eine Anhäufung von Teilchen derselben Elemente, nur ein bißchen mühsamer zusammengesucht. Da müssen sich erst die komplizierten Eiweißklümpchen balanzieren und Zellen bilden und sich teilen und differenzieren—bei uns ist das alles viel einfacher. Und du sagst, wir hätten keine innere Einheit? Woher willst du das wissen? Zerfließt ihr nicht auch und fließt wieder zusammen aus den Elementen? Ihr atmet und eßt und trinkt und erneuert euern Leib in jedem Augenblick; bei uns geht das nur alles viel schneller. Deswegen bestehen wir doch im Wechsel. Wer gab dir denn deine Gestalt und deine Organe, Haut und Nerven, Blut, Muskeln und Knochen? Wir, die Luft, das Wasser und die Erde und die strahlende Sonnenmutter. Wer formte sie? Niemand anders als das Zusammenwirken der Gesetze in meines Vaters Reiche, die diese Elemente verbanden und mit der Umgebung in einen Austausch der Kräfte setzten. Dadurch mußte in ungezählten Generationen sich diese Gestaltung erzeugen, die ihr einen Menschenleib nennt, und erzeugt sich immer wieder nach gleichen Gesetzen, wenn auch immer wieder ein wenig anders unter dem wechselnden Einfluß der Umgebung. Denn ihr seid eben nur Versuchsobjekte der Natur, an denen sie herummodelt, weil sie nie mit euch zufrieden ist—höflicher gesagt, weil sie aus euch noch etwas ganz Großes machen will. Auch dein Leben ist abhängig von der Umgebung. Steige doch mit mir in die Höhe des Äthers, wir wollen sehen, wer besser lebt. Auch wir bilden uns aus dem Zusammenwirken des eignen Gesetzes mit der Umwelt, genau wie ihr. Nur weil wir einfacher sind, sind wir de Natur bald gelungen. Wir zerfließen schneller und bilden uns schneller, aber die Einheit des Gesetzes halten wir fest. Unter gleichen Bedingungen sind wir wieder dieselbe Wolke, wenn auch unabhängig von unsrer Gestalt. Ja wir können uns teilen, und verlieren doch unsre Einheit nicht. Unsre Einheit ist anders als die eure, aber warum soll es keine Einheit sein? Hast du doch dafür ein Wort und einen Begriff, warum also sollen wir darin nicht eine Seele haben?«
»Allen Respekt, Hoheit Wolke, vor deinen Deduktionen Wenn das so ist, dann kann dir's ja auch ganz gleich sein, ob ich hier ein paar Milligramm Wasserdampf in meiner Röhre habe, oder nicht.«
»Ich sage dir ja, das gehört gerade zu meinem Zentralorgan, das wir das Wolkenherz nennen.«
»Siehst du, da hab ich dich Eine solche Zentralisation bei euch ist gar nicht denkbar.«
»Das ist eben unsre Streitfrage. Weil die Meteorologie sie bis heute nicht entdeckt hat, soll sie nicht denkbar sein Ich sage dir, es gibt in allen atmosphärischen Bildungen gewisse formsetzende Gruppen, gasförmige Kristalle, Spannungssysteme des Äthers, die unsre Einheit bedingen. In ihnen treffen sich und regulieren sich die Spannungen, die bei allen Kondensationen und Verdunstungen unsrer Teilchen maßgebend sind. Es ist schließlich nichts andres, als was auch in euerm Nervenapparat vor sich geht, nur ungleich einfacher, weiter und schneller wirkend. Das hindert nicht, daß dieses Organ teilbar ist wie wir selbst, wir sind eben keine Zellenwesen. Es gibt viel mehr Einheiten des Gesetzes, als ihr bisher habt entdecken können.«
»Das Letztere gebe ich ohne weiteres zu. So wäret ihr in der Tat in gewissem Sinne organisiert? Und dann könnte man euch auch eine Art Bewußtsein nicht absprechen. Nur wissenschaftlich beweisen läßt es sich niemals. Und deswegen kann ich darauf keine Rücksicht nehmen. Überhaupt—du bist gar nicht originell, das träume ich alles bloß, weil——«
»So kann dir's ja auch gleichgültig sein, ob du mein Herz in deinem Glase hast, oder ein andres Quantum Luft.«
»Aber dir kann's auch gleichgültig sein. Es scheint doch, daß dein Zentralorgan auch noch durch das Glas und die Watte und Kiste hindurch dein Wolkenleben regieren kann.«
»Bis zu einem gewissen Grade, ja. Aber ich brauche dieses Stoffliche selbst zu einem ganz besondern Zwecke, den ich dir nicht erklären kann. Außerdem—wenn auch ein Wolkenherz in der Natur nahezu unsterblich ist, könnte es doch durch eure systematisch angewendeten technischen Mittel zerstört werden. Du willst mich doch mit fortnehmen zu irgend welchen Versuchen —«
»Allerdings. Meine Assistentin wird dich austrocknen, durch Kalilauge saugen, um die Kohlensäure zu entziehen, dann —«
»Höre auf Was hast du davon? Gib mich frei Verlange von mir, was du willst. Wir sind mächtig. Wir wissen viele Geheimnisse der Natur und der Menschen, oder können sie erfahren. Wir kennen in den Klüften der Berge seltene Gesteine und Metalle. Ich will sie dich finden lassen und dich zum reichsten Manne der Erde machen. Aber laß mich frei«
»Wirklich? Ach sieh doch Da hätte ich dich also, wie der Fischer in ›Tausendundeine Nacht‹ den Geist in der Flasche mit dem Siegel Salomonis. Da könnte ich vielleicht ein mächtiger Zauberer werden? Aber, liebe Wolke, solche Märchen glaube ich nicht. Und wenn ich einen Augenblick daran glauben könnte, so dürfte ich dich doch erst recht nicht frei lassen, denn dann hätte mein glücklicher Fund ja das höchste wissenschaftliche Interesse. Indessen —«
Es fiel ihm ein, daß dies doch nicht so fortgehen könne. Er mußte wenigstens morgen früh konstatieren können, daß er diesen ganzen logischen Gedankenbau nur geträumt habe. Er dachte wieder an Weras Phantasien. Gewiß, wenn er träumte, so würde das alles, was ihm jetzt so klar durch den Kopf ging, morgen als schönster Unsinn erkannt werden. Wenn er jetzt aufstände und sich ankleidete, dann müßte er doch morgen merken, ob er das nur geträumt habe.
»Warum sprichst du nicht weiter?« fragte Aspira.
»Ich habe mir überlegt,« sagte Sohm, »wenn du wirklich eine Wolkenprinzessin bist, so erfordert die Höflichkeit, daß ich deiner Flasche einen bevorzugten Platz anweise, und dazu muß ich doch erst etwas Toilette machen.«
Er drehte das Licht an und tat wie gesagt. Dazwischen fragte er:
»Wo war es eigentlich, wo ich dich einfing?«
Er glaubte nun, da er das Gefühl hatte, ganz munter zu sein, es werde keine Antwort mehr erfolgen. Aber es klang ganz deutlich aus dem Kasten:
»Am obern Rande des Gletschers, wo der schwarze Felsblock hervorragt.«
Sohm wußte nicht mehr, was er denken sollte. Doch er sammelte sich. Dort hatte er nur eine Probe entnommen. Es war sein höchster Punkt gestern, 3024 Meter. Die Flasche mußte leicht zu finden sein. Er öffnete die Kiste und erkannte sogleich die mit der Meereshöhe bezeichnete Flasche.
Er hielt sie gegen das Licht, natürlich ohne irgend etwas Besonderes sehen zu können. Aber fast wäre sie ihm aus der Hand geglitten, so schrak er zusammen, als deutlich, obwohl leise, dicht vor seinem Gesicht die Stimme erklang:
»Ja, ich bin es, laß mich heraus«
Er schloß die Flasche in das Schreibpult, setzte sich an den Tisch und stützte den Kopf in die Hände.
»Du machst mich noch wahnsinnig« rief er verzweifelt. »Es ist doch unmöglich Wie kann eine Wolke solche verteufelt schlau geordnete Vorstellungen haben? Wie kannst du überhaupt reden«
»Weißt du etwa,« tönte es aus dem Schreibtisch, »wie dein Bewußtsein mit deinem Körper verknüpft ist? Wie soll ich es wissen? Und das sagte ich dir doch, das Organ, wodurch ich mich dir verständlich mache, ist dein eignes Gehirn. Vermöge meines Zentralorgans löse ich in dem Deinen zentrale Reize aus. Du glaubst zu hören, wie du im Traume den redenden Freund hörst—«
»Also endlich Gott sei Dank So träume ich doch«
»Nein, nein Der Anlaß des scheinbaren Traums ist objektiv. Ich bin hier, das Wolkenherz Gedenke der Schätze«
»Still Still Ich habe wirklich andere Sorgen—ich muß Ruhe haben.«
Er legte sich wieder zu Bett. Aber Aspira ruhte nicht. Sie begann aufs neue:
»Wenn du keine Schätze willst—ich kann mehr geben. Erinnerst du dich, was du mit Wera Lentius von den Elementargeistern gesprochen hast?«
»Wera? Was? Wie kommst du dazu? Ach—das kannst du nicht wissen. Also habe ich jetzt den strengen Beweis, daß ich nur träume. Das stammt alles aus mir selbst.«
»Weißt du, wo Wera ist?«
»Nein«
»Aber ich weiß es. Willst du mich frei lassen, wenn ich dir verspreche, sie morgen herzuführen? Morgen früh sollst du sie wieder haben.«
»Laß mich Laß mich Ich will wach sein.«
»Und ich muß hinaus. Wenn es nicht anders geht, so mußt du das Schreckliche vernehmen Weißt du wo Wera ist?«
»Um Gotteswillen Das wird ein Angsttraum«
»Wenn du mich nicht frei läßt, ist sie verloren Wera liegt draußen in der Gletscherspalte. Nur ich weiß den Ort. Nur ich kann sie retten Aber nur, wenn ich mein ganzes Herz wieder habe«
Sohm stieß einen Schrei aus und schlug mit den Armen um sich.
»Eile, eile, Paul Sohm Weras Leben ruht in dieser Flasche«
»Wahnsinn« schrie er. Er raffte sich auf und nahm aus seiner Reiseapotheke ein Pulver. Er tat es in Wasser und trank es aus. Noch einmal hörte er Aspira rufen. Dann wirkte das Pulver. Die Stimme verschwamm undeutlich. Er hörte nichts mehr. Er schlief wirklich.
Nebelig und windig war der Morgen in Schmalbrück. Seufzend blickten die Fremden in de übelwollende Wetter und fragten sich, ob sie wohl besser täten abzureisen —
Unruhig umschwebte Aspira das Haus, wo alle ihre Bemühungen vergeblich gewesen waren, sich des eingeschlossenen Teils ihres Zentralorgans wieder zu bemächtigen. Und verzweifelt bebte das gefangene Wolkenherz mit im Dunkel des Schreibpults. Vergeblich hatte das Blankhorn seine Stürme gegen die festen Mauern gesandt, vergeblich war die lockende Rede Aspiras gewesen, vergeblich sogar die Drohung mit Weras Vernichtung. Sie konnte es ja freilich nicht anders erwarten. Ein Mensch von der festen wissenschaftlichen Überzeugung Sohms konnte diese Erscheinung nicht anders deuten als subjektiv, allein dem eignen Gehirn entsprungen. Und doch war die Drohung keine leere gewesen, nur zu entsetzlich nahte die Wahrheit. Konnte Aspira nicht ganz sich an Wera zurückgeben, so waren sie beide dem Verderben verfallen—Wera dem Erstarrungstod des Menschen in der Eisspalte, und Aspira dem erstarrten Leben in den Höhen der Luft als unseliger Geist——
Was tun? Was tun? Nun hatte sich Paul ihrem Einflusse durch ein Mittel nach Menschenart entzogen, ein Schlafmittel, das sein Gehirn lähmte. Und wenn er wieder erwachte, dann war es Tag—würde sie dann noch einmal mit ihm sprechen können? Versuchen mußte sie es. Wenn er allein war, konnte sie sich doch vielleicht verständlich machen, sein Geist mochte dann noch unter der Nachwirkung des vermeintlichen Traumes stehen und sich ihrem Vorstellungskreise wieder anpassen. Aber würde er ihr mehr glauben als in der Nacht? Verloren, verloren
Es war schon spät am Morgen, als Sohm mit wirrem Kopfe sich erhob. Während er sich ankleidete, besann er sich auf seinen Traum. Es war doch zu toll, zu deutlich gewesen
»Nun muß ich doch nachsehen,« sagte er sich, »ob ich wirklich in der Nacht—«
Er schloß den Schreibtisch auf und fuhr zurück—da stand die Flasche.
»So bin ich tatsächlich heute nachtgewandelt und habe die Flasche hierher gestellt. So ein Blödsinn Das ist mir noch nie passiert. Nun mag sie schon hier stehen bleiben. O, wenn ich nur erst wüßte, wo du bist, du geliebte, böse Wera. Dann würden alle diese törichten Angstphantasien auf einmal verschwinden. Nun, vielleicht liegt schon ein Brief für mich unten«
Er wollte das Schreibpult abschließen. Da klang es leise:
»Paul Sohm«
Er erschrak. Was war das? Doch wohl nur die Feder des Schlosses, die leise schwirrte? Oder ein Ton von draußen?
»Paul Sohm, ich muß mit dir reden.«
War das wieder die Flasche? Bin ich krank? Träume ich denn noch immer? dachte er.
Er trank ein Glas Wasser. Er öffnete das Fenster und sog die rauhe Morgenluft ein. Dann setzte er sich vor das Pult und sagte zu sich: »Ruhig Blut jetzt Man muß alles prüfen. Nun rede, Flasche, denn du noch kannst.«
Da klang es deutlich:
»Höre mich Wenn Wera nicht verderben soll —«
»Nein Es ist zum verrückt werden Oder bin ich es schon?« Er wollte aufspringen, aber er zwang sich, sitzen zu bleiben und faßte krampfhaft seinen Kopf mit den Händen. »Redet denn wirklich die Flasche? Also Ruhe Das müssen wir ergründen.«
Sohm öffnete den Kasten. Er nahm noch andere Flaschen heraus. Er trat ans offene Fenster und betrachtete sie genau. Eine war wie die andere. Nun stellte er sie direkt vor sich hin, er redete sie an—eine wie die andere schwieg.
»Also ihr könnt nicht reden«, sagte er. »So kapriziert sich meine Einbildung auf die eine Flasche. Oder—vielleicht bin ich nun glücklich den ganzen Schwindel los.«
Was tönt da wieder? Von den Flaschen? Nein, nein, das war Geräusch von der Straße, eilige Tritte, Stimmen im Hotel und vereinzelte Rufe: »Wo? Wo?«
Sohm achtete jetzt nicht darauf. »Nun erst die Gegenprobe«, sagte er aufgeregt. Er ergriff die Flasche mit Aspiras Herzen. Er stand am Fenster und hielt sie vor sich hin.
»Nun schweige, schweige auch du« murmelte er.
»Öffne die Flasche« rief Aspira jetzt laut wie mit einem Verzweiflungsschrei. Sohm begann zu zittern.
»Sofort Sonst stirbt Wera in der Gletscherspalte«
Zugleich erscholl von draußen die Stimme des Wirts:
»Herr Professor, Herr Professor«
»Hier Was gibt's?«
»Es ist ein Unglück geschehen—am Gletscher—Fräulein Lentius —«
Sohm stellte die Flasche wortlos aus der Hand, wo er stand, aufs Fensterbrett, und sprang nach der Tür. Er riß sie auf.
Ein Windstoß sauste durchs Haus und schlug das Fenster zu. Die Flasche wurde hinausgeschleudert. Sie stürzte auf die Steine des Hofes und zersplitterte.
Leute sammelten sich.
»Was ist mit meiner Braut? Schnell, Herr Leberecht.«
»Es ist schon Hilfe hin, Herr Professor. Der Dumme Peter, der Hirtenbub, brachte die Nachricht, es läge eine Dame am Gletscher. Der Herr Oberingenieur Martin schickt ihn, er meint, es sei—hier ist die Karte.«
»Wera? Wo? Wo? Ich will hin.«
»Ich gehe mit«, sagte der Wirt.
Aber allen voran mit des Sturmes Eile floh Aspira, die Befreite —— Jetzt mit ganzem, ungeteiltem Herzen, ein Mensch in Wolkengestalt, bereit, Leben zu geben, Leben zu gewinnen. Hinaus, hinauf in die Freiheit
Martin war, wie immer, schon sehr früh im Tunnel gewesen und hatte den Fortgang der Arbeiten in bester Ordnung gefunden. Er konnte die Arbeitsstelle mit der zufriedenen Überzeugung verlassen, daß noch vor Ablauf des September der Durchschlag des Tunnels ohne Störung erfolgen werde.
Jetzt stieg er an der Lehne des Langbergs nach dem ehemaligen Steinbruch in die Höhe, um die Stelle zu besichtigen, wo die Schiefklippe sich befunden hatte, und die dortigen Sicherheitsarbeiten zu kontrollieren. Er wanderte dann noch ein Stückchen weiter nach einem Punkte, wo man über den Gletscher nach den Schneebergen hinübersehen konnte, die freilich jetzt in Wolken gehüllt lagen.
Sinnend blickte er hinaus. Auch ihn quälte die Frage, was aus Wera geworden sei. Ob sie vielleicht schon in Schmalbrück ist? Ach, was ging es ihn an? Er wollte sie nicht wiedersehen —
Eben wollte er umkehren, als er in der Ferne, am Rande des Berges, wo der Weg nach dem Gletscher umbog, eine seltsame Gestalt auftauchen sah. Sie warf die Arme unregelmäßig in die Luft, und wollte offenbar Zeichen geben. Jetzt vernahm er auch Ausrufe, ohne sie verstehen zu können. In der Annahme, daß es sich um einen Notruf handle, lief er auf dem Pfade dem Kommenden entgegen und erkannte nun bald den Ziegenhirt Peter, der dumme Peter genannt, seines trottelhaften aber gutmütigen Wesens wegen.
»Was gibt's, Peter?« rief er.
Der Atemlose kam immer näher, brachte aber nur zusammenhangloses Zeug vor. Zuerst von einer Ziege und vom Sturme. Dann von der Spalte im Gletscher und dem Schnee. Und das wäre die Ziege nicht. Es wäre eine Dame, eine Fremde.
Martin erschrak. Er beruhigte den Burschen und gewann endlich ein Bild der Sachlage. Peter war auf der Suche nach einer verlorenen Ziege auf den Gletscher gekommen, der wegen des Neuschnees schlecht zu passieren war. Dort hatte er in einer Spalte etwas liegen sehen und sei nahe herangekrochen. Da war er offenbar enttäuscht, daß es nicht die Ziege war, sondern ein Mensch. In fliegender Eile forschte Martin nach Merkmalen, denn sein erste Gedanke war an Wera. Ja, eine fremde Dame mit dunklen Haaren, die im Sommer hier gewesen war mit der Mappe. Sie hatte ihm einmal Geld geschenkt ——
Martin zweifelt nicht mehr. Er schickte Peter nach Schmalbrück ins Hotel Leberecht und mahnte ihn zur größten Eile. Zur Sicherheit schrieb er ein paar Zeilen auf seine Karte und gab sie Peter mit. Ein großes Silberstück beschleunigte seine Füße. Er flog den Pfad hinab.
Martin selbst aber eilte pochenden Herzens nach dem Gletscher. Die Anstrengung war gewaltig. Gegen den scharfen Wind mußte er den steinigen Pfad hinauf und über die Moräne. Er wußte nicht, wo sich die Spalte befand, aber überall lag hier noch Neuschnee, und die Spuren Peters leiteten ihn. Da hörten sie auf. Hier war die Spalte. Er legte sich nieder und spähte hinab. Dort, weiter hinten, in der Ecke, wo eine Nebenspalte endete, lag etwas. Wie kam er hinab? Er bewegte sich vorsichtig auf dem Eise entlang, und merkwürdig— hier verflachte sich die Spalte auf einmal wegartig, ohne Schwierigkeit konnte man hineintreten——
Und da, halb im Schnee, nur das bleiche Gesicht völlig frei, lag eine weibliche Gestalt, ruhig, wie sorgsam gebettet und eingehüllt — Wera
Einen Augenblick stand er starr, Atem schöpfend, dann sprang er vor, in der Aufregung glitt sein Fuß aus, er taumelte und fühlte einen stechenden Schmerz in der Brust, aber nun war er bei ihr. Er warf sich auf die Kniee und hob sanft ihren Oberkörper. Kalt, eisig, ohne Atemzug, ohne Pulsschlag— starr —
Was sollte er tun? Der Bote mußte jetzt in Schmalbrück sein. Aber ehe die Hilfe kam—— Und wie lange lag sie hier? Er hielt sie für unrettbar. Jammer zerriß sein Herz.
Was war das für ein Sausen in der Luft? Schnee wirbelte auf. Feine Flocken stürmten von oben herab und fielen auf die bleichen Lippen.
Die namenlos Geliebte hielt er umfaßt—nun gehörte sie niemand mehr— nun küßte sie der kalte Schneesturm—— Und weinend beugte er sich herab und preßte seine Lippen auf die ihren:
»Wera, geliebte Wera, lebe wohl«
Aber da—gütiger Himmel Ist es möglich? Diese Lippen wurden warm, sie erwiderten seinen Kuß, diese Arme hoben sich und schlangen sich um seinen Nacken, diese Augen öffneten sich und glänzten ihm leuchtend entgegen ——
Aspira war's, die im Schneesturm hergerast war—sie hatte sich in Weras starren Leib ergossen—sie hatte ihr Herz mit dem ihren gemischt und zum ersten, zum einzigen Male hatten sich die Seelen ganz durchdrungen— Aspira gab Wera das Leben wieder, und für diesen einen Augenblick gewann sie das volle, innige Menschendasein—in Wonne bebend hielt sie den geliebten Mann umschlungen und in ihrem Innern jubelte Menschenglück— einen Augenblick —
Jetzt konnte sie Mensch bleiben, jetzt konnte sie ihm gehören—wem? Martin? Nein Nein Das durfte nicht sein Bald würden die Retter kommen und sie mußten Wera finden—ohne Aspira—— die treue, ursprüngliche Wera —
Noch einen glühenden Kuß— und nun rangen sich die ersten Worte über ihre Lippen:
»Fliehe Fliehe, Geliebter Mein Atem bringt den Tod. In mir muß sich Seele von Seele trennen und die entweichende würde dich vernichten. Fliehe«
»Von dir fliehen? Jetzt , wo ich dich gefunden?« Er versuchte sich aufzurichten, aber mit einem unterdrückten Schmerzensrufe brach er zusammen.
»Ich weiß nicht, was mir ist«, sagte er. »Doch es wird gleich Hilfe dasein—«
Und er schlang wieder den Arm um ihren Hals und suchte ihre Lippen. Noch einmal—dann schlossen sich seine Augen, der Atem stockte—er hatte das Bewußtsein verloren.
Auch der Körper des Mädchens sank zurück. Eisiger Atem entströmte ihrem Munde. Aspiras Wolkenherz trennte sich von dem warmen Menschenleibe und floh hinaus in die Luft. Der Schneesturm wirbelte, kalte Flocken legten sich auf Martins Gestalt—dichter und dichter häufte sich der Schnee und verbarg den erstarrten Körper des Mannes——
Aber kräftiger und wärmer atmete das Mädchen—— Alles, was Aspira gehörte, war entflohen, stäubte im wilden Treiben des Schneesturms— Wera richtete sich auf und blickte verwundert um sich.
»Wo bin ich? Warum bettete ich mich in die Gletschergruft? O—welch ein Traum Glaubt' ich doch eine Wolke zu sein—ich kann mich nicht erinnern —wie lange lag ich hier? Hinaus, hinaus«
Sie erhob sich. Wo geht's hinaus? Sie bemerkte nichts von dem Toten, der hinter ihr unter dem Schnee lag—sie sah, daß der Weg nicht schwierig war, als ob der Sturm ihn gefegt hätte. Und während die Wolken sich dichter um die Eiswände drängten, tastete Wera sich hinaus. denn körperlich fühlte sie sich stark und kräftig—und es war, als ob Wind und Wolken sie trügen, so schritt sie über das Eis, den nahen Steintrümmern zu und noch ein Stück weiter auf dem Wege——
Da donnerte es vom Firnfeld des Blankhorns—eine Lawine stäubte herab und bedeckte die Spalte —
Und nun wurden die Wolken lichter—Stimmen erklangen und Rufen— und Männer nahten mit Stricken und Beilen—sie aber rief wieder und lief ihnen entgegen, und einer stürmte voran allen andern.
»Wera Wera«
»Ich bin's, Paul Mein Paul«
Und sie lag schluchzend an seinem Halse.
Ein Jahr war vergangen.
Am Abhang des Langbergs, wo die Schiefklippe herabgestürzt war, saßen Paul Sohm und seine junge Frau. Wera ordnete einen Strauß später Alpenblumen, die sie gepflückt hatte.
»Ist es nicht merkwürdig,« sagte sie nachdenklich, »daß ich mich noch dunkel erinnere, wie ich in dieser Gegend das letzte Mal Blumen zusammenband, daß es mir aber ganz unmöglich ist mich zu besinnen, was dann weiter erfolgte?«
»Liebste, du warst eben damals leidend. Ich bin noch immer der Meinung, daß zu deiner nervösen Abspannung eine Vergiftung durch irgend eine Exhalation in der Höhle getreten ist.«
»Dort oben am Gletscher—freilich, da begann es so plötzlich. Und ebenso plötzlich, bei meiner Rettung aus der Spalte, war meine unselige Einbildung verschwunden Jetzt sehe ich ja ein, daß ich nervenkrank gewesen sein muß, aber damals—es war schrecklich, ich war überzeugt, ganz gesund und vernünftig zu denken, und bildete mir doch ein—nein, ich bringe keinen Zusammenhang heraus Und es schmerzt mich, daß ich auch von Martin gar kein deutliches Bild mehr habe, dessen Botschaft ich doch meine Rettung verdanke. Ich weiß wohl, was ich mit dir gesprochen habe und was ich hier plante, aber das eigentlich Motiv, dieser Glaube an mein Verständnis mit den Elementargeistern, was ich dir nicht zu sagen wagte, das ist mir alles so nebelhaft, so traumartig geworden, ich kann mich auf nichts einzelnes mehr erinnern.«
»Und es ist dir auch nie wieder eingefallen, wie du in die Gletscherspalte geraten bist?«
»Nein, Liebster. Das Letzte, was ich weiß, ist, daß ich, nach der Unterhaltung mit dem liebenswürdigen Brautpaar im Wagen, durch Nacht und Sturm in wahnsinniger Hast den Berg hinauf eilte. Alles andere ist fort— gerade wie mein Bündel mit dem Proviant Ich denke mir, daß meine nervöse Überreizung zu einer Krisis kam—wahrscheinlich habe ich in der Unterkunftshütte am Schmalstein bewußtlos gelegen und bin dann zuletzt auf den Gletscher geraten—aber nun, es ist ja vorbei —«
Er hielt sie im Arm und sagte weich:
»Du geliebtes, armes Geschöpf. Wer weiß, was du ausstehen mußtest Es ist gut, daß du gar nichts mehr davon behalten hast. Auch nicht von deinem Erwachen, mitten im Eise?«
In der Erinnerung suchend hielt sie die Augen geschlossen, den Kopf an seine Brust gelehnt, dann blickte sie voll zu ihm auf:
»Ich begriff mich nicht. Ich fühlte nur die rauhe Luft und daß ich hier fortmüsse, und als ich aufstand, war ich ganz frisch und gesund, und auf einmal hörte ich Stimmen—und dann kamst du —«
Sie schmiegte sich an ihn.
»Laß uns gehen,« sagte er zärtlich. »Es wird kühl, und dort steigt schon die abendliche Wolke aus der Festinaschlucht.«
»Seltsam,«»Ich begriff mich nicht. Ich fühlte nur die rauhe Luft und daß ich hier fortmüsse, und als ich aufstand, war ich ganz frisch und gesund, und auf einmal hörte ich Stimmen—und dann kamst du —«
Sie schmiegte sich an ihn.
»Laß uns gehen,« sagte er zärtlich. »Es wird kühl, und dort steigt schon die abendliche Wolke aus der Festinaschlucht.«
»Seltsam,« fuhr er fort, indem sie sich bergabwärts wandten, »wie schnell sich eine Sage bildet. Der Bahnwärter erzählte mir, daß diese Wolke jeden Abend hier heraufstiege und sich vor den Tunnel lagere, und zwar seit jenem Tage, der—der mir dich wiederbrachte——«
Sie waren den wenig begangenen Fußpfad hinabgestiegen, der am Wärterhaus vor dem Tunnel vorbeiführt. Vor dem Eingang, durch den die Bahnzüge jetzt gefahrlos rollten, blieben sie stehen.
Hier ist eine Erzplatte in den Fels eingelassen. Sie ist gewidmet dem Andenken des Erbauers des Tunnels, dem Oberingenieur Theodor Martin, den eine Lawine verschüttete, als er zur Rettung eines Menschenlebens im Schneesturm auf den Blankhorngletscher eilte. Der Tote selbst war nicht aufgefunden worden. Die Gewalten des Berges hatten ihn bestattet.
Wera Sohm legte den Blumenstrauß auf einem Vorsprung des Felsens nieder. Paul faßte ihre Hand. Ein leichter Nebel umhüllte die heimwärts Wandelnden.
Zwischen Tal und Höhen steigend und fließend in freiem Spiel zieht Aspira dahin. Vergessen unter ihr hastet der Menschen unruhiges Geschlecht. Nichts stört den heitern Flug der Königswolke. Gelöst ist die von der Sorge um des Schöpfers Leid und um die dunkeln Fragen der Erkenntnis.
Nur eine Erinnerung an ihr Menschentum ist ihr geblieben, eine einzige— die letzte—da sie auftauchte aus der innersten Tiefe des Menschenherzens zurück zur Höhe der Heimat—— Ein unendliches Glück eines wonnigen Augenblicks, verklärend mit geheimnisvollem Schimmer den ewigen Wandeln in Werden und Vergehen.